Alpenvereinsjahrbuch BERG 2017 -  - E-Book

Alpenvereinsjahrbuch BERG 2017 E-Book

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  • Herausgeber: Tyrolia
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Das Jahrbuch BERG bietet mit erstklassigen Beiträgen namhafter Autoren und Fotografen einen einzigartigen Überblick über die wichtigsten Themen und Trends aus der Welt der Berge und des Bergsports. Der BergWelten-Schwerpunkt gilt diesmal dem Tiroler Skitourenparadies Sellrain, eine Region, die auch im Sommer überraschend viel zu bieten hat. Die Rubrik BergFokus widmet sich dem alpinen Kernthema Wege und Steige: Wie entstehen Wege im Gebirge, wann vergehen sie, warum gibt es immer wieder Clinch um Wegerechte und was macht eigentlich gutes Gehen aus? Die Rubrik BergMenschen stellt außergewöhnliche Persönlichkeiten wie den Kugler Bauern oder den polnischen Ausnahme-Alpinisten Voytek Kurtyka vor, BergSteigen bringt den großen Überblick über das internationale Bergsportgeschehen, BergWissen ist u. a. dem Medikamentenmissbrauch beim Höhenbergsteigen auf der Spur und erklärt, warum der Schnee, der vom Himmel fällt, so unvergleichlich ist. Mit einem Exkurs zu Satire und Groteske nimmt BergKultur sich selbst aufs Korn. Egal um welches Thema es sich handelt, wohl keine andere Publikation präsentiert alpine Themen in dieser Vielfalt und inhaltlicher wie optischer Qualität zu einem derart günstigen Preis. Ein Must-have für alle Bergfreunde!

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Seitenzahl: 514

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Alpenvereinsjahrbuch

BERG 2017

Zeitschrift Band 141

Alpenvereinsjahrbuch

Berg 2017

Zeitschrift Band 141

HerausgeberDeutscher Alpenverein, MünchenÖsterreichischer Alpenverein, InnsbruckAlpenverein Südtirol, Bozen

RedaktionAnette Köhler, Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien

Cumulus über dem Acherkogel © M. Burtscher

Inhalt

Editorial: Starke Kräfte>> Anette Köhler

BergWelten: Sellrain

Das Sellraintal und seine Berge>> Hannes Schlosser

„Unser Kapital sind die Wanderwege“. Karl Kapferer und Luis Melmer im Interview

Sellrainer Stadtwäscherinnen>> Georg Jäger

Danke, Wasserkraft? Ökologische Herausforderungen der Energiewirtschaft am Beispiel des Kraftwerks Sellrain-Silz>> Luis Töchterle

Zwischen Trubel und Einsamkeit. Skitourenklassiker im Sellrain>> Stefan Herbke

„Die Ziele gehen mir nicht aus“. Lukas Ruetz im Interview

Jeder Schritt ein Abenteuer. Klettern in den Kalkkögeln>> Heinz Zak

BergFokus: Wege und Steige

Wo ein Wille, da ist bald ein Weg. Der Aufbau des Alpenvereins-Wegenetzes bis 1914>> Florian Ritter

Der Freiheit entgegen. Ein kulturhistorischer Streifzug zum Thema Wegerecht>> Susanne Gurschler

Ohne sie geht gar nichts. Alpine Wegbereiter im Porträt>> Stephanie Geiger

Wegenetz im Klimawandel. Herausfordernde Entwicklungen um die Kürsingerhütte>> Florian Ritter

„Nicht jeder Wanderweg ist heute noch um jeden Preis schützenswert“. Der Schweizer Wanderwegexperte Fredi von Gunten im Gespräch>> Dominik Prantl

Wege nach menschlichem Maß. Müssen wir das Verschwinden der Pfade und Steige hinnehmen?>> Gerhard Fitzthum

