Tod zum Viehscheid - Mia C. Brunner - E-Book

Tod zum Viehscheid E-Book

Mia C. Brunner

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Eine Leiche bei einer Berghütte in den Allgäuer Alpen stellt Hauptkommissar Florian Forster vor ein Rätsel. Als kurz vor dem Oberstdorfer Viehscheid auch noch eine Kuh verschwindet, scheint klar zu sein, dass ein Streit zweier Landwirte eskaliert ist. Musste wegen eines preisgekrönten Braunviehs ein Mensch sterben? Oder steckt ein ganz anderes Motiv hinter dem Mord? Auch in seinem eigenen Umfeld werden Geheimnisse gelüftet, von denen Hauptkommissar Forster am liebsten niemals erfahren hätte.

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Seitenzahl: 327

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Mia C. Brunner

Tod zum Viehscheid

ALLGÄU-KRIMI

Zum Buch

Alptraumhaft spannend Kurz vor dem traditionellen Alpabtrieb wird neben einer Hütte in den Oberstdorfer Bergen die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Hauptkommissar Forster steht zunächst vor einem Rätsel. Die Ermittlungen führen ihn zu zwei verfeindeten Landwirten. Ein Jungvieh ist verschwunden. Es handelt sich dabei um den letzten Nachkommen einer preisgekrönten Kuh, die den Rothausens gehört. Familie Mühlbrunner allerdings erhebt Anspruch auf das Tier. Ist der Streit um die prämierte Kuh derart eskaliert, dass deshalb ein Mensch sterben musste? Oder hat das Motiv etwas mit der alten Bauernhausruine zu tun, in der unheimliche Dinge geschehen und in der ein weiterer Mensch fast sein Leben verliert? Als wäre die Aufklärung dieses Mordfalls nicht schon genug, muss Florian Forster auch noch in seinem privaten Umfeld ermitteln und gräbt ein Familiengeheimnis aus, von dem er sich wünscht, es nie erfahren zu haben.

Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimierfahrungen mit selbstverfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. »Tod zum Viehscheid« ist ihr fünfter Allgäu-Krimi im Gmeiner-Verlag.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Dozey / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6994-7

 

 

1

Die Faust traf ihn mit einer solchen Wucht im Gesicht, dass sein Kopf zur Seite geschleudert wurde und Blut aus seiner Nase und der aufgeplatzten Lippe gegen den alten Holzbalken spritzte, der den Dachbalken stützte. Noch während er fiel, riss er die Arme in die Höhe und versuchte sich umzudrehen. Doch vergeblich. Sein Hinterkopf prallte gegen den Metallrahmen der offenen Tür. Dann schlug sein Körper der Länge nach rückwärts auf dem Steinboden auf.

Er lag in einer Pferdebox.

Sein Herz raste, sein Kopf dröhnte und fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen.

Mit einem schweren Stiefel trat ihm jemand brutal in die Seite. Der Schmerz, der ihm augenblicklich durch die Lunge fuhr, raubte ihm kurzzeitig den Atem. Hustend und würgend spuckte er einen Schwall frischen Blutes auf den kalten Boden und versuchte verzweifelt, Sauerstoff in seine Lunge zu bekommen.

»Lass dich hier nie wieder blicken, Rotzleffl, damischr Siech!«

Kaum hatte er sich von dem ersten Angriff erholt, ließ ein erneuter Tritt gegen seine linke Schulter ihn gequält aufschreien.

»Jetzt verschwinde, du Seggl. Oder hast du noch immer nicht genug?«

Der Angreifer packte ihn am Kragen und riss ihn vom Boden hoch, um ihn kurz darauf mit voller Wucht gegen den steinernen Futtertrog zu stoßen.

Es grenzte an ein Wunder, dass er das Bewusstsein nicht verlor, denn nun packte sein Gegner ihn direkt unter dem Kinn und schlug seinen Kopf brutal gegen die Wand. Als er die zwei Hände links und rechts an seinem Hals spürte, die ihn von vorn packten und sich um seinen Nacken legten, wusste er, dass er nicht mehr lange durchhielt. Er flehte innerlich, endlich ohnmächtig zu werden. Die Schmerzen waren unerträglich.

»Bitte nicht!«, nuschelte er durch seine verletzten, angeschwollenen Lippen. Blut tropfte aus seiner Nase und besudelte sein Hemd und den Boden vor seinen Füßen. Dann wurde sein Kopf blitzschnell nach unten gerissen, ein Knie donnerte gegen seine linke Schläfe. Bevor der neue Schmerz einsetzte, verlor er die Kontrolle über seinen Körper, sackte zusammen und blieb reglos am Boden liegen.

»Morgen will ich dich hier nicht mehr sehen, Sauseggl, damischr!«, fluchte der Mann zum wiederholten Male und verließ die Pferdebox. Er schlug das große Holztor der Scheune mit einer solchen Kraft zu, dass die Bretterwände zwischen den einzelnen Boxen heftig vibrierten.

In dem Moment, als der Angreifer das Gebäude verließ, fiel die alte brennende Öllampe, die auf einer der hohen Zwischenwände gestanden hatte, scheppernd zu Boden. Ein kleiner Funke reichte, um die wenigen Halme trockenen Strohs, die in der leeren Pferdebox lagen, augenblicklich zu entzünden.

2

Auch nach dem dritten Klingeln öffnete niemand.

Im Haus lief klassische Musik in einer Lautstärke, dass man es durch die geschlossene Haustür hören konnte.

Er klingelte Sturm. Es musste doch jemand zu Hause sein, wenn Musik lief.

Die Geräusche im Haus verstummten kurz. Dann erklangen die ersten Töne eines weiteren Stückes.

Genervt verdrehte er die Augen. Das 3. Brandenburgische Konzert von Johann Sebastian Bach. Wie oft hatte er das früher spielen müssen? Und wie oft war er kläglich daran gescheitert? Erst nach über zehn Jahren Klavierunterricht hatte seine Mutter eingesehen, dass aus ihm niemals ein berühmter Pianist werden würde. Er selbst hatte das schon nach wenigen Unterrichtsstunden gewusst. Völlige Talentfreiheit und das Fehlen jeglicher Bemühung hatte sein Klavierlehrer ihm früh bescheinigt, doch seine Mutter hatte etwas länger gebraucht, um zur gleichen Erkenntnis zu kommen, und Mittel und Wege gefunden, ihn immer wieder zum Üben zu zwingen. Noch heute, über zwei Jahre nach seiner letzten Klavierstunde, breitete sich dieses unangenehme Gefühl angewiderter Abneigung in seiner Brust aus, sobald er ein klassisches Musikstück hörte. Er lächelte gequält, rieb sich den Nacken und atmete ein paarmal tief durch.

