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Viel Blut, keine Zeugen und kein Motiv. Als Hauptkommissar Forster zu einem Tatort in Oberstdorf gerufen wird, ist er ratlos. Wo ist die Leiche? Indizien deuten darauf hin, dass es sich um eine vermisste junge Frau handeln muss, und führen Forster zum Heimatverein Allgäuer Hoigartlar. Doch niemand kann Hinweise geben. Und niemand, nicht einmal ihr Lebensgefährte, kennt die Vergangenheit der Frau. Forster versucht verzweifelt, einen Mordfall ohne Leiche aufklären. Ist das Alpenglühen ein Vorzeichen für ein weiteres Unglück?
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Seitenzahl: 343
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Mia C.Brunner
Alpenglühen
Kriminalroman
Mord ohne Leiche An einem Tatort in Oberstdorf findet Hauptkommissar Forster sehr viel Blut, aber keine Leiche vor. Über die junge Frau, die vermisst wird, gibt es kaum Informationen. Weder ihr Lebensgefährte noch Nachbarn oder Freunde kennen ihre Vergangenheit. Auch ein Motiv für die Tat scheint nicht vorhanden zu sein. Hat der Streit mit der besten Freundin etwas mit dem Verschwinden der Frau zu tun? Oder weiß der Hausmeister des Heimatvereins Allgäuer Hoigartlar mehr, als er zugibt? Wie soll man einen Mord aufklären, wenn jede noch so winzige Spur ins Leere läuft? Florian Forsters Ehefrau Jessica sorgt sich dagegen um eine Bekannte. Seit dem Umzug ins neue Haus leidet diese unter Panikattacken und hat schreckliche Visionen von toten Menschen. Im Gegensatz zu Florian hält Jessica die Frau nicht für geistesgestört und versucht, ihren Ängsten auf den Grund zu gehen. Was hat der Nachbar von der anderen Straßenseite mit den Vorfällen zu tun? Und wer ist die rätselhafte Frau in seinem Haus?
Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit fast 20 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimi-Erfahrungen mit selbstverfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. »Alpenglühen« ist ihr neunter Allgäu-Krimi rund um Hauptkommissar Florian Forster im Gmeiner-Verlag.
PersoDie automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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© 2025 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Dominik Ultes / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3428-5
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Das kleine Mädchen hatte geweint.
Oder weinte es immer noch?
Er konnte es nicht genau erkennen. Er war zu weit entfernt, aber er hörte, wie es geräuschvoll die Nase hochzog.
Sollte er nachsehen gehen? Jemand musste die Kleine trösten.
Sie war ein hübsches Kind mit ordentlich geflochtenen blonden Zöpfen, großen Augen und einem Schmollmund. Niedlich sah sie aus in ihrem gelben Trägerkleid mit den roten Punkten und den filigran gehäkelten Rüschen an Rocksaum und Ärmeln.
Warum war sie traurig?
Warum stand sie mitten im Vorgarten? Ganz allein. Waren ihre Eltern nicht zu Hause?
Der Drang hinüberzugehen, sie in den Arm zu nehmen und zu beruhigen war fast übermächtig. Doch er durfte nicht, er blieb auf der anderen Straßenseite hinter der hohen Hecke stehen und beobachtete sie verstohlen.
Was hielt sie in der Hand?
Ihr verzweifeltes Wimmern konnte er selbst aus der Entfernung hören. Er schaute die Straße hinunter, bevor er den Blick wieder auf die Kleine richtete. Keine Menschenseele war unterwegs, kein Auto fuhr. Vielleicht sollte er doch zu ihr gehen. Er zögerte.
Das Mädchen sah sich hilflos um, schniefte laut und wischte sich mit der freien Hand Rotz und Tränen aus dem geröteten Gesicht.
Kein Zweifel. Sie brauchte ihn. Sie war hilflos ohne ihn. Er sollte sie beruhigen und beschützen.
Aber er widerstand dem Drang. Er durfte sich ihr auf gar keinen Fall nähern.
Das war verboten.
Das war falsch.
Und gefährlich.
Als er sich abwenden wollte, um in das Haus zurückzugehen, sah er im Augenwinkel, wie sich die Kleine in Bewegung setzte und bereits das Gartentor zum Gehweg vor der Doppelhaushälfte erreicht hatte.
Ohne lange nachzudenken, trat er aus seiner Deckung, überquerte rasch die Straße und war bei ihr, bevor sie die Klinke der Pforte hinuntergedrückt hatte.
»Hallo«, sagte er, zog die alte Arbeitsjacke und die Handschuhe aus, die ölverschmiert und schwarz vor Dreck waren, und klemmte sie sich unter den Arm. »Kann ich dir helfen? Was ist passiert?«
Das Mädchen sagte nichts, ließ erschrocken die Klinke los und ging verunsichert einen Schritt zurück. Dabei starrte sie ihn so furchtsam an, dass ihm war, als würde er die Angst in ihren weit aufgerissenen Augen im eigenen Leib spüren. Er nahm die gespiegelte Sonnenbrille ab, klappte sie zusammen und hängte sie mit dem Bügel in den Kragen seines T-Shirts. Er ließ achtlos die Jacke fallen, fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch sein viel zu langes Haar, raffte es zu einem Pferdeschwanz zusammen und band es mithilfe des Gummis, den er um sein Handgelenk trug, zusammen.
»Du bist ganz schwarz im Gesicht«, flüsterte sie und deutete mit dem Zeigefinger direkt auf seine Nase.
»Entschuldige«, sagte er und rieb mit dem Handrücken über Stirn und Wangen. »Besser?«
Sie schüttelte kichernd den Kopf. »Nein. Viel schlimmer. Die Hände sind auch dreckig.«
»Du bist hübsch, wenn du lachst.« Er hockte sich vor der geschlossenen Gartenpforte hin und war nun auf Augenhöhe mit der Kleinen. »Warum hast du geweint? Ich habe dich von dort drüben beobachtet.« Er deutete auf das Gebäude, das schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite stand.
»Du wohnst im Rocky-Docky-Haus?«, rief sie verwundert. »Mama sagt, du musst deinen Garten aufräumen. Der sieht unespetisch aus. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber ich glaube, Mama meint, du musst Unkraut zupfen. Das macht sie bei uns im Garten auch immer. Ich helfe ihr manchmal dabei.«
»Es heißt ›unästhetisch‹«, belehrte er sie belustigt. »Und deine Mutti hat völlig recht. Ich bin wohl nicht sehr ordentlich. Was hast du in deiner Hand?«
Sie hob den Arm, der hinter ihrem Rücken verborgen gewesen war, und zeigte ihm die große Tonscherbe, die sie krampfhaft festhielt.