Geht doch! Unterwegs zwischen Premiumwegen und No-go-Areas>> Axel Klemmer

BergSteigen

Die Hölle, das sind die anderen. Spezies Hiker versus Spezies Biker>> Ingrid Hayek

Miteinander statt nebeneinander. Wie lässt sich Inklusion im Bergsport leben?>> Robert Demmel

Auf der Suche nach dem Besonderen? Internationaler Spitzenalpinismus 2015/2016>> Max Bolland

Der Nachwuchs startet durch. Die wichtigsten Entwicklungen und Ergebnisse in den alpinen Wettkampfdisziplinen>> Matthias Keller

Elbsandsteingebirge – „Wiege des Freikletterns“? Fritz Wiessner und das amerikanische Free Climbing>> Nicholas Mailänder

BergMenschen

Wie viel Erde braucht der Mensch? Vom Leben des Kugler-Bauern>> Wilfried F. Noisternig

Die Berge schenkten uns einen ganzen Kerl: Raimund von Klebelsberg>> Martin Achrainer

„Die Berge sind mein Atem“. Der polnische Ausnahme-Alpinist Voytek Kurtyka im Gespräch>> Bernadette McDonald und Zbyszek Skierski

Freigeist und Kosmopolit: Rolando Garibotti im Porträt>> Tom Dauer

BergWissen

Die Kalkkögel. Ein einst weit gereistes und jüngst wild umstrittenes Gebirge>> Kathrin Herzer

Bergsteigers beste Freunde. Medikamente können in großer Höhe gesund halten – aber auch Leben gefährden>> Martin Roos

Crystal Myths. Die Sache mit dem Schnee>> Barbara Schaefer

„Die Artenvielfalt wird deutlich reduziert“. Dr. Christian Newesely im Interview

BergKultur

Der freie Blick. Jürgen Winkler, Fotograf. Ein Porträt>> Axel Klemmer

Rockin‘ the Rocks: Über die Vielfalt von Bergmotiven in der populären Musik>> Michael Domanig

Die Tücken des Normalwegs. Alpine Bildsatiren zu Irrung, Hemmung und Übersprung>> Martin Scharfe

Autorinnen und Autoren

Impressum

Starke Kräfte

Zur 141. Ausgabe des Alpenvereinsjahrbuches

>> Anette Köhler

Indem sie von stärkeren Kräften zeugen,

als wir sie beschwören können,

und indem sie uns mit weitaus größeren Zeitspannen konfrontieren,

als wir uns vorstellen können,

widerlegen Berge unser exzessives Vertrauen in das von Menschen Gemachte.

Sie stellen tief gehende Fragen über unsere Endlichkeit

und die Bedeutung unserer Pläne.

Ich glaube, sie lehren uns Bescheidenheit.

Robert MacFarlane

„So nah, so fern“ lautete vor einigen Jahren der Slogan der Tirol Werbung. Gäbe es ihn noch nicht, müsste man ihn eigens fürs Sellrain, das BergWelten-Thema der vorliegenden Ausgabe, erfinden. Die Talschaft, nur wenige Kilometer von Innsbruck entfernt, ist seit jeher eng mit der Tiroler Landeshauptstadt verbunden, gleichzeitig bildet sie aufgrund des von einer engen Schlucht abgeriegelten Zugangs eine abgeschiedene, „ferne“ Welt. Im Sommer 2015 erfuhr diese sprichwörtliche Abgeschiedenheit eine bedrückende Realität, als verheerende Unwetter Muren auslösten, die weite Teile des Tales verwüsteten, und die Melach über Nacht in einen reißenden Fluss verwandelten, der Häuser und Straßen fortriss. Die Talstraße war tagelang unpassierbar, die Sanierungsarbeiten und der Ausbau der Schutzmaßnahmen dauern immer noch an, und vielen Anwohnern sitzt nach den traumatischen Ereignissen bei jedem aufziehenden Unwetter – und deren gab es auch im Sommer 2016 viele und heftige – die Angst im Nacken: „Berge widerlegen unser exzessives Vertrauen in das von Menschen Gemachte.“