Als nach erneutem Klingeln wieder keiner öffnete, ging er ums Haus herum und hoffte, sich an einer Fensterscheibe bemerkbar machen zu können. Vielleicht nahmen die Bewohner des Hauses die Hausglocke aufgrund der lauten Musik nicht wahr.

Er spähte in jedes Fenster, an dem er vorbeikam, sah aber niemanden.

Ob tatsächlich keiner daheim war? Das wäre seltsam, schließlich hatte er einen Termin mit dem Ehepaar Michelsbach. Vor einer Stunde wurde ihr Treffen kurzfristig per Telefon sogar noch bestätigt. Und entgegen seiner Natur war er ausnahmsweise pünktlich erschienen.

Die Terrassentür auf der Südseite des Grundstückes stand einen Spalt offen. Die Musik aus dem Inneren beschallte den hübsch dekorierten und penibel gepflegten Garten.

»Hallo? Frau Michelsbach? Herr Michelsbach? Ich bin’s, Matteo. Darf ich reinkommen?«

Vorsichtig schob er die Glastür etwas weiter auf und schaute ins Wohnzimmer. Die Lautstärke des Bach-Konzertes hier drinnen war ohrenbetäubend.

»Hallo?«, schrie er, trat vorsichtig ein und drückte die Tür hinter sich zu. »Ich hab mir erlaubt, einfach reinzukommen. Bitte erschrecken Sie nicht. Frau Michelsbach? Wo sind Sie denn?«

Der umgekippte Rollstuhl gleich neben der Doppeltür zum Flur fiel ihm als Erstes ins Auge. Er ging hinüber, stellte ihn auf und schaute in den hellen Flur. Er sah die Haustür und warf einen Blick in die Küche.

»Hallo?«, versuchte er erneut, auf sich aufmerksam zu machen, seufzte dann resigniert und ging zur Stereoanlage unter dem großen Fenster auf der Westseite des Wohnzimmers. Er drehte den Lautstärkenregler ganz nach links.

Endlich wurde es still.

»So, jetzt wird mich sicher jemand hören«, sagte er zu sich selbst, drehte sich um und setzte zu einem weiteren Ruf an.

Da sah er sie.

Erschrocken sprang er einen Satz nach hinten. Er stolperte, fiel und prallte mit dem Rücken gegen die hohe Glasvitrine neben der Stereoanlage. Eine filigrane Kristallfigur, die oben auf der Vitrine stand, fiel um, rollte über den Rand und zerbarst auf dem Parkettboden in tausend Stücke.

Matteo atmete schwer, als er sich wieder aufrichtete, die Augen gebannt auf einen Punkt neben dem Sofa gerichtet. Er ging langsam auf das Sitzmöbel zu und beugte sich über den ersten toten Körper, der der Länge nach ausgestreckt rücklings auf dem Boden vor dem Sofa lag.

Blut. Überall war Blut.

Verzweifelt suchte er den Puls am Handgelenk, doch seine eigenen Hände zitterten so sehr, dass er nicht sicher war, die richtige Stelle zu finden. Also beugte er sich über den reglosen Körper und wiederholte seine Suche an der Halsschlagader.

Nichts. Kein Pochen. Kein Puls.

Die Frau war tot.

Ihre Haut war kalt, ihre Augen starrten zur Zimmerdecke und ihre Schläfe zierte eine dicke Beule.

Ein kurzer Blick auf den zweiten Körper, der auf der Schwelle zum Zimmer nebenan bäuchlings auf dem Boden lag, verriet ihm, dass auch dort jede Hilfe zu spät kam. Eine riesige Blutlache quoll unter dem Körper hervor und besudelte das Parkett des Wohnzimmers sowie den Teppichboden im angrenzenden Raum. Im Rücken des toten Mannes steckte ein silberner, vermutlich antiker Brieföffner, die Klinge so tief im Körper versenkt, dass nur noch der edel verzierte Griff herausragte.

Matteo wurde übel. Er wusste nicht, was er tun sollte. Panik ergriff ihn, lähmte ihn, und er taumelte unbeholfen durchs Zimmer, bevor er plötzlich laut schrie. Auf dem Weg zur Terrassentür stieß er mit dem Knie gegen den niedrigen Glastisch vor dem Sofa, stöhnte schmerzerfüllt auf und verließ humpelnd, aber dennoch fluchtartig das Haus und das Anwesen der Familie Michelsbach.

*

»Ach, komm schon. Der Termin steht seit über einer Woche fest. Du kannst das jetzt nicht so kurzfristig absagen.« Florian verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich an den Türrahmen, schaute ins Schlafzimmer und beobachtete, wie Jessica hektisch die Knöpfe ihrer Bluse aufmachte, sie auszog und neben die schwarze Jeans auf das Bett warf. Dann griff sie nach einem T-Shirt.

»Es tut mir wirklich leid, Florian«, sagte sie und sah den enttäuschten Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich muss schnellstmöglich zum Tatort. Detlef hat sich vorgestern krankgemeldet, und ich musste seine Rufbereitschaft an diesem Wochenende übernehmen. Entschuldige, ich habe vergessen, es dir zu erzählen. Ich habe selbst schon nicht mehr daran gedacht, weil ja meistens nichts passiert. Aber jetzt ist etwas passiert und ich muss sofort los. Sagst du bitte die Reservierung ab?«

Florian seufzte, drehte sich auf dem Absatz um und lief ins Wohnzimmer.