Erst jetzt bemerkte er, dass von ihren Fingern Blut auf Kleid und Gehweg tropfte. »Oje, du bist verletzt!« Er öffnete das Gartentor, trat ein und nahm sie ungefragt auf den Arm. »Wir werden uns das im Badezimmer ansehen und ein Pflaster draufkleben.«
»Aber du darfst nicht mit ins Haus«, sagte sie ohne die geringste Spur von Angst.
Ihr Argwohn gegen ihn, einen für sie fremden Mann, war bereits verflogen, als er die riesige Sonnenbrille abgenommen und sie so freundlich angelächelt hatte.
»Papa hat verboten, dass ich Fremden die Tür aufmache, wenn kein Erwachsener im Haus ist.«
»Dein Vater hat recht«, sagte er, setzte das kleine Mädchen direkt vor der offenen Haustür ab, verbeugte sich höflich vor ihr und streckte ihr seine Hand entgegen. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Peter. Ich bin ein Nachbar, der hervorragend Pflaster auf kleine Mädchenfinger kleben kann. Und Vasen reparieren kann ich noch besser. Das ist doch eine Vase, oder?« Er deutete auf die Scherbe, die sie nicht loslassen wollte.
Sie nickte.
»Darf ich reinkommen, jetzt, da wir uns kennen?« Er hoffte, sie würde es ihm erlauben. Nein, er flehte, sie würde es ihm verbieten. Seine Anwesenheit so nah am Haus, so nah bei ihr, war falsch.
Aber wenn nicht gleich ihre Mutter oder ihr Vater um die Ecke kämen, um dem Mädchen zu helfen, dann musste er sich um die Kleine kümmern. Ihm blieb keine Wahl. Es war sinnlos, noch länger darüber nachzudenken. Es musste sein. »Haben deine Eltern einen Verbandskasten?«
»Die Pflaster sind oben im Bad in der Schublade«, sagte sie fröhlich, griff nach seiner schmutzigen Hand und zog ihn ins Haus.
Dann schloss sie die Tür.
Das Geschoss verfehlte seinen Kopf nur um Haaresbreite.
»Hoppla«, rief jemand von der anderen Seite des Gartens. »Sorry, meine Tochter kann nicht besonders gut werfen. Das muss sie von meiner Frau haben. Bei uns Männern klappt das ganz gut.«
Florian hob den Baseball vom Rasen auf und sah, wie der Rufende einem Jungen anerkennend auf den Rücken klopfte. Die beiden kamen lauthals lachend auf ihn zu.
»Das ist wohl Ihrer«, sagte Florian und überreichte dem Mann den Ball. Erst jetzt erblickte er das kleine Mädchen, das schüchtern hinter dem Rücken seines Vaters stand und vorsichtig an diesem vorbeilugte. »Ehrlich gesagt fand ich den Wurf hervorragend. Mich hat er sehr beeindruckt.« Er zwinkerte der Kleinen zu.
Sie drehte sich um und lief davon.
»Nochmals Entschuldigung. Ich spiele dort hinten mit meinen Kindern. Das Teil ist etwas abgedriftet.« Der Vater hatte die Hand auf der Schulter seines Sohnes abgelegt, der neben ihm stand. Er trug einen großen braunen Baseballhandschuh, den er nun auszog, grinste breit und streckte Florian die Hand entgegen. »Christian Rademacher. Ich wohne mit meiner Familie gleich nebenan. Und das ist Julius.«
»Ich bin Florian Forster. Hallo, Julius.«
Der Junge gab ihm ebenfalls artig die Hand, wandte sich an seinen Vater und fragte: »Spielen wir weiter?«
»Später. Kannst du bitte nach der Mama schauen? Vielleicht braucht sie Hilfe mit dem Kartoffelsalat.« Er schob den Jungen Richtung Gartenzaun, in dem ein offenes Tor die Grundstücke der zwei Doppelhaushälften verband, und wandte sich an Florian. »Bist du einer von Jonnys Gästen? Woher kennst du ihn?«
Er musste laut sprechen, denn in diesem Moment setzte die in traditioneller Allgäuer Tracht gekleidete Kapelle in Jonnys Garten mit allerlei Blasinstrumenten zu einem Tusch an, um dann einen leichten Walzer anzustimmen. Einige der Gäste jauchzten erfreut und begannen, auf dem Rasen zu tanzen.
»Ich habe unter Jonny meine ersten Berufsjahre verlebt«, gab Florian bereitwillig Auskunft. »Er war ein strenger, aber immer gerechter Vorgesetzter, und ich denke, dass ich sehr viel von ihm gelernt habe.«
»Auch ein Polizist.« Christian Rademacher schüttelte amüsiert den Kopf. »Heute wimmelt es hier nur so von Gesetzeshütern. Hat mein Nachbar denn keine Familie oder gute Freunde, die er einladen kann? Stattdessen sind nur Kollegen da.«
»Und der Trachtenverein«, bemerkte Florian belustigt und deutete auf die Kapelle. Er war gerade erst angekommen. Dann wurde er ernst. »Seine Frau ist früh gestorben. Kinder hat er nicht, soviel ich weiß, dafür mehr als genug Freunde. Ihr wohnt noch nicht lange hier, oder? Jonny ist eigentlich sehr mitteilsam. Er hätte euch längst Hunderte seiner Geschichten erzählt.«
Das Gartenfest, das der ehemalige Hauptkommissar Johannes »Jonny« Weitnauer zusammen mit Florians Kollegen Detlef Kern aus Kempten veranstaltete, sollte den beiden den Eintritt in den Ruhestand ein wenig versüßen. Genau wie Florian hatte auch Kern lange Jahre mit Weitnauer zusammengearbeitet, als dieser noch der Dienststelle Kempten zugehörig gewesen war. Nach dem Tod seiner Frau vor über 20 Jahren hatte Weitnauer sich nach Oberstdorf versetzen lassen, wo er seitdem in leitender Position tätig gewesen war. Florian hatte nur noch wenig Kontakt zu seinem ehemaligen Vorgesetzten, doch die Einladung zu diesem Fest hatte er freudig angenommen. Der Mann war für ihn immer ein Held gewesen. Er bewunderte ihn bis heute.