Wie eng Stadt und Land aufeinander bezogen sind, zeigt der kulturhistorische Beitrag von Georg Jäger (Seite 24). Im Sellrain war über Jahrhunderte ein Wäschereigewerbe etabliert, das den Familien dort ein Auskommen garantierte – und die weitläufige Meinung widerlegt, dass Frauen „früher“ vom Erwerbsleben ausgeschlossen waren. Gleichzeitig war die Bergwelt des Sellrains seit den Anfängen des Alpinismus Naherholungsgebiet und Fluchtpunkt (nicht nur) der Innsbrucker Bergsteiger. Wie eng und über Generationen gewachsen diese Verbindung ist, zeigt auch die Ersteigungsgeschichte der nahen Kalkkögel. Generationen von Kletterern haben dort ihre Kräfte gemessen (lesen Sie dazu den Beitrag von Heinz Zak, Seite 50).

Heute denkt man beim Thema Kalkkögel eher an das Kräftemessen von Gegnern und Befürwortern des erschließungstechnischen „Brückenschlags“ zwischen den Skigebieten Axamer Lizum und Schlick 2000, das dank eines breiten Bürger-Engagements „vorläufig endgültig“ vom Tisch ist (siehe dazu den Beitrag von Katrin Herzer, Seite 206). Wenn wir schon beim Thema Kalkkögel sind: zum Sellrain gehören sie natürlich nicht. Eigentlich. Aber die Nachbarschaft und das, was diese beiden Gebiete der Stubaier Alpen verbindet, sind so unmittelbar, dass es sich anbietet, sie in das BergWelten-Thema miteinzubeziehen. Gleiches gilt für das Kühtai, die passartige, als Skiressort und zur Wasserkraftgewinnung erschlossene Hochfläche, die das Ötz- mit dem Sellraintal verbindet. Dort erhebt sich übrigens der Acherkogel, mit 3007 Metern Höhe der nördlichste Dreitausender Tirols, dessen Silhouette Sie auf den ersten Seiten dieses Buches bewundern können. Die Überschreitung des Nordostgrates von Maning- und Acherkogel (im Bild gut zu erkennen) ist sicher die lohnenswerteste hochalpine Kletterei in diesem Tourengebiet.

Sellrain und Kühtai – was für ein Gegensatz: unten im Tal die ruhige, einem Sanften Tourismus verpflichtete Bergsteigerdorf-Region, die Hannes Schlosser in seiner großen Gebietsmonografie vorstellt (siehe Seite 10), oben das im Sommer so gut wie ausgestorbene Ski-Retortendorf mit seinen Stauseen: eine hochalpine Industrielandschaft – und gleichzeitig ein weiteres Tor zum Sellrainer Skitourenparadies mit seinen fantastischen Tourenzielen, von dem unser Autor Stefan Herbke (siehe Seite 38) gemeinsam mit Lokalmatador Lukas Ruetz schwärmt. Dass man in dieser ursprünglichen, oft kargen Bergwelt auch im Sommer prächtig wandern und bergsteigen kann, beginnt sich mehr und mehr herumzusprechen – auch dank der Initiative „Bergsteigerdörfer“ des Österreichischen Alpenvereins. Vor allem aber deshalb, weil weitsichtige Zeitgenossen wie Luis Melmer (siehe Gespräch Seite 22) beizeiten erkannt haben, dass die Ski-Erschließungs- und Wachstumsspirale mit ihren Abhängigkeiten von Investoren kein Modell mit Zukunft sei und einem „Ausverkauf der Heimat“ gleichkäme, und entsprechende Erschließungspläne bereits in den 1980er-Jahren ablehnten.