Wenige Minuten später kam Jessica ihm nach. »Du siehst übrigens richtig schick aus«, lobte sie ihn und gab ihm einen Kuss. »Wir holen das nach, versprochen. Nur warne mich das nächste Mal bitte vor. Neben dir hätte ich in Jeans und Bluse total unscheinbar gewirkt.« Sie wies auf sein dunkelblaues Jackett. »Was gibt es denn zu feiern? Habe ich unseren Jahrestag vergessen?«

»Nein. Ich wollte einfach mal wieder mit dir ausgehen. Ich finde, das machen wir in letzter Zeit viel zu selten.« Florian sah sie ernst an und küsste sie auf die Stirn. »Verschwinde endlich.«

Als Jessica das Wohnzimmer verlassen hatte und er nach wenigen Sekunden die Haustür im unteren Stockwerk zuschlagen hörte, ließ er sich seufzend auf den Sessel fallen, zog eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche, legte sie auf den Tisch, streckte seine Beine aus und platzierte seine Füße direkt daneben.

Er sah die winzige Schachtel lange an.

»Immerhin hat sie heute nicht Nein gesagt«, murmelte er und schloss lächelnd die Augen.

*

Der Tatort irritierte sie.

Jessicas erster Eindruck von den zwei toten Menschen auf dem Boden war, dass sich die Frau heftig gewehrt haben musste. Sie hatte neben der Kopfwunde, die offensichtlich schlimm geblutet hatte, geschwollene rote Prellungen im Gesicht und an den Unterarmen. Typische Abwehrverletzungen. Der Mann dagegen war scheinbar auf der Flucht aus dem Raum von hinten niedergestreckt worden. Sein Gesicht konnte Jessica nicht sehen. Vielleicht war er ebenso wie seine Frau vor seinem Sturz geschlagen worden.

Die zwei Beamten, die die Leichen nach dem Hinweis eines anonymen Telefonanrufers vor einer Stunde gefunden hatten, bestätigten, dass es sich bei den Toten mit hoher Wahrscheinlichkeit um das Ehepaar Michelsbach handelte, den Bewohnern dieses Hauses.

Waren die beiden gezielt angegriffen worden? Oder hatten sie einen Einbrecher überrascht? Nach einem Einbruch sah es hier allerdings nicht aus.

Das Wohnzimmer wirkte trotz der umgefallenen und zerschellten Kristallfigur neben der Glasvitrine sauber und aufgeräumt. Neben der Tür zum Flur stand ein Rollstuhl. Hatte er der Frau gehört? Oder war der Mann aus dem Stuhl gefallen und hatte sich mithilfe seiner Arme über den Fußboden gezogen, bis zu dem Ort, an dem er erstochen worden war? Aber wäre der Rollstuhl dann nicht umgekippt?

Jessica machte sich ein paar Notizen in ihr Smartphone und versuchte gleichzeitig, sich alles einzuprägen, was ihr wichtig erschien. Blut am Couchtisch, Terrassentür offen, Kaffee in einer Thermoskanne nebst drei Tassen auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa. In der Küche ein großes Tablett mit Kuchen.

Sie schlenderte zur Stereoanlage und bemerkte, dass das Gerät eingeschaltet war, der Regler für die Lautstärke jedoch auf null stand.

»Haben Sie schon Fingerabdrücke von der Anlage genommen?«, fragte sie einen Mitarbeiter der Spurensicherung, der bestätigend nickte und sich wieder seiner Arbeit zuwandte.

Als Jessica am Knopf für die Lautstärke drehte, erklang klassische Musik.

»Das ist Bach, glaube ich«, sagte Ewe, der Rechtsmediziner und beste Freund ihres Freundes Florian. »Könnte eins der Brandenburgischen Konzerte sein, aber frag mich nicht, welches.« Er baute sich neben Jessica auf, zog seine Latexhandschuhe aus und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. »Was machst du überhaupt hier? Hat nicht dein Kollege Kern heute Dienst? Und wolltest du nicht etwas mit Florian unternehmen?«

»Detlef ist krank, deshalb musste ich einspringen«, erklärte Jessica und sah Erwin »Ewe« Buchmann fragend an. »Kannst du mir schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Ja, ich schätze vor acht bis zehn Stunden, also vermutlich heute am späten Vormittag … oder etwas später.« Er schob den Ärmel seines weißen Schutzanzuges nach oben und sah auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es kurz nach 20 Uhr. Ja, kommt hin.«

»Gut. Und stimmt meine Vermutung, dass der Rollstuhl neben der Tür dem Mann gehörte?«, fragte die Hauptkommissarin und deutete auf den am Boden liegenden Mann. »Kannst du feststellen, ob er querschnittsgelähmt war?«

»Ähm, nein. Das kann ich ohne Untersuchung nicht. Jedenfalls macht es nicht den Anschein. Die Muskulatur an seinen Beinen ist gut entwickelt. Außerdem ist ein Bein angewinkelt, was bedeuten könnte, dass er es bewegt hat – oder dass es nach seinem Tod so drapiert wurde«, mutmaßte Ewe. »Doch der wichtigste Hinweis – natürlich werde ich das alles in der Rechtsmedizin noch einmal überprüfen – sind seine Schuhe. Siehst du? Die Sohlen sind abgenutzt. Ergo – er ist damit gelaufen.« Ewe grinste breit.

»Der Rollstuhl gehörte also der Frau?«, wollte Jessica wissen. Dann fielen ihr ein paar gerahmte Fotos über dem Kaminsims auf der anderen Seite des Wohnzimmers auf. Sie ging hinüber, um sich die Bilder genauer anzusehen. »Schau mal, Ewe. Der junge Mann auf dem Foto sitzt im Rollstuhl. Ihm gehört er vermutlich. Ist das der Sohn? Wo könnte der Junge sein?« Jessica dachte angestrengt nach und starrte dabei wie gebannt aus dem großen Fenster in den Garten.

Plötzlich kam ihr ein grausamer Gedanke. Erschrocken sah sie zu Ewe. »Oh Gott, hoffentlich finden wir hier nicht noch eine Leiche.«

Etwa eine Stunde später traf der Bereitschaftsdienst des Jugendamtes zusammen mit einem Krankenwagen ein und veranlasste den Transport des jungen Mannes in die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Stadtrand von Kempten. Glücklicherweise war dem Sohn des Ehepaares Michelsbach, der wie ein junger Teenager aussah, doch fast 20 Jahre alt war, nichts passiert.