»Redet ihr über mich?« Der Gastgeber legte strahlend seinen Arm um Florians Schultern. »Glaub dem Grünschnabel kein Wort, Christian. Seit ich ihn direkt nach der Polizeischule unter meine Fittiche genommen habe, hat er Widerworte gegeben, wann immer er sich ungerecht behandelt fühlte. Aber seine Aufsässigkeit habe ich ihm ausgetrieben. Stimmt’s, Bürschle?«
Statt die Worte zu kommentieren, nahm Florian Johannes Weitnauer lachend in den Arm. »Alles Gute für den bevorstehenden Ruhestand und danke für die Einladung. Ich freue mich, dich nach all der Zeit wiederzusehen. Wie ist es dir ergangen in den letzten Jahren? Es ist dir sicher nicht leichtgefallen, in Rente zu gehen. Du warst mit Leib und Seele Polizist.«
»Ach was, ich bin froh, dass ich dem Sumpf aus menschlichen Abgründen und unmenschlichen Verbrechen endlich entkommen bin. Es gab Momente, da habe ich nicht mehr damit gerechnet, meinen Ruhestand lebend zu erreichen. Ich war überzeugt, dass mich vorher entweder einer dieser Irren absticht, die auf der Straße rumlaufen, oder ich vom ganzen Stress einen Herzinfarkt bekomme.«
Florian lachte schallend. »Du hast die letzten Jahre als Dienststellenleiter im beschaulichen Oberstdorf eine sehr ruhige Kugel geschoben, Jonny. Stell dich nicht so an.«
Johannes Weitnauer boxte Florian kräftig gegen die Schulter und wandte sich an Christian Rademacher, der das Gespräch schmunzelnd verfolgt hatte. »Ich sag ja, immer Widerworte von diesem unbelehrbaren Rebellen. Will jemand von euch ein Bier?«
*
»Wo ist die Leiche?«
Die zwei jungen Polizeibeamten, die neben der geöffneten Eingangstür standen, zuckten synchron die Schultern.
Florian, der hektisch aus seinem Wagen gesprungen und die Auffahrt zum Einfamilienhaus hinaufgeeilt war, blieb abrupt stehen und sah die beiden verständnislos an. »Waren Sie bisher nicht im Haus? Oder warum haben Sie keine Infos für mich?«
Einer der Uniformierten räusperte sich vernehmlich. »Es gibt keine Leiche, Hauptkommissar Forster. Wir haben Wohnräume und Keller gründlich durchsucht.«
Florian schüttelte genervt den Kopf. »Warum bin ich dann hier? Die Kemptener Dienststelle hat mich um Aufklärung eines Mordfalls gebeten. Heißt das, ich bin umsonst gekommen?«
»Reg dich nicht auf, Flo. Du bist ganz richtig hier.« Erwin Buchmann, Rechtsmediziner und der beste Freund von Florian, erschien kurz an der Haustür und winkte den Hauptkommissar herein. »Wir müssen in den ersten Stock.«
Als Florian das Badezimmer in der oberen Etage betrat, fiel sein Blick sofort auf die Blutlache, die sich über die hellen Fliesen ergossen hatte. Der Teppich, der vor der Eckbadewanne lag, hatte sich vollgesogen und schimmerte feuchtrot zwischen gelben und orangen Streifen. Im Raum roch es nach Seife. Ein leichter Nebel lag in der Luft, als hätte kürzlich jemand gebadet oder geduscht. Das Fenster war beschlagen.
»Was ist hier passiert?«
»Das herauszufinden, ist dein Job.« Erwin, der von allen nur Ewe genannt wurde, legte die sorgfältig beschrifteten Proberöhrchen und eingetüteten Teststreifen in seinen Koffer auf der Fensterbank und klappte den Deckel zu. Dann zog er die Einmalhandschuhe aus und platzierte sie auf dem Metallkoffer. »Wenn der Hausherr recht hat und das Blut von seiner Frau stammt, weiß ich nicht, ob ich guten Gewissens behaupten kann, dass diese Person noch lebt.«
»Zu hoher Blutverlust?«, riet Florian. »Gibt es einen Hinweis auf ein Verbrechen? Eine Tatwaffe? Was sagt der Ehemann?«
»Im Haus und im Garten wurde bisher nichts gefunden«, erklärte der Rechtsmediziner. »Aber mit Herrn Heiligensetzer musst du selbst sprechen. Was ich sagen kann, ist, dass sich hier schätzungsweise ein Liter Blut auf dem Boden befindet. Wenn das von einer Frau mit normaler Statur stammt, ist die Wahrscheinlichkeit, diesen Blutverlust zu überleben, äußerst gering. Geht man von etwa 60 Milliliter Blut pro Kilogramm Körpergewicht aus, würde das bei einer Frau unter 60 Kilogramm schnell zum Tod führen. Aufgrund dieses Fakts plus der Tatsache, dass laut Ehemann kein angrenzendes Krankenhaus einen derartigen Notfall aufgenommen hat, gehe ich vom Schlimmsten aus.«
»Wie lange ist … ähm … der Vorfall her? Das Blut ist noch nicht getrocknet.«
»Meiner Meinung nach nicht länger als eine halbe Stunde. Aber das kann nicht sein, da der Ehemann vor einer Stunde den Notruf gewählt hat.«
»Dann besteht die Möglichkeit, dass er es selbst war, nachdem er die Tat gemeldet hat. Doch wie hat er die Leiche weggeschafft? Wie lange sind die Beamten bereits vor Ort?«
Ewe schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Hast du heute noch etwas vor? Oder warum denkst du, mit ein paar kruden Ideen kannst du diesen Fall schnell aufklären? Herr Heiligensetzer hätte keine zehn Minuten gehabt, seine Frau oder wen auch immer aus dem Haus zu schaffen. Ich bin seit 20 Minuten hier, deine Kollegen sind vorhin zeitgleich eingetroffen.« Er griff nach den gebrauchten Handschuhen und dem Koffer und drängte sich an Florian vorbei in den Flur. »Den Teppich lasse ich von der Spurensicherung eintüten, sobald du den vermeintlichen Tatort freigibst.« Er blieb stehen und drehte sich zu Florian um. »Es kann auch sein, dass die verwundete Person ein Antikoagulans genommen hat.«
Weil Florian ihn verständnislos anstarrte, fügte Ewe hinzu: »Einen Gerinnungshemmer. Das kann ich erst im Labor feststellen. In Verbindung mit der vorherrschenden Luftfeuchtigkeit im Badezimmer könnte ein solches Medikament die Trocknungsphase des Blutes auf dem Boden merklich verlängern.«
»Sag das doch gleich.« Florian sah über das Treppengeländer in den unteren Flur. »Ist der Ehemann im Haus?«
Ewe nickte. »Soviel ich weiß, ist er im Wohnzimmer.«
Der Mann stand vor der geöffneten Terrassentür und starrte in den akkurat angelegten Garten, die Hände tief in den Hosentaschen, der Blick leer. Das sonnige Wetter und die von unzähligen bunten Blumen überquellenden Beete schien er nicht wahrzunehmen.