Das Thema „Ausverkauf der Heimat“ – sprich der wesentlichen Allgemeingüter Wasser und Boden – sollte dann 30 Jahre später wieder brisant werden, als bekannt wurde, dass die Tiroler Wasserkraft AG (TIWAG), Betreiber u. a. der Kraftwerksgruppe Sellrain-Silz, mit amerikanischen Investoren ebenso intransparente wie riskante Cross-Border-Leasing-Geschäfte machte. Apropos TIWAG: Das Energieversorgungsunternehmen des Landes Tirol sah sich auf Anfrage der Redaktion nicht in der Lage, Bildmaterial zur Information über den geplanten Ausbau des Kraftwerks Sellrain-Silz für den Beitrag von Luis Töchterle (siehe Seite 30) zur Verfügung zu stellen, der Beitrag sei unsachlich und tendenziell. Am besten machen Sie sich selbst ein Bild.

Aber gehen wir zurück in die Berge: Mit dem Thema „Wege und Steige“ steht heuer die alpine Infrastruktur im Mittelpunkt der Rubrik BergFokus. Etwa 55.000 Kilometer Wander- und Bergwege wurden von den alpinen Verbänden in den Ostalpen geschaffen und werden bis heute von ihnen erhalten. Ohne die zumeist ehrenamtliche Arbeit der Alpenvereine gäbe es das „Wanderparadies Alpen“ nicht. Wie vielfältig die Aufgaben und wie hoch ihr gesellschaftlicher Nutzen sind, zeigen die Porträts der „alpinen Wegbereiter“ von Stephanie Geiger (siehe Seite 72).

Lässt sich dieses über Generationen gewachsene Wegenetz angesichts der Probleme, die der Klimawandel mit sich bringt, überhaupt noch erhalten? Sind die alljährlichen „normalen“ Schäden durch Witterungseinflüsse im Hochgebirge und die damit einhergehenden Aufwände der Wegesanierung an sich schon enorm, verschärft sich die Situation im Zuge der globalen Erwärmung und stellt alle – Wegemacher wie Wegebenutzer – vor neue Herausforderungen. Besonders markant sind dabei die Veränderungen in der Gletscherregion. Wie dynamisch diese Entwicklung und wie groß der Anpassungsdruck ist, verdeutlicht der Beitrag von Florian Ritter am Beispiel der Kürsingerhütte (siehe Seite 82).

Aber sind nicht die Dogmen der Wirtschaftlichkeit von Hütten-, Alm- und Forstwirtschaft eine weitaus größere Bedrohung? Jede Wette, dass jährlich mehr Pfade und Steige durch sogenannte Infrastrukturmaßnahmen unter einer versiegelten Erdoberfläche verschwinden als durch Naturereignisse verloren gehen. Fußgänger sind die Verlierer der mobilen Gesellschaft, stellt Axel Klemmer in seinem äußerst lesenswerten Plädoyer „Geht doch!“ fest und ruft durchaus ernst gemeint zu zivilem Ungehorsam auf. Wie er das meint, lesen Sie ab Seite 110.

Gehen als subversiver Akt: Wer denkt da nicht auch an die Bilder des letzten Septembers, als sich Zigtausende Kriegsflüchtlinge zu Fuß auf den Weg gemacht haben, dort gegangen sind, wo sonst niemand geht, entlang der Autobahnen und Bahntrassen, um nach Österreich und Deutschland zu gelangen. Wie auch immer man dazu stehen mag: Dieses Gehen hat neue Realitäten geschaffen.