Jessica und die Beamten hatten das Haus durchsucht und Felix Michelsbach in seinem Bett liegend vorgefunden. Er hatte sie voller Angst angesehen, als sie sein Zimmer betreten hatten, aber keinen Ton herausgebracht. Ob er des Sprechens nicht mächtig war oder ob die Panik ihn lähmte, weil er den Mord an seinen Eltern mitbekommen hatte, konnte bisher niemand sagen. Allerdings stand außer Frage, dass er seine Eltern getötet hatte, denn er war nicht in der Lage, sich eigenständig aus dem Bett zu bewegen. Seine Arme waren spastisch gelähmt, was mit seinen Beinen war, wussten sie nicht. Seinen Kopf allerdings konnte er problemlos heben und bewegen. Jessica hatte das Gefühl, dass er verstand, was sie sagte. Er sah sie direkt an, wenn sie mit ihm sprach, gab aber keine Antwort.

Die Jugendamtsmitarbeiter brachten ihn vorerst in eine Klinik. Dort sollte er untersucht werden, auch um einzuschätzen, wo der junge Mann in Zukunft untergebracht werden konnte.

Vor Anfang nächster Woche brauchte Jessica nicht mit Untersuchungsergebnissen zu rechnen, und die DNA-Analyse der gefundenen Spuren würde mit Sicherheit noch ein paar Tage länger dauern. Wenn die Klinikleitung sie also am morgigen Sonntag nicht anrief, um ihr zu verkünden, dass der junge Michelsbach doch mit ihr reden konnte, würde sie erst am Montag an dem Fall weiterarbeiten können. Die Befragung der Nachbarn hatten die Kollegen der Streife bereits übernommen. Mehr gab es erst einmal nicht zu tun.

3

»Herrgott, warum ausgerechnet hier?« Ewe war mit seinen Kräften am Ende und ließ sich auf einen kleinen Felsen am Wegrand nieder. »Wie weit ist es denn noch?«

»Ich vermute, wir müssen dort hinten bei dem großen Holzstapel neben der Baumgruppe um die Ecke und dann in diese Richtung weiter. Vielleicht noch 500 Meter«, schätzte Florian und wies auf den Gipfel des Berges, der über den hohen Tannen auf der rechten Pfadseite gerade noch zu sehen war. »Wozu schleppst du auch immer so viel mit? Hätten ein paar Latexhandschuhe nicht ausgereicht? Glaub nur nicht, ich helfe dir mit dem schweren Koffer. Ich finde es auch anstrengend, dass es ständig bergauf geht. Bin doch keine Bergziege.« Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und schob die Ärmel seines Pullovers bis zum Ellenbogen hoch. Seine Jacke hatte er wohlweislich im Auto gelassen, das gute zwei Kilometer weiter unten am Wegrand stand. Dort, wo die Straße an einem Wanderparkplatz aufhörte und der ausgetretene schmale Pfad über üppig mit Gras und Kräutern bewachsene Bergwiesen anfing. Aufgrund des unebenen und recht steilen Weges war der Aufstieg zur Alpe äußerst kräftezehrend und sehr mühsam.

»Kann es endlich weitergehen?«, fragte Florian ungeduldig. »Wenn du ständig Pausen brauchst, sind wir nicht zurück im Präsidium, bis es dunkel wird. Hoch mit dir!«

»Es ist gerade mal 10 Uhr vormittags.« Ewe erhob sich stöhnend und griff nach seinem Metallkoffer. »Runter geht es sicherlich etwas schneller«, bemerkte er sarkastisch. »Ich habe jetzt schon das Gefühl, dass mein Koffer nichts lieber will, als nach unten zu kommen. Warum müssen Leichen auch immer an so unzugänglichen Stellen liegen?«

Heute in der Früh hatte sich ein Anrufer direkt an die Kemptener Dienststelle gewandt und von einer Leiche gleich neben seiner Alphütte berichtet. Er sei heute Morgen um kurz vor 4 Uhr quasi über diesen toten Menschen gestolpert, als er nach seiner einzigen Milchkuh rufen wollte, um sie zu melken. Über die Identität oder das Aussehen konnte dieser Alphirte nichts sagen, nur, dass es sich um einen Mann handelte.

Da Jessica mit dem Fall des ermordeten Ehepaares in Kempten betraut worden war, musste Florian diesen Todesfall übernehmen. Das kam ihm ganz gelegen, denn mit allergrößter Wahrscheinlichkeit war der Mann durch einen Unfall zu Tode gekommen. Niemand würde sich diesen schmalen Weg zur Alpe hinaufquälen, um dort oben einen Mord zu begehen. Da gab es bequemere Möglichkeiten.

Die Kluxhagener Alpe lag auf etwa 1.300 Metern Höhe an einem grasbewachsenen Berghang gegenüber dem imposanten Fellhorn und mit Blick auf das schöne Stillachtal. Die Hütte bestand aus einem einzigen Zimmer mit winzigen Fenstern. Wenn man durch die alte Holztür ins Innere wollte, musste man seinen Kopf einziehen, sonst stieß man mit der Stirn gegen den Türsturz. Florian sah durch eins der Fenster hinein, konnte aber niemanden sehen.

Direkt neben der Hütte aus dunkelbraunem, teilweise verwittertem Holz stand ein kleiner Verschlag, der als Stall diente. Für die etwa 50 Rinder, die weitab der Alpe in den Berghängen grasten, reichte der winzige Unterstand niemals aus. In den kleinen Stall passten höchstens drei oder vier Kühe.

Am heutigen Tag hielten sich der Nebel und die tief hängende Wolkendecke bis in die frühen Mittagsstunden in den höheren Berglagen. Eben noch hatte die warme Augustsonne den mühsamen Aufstieg erschwert, hier oben auf der Alpe war es dagegen kühl, feucht und neblig.

»Ich habe keinen Empfang«, stellte Florian nach einem kurzen Blick auf sein Smartphone fest. »Haben Sie uns angerufen?«, fragte er den jungen Mann, der aus dem Stall trat, seine dunkelgraue Strickjacke auszog und neben der Tür an einen Haken hängte. Er schob die Ärmel seines karierten Hemdes nach oben und fuhr sich mit beiden Händen durch sein dunkelbraunes Haar.