Bevor Florian ihn ansprechen konnte, ergriff Herr Heiligensetzer das Wort. »Wann können Sie sagen, ob das Blut von meiner Frau stammt?«
»Das Labor wird mit Hochdruck daran arbeiten.« Florian trat neben den Ehemann der Vermissten. »Was ist Ihrer Meinung nach passiert? Warum glauben Sie, dass Ihre Frau …?« Er vollendete den Satz nicht, sondern fragte stattdessen: »Haben Sie erwartet, Ihre Frau anzutreffen, als Sie nach Hause gekommen sind? Es ist jetzt 13 Uhr. Wo waren Sie heute Vormittag? Sind Sie von der Arbeit gekommen? Ist Ihre Frau nicht berufstätig?«
»Ich hatte Nachtschicht«, erklärte Herr Heiligensetzer. »Die hat sich wie immer gezogen. Deshalb war ich erst um halb zwölf zu Hause. Meine Frau ist Pharmareferentin, doch zurzeit in Mutterschutz. Wir sind vor acht Wochen Eltern geworden. Hannah wollte nächsten Monat ihre Arbeit wiederaufnehmen. Dann wäre ich in Elternzeit gegangen. Sie hätte daheim sein müssen, als ich kam. War sie aber nicht. Deshalb habe ich sowohl auf ihrem Handy als auch bei ihrer Freundin angerufen. Dann erst habe ich das Blut entdeckt.«
»Verstehe.« Florian zog sein Smartphone aus der Tasche. »Können Sie mir Namen und Adresse der Freundin geben?« Er notierte sich die Daten. »Und wo ist das Baby?«
Jetzt drehte sich der Mann zu ihm. Er hatte Tränen in den Augen. »Ich weiß es nicht. Wenn das Blut im Badezimmer von meiner Frau ist … diese große Menge …, dann lebt sie nicht mehr. Es kann unmöglich von meiner Tochter stammen. Ein Baby kann nicht … so viel Blut …« Er schluchzte verzweifelt auf und wandte sich ab.
»Niemand weiß, ob die Person, die sich verletzt hat, wirklich in Lebensgefahr schwebt. Vielleicht hat sich nur jemand böse geschnitten. Lassen Sie uns die Untersuchung unseres Rechtsmediziners abwarten. Sicher klärt sich alles auf«, versuchte Florian, den Mann zu beruhigen.
Dieser schüttelte heftig den Kopf. »Wer auch immer in unserem Badezimmer eine derartige Menge Blut verloren hat, kann definitiv nicht mehr leben.«
»Warum sind Sie sich so sicher?«
»Ich bin Chefarzt der Kardiologie im Klinikum Immenstadt. Meine Frau ist nicht groß und sehr zierlich. Sie wiegt knapp über 50 Kilogramm.« Er straffte die Schultern und lächelte gequält, ohne seine Argumente näher zu erläutern.
Florian verstand, was er meinte.
»Hoffen wir, dass es nicht ihr Blut ist und sie gleich mit unserer Tochter Sarah durch die Tür kommt.«
»Wie war das Gartenfest bei Jonny?«, fragte Florian, als er seine Frau Jessica auf dem Sofa im Wohnzimmer fand.
Sie las ein Buch und sah zu ihm auf.
»Tut mir leid, dass ich nicht wie versprochen zurückgekommen bin. Ich war im Büro. Es gab viel zu recherchieren.«
»Es ist fast Mitternacht«, bemerkte Jessica und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. »Ging es um einen Mordfall? Was ist passiert?«
Florian setzte sich. Götze, der Dienststellenleiter – und somit sein direkter Vorgesetzter –, hatte ihn um die Mittagszeit kontaktiert. Da Florian Bereitschaft gehabt und Götze gewusst hatte, dass er sich in Oberstdorf auf der Feier seines ehemaligen Chefs befand, hatte er den Fall bei Doktor Heiligensetzer übernehmen müssen. Der Tatort war nur wenige Hundert Meter entfernt. Aus der Rechtsmedizin gab es bisher kaum neue Erkenntnisse. Die Blutgruppe passte zur Frau des Doktors. Die genetische Analyse stand noch aus. Ewe war sicher, dass sich die Blutlache auf dem Badezimmerboden zwischen 11 Uhr und 11.30 Uhr ausgebreitet hatte und in den Teppich gesickert war. Das gäbe dem Ehemann, wenn er der Täter gewesen wäre, tatsächlich nur eine kurze Zeitspanne für einen eventuellen Mord und das Wegschaffen der Leiche. Dagegen sprachen allerdings zwei wesentliche Punkte: Zum einen waren im gesamten Haus keine weiteren Blutspuren gefunden worden, weder auf der Treppe zum Erdgeschoss noch im Flur. Zum anderen hatte Florian im Immenstädter Klinikum ein Dutzend Zeugenaussagen aufgenommen, die allesamt bestätigten, dass Doktor Heiligensetzer erst um 11 Uhr vormittags das Gebäude verlassen hatte. Somit schied er als Täter aus.
»Solange wir keine Leiche haben, gehe ich davon aus, dass es eine simple Erklärung für den Fall gibt«, schloss Florian seinen Bericht. »Im Moment kann ich nichts tun. Am Montag weiß Ewe mehr.«
Jessica nickte. »Hoffentlich löst sich der böse Verdacht in Rauch auf.«
»Apropos Rauch. Konntet ihr das angebrannte Grillgut noch retten? Oder musstet ihr alle hungern?«
»Nichts ist angebrannt. Es war nur … sehr dunkel und extrem trocken«, lachte sie. »Der Kartoffelsalat der Nachbarin und das Bier haben das Fest gerettet. Alle wurden satt und einige waren am frühen Nachmittag bereits betrunken. Ich bin um 16 Uhr gegangen, weil ich nichts mehr von dir gehört habe. Aber ich soll Grüße ausrichten von Jonny und Detlef und von Christian, dem Nachbarn. Merkwürdiger Typ«, konnte Jessica sich nicht verkneifen.