Tatsächlich haben wir in unserer Gesellschaft das Zufußgehen weitgehend aus dem öffentlichen Raum verbannt, Gehen dient heute kaum noch dem Zweck der Fortbewegung, Wandern ist Freizeitbeschäftigung, ein Luxus. Aber wie sieht eigentlich gutes Gehen aus? Dieser Frage widmet sich Gerhard Fitzthum in seinem erhellenden Beitrag „Wege nach menschlichem Maß“ (siehe Seite 98). Wir wissen es alle: Nichts ist ermüdender, als gleichförmig auf eintönigen Straßen zu marschieren. Wie anders, wenn das Auge seinen Weg finden, der Gang sich an eine wechselnde Oberfläche anpassen muss. Da sind wir wach und „da“, weil mit allen Sinnen gefordert. Genauso beim Biken, Klettern oder Skibergsteigen. Wie unterschiedlich sich die verschiedenen Gesteine anfühlen oder die Vielfalt des Schnees! Kunstschnee kann das (noch) nicht bieten. Warum das so ist, kann Barbara Schaefer berichten (siehe Seite 224). Wer den Unterschied (noch) kennt, weiß: auf mit Kunstschnee beschneiten Pisten Ski zu fahren, gleicht Wandern auf Asphalt. Umgekehrt fängt die Kunst zu gehen dort an, wo Pokémon-Go-Spiele enden. Berge bieten – und konfrontieren – uns mit weit mehr, als wir uns vorstellen oder selbst erschaffen können. Dies langfristig bewusst erlebbar zu machen und zu erhalten, bleibt die große gesellschaftliche Aufgabe des Alpenvereins.

BergWelten

Traumhänge und kein Lift, so weit das Auge reicht: Blick vom Zischgeles im Sellrain auf die umliegende Gipfelparade. Im prächtigen Nordwesthang der Schöntalspitze sind Abfahrtsspuren zu erkennen (links), hinter dem langen Nordgrat der Grubenwand erstreckt sich das Gleirschtal mit dem Gleirschferner, das vom Gleirscher Fernerkogel begrenzt wird.

© J. Pfatschbacher

Das Sellraintal und seine Berge

Die Bergsteigerdorf-Region vor den Toren Innsbrucks

>> Hannes Schlosser

Sollten Sie das Sellrain noch nicht kennen, dann gibt es eine besonders zeitsparende Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen: den „Sellraintaler 24-Stunden-Marsch“, erstmals 2014 veranstaltet. Aber das ist nur eine von ungeahnt vielen Möglichkeiten.

Ein föhniger Herbsttag und eine Annäherung an die Sellrainer Berge auf dem Weg zum Kühtaier Hirschebensee. In der Mitte die markante Gestalt des Gaißkogls, links der Mittergrat und rechts der Plenderlesseekopf.

© M. Burtscher

Sellraintaler 24-Stunden-Marsch

St. Sigmund (1513 m) ist die höchstgelegene und jeweils mit Abstand bevölkerungsärmste und flächengrößte der drei Gemeinden im Tal. Vor dem Gemeindezentrum beginnt der 24-Stunden-Marsch am Freitag um 18 Uhr und dort endet er auch am Samstag um 18 Uhr. Dazwischen liegen 50 Kilometer Fußmarsch und 3500 Höhenmeter rauf und runter. Schlaflos. Die Idee zu dieser Schinderei hatte Karl Kapferer, Bürgermeister von St. Sigmund, Seele und Promotor der Bergsteigerdorfidee im Sellrain. Seit Herbst 2015 ist Kapferer ehemaliger Bürgermeister, wobei es in seinem Fall vielleicht angemessener ist, von emeritiert zu sprechen.

Am Freitag, dem 31. Juli 2015 bin ich um 18 Uhr mit dabei, gemeinsam mit 120 Mitwandernden, darunter Christian und Markus, zwei Freunde, die ich überredet habe, sich auch auf das Abenteuer einzulassen. Mittlere Altersgruppen überwiegen, geschätzt ein Drittel sind Frauen. 20 Bergrettungsleute und ein Arzt gehören auch zum Tross. Ein Rat: Allein schaffen den 24-Stunden-Marsch vermutlich nur die Zähesten. Freunde und Freundinnen können sich wechselseitig aufmuntern, bei Tiefpunkten weiterzumachen.