»Ja, das habe ich«, bestätigte der Mann nickend und reichte dem Hauptkommissar die Hand. »Und bevor Sie fragen, ich bin auf dem Pfad etwas weiter ins Tal gelaufen. Nach ungefähr 600 bis 700 Metern hat man Handyempfang. Hier oben gar nicht«, erklärte er und stellte sich dann vor. »Georg Bruchstein. Ich bin der Alphirte.«

»Hauptkommissar Florian Forster. Und das ist Erwin Buchmann, der Rechtsmediziner. Sie haben die Leiche hoffentlich nicht bewegt«, mahnte Florian und sah sich suchend um. Einen Toten konnte er im Umkreis der Hütte jedenfalls nicht ausmachen. Von hier aus konnte man trotz des Nebels ungefähr 50 Meter weit sehen. Vielleicht lag der Tote hinter dem Gebäude.

»Sehen Sie den Zaun dort drüben?« Georg Bruchstein wies mit ausgestrecktem Arm auf einen Punkt östlich von ihnen. »Dahinter ist ein tiefer Spalt im Berg. Mir sind dort in den letzten Jahren einige Tiere verunglückt, deshalb habe ich diese Absperrung zum Schutz gebaut. Ich kontrolliere regelmäßig, ob trotz Zaun ein Tier hineingefallen und verendet ist. Heute Nacht hatten wir ein Unwetter mit heftigen Blitzen und Donner. Da weiß man nie, ob eines der Schumpen durchgeht und abstürzt. Heute früh habe ich dort unten aber kein Rindvieh, sondern eine Leiche gefunden.«

»Wie tief ist denn der Spalt?«, wollte Ewe wissen. »Kommen wir da runter?«

Der Alphirte griff nach einem Seil, das über einer niedrigen Mauer aus losen Steinen zu seiner Rechten hing. »Der Spalt – wir nennen ihn Klux-Klamm – ist etwa drei Meter lang, teilweise bis zu acht Meter breit und zwischen 10 und 15 Meter tief. Ich kann Sie mit dem Seil sichern und an einer ungefährlicheren Stelle runterlassen.«

»Ausgezeichnet«, brummte Ewe. »Es reicht ja nicht, dass ich heute einen Berg besteigen muss. Jetzt muss ich auch noch klettern gehen.«

»Ich würde es dir gerne abnehmen, Ewe. Aber ich habe keine Ahnung von Leichen«, sagte Florian grinsend. Und an Georg Bruchstein gewandt: »Haben Sie den Mann in der Felsspalte erkannt? Sind Sie immer allein auf der Hütte?«

»Den Mann kenne ich nicht. Das hoffe ich zumindest, denn man kann ihn nicht vollständig sehen. Der Körper liegt mit dem Gesicht nach unten zwischen und teilweise unter den Felsen. Es müssen sich ein paar größere Steinbrocken gelöst haben und auf ihn gefallen sein. Das Gestein ist an manchen Stellen der Klamm recht locker«, erklärte Bruchstein und ging mit weit ausholenden Schritten auf den besagten Zaun zu. »Und ja, ich bin hier oben fast immer allein. Die Schumpen und ich verbringen den ganzen Sommer in den Bergen. Insgesamt über drei Monate. Manchmal bekomme ich Besuch von meiner Frau und meiner Tochter. Sie bleiben dann ein paar Tage auf der Alpe.«

»Aber zurzeit …«, begann Florian, wurde jedoch sofort unterbrochen.

»Seit zwei Wochen bin ich allein. Wer von Ihnen will jetzt hinabsteigen?« Georg Bruchstein hielt das Seil herausfordernd in die Höhe.

Das Ende des dicken Taus lag neben ihm im Gras. Florian hatte sich am Rand des Abgrundes auf einen flachen Stein gesetzt, stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und schaute zu Erwin Buchmann hinunter, der ungesichert am Grund der Bergspalte zwischen den Felsen herumkletterte und schließlich die Leiche erreichte.

Angenehm war der Anblick des toten Körpers nicht. Selbst von hier oben erkannte Florian die eingedrückte Schädeldecke am Hinterkopf der Leiche. Der Nebel hatte sich verzogen, die Sonne stand hoch am Himmel und ihr Licht erhellte den Spalt bis in die entferntesten Tiefen. Man konnte sehen, dass die Arme und Beine des Toten mehrfach gebrochen und unnatürlich verrenkt wie die Tentakel eines Kraken zwischen den Steinen lagen. Den größten Teil seines Rückens bedeckte ein schwerer Stein in der Größe einer Wassermelone. Immerhin war nirgends Blut zu sehen. Der Regen der letzten Nacht hatte alle Verletzungen und Schnittwunden an Armen und Hals ausgespült und gesäubert, sodass nur noch wunde rote Löcher in der Haut zu sehen waren.

Der Rechtsmediziner legte prüfend seine Finger an die Halsschlagader der abgestürzten Person, sah zu Florian hoch und schüttelte den Kopf.

»Hat ihm jemand auf den Schädel geschlagen?«, wollte der Hauptkommissar wissen und schaute kurz zu Georg Bruchstein, der neben ihm stand und ebenfalls hinunterblickte. »Vielleicht mit einem Stein?«

»Das kann sein«, bestätigte Ewe und sah sich die Kopfverletzung des Toten genauer an. »Aber den Schädelbruch kann sich der junge Mann auch durch den Sturz zugezogen haben, genau wie die Arm- und Beinbrüche.«

»Ein junger Mann also. Wie alt schätzt du ihn?« Florian ließ seine Füße über dem Abgrund baumeln und beugte sich ein kleines Stückchen vor. »Woran erkennst du sein Alter? Du kannst doch sein Gesicht gar nicht sehen.«

»Ich habe keine Ahnung, wie alt er ist«, brummte Ewe genervt. »Der Mann trägt ein sehr buntes Paar Turnschuhe, wie sie junge Leute bevorzugen. Auch der Sidecut, diese an einer Seite komplett rasierte Frisur, lässt auf einen jüngeren Menschen schließen. Ich stelle nur Mutmaßungen an«, erklärte er. »Ich brauche meinen Koffer.«

Die Bergung der Leiche gestaltete sich äußerst schwierig.