»Wieso? Der war doch ganz nett.«
»Ja, zu allen anderen, aber nicht zu seiner Frau.« Jessica legte das Buch beiseite, zog die Beine aufs Sofa und seufzte bedauernd. »Du hast die beiden kennengelernt. Findest du nicht, er hackt permanent auf ihr herum und macht sie schlecht?«
Florian lachte schallend, und Jessica sah ihn vorwurfsvoll an.
»So ein Quatsch!«, sagte er und legte seine Hand auf ihr Bein. »Der zieht sie ein bisschen auf. Wenn sie das nicht aushält, ist sie zu empfindlich.«
Jessica sprang auf und baute sich vor ihrem Mann auf. »Spinnst du? Heißt du es gut, wenn dieser Christian in aller Öffentlichkeit sagt, dass seine Frau in Tränen ausbreche, wenn jemand ihren Kartoffelsalat kritisiert? Dass deshalb alle bitte so tun sollen, als hätten sie nie etwas Besseres gegessen?«
»Das war nur ein Scherz«, verteidigte Florian den Mann, mit dem er sich blendend verstanden hatte, obwohl er nur eine halbe Stunde mit ihm gesprochen hatte. »Und der Salat war hervorragend«, fügte er augenzwinkernd hinzu. »Ist dir nicht aufgefallen, dass er seine Frau permanent im Arm oder an der Hand gehalten hat? Ich hatte schon ein ganz schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht ebenso um dich gekümmert habe. Aber dann dachte ich, sie würde den Schutz ihres Mannes brauchen. Sie sah aus wie ein ängstlich zitterndes Reh inmitten einer Horde Jäger. Du bist da anders. Um dich brauche ich mir keine Sorgen zu machen.«
»Was du nur für ein Glück hast«, spuckte Jessica verächtlich aus. »Das scheue Reh und der Idiot kommen morgen zu uns zum Kaffeetrinken. Christian hat sich eingeladen. Mir fiel auf die Schnelle keine Ausrede ein, weil er gesagt hat, er habe das mit dir abgesprochen.«
»Na ja, also …«, stammelte Florian. »So direkt haben wir darüber nicht …«
Jessica winkte genervt ab, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Wohnzimmer.
*
Wie der gestrige Tag begann auch der Sonntag mit strahlendem Sonnenschein. Der Himmel war wolkenlos und die Temperaturen kratzten bereits morgens an der 20-Grad-Marke.
Es würde ein heißer Tag werden. Es war richtig gewesen, den langen Spaziergang mit Hannes auf den Vormittag zu legen. Später wäre es für den Rottweiler viel zu warm.
Das Grundstück am Ende der Sackgasse grenzte direkt an einen kleinen Park. Er konnte hinter dem großen Holunderbusch neben dem Schuppen durch den kaputten Maschendrahtzaun steigen und erreichte den akkurat angelegten Sandweg des Parks, ohne den langen Umweg vorne über die Anliegerstraße und den breiten Fußweg zu nehmen. Außerdem umging er so die neugierigen Blicke der Nachbarn. Ihm war nicht wohl in der Nähe von Menschen. Umgekehrt war es ähnlich. Aufgrund seines ungepflegten Aussehens mieden ihn die Leute. Und das war gut.
An die gegenüberliegende Seite des Parks grenzte ein Feldweg. Dahinter lagen Wiesen und Äcker, ein kleiner Wald, und am Horizont konnte man die Berge der Allgäuer Alpen sehen.
Aus einem Garten hinter einem der Häuser drangen Stimmen.
»Komm schon, Konstanze. Du kannst doch nicht den ganzen Tag neben Mama auf der Terrasse sitzen. Dein Bruder und ich spielen Fußball. Willst du uns nicht Gesellschaft leisten?«
Durch die Hecke, die das Grundstück der Rademachers zum Feldweg begrenzte, sah er den Vater und den Sohn auf dem Rasen. Das hübsche Mädchen – heute trug es kurze Shorts und ein pinkes T-Shirt – saß auf einer Gartenliege und wiegte einen Teddy in den Armen, während es ein Kinderlied summte. Er konnte es hören, obwohl zwischen ihm und dem Kind fast 30 Meter lagen. Ihm war nicht wohl dabei, die Kleine zu beobachten, und doch konnte er den Blick nicht von ihr abwenden.
Es war nicht gut, dass sie hier war.
Hier in seiner Nähe.
Genau hier an diesem gefährlichen Ort.
Er wusste, dass es für das Kind in dieser Straße nicht sicher war. Die Familie hätte wegbleiben müssen. Warum waren sie ausgerechnet in seine Nähe gezogen? Alles würde sich wiederholen. Die Schuld, die er auf sich geladen hatte, war erträglich geworden mit den Jahren. Doch nun platzten die alten Wunden auf. Er musste sich von der Familie fernhalten, aber er würde das Mädchen nicht aus den Augen lassen.
Das konnte er nicht.
Das wollte er nicht.
Das durfte er nicht.
Seufzend trat er einen Schritt zurück auf den Feldweg. Mit einem schrillen Pfiff rief er den Hund zu sich, der ausgelassen über die Wiesen tollte, und setzte seinen Spaziergang fort.
*
»Habt ihr gut hergefunden? Kommt bitte gleich in den Garten. Ich dachte, wir machen ein gemütliches Picknick auf dem Rasen.«
Jessica ging voraus zu den Gartenstühlen und der Wolldecke, auf der nicht nur ihre Zwillinge Elias und Lukas spielten, sondern auch allerlei Schüsseln und Teller mit Leckereien standen. Tobias, ihr zwölfjähriger Sohn, verteidigte das Essen eisern vor dem Zugriff seiner zwei kleineren Brüder. Florian, der einen Eimer mit heißem Wasser in das frisch befüllte Planschbecken geleert hatte, kam auf die eingetroffenen Gäste zu. Christian Rademacher umarmte ihn überschwänglich.
»An meinen Mann werdet ihr euch sicher noch erinnern – trotz seines ultrakurzen Gastspiels auf Jonnys Feier«, spöttelte Jessica in Florians Richtung. »Das sind Lukas und Elias. Die beiden sind drei Jahre alt. Und das ist Tobias.« Sie wies auf ihre Kinder. »Svenja, meine Tochter, ist bei einer Freundin. Mit 15 hat man andere Interessen, als den Nachmittag mit den Eltern zu verbringen. Auch mit einem Planschbecken kann man einen Teenager nicht mehr begeistern. Was kann ich euch zum Trinken anbieten?«
Die Jungs verstanden sich auf Anhieb. Der siebenjährige Julius Rademacher hatte sowohl Spaß daran, mit den Zwillingen zu spielen, als auch mit dem älteren Tobias durch die Büsche zu streifen und auf Entdeckungstour zu gehen. Nur die kleine Konstanze klammerte sich ängstlich an den Arm ihrer Mutter und versuchte jedem Blick auszuweichen.