Das Wetter ist gut, die Temperatur angenehm. In gemütlichem Tempo geht es durch lichten Wald zum Weiler Haggen, Ausgangspunkt des Weges ins Kraspestal, dem kürzesten der Sellrainer Seitentäler. Wir steigen zur gegenüberliegenden Sonnseite auf, erreichen in steilen Serpentinen den Sellraintaler Höhenweg. Dieser verläuft unterhalb der Gipfel von Seejoch, Peiderspitz und Rosskogel annähernd entlang der 2000-Meter-Höhenlinie. Dieser Höhenweg war vor 20 Jahren auch eine Idee Kapferers. Knapp 15 Kilometer lang, reicht er von der Zirmbachalm unterhalb von Kühtai bis nach Oberperfuss hinaus. Überwiegend wurde der Weg neu angelegt, so naturnah, als sei er immer schon da gewesen. Die Rucksäcke sind klein und leicht, denn sämtliche Verpflegung ist all-inclusive. Über den Kalkkögeln taucht der anfangs rote Vollmond auf und wird uns die ganze Nacht begleiten. Ich lerne, dass heute „Blue Moon“ ist, so wird die zweite Vollmondnacht innerhalb eines Kalendermonats bezeichnet. Statistisch demnach ein rares Ereignis. Die Stirnlampen bilden eine lange Lichterkette, hübsch anzusehen, schade aber, dass nur wenige der Leuchtkraft des Mondes vertrauen. Gegen Mitternacht weitet sich das Blickfeld, das Lichtermeer von Innsbruck und seiner Umlandgemeinden schafft das nächste visuelle Highlight. Bis zum Kögele (2195 m) war alles leicht, dann geht es fast 1000 Höhenmeter hinunter nach St. Quirin, einem Weiler oberhalb der Gemeinde Sellrain mit einer Wallfahrtskirche, die von der Innsbrucker Innbrücke aus zu sehen ist. Der Weg durch den Wald ist steil und unangenehm. Trostreich in dieser Stunde ist Balou, der Border Collie von Christian, der aufpasst, dass die Herde der drei Freunde, auf die er zu achten hat, sich nicht verliert. Gegen 2 Uhr morgens Würstlpause mitten im Wald, bizarr erhellt von Scheinwerfern der Freiwilligen Feuerwehr.

Abendlicher Aufstieg auf den Haggener Sonnberg am Beginn des Sellraintaler 24-Stunden-Marsches.

Wesentlich ungeordneter geht es beim Schafabtrieb (rechts) im Bereich der Pforzheimer Hütte im Gleirschtal zu.

© H. Schlosser

Oberhalb von Sellrain geht es leicht abfallend und auf breiten Wegen hinunter ins Tal. Die Zerstörungen der Unwetter, die am 8. Juni das vordere Tal betroffen haben, bleiben uns (im Gegensatz zur Anreise) jetzt erspart. Unsere müden Schritte folgen dem „Besinnungsweg“. Im Morgengrauen gibt es in der Feuerwehrhalle Gries Torten und Kaffee. Nur wer nicht dabei war, wundert sich über die nächtliche Speisenfolge, Kalorienzählen hat bei einer solchen Tour Pause.