Zuerst musste Florian ein ganzes Stück den Pfad hinunterlaufen, um mithilfe seines Smartphones die örtliche Bergrettung mit einem Hubschrauber anzufordern. Mit dem großen Transporter der Rechtsmedizin konnten sie den steilen Hang nicht hinauffahren. Ebenso war es nahezu unmöglich, die Leiche auf einer Trage über den Feldweg den Berg hinunterzuschaffen. Selbst ein Geländewagen mit viel PS und Vierradantrieb würde den steilen Anstieg kaum bewältigen.

Erst über eine Stunde später traf der Hubschrauber ein und landete direkt neben der kleinen Alphütte.

Der Älpler Georg Bruchstein hatte indes seine Herde in höhere Berglagen getrieben, um sie dem Stress der lauten Rotorblätter des Rettungshubschraubers nicht auszusetzen. Zwei Bergretter stiegen schließlich in die schmale Felsspalte hinab und stellten fest, dass sie die mitgebrachte Trage nicht verwenden konnten. Es war unmöglich, sie an den Seilen die Felswand hinaufzuziehen, ohne dass der darauf liegende Leichnam beschädigt wurde. Deshalb legten sie den Toten in eine Plane, banden diese zusammen und zogen das Paket so behutsam und langsam wie möglich hinauf. Die ganze Aktion dauerte mehrere Stunden.

Erst am späten Nachmittag war die Bergung abgeschlossen.

4

»Du bist wirklich ein Idiot. Ich habe dir genaue Anweisungen gegeben, und was machst du? Ich dachte, ich kann mich auf dich verlassen und du wärst endlich so weit. Aber du bist der Worte nicht wert, die ich hier sinnlos verliere.«

Die Standpauke, die er sich anhören musste, dauerte bereits 20 Minuten, und wann immer er versuchte, sich zu rechtfertigen, wurde er lautstark unterbrochen und wütend niedergeschrien.

»Ich dachte …«, startete er einen erneuten Versuch, verstummte jedoch augenblicklich, als er in das grimmige Gesicht sah. »Es tut mir leid. Ich verspreche, beim nächsten Mal …«

»Beim nächsten Mal?« Die wütende Stimme überschlug sich fast. »Ein nächstes Mal wird es so schnell nicht geben. Ich habe dir eingebläut, dass es beim ersten Mal klappen muss. Habe ich dir gesagt, es muss beim ersten Mal klappen?«, wiederholte er rhetorisch. »Du bist ein Idiot. Was soll nur aus dir werden?« Er ging mit weit ausholenden Schritten und erhobenem Haupt durch das halb dunkle Zimmer wie ein General, den Blick starr geradeaus, aufrecht, die Hände hinter seinem Rücken ineinandergelegt. »Du hast mir dein Wort gegeben«, rief er in das Zimmer, ohne den jungen Mann anzusehen. »Und ich gab dir meins. Wenn meine Anweisungen noch ein einziges Mal derart stümperhaft und ohne den gewünschten Erfolg ausgeführt werden, ist nicht nur unsere Abmachung gestorben«, drohte er, blieb stehen und sah ihn streng an. »Ich hoffe, wir verstehen uns.«

Der junge Mann nickte, trat einen Schritt zurück, senkte den Kopf und starrte auf den Boden. »Ich habe verstanden. So ein Fehler wird nie wieder vorkommen.«

*

Gegen 19 Uhr traf Florian wieder zu Hause ein und wurde stürmisch von Svenja und Tobias begrüßt, den Kindern von Susanne, Jessicas verstorbener Schwester. Seit drei Jahren waren die beiden in seiner und Jessicas Obhut, und er liebte sie inzwischen so, als wären es seine eigenen. Da der jüngere Tobias nach den Sommerferien in die zweite Klasse kam, wäre es langsam höchste Zeit für ein Geschwisterchen. Für Florian war die Sache glasklar. Zuerst würde er Jessica heiraten, dann die beiden Kinder adoptieren, die seit dem letzten Jahr Vollwaisen waren. Und in nicht allzu ferner Zukunft hätte er gern ein oder zwei weitere Kinder. Jessica ahnte von seinem Plan nichts. Florian wusste aber, dass sie an einer Adoption ihrer Nichte und ihres Neffen nichts auszusetzen hatte. Bei allem anderen war er sich nicht so sicher.

»Du kommst spät«, stellte Jessica ohne die Spur eines Vorwurfes fest, als sie die Treppe herunterkam und ihm zur Begrüßung einen Kuss gab. »Hast du Hunger? Ich kann dir die Reste vom Mittagessen aufwärmen.« Sie schickte die Kinder nach oben und ging in die Küche. »Es gibt Erbsen und Wurzeln und Frikadellen.«

»Fleischküchle«, korrigierte Florian augenzwinkernd und folgte ihr in die Küche. »Und es heißt Möhren oder gelbe Rüben.«

»Die gelben Rüben sind aber orange. Und wenn du etwas essen willst: Es sind nur Frikadellen da!« Sie grinste breit und zwinkerte ihm ebenfalls zu.

»Was auch immer. Hauptsache Nahrung.« Er gab sich geschlagen. »Ist meine Mutter heute nicht zu Hause?«

Maria Forster, der das alte Stadthaus in Kempten gehörte, in dem sie alle lebten, und die im unteren Stockwerk zwei Zimmer mit Bad und schöner Terrasse bewohnte, leistete ihnen abends beim Essen häufig Gesellschaft in der gemeinsamen Küche.