»Sie ist schüchtern«, entschuldigte ihre Mutter. »Es dauert immer ein wenig, bis sie auftaut.«
»Katrin verwöhnt sie zu sehr«, bemerkte Christian bedauernd. »Meine Frau ist eine Glucke, wenn es um die Kinder geht. Man sollte dem Nachwuchs auch mal etwas zutrauen. Ein verhätscheltes Kind hat es als Erwachsener schwer.«
»Deine Frau nimmt die Angst ihrer Tochter ernst«, warf Jessica ein und lächelte in Katrins Richtung. »Daran ist nichts falsch. Vielleicht könnt ihr zwei Mädels mir helfen, die Erdbeeren und die Wassermelone aus der Küche zu holen. Magst du Wassermelone, Konstanze?«
Das Mädchen nickte.
Eine Viertelstunde später waren die zwei Frauen allein. Die kleine Konstanze war in der Küche merklich aufgeblüht, hatte sogar ausgelassen über Jessicas Witze gekichert und stolz die Schüssel mit dem Obst zurück in den Garten getragen.
Katrin seufzte. »So gelöst war sie früher immer.«
»Die Schüchternheit ist vielleicht nur eine Phase. Ich wäre manchmal froh, wenn meine zwei Racker etwas zurückhaltender wären. Ich befürchte, die würden mit jedem Fremden mitgehen, der ihnen am Gartenzaun zuwinkt. Gerade Lukas ist arglos und risikofreudig. Und sein Bruder macht ihm alles nach.«
»Christian tut alles so leichtfertig ab.« Katrins Stimme war ein Flüstern. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. »Heute Nacht hat Konstanze ins Bett gemacht. Sie ist seit über zwei Jahren trocken. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist.«
Jessica legte die Hand auf den Arm der Frau. »Im Moment geht es deiner Tochter gut. Und wenn du weiterhin beunruhigt bist, gibt es gute Therapeuten, die der Sache auf den Grund gehen können.«
Katrin nickte. »Danke, Jessica.«
Das Büro des Rechtsmediziners Erwin Buchmann war leer. Florian betrat den Raum, setzte sich auf das Sofa, das neben den Aktenschränken unter dem Fenster stand, zog sein Smartphone aus der Hosentasche und wählte die Nummer seines besten Freundes.
»Hey, Ewe. Wo bist du?«, wollte Florian vorwurfsvoll wissen, als sein Gesprächspartner sich meldete.
»In meinem Büro«, kam die prompte Antwort aus dem Telefon. Die Tür öffnete sich. »Warum fragst …?« Der Rechtsmediziner blieb abrupt stehen, als er Florian erblickte.
»Ach ja? Im Büro?«, witzelte Florian.
Ewe eilte zu seinem Schreibtisch, setzte sich und legte seine freie Hand auf die Tastatur seines Computers. Mit der anderen hielt er weiterhin sein Handy ans Ohr. »Klar. Ich sitze vor dem Rechner und rufe gerade die Datei zu deinem Fall auf. Hoffe, du kommst gleich und lässt mich nicht ewig warten.« Er beendete das Gespräch und legte sein Smartphone in den Ablagekorb auf dem Schreibtisch. »Du hättest nicht herzukommen brauchen. Wir hätten auch telefonieren können«, sagte er und winkte seinen Freund heran.
»Ich habe in Oberstdorf zwei Außentermine. Bin heute nicht im Präsidium und brauche die Informationen dringend«, erklärte Florian. »Was hast du herausgefunden?«
»Die Menge des Blutverlustes war gravierend. Ich kann somit bestätigen, dass die weibliche Person, die das Blut verloren hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr lebt.«
»Habt ihr einen DNA-Abgleich gemacht?«
»Die genetische Analyse der Haare aus der Haarbürste zeigt eine Übereinstimmung. Es handelt sich um dieselbe Person.«
»Um die Frau von Doktor Heiligensetzer«, sagte Florian und nickte, kam aber ins Grübeln. »Zumindest um die Person, die die Haarbürste benutzt hat. Laut Standesamt ist Heiligensetzer geschieden und hat zwei erwachsene Kinder. Exfrau und Söhne leben in Frankfurt.«
»Und das Baby?«, fragte Ewe irritiert. »War nicht die Rede davon, dass seine Frau und seine neugeborene Tochter verschwunden sind?«
»Genau dazu muss ich ihn gleich befragen. Was mich wundert, ist, dass es keine weiteren Blutspuren im Haus gibt. Wenn jemand eine schwer verletzte Person mit hohem Blutverlust oder gar eine Leiche aus dem Haus transportiert hat, müsste es doch Spuren geben. Oder habt ihr noch etwas gefunden?«
»Nein. Auch gibt es keinerlei Spritzer an Wänden oder Boden. Die verletzte Person muss gelegen oder gesessen haben und völlig reglos ausgeblutet sein. Dagegen wiederum spricht, dass keine Anzeichen dafür in der Nähe der Lache gefunden wurden. Der Körper der Verletzten oder ein Teil davon hat sich nicht in der Nähe des Blutes befunden geschweige denn darin gelegen. Ein Schlag, eine Schnittverletzung oder jede andere Möglichkeit eines Blutaustrittes hätte man festgestellt. Es gibt dann immer winzige Partikel oder ein auffälliges Fließmuster.«
»Vielleicht wurde im Anschluss geputzt«, riet Florian.
»Unmöglich. Keine Rückstände von Reinigungsmitteln.«
»Was vermutest du?«
»Ob du es glaubst oder nicht: Meiner Meinung nach hat jemand ein Gefäß mit dem Blut der Frau direkt über dem Fußboden und dem Teppich langsam ausgekippt. Ich habe noch einige weitere Tests angeordnet. Dazu weiß ich frühestens übermorgen mehr.«
*
Die Kartoffel glitt ihr aus der Hand, fiel auf die Arbeitsplatte, rutschte über den Rand und landete auf dem Fußboden.
Was war das?