Ein sonniger Morgen, eine gemütliche Wanderung ins Lüsenstal hinein durch lichten Wald, es zieht sich. Die Sonnenstrahlen tun gut, endlich taucht im Süden die wuchtige Gestalt des Lüsener Fernerkogels auf. Mit seinen 3298 Metern ist er der Berg, um den sich hier vieles dreht. Im Weiler Praxmar erwartet den Tross nach den improvisierten Verpflegungsstationen ein perfektes Frühstücksbuffet im Alpengasthof Praxmar – Schutzhütte, Wirtshaus, Restaurant und Hotel in einem. Hier ist das Refugium von Luis Melmer, Wirt, Jagdpächter, Naturschützer, Bergfex und 70 Jahre alt. Einige TeilnehmerInnen haben in Praxmar aufgegeben, aber noch immer stellen sich mehr als 100 Menschen der nächsten Herausforderung. Von Praxmar (1687 m) führt der Weg auf das Satteljoch (2735 m) knapp unterhalb der Lampsenspitze – 1000 Höhenmeter nachdem wir seit 16 Stunden unterwegs sind. Es hat sich eingetrübt, nach einem Drittel des Aufstiegs beginnt es zu nieseln. Von oben kommt ein Wanderer, am Joch oben würde es schütten, sagt er. „Das ist doch sinnlos“, sage ich, will nach Praxmar hinunter und nach Hause. Wir sollten noch ein Stück weitergehen, tricksen mich die Freunde aus. Es hört zu regnen auf, problemlos schaffen wir und die Mitwandernden den steilen Aufstieg. Trotzdem, auf das neblige Gipfelglück der Lampsenspitze (2876 m) verzichten viele, wir auch.

Zu den in den Sommermonaten am häufigsten begangenen Bergwegen zählt jener durch das Längental, wobei das Westfalenhaus für manche der Höhepunkt eines Tagesausflugs ist, für andere hingegen ein Etappenziel auf mehrtägigen und anspruchsvolleren Touren. In der Bildmitte der Hohe Seeblaskogel.

Links: Die Erhaltung der Wege erfordert nicht nur nach jeder Schneeschmelze viel Engagement. Im Sommer 2015 hat ein einziges Unwetter die Hüttenzufahrt zur Pforzheimer Hütte an zahlreichen Stellen vermurt und unbefahrbar gemacht.

© H. Schlosser

Es folgen ein anfangs steiler und schottriger 600-Meter-Abstieg ins karge Gleirschtal und der letzte Gegenanstieg zur Pforzheimer Hütte (2308 m), wo köstliche Knödel warten. Schließlich noch hinunter zur Gleirschalm entlang des seit den Unwettern Ende Juni von zahlreichen Muren zerstörten Fahrwegs. 18 Uhr, Ziel erreicht, geschafft, aber nicht fix und fertig, keine schmerzenden Knie. Auf der Gleirschalm werden alle TeilnehmerInnen als Sieger geehrt, ein Schnitzel gibt es als Zugabe und endlich ein Bier. Zuletzt eine Viertelstunde zurück nach St. Sigmund. Während unserer letzten Schritte frage ich meine Freunde, ob wir nun Helden oder Deppen sind. Die Antwort bleibt aus, und ich habe sie bis heute nicht. Den Topfen, den meine Frau vorsorglich für Kniewickel eingekauft hat, können wir aufs Brot streichen. Kein Muskelkater, auch nicht in den Tagen darauf. Erstaunlich.

2016 führte die von Kapferer und seinem Team ausgetüftelte Route auch ins Fotscher Tal und damit in das dritte große Seitental. Mit dem Windegg (2577 m) war ein zweiter Gipfel dabei, zu überstehen waren gegenüber 2015 nicht nur drei Kilometer und 300 Höhenmeter zusätzlich, sondern auch ein nächtliches Hagelgewitter.

Innsbrucker Naherholungsgebiet

Das Sellraintal blieb von großen technischen Eingriffen weitgehend verschont. Das ist umso erstaunlicher, als das geschäftige Inntal mit seiner ewig dröhnenden Autobahn und der Tiroler Landeshauptstadt ums Eck liegt. In die Zentren der drei Talgemeinden sind es von Innsbruck aus 18 Kilometer nach Sellrain, 24 nach Gries und 29 nach St. Sigmund. Die Nähe zu Innsbruck ist ein zentraler Faktor für die im Tal lebenden Menschen. Das galt auch in der Vergangenheit, wie z. B. der Beitrag von Georg Jäger (Seite 24) über die Sellrainer Wäscherinnen belegt. Heute profitiert das Sellrain von der Stadtnähe zweifach: Für viele InnsbruckerInnen ist das Sellrain ihr bevorzugtes Naherholungsgebiet.