»Sie ist spazieren gegangen«, berichtete Jessica, holte den aufgewärmten Teller mit dem Gemüse und den Frikadellen aus der Mikrowelle und platzierte ihn vor Florian auf dem Tisch. »Aber du solltest dich dringend einmal mit ihr unterhalten, wenn sie zurückkommt.«

»Wieso? Habt ihr euch gestritten?«

»Quatsch.« Jessica schüttelte verständnislos den Kopf. »Maria war heute irgendwie komisch, ist jedem Gespräch ausgewichen und hatte extrem schlechte Laune. Sie wollte mir nicht sagen, was los ist. Vielleicht ist sie bei dir etwas aufgeschlossener.«

Jessicas besorgter Gesichtsausdruck beunruhigte Florian. Er zog jedoch zweifelnd eine Augenbraue hoch und schüttelte langsam den Kopf. »Meine Mutter hat mir noch nie erzählt, was sie bedrückt. Da bin ich vermutlich der falsche Ansprechpartner. Was ist denn genau passiert?«

Jessica zuckte ratlos mit den Schultern. »Heute Nachmittag war noch alles gut. Sie hat mit Tobi zusammen einen Kakao getrunken und mit ihm ein Brettspiel gespielt«, sagte sie und sah Florian nachdenklich an. »Vielleicht lag es an dem Besuch, der später gekommen ist.«

Weil Florian keine Anstalten machte, nach dem erwähnten Besuch zu fragen, fuhr sie fort: »Als ich mit Tobi zum Fußballtraining wollte, kam uns in der Einfahrt ein Mann entgegen und fragte mich, ob hier eine Maria Forster wohne. Ich habe genickt, mir nichts dabei gedacht und auch nicht nachgefragt. Er ist zur Haustür gegangen, und wir sind zum Sportplatz gefahren.«

»Was war das für ein Mann? Hat meine Mutter einen heimlichen Verehrer?« Jetzt lachte Florian. »Der arme Kerl. Meine Mutter ist einfach nicht der Typ für ernsthafte Beziehungen. Männer seien ihr viel zu anstrengend, hat sie vor Jahren einmal zu mir gesagt. Ich vermute, deshalb bin ich auch ohne Vater aufgewachsen.«

In seinen Worten lag kein Bedauern. Jessica wusste, dass Florian seinen Vater nie kennengelernt hatte und auch nicht unter seiner Abwesenheit litt. Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, lautete sein Motto.

»Es war ein älterer Herr, über 70, schätze ich. Weißes, volles Haar, sehr groß, schlank, aber breitschultrig. Imposante Erscheinung. Er wirkte wie ein ehemaliger Richter oder Basketballprofi.«

»Richter oder Basketballspieler?« Florian sah seine Freundin zweifelnd an.

»Was ist, wenn das dein Vater war?«, warf Jessica unerwartet ein.

Florian erschrak zuerst, lachte dann jedoch schallend. »Das ist absolut unmöglich«, brachte er kopfschüttelnd heraus und konnte sich vor Lachen kaum beruhigen. Ihre Aussage schien ihn so zu belustigen, dass er Tränen in den Augen hatte.

»Wieso ist das so abwegig?«, wollte Jessica wissen und klang gekränkt.

»Ganz abgesehen davon, dass ich in Sachen Körperbau nichts von ihm geerbt hätte«, begann er schmunzelnd, als er sich beruhigt hatte. »Ich bin weder hünenhaft groß wie ein Basketballspieler noch ehrgeizig und klug genug, um Richter zu werden.« Er verstummte kurz und dachte angestrengt nach. »Aber das mit dem vollen Haar im hohen Alter, das könnte mir schon gefallen.« Er nickte zustimmend und zwinkerte Jessica erneut zu. »Es ist trotzdem unmöglich. Mein Vater ist bereits vor meiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

*

Der sandige Feldweg war staubtrocken. Seit sie das kleine Mofa von der asphaltierten Straße auf die ausgefahrene, von unzähligen Schlaglöchern übersäte Nebenstraße gelenkt hatte, zog sie eine riesige Wolke aus aufgewirbeltem Staub hinter sich her. Selbst hier auf dem schmalen Streifen Feldweg, in den sie abbiegen musste, wenn sie die Wiese am Hang erreichen wollte, wurde es nicht besser. Sie hatte Mühe, das laut ratternde Gefährt in der schmalen Spur zu halten, weil der klapprige und etwas zu breite Anhänger mit seinen Rädern über die ausgefahrene Spurrinne hinausragte und über das viel zu lange Gras und Gestrüpp am Wegrand holperte.

Die Sonne brannte heute erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Bereits jetzt um kurz nach halb elf war es unerträglich heiß, und sie war dankbar, dass Tante Gertrud sie heute in der Küche gebraucht hatte. So blieb ihr die schweißtreibende Arbeit auf dem Feld erspart. Morgen würde sie vermutlich weniger Glück haben. Dann würde Tante Gertrud entweder Rosa oder Gesa, eine ihrer Cousinen, für den Küchendienst abkommandieren.

»Da kommt Laura!«, hörte sie Simon trotz des Mofa-Geknatters rufen. Einige der Feldarbeiter hoben den Kopf und sahen in ihre Richtung. Gesa und Rosa winkten aufgeregt, ließen die Rechen fallen und rannten ihr lachend entgegen.

»Pause!«, rief Onkel Karl mit seiner tiefen, durchdringenden Stimme, stellte seinen Rechen an den großen Heuhaufen zu seiner Linken und wischte sich den Schweiß mit dem Unterarm von der Stirn.

Laura hielt am Rand der Wiese, stieg vom Mofa und öffnete die Plane über dem kleinen Anhänger. Alles schien heil geblieben zu sein. Tante Gertrud hatte die belegten Brote, die Gemüsesticks und den Eistee in Blechdosen und Thermoskannen für den Transport sicher verpackt. Ganz oben lag die Tageszeitung für ihren Onkel.

»Danke«, sagte er und nahm ihr die Zeitung ab. »Und wo ist mein Bier?«

»Hier, Onkel Karl. Aber Obacht, es ist ordentlich durchgeschüttelt worden.« Laura reichte ihm die Flasche, griff dann nach den Brotdosen und öffnete jede einzelne.