Dieses rhythmisch klopfende Geräusch war so leise, dass sie es kaum wahrnahm, und so träge, dass sie keine Erklärung dafür fand. Es hörte sich an, als würde jemand einen Nagel in die Wand schlagen, aber die Frequenz passte nicht. Niemand hämmerte in einer solchen Langsamkeit. Sie schüttelte heftig den Kopf, hob die Kartoffel auf und spülte sie unter dem Wasserhahn ab, bevor sie sie zu den anderen in den Topf legte.
Sie spürte dieses beklemmende Gefühl in ihrem Brustkorb. Bisher war es ihr gelungen, es wegzudrängen, es zu beherrschen. Es gelang ihr nicht mehr. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Das Klopfen vermischte sich mit dem Pochen ihres Herzens, wurde stetig schneller und verstummte so plötzlich, dass sie kurz dachte, auch ihr Herz wäre stehen geblieben. Doch es schlug. Schlug bis in den Hals, der sich zuschnürte und ihr das Atmen erschwerte.
Sie durfte keine Panikattacke bekommen.
Die Arme weit über ihrem Kopf schritt sie langsam durchs Zimmer und zählte von hundert rückwärts, blieb vor dem Foto ihrer Kinder stehen und versuchte, das Lächeln, das ihr aus dem Bild entgegenstrahlte, tief in sich aufzunehmen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigte und sie nicht mehr den Drang verspürte, fluchtartig das Haus zu verlassen. Ihr Therapeut sagte, dass kopfloses Handeln die Sache schlimmer mache. Sie solle stattdessen mit dem Bewusstsein, die Angst und die Negativität beherrschen zu können, ein neues Vorhaben starten.
Ihre nächste Aufgabe war es, die Kinder von Kindergarten und Schule abzuholen. Es war wichtig, den Kopf freizubekommen, bevor sie das Haus verließ.
Sie seufzte resigniert, ging in den Flur und griff nach Handtasche und Autoschlüssel. Eine Jacke brauchte sie nicht. Es war warm und sonnig.
Gerade als sie die Haustür öffnen wollte, erklang von irgendwoher Musik. Augenblicklich wurde ihr Mund trocken, und sie begann, am ganzen Körper zu zittern.
Langsam trat sie von der Tür weg, ging rückwärts bis zur Kellertreppe und starrte hinunter.
Dunkelheit und Kälte strömten ihr entgegen.
Und diese Musik.
Sie kannte die Melodie aus ihrer Kindheit. Sie hatte sie oft gehört, dazu getanzt und gelacht, bis sich die heiteren Klänge zu einem beklemmenden Drohgesang verwandelt hatten. Bis sie zur Warnung, zur Gefahr, zum absoluten Horror geworden waren.
Woher kamen diese abscheulichen Töne?
Waren sie real?
Oder entsprangen sie ihrer Fantasie?
Die Stufen der alten Holztreppe knarzten bei jedem einzelnen Schritt. Mit jedem Meter, den sie tiefer in die Dunkelheit tauchte, wurde die Melodie lauter, dröhnender, warnender.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, stieß die Tür gegenüber dem unteren Treppenabsatz mit Schwung auf und betätigte den Lichtschalter.
Die Musik kam aus einem alten Kassettenrekorder, der auf einer Anrichte an der Wand am anderen Ende des Raumes stand. Wie war er dort hingekommen?
Mit ausladenden und energischen Schritten erreichte sie den Rekorder und hämmerte mit der Faust so heftig auf die Stopp-Taste, dass es nicht nur augenblicklich still wurde, sondern das Gerät durch die Wucht einen kleinen Satz machte und – wie vorhin die Kartoffel in der Küche – scheppernd auf den alten Steinboden knallte.
Sie schlang die Arme fest um ihren zitternden Körper und drehte sich langsam um.
Kurz waren die unteren Stufen der Treppe vom Lichtschein aus dem Kellerraum deutlich zu erkennen.
Die schwere Metalltür schlug in dem Moment krachend zu, als das Licht erlosch.
*
»Bitte kommen Sie herein, Hauptkommissar Forster.« Die junge Frau mit dem Baby auf dem Arm hatte sich ihm als Karola Heins vorgestellt und ging voraus in die Küche. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn wir uns hier am Tisch unterhalten. Ich bereite meiner Tochter gerade eine Flasche zu. Würden Sie sie kurz halten?« Ohne seine Zustimmung abzuwarten, drückte sie ihm das quengelnde Kind in den Arm und deutete auf den Holzstuhl an der Wand. »Setzen Sie sich.«
Florian ignorierte das Angebot und ging mit dem Baby an seiner Schulter in der Küche auf und ab. Dabei wippte er die Kleine und rieb dem Kind behutsam den Rücken.
»Herr Heiligensetzer sagt, Sie sind eine gute Freundin seiner Frau«, begann er die Befragung und sah dabei aus dem Fenster. »Wann haben Sie Hannah Seiler das letzte Mal gesprochen oder gesehen?« Bis sein Kollege Berthold Willig ihm mitgeteilt hatte, dass Heiligensetzer geschieden und nicht mit Hannah Seiler verheiratet war, hatte Florian angenommen, dass Frau Seiler nach der Eheschließung ihren Namen behalten hatte. Herr Heiligensetzer hatte vorgestern diesen Eindruck erweckt, weil er von seiner »Frau« gesprochen hatte, aber tatsächlich nie behauptet, verheiratet zu sein.
»Hannah ist seit ungefähr drei Jahren mit Wilfried zusammen«, begann sie zu berichten. »Mein Mann Holger und er sind Arbeitskollegen. So haben wir uns kennengelernt. Eng befreundet sind wir allerdings erst seit dem gemeinsamen Kurs zur Geburtsvorbereitung. Hannahs Tochter ist eine Woche älter als meine.« Sie prüfte die Temperatur der Milch in der Flasche und nahm Florian das Kind ab. »Vor drei Tagen war sie bei mir, nach der Arbeit. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Sie sind berufstätig? Schon so kurz nach der Geburt?« Den letzten Satz hätte er sich sparen können. Es lag ihm fern, die junge Frau zu beurteilen, doch er war der Meinung, dass ein paar Wochen gemeinsame Zeit mit dem Kind für alle Beteiligten nur Vorteile brachte.