Der zweite Aspekt betrifft die Arbeitsplätze der Sellrainer Bevölkerung. Nachdem es im Tal außer im Tourismus, bei den Gemeinden und in den wenigen gewerblichen Betrieben kaum Jobs gibt, pendelt die überwiegende Zahl der Erwerbstätigen in den Großraum Innsbruck aus. PendlerInnen kommen auch von landwirtschaftlichen Betrieben, nachdem diese fast ausschließlich nur noch im Nebenerwerb geführt werden.

Lebensader Talstraße

Unter diesen Voraussetzungen stellt die 5 Kilometer lange Schluchtstrecke der Melach zwischen Sellrain und Kematen für das gesamte Tal wirtschaftlich und sozial eine Lebensader dar. Die Folgen des zweistündigen stationären Gewitters im Juni 2015 haben das nachhaltig unterstrichen. Fünf Wochen war die Straße komplett gesperrt und der Verkehr musste über die Mittelgebirgsdörfer Grinzens und Oberperfuss umgeleitet werden. Diese Zugänge sind noch heute teilweise durch winkelige, enge Straßen gekennzeichnet. Man kann erahnen, wie mühsam und langwierig der Weg ins Sellrain vor 150 Jahren war.

1888 war es nach jahrelangen Diskussionen endlich soweit gewesen: Die Talstraße ins Sellrain war fertiggestellt. Ein Foto, aufgenommen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bildet die Mautstelle Weichenofen am südlichen Ortsausgang von Kematen ab. Es zeigt eine Schotterstraße in einer Breite, die heutzutage gerade noch als Forstweg durchgehen würde. Kurios ist die Absperrung durch ein Gittertor, neben dem eine Tafel mit dem „Zolltarif“ stand. Für Pferde waren zwölf, für Ochsen acht und für Menschen zwei Kronen zu bezahlen. Kinder unter zehn Jahren gingen frei. Erst war im angrenzenden Bauernhaus die Maut zu bezahlen, ehe das Tor geöffnet wurde (siehe Foto S. 16).

Vom Anfang bis in die Gegenwart gefährden diese Straße immer wieder Hochwasser der Melach, Erdrutsche und Steinschläge. Allen im Lauf der Zeit errichteten Galerien, Hangsicherungen und Flussregulierungen zum Trotz, ist die Straße wohl auch künftig nicht vor Zerstörungen durch Naturgewalten und Sperren gefeit. Ein Jahr nach der Katastrophe von 2015 waren die Verwüstungen noch nicht zur Gänze beseitigt, mit schwerem Gerät wurde im Flussbett, an rutschgefährdeten Hängen und zusätzlichen Straßengalerien gearbeitet.

Lawinen- und andere Katastrophen

Die Steilheit der Hänge macht es leicht nachvollziehbar, dass Lawinen, Bergstürze, Muren und Hochwasser ein Dauerthema sind. Ausgebaggerte Rinnen, Schutzdämme, Auffangbecken, Verbauungen aller Art sind im Siedlungsbereich allgegenwärtig. Die größte überlieferte Lawinenkatastrophe ereignete sich 1817 im Gleirschtal, bei der zwei Häuser verschüttet wurden, in denen zehn Menschen starben. 1926 wurde dieser Siedlungsraum angesichts der ständigen Gefahr aufgegeben. Am 23. Februar 1970 donnerte eine Lawine vom Peider Sonnberg in den St. Sigmunder Ortsteil Peida. Der traditionsreiche Gasthof Alpenrose wurde zerstört, vier Menschen starben.

Wesentlich häufiger sind schwere Lawinenunfälle im alpinen Gelände. Besonders tragisch war die Verkettung zweier Unglücke am 14. Februar 1988. Drei Frauen und ein Mann aus München kamen bei der Abfahrt vom Wenten im Fotscher Tal unter eine Lawine. Die