»Wurde Zeit, dass du kommst, Laura. Ich bin schon fix und fertig. Und Durst habe ich«, jammerte Rosa und rieb sich die schmerzenden Schultern. »Dabei sind Sommerferien. Da sollte man frei haben und lange schlafen, nicht den Tag mit Sklavenarbeit verbringen.«

Onkel Karl lachte nur. »Deine Ferien beginnen, wenn die Arbeit erledigt ist.«

Rosa, Gesa und die anderen durften sich eigentlich nicht beschweren. Jedes der Kinder und Jugendlichen auf dem Hof musste nur in den Ferien helfen, ansonsten bestanden Onkel Karl und Tante Gertrud darauf, dass sie ordentliche Schulen besuchten und eine vernünftige Ausbildung machten. Laura ging in die elfte Klasse des Gymnasiums, machte im nächsten Jahr ihr Abitur und wollte dann zum Studieren nach Augsburg. Sie wollte Grundschullehrerin werden. Das war ihr Traum, und den durfte sie leben. Ihre Eltern, die Schwester von Onkel Karl und ihr Mann, betrieben ganzjährig eine Sennalpe in Österreich. Laura sah die beiden nur ein paar Tage im Jahr. Sie war ihrem Onkel Karl sehr dankbar, dass sie seit Jahren wie eines seiner eigenen Kinder auf seinem Hof leben konnte. Ansonsten wäre es mit dem Schulbesuch und erst recht mit einem Gymnasium sehr schwierig geworden.

Neben den Familienmitgliedern gab es drei Helfer auf dem Hof. Einer davon war Simon. Heute war er der Einzige, der auf dem Feld half. Hendrik und Josef, die anderen beiden, hatten Stalldienst. Die Schumpen, also die Rinder, die noch keine Kälber hatten, waren zwar bis Mitte September auf der Alpe, doch die Milchkühe mussten versorgt werden. Außerdem sollten sich die beiden jungen Männer heute um den Pferdestall kümmern. Vor etwa einer Woche war den Rothausens fast der Stall abgebrannt. Grund dafür war eine Öllampe, die weder in den Stall gehörte noch mitten in der Nacht und dazu unbeaufsichtigt brennen durfte. Diese Lampe war umgefallen und hatte den Stall in Brand gesetzt, aber jemand hatte das Feuer gelöscht. Als Onkel Karl am frühen Morgen das Gebäude betreten hatte, hatte er die verkohlte Stallwand gesehen. Keiner wusste, wer das Feuer gelegt und wer es gelöscht hatte. Die drei Pferde hatten in dieser Nacht auf der Weide gestanden, warm genug war es, und die Tiere fühlten sich draußen am wohlsten.

Sie hatten Glück gehabt, dass nichts Schlimmes passiert war, trotzdem hatte Onkel Karl ihnen allen eine lange Predigt gehalten. Wer auch immer dieses Unglück heraufbeschworen habe, solle es nicht wagen, noch einmal mit einer brennenden Öllampe den Stall zu betreten. Schließlich hätten sie erstens elektrisches Licht und zweitens sei die Nacht zum Schlafen da, nicht zum Herumschleichen in leeren Ställen.

Auch Laura wusste nicht, wer in der fraglichen Nacht im Pferdestall gewesen war. Doch sie hatte eine Vermutung.

5

»Servus, Jessica.« Oberwachtmeister Glasinger hob kurz die Hand zum Gruß. »Wir haben den Verdächtigen in den Verhörraum 3 gebracht. Ein Kollege wartet dort, bis der Anwalt eintrifft.« Das Bedauern in seinem Gesicht war nicht gespielt, als er sagte: »Der Junge ist gerade 20 geworden, kommt aus gutem Hause. Wie kann es sein, dass der kaltblütig zwei Menschen ermordet?«

»Das habe ich mich auch gefragt«, sagte Jessica und reichte dem Oberwachtmeister ihre Hand. »Immerhin hat er eine ganz beachtliche Strafakte. Einbruchdiebstahl und mehrere aufgebrochene Autos. Vermutlich hat das Ehepaar Michelsbach ihn auf seinem Raubzug durchs Haus überrascht.« Sie sah ihrem Kollegen direkt in die Augen. »Wie geht es deiner Frau?«, wollte sie wissen, ließ seine Hand dabei nicht los und legte ihre zweite behutsam auf seinen linken Oberarm.

»Sylvia geht es gut. Sie ist im Moment auf einer Fortbildung. Erst neulich hat sie zu mir gesagt, sie müsse dich unbedingt mal wieder anrufen.« Glasinger lächelte, befreite sich aus Jessicas Hand, trat einen Schritt zurück und schob beide Hände in seine Hosentaschen. »Wenn sie zurück ist, dann kommt uns doch besuchen, du und Florian. Wir könnten grillen oder einfach ein Glas Wein zusammen trinken.«

»Sehr gern«, sagte Jessica und lächelte. »Grüße bitte Sylvia ganz lieb von mir. Vielleicht hat sie auch mal wieder Lust auf einen Mädelsabend mit Paula und mir.«

»Das hat sie sicher. Ich erzähle ihr heute Abend von deinem Vorschlag, wenn ich mit ihr telefoniere.«

Thomas Glasinger verabschiedete sich, und Jessica machte sich auf den Weg in den Verhörraum. Hoffentlich traf der Anwalt bald ein.

Erst über eine Stunde später konnte Jessica mit der Befragung des jungen Mannes beginnen. Der Anwalt war zwar zeitig eingetroffen, doch wollte dieser zuerst mit seinem Mandanten allein reden. Das vertrauliche Gespräch hatte zur Folge, dass Matteo Lorenz jegliche Aussage verweigerte und auf Anraten seines Anwaltes keine von Jessicas Fragen beantworten wollte.

»Verstehen Sie eigentlich, in welcher Lage Sie sich befinden?« Jessica sah den Verdächtigen streng an. »Wir haben Ihre Fingerabdrücke am Tatort gefunden. Am Griff der Terrassentür, an der Stereoanlage und am Glastisch neben der toten Frau Michelsbach.«

»Aber nicht an der Waffe, mit der Herr Michelsbach ermordet worden ist«, warf der Rechtsanwalt ein und klopfte mit der flachen Hand auf den Ordner vor sich, in dem ihm alle Untersuchungsergebnisse vorlagen. »Das beweist also gar nichts.«

»Immerhin beweist das die Anwesenheit Ihres Mandanten am Tatort«, argumentierte Jessica gelassen. »Außerdem passt die Verletzung am Bein von Herrn Lorenz zu dem Blut am Couchtisch. Und seine DNA wurde an der Leiche von Frau Michelsbach sichergestellt. Möchten Sie mir vielleicht doch erklären, was Sie am Tattag im Haus des verstorbenen Ehepaares wollten?«

Matteo Lorenz schüttelte vehement den Kopf und sah die Hauptkommissarin voller Wut an.