»Ich nicht«, lachte sie. »Hannah hat zwei Wochen nach der Geburt ihren Job wieder aufgenommen. Glücklicherweise konnte sie die kleine Sarah zu ihren Terminen mitnehmen. Soviel ich weiß, hat sie ihre Arbeitszeit um ein paar Stunden reduziert.«
»Herr Heiligensetzer sagte, dass er in wenigen Wochen in Elternzeit gehe, weil Frau Seiler beruflich schnell wieder einsteigen möchte. Wusste er, dass sie bereits …?«
»Nein«, unterbrach ihn Frau Heins. »Das durfte er nicht wissen. Bitte verraten Sie es ihm nicht. Hannah will sicher keine Predigt, wenn sie nach Hause kommt.«
»Sie glauben, Frau Seiler kommt zurück?«
»Klar.«
»Wir haben Blut im Badezimmer gefunden, dass wir Ihrer Freundin eindeutig zuordnen können.«
»Dafür wird es eine Erklärung geben. Hannah ist nichts passiert, glauben Sie mir.«
Woher die junge Frau ihre Zuversicht nahm, war Florian schleierhaft. Weder hatte sie Auskünfte zu weiteren Bekannten oder zu einem möglicherweise schlechten Verhältnis zu Herrn Heiligensetzer machen können, noch gewusst, wo Frau Seiler sich derzeit aufhalten könnte.
Im Anschluss an den Besuch bei der Freundin hatte Florian den Lebensgefährten erneut befragt, doch auch hier nur wenige verwertbare Informationen bekommen. Durchwahl und Namen des Arbeitgebers waren Herrn Heiligensetzer nicht bekannt. Auch in den persönlichen Unterlagen der Vermissten gab es nach grober Durchsicht keine Hinweise. Er fand weder Gehaltsabrechnungen noch Kontoauszüge. Florian hatte kurzerhand alle Ordner mitgenommen. Er würde Berthold mit der Recherche beauftragen, sobald er zurück im Präsidium war. Vorher wollte er bei den Rademachers vorbeischauen.
Er parkte den Wagen vor der Doppelhaushälfte in Oberstdorf, griff nach der pinken Sweatjacke mit dem auffälligen, glitzernden Einhorn, die auf dem Beifahrersitz lag, und stieg aus.
Noch bevor er die Haustür erreichte, hörte er die energische Stimme des Familienvaters. Er schien aufgebracht zu sein.
Florian klingelte.
Augenblicklich wurde es still. Die Tür ging auf.
»Du? Was verschlägt dich zu uns? Komm rein.« Christian Rademacher trat zurück und machte den Weg in den Flur frei. »Ich habe von unterwegs Pizza mitgebracht. Möchtest du mit uns essen?«
Florian winkte dankend ab. »Ich bin nur hier, um die Jacke deiner Tochter vorbeizubringen. Ihr habt sie gestern vergessen.«
Christian nahm ihm das Kleidungsstück verwundert ab. »Und deshalb kommst du extra aus Kempten vorbei?«
»Ich war in der Gegend. Ist bei euch alles in Ordnung?«, fragte Florian, als er die kleine Konstanze mit verweintem Gesicht aus dem Wohnzimmer in den Flur kommen sah.
Das Mädchen blickte seinen Vater flehend an, bis dieser resigniert nickte.
»Geh zu Mama«, sagte er, ließ den Kopf sinken und rieb sich mit den Mittelfingern über die Augen.
Konstanze stürmte die Treppe zum ersten Stock hinauf.
Christian griff nach Florians Oberarm. »Wenn du ein paar Minuten für mich hast, würde ich gern mit dir reden.«
Wenig später saß Florian dem Familienvater am Esstisch gegenüber. »Mein Sohn Julius ist bei seinem Freund, aber Konstanze hat alles mitbekommen«, begann er zu erzählen, verstummte jedoch und schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Worum geht es?«
Es dauerte eine Weile, bis Christian antwortete. »Eigentlich um gar nichts. Meine Frau … Sie ist …«
»Was ist mit Katrin?«
»Ich wusste immer, dass sie ein … ähm … sehr feinfühliger Mensch ist. Ihr Nervenkostüm ist wenig belastbar, wenn du verstehst, was ich meine.«
Florian nickte. Er hatte keine Ahnung, worauf Christian hinauswollte. Doch er wollte ihn nicht unterbrechen.
Seine Worte kamen so zögerlich, als wüsste er nicht, wie er sich adäquat ausdrücken sollte. »Der Kindergarten hat mich auf der Arbeit kontaktiert und mir mitgeteilt, dass Katrin nicht gekommen ist, um unsere Tochter abzuholen. Zu Hause habe ich telefonisch niemanden erreicht. Deshalb habe ich alles stehen und liegen gelassen, eine Bekannte gebeten, Julius von der Grundschule mit nach Hause zu nehmen, und bin zur Kita gefahren.«
Weil Christian in Schweigen verfiel, suchte Florian nach einer Erklärung. »Vielleicht hat Katrin die Zeit vergessen. Das kann doch passieren.«
»Ich habe Katrin im Keller gefunden. Sie saß zusammengekauert in der Ecke des Waschraums, schluchzend und zitternd. Sie hat behauptet, jemand habe sie eingeschlossen, sie sei nicht herausgekommen, habe gerufen und gegen die Tür gehämmert.«
»O Gott! Wer sollte so etwas tun?«, rief Florian entsetzt. »Wenn hier jemand unerlaubt eingedrungen ist, musst du das anzeigen!«
Christian stieß einen verächtlichen Laut aus. Die Hand auf dem Tisch ballte sich zur Faust. »Es war nichts. Diese verdammte Kellertür war nicht abgeschlossen. Sie hätte jederzeit herauskommen können. Ich habe keine Ahnung, was mit ihr los ist.«
»Ich habe in den Unterlagen etwas Interessantes entdeckt«, murmelte Berthold. Er blätterte seit über einer Stunde in den Aktenordnern, die Florian aus dem Haus von Herrn Heiligensetzer mitgenommen hatte. Einen Laptop oder ein Smartphone der Vermissten hatten die Beamten der Spurensicherung nicht gefunden, als sie vorgestern den Tatort untersucht hatten.
»Frau Seiler hat akribisch Buch geführt über ihre Ausgaben. Jede Quittung ist sorgfältig abgeheftet, und am Ende jeden Monats hat sie eine Gesamtübersicht über alle Einkäufe angelegt.« Berthold sah auf und klopfte mit der Hand auf einen Stapel mit drei weiteren Ordnern. »Diese hier beinhalten Kontoauszüge, Gehaltsabrechnungen und Steuererklärungen und stammen allesamt ausschließlich von Herrn Heiligensetzer.«
»Und wo sind die entsprechenden Dokumente der Vermissten? Sie hatte ein regelmäßiges Einkommen. Es muss doch ein Girokonto auf ihren Namen geben.«
»Gibt es«, bestätigte Berthold. »Aber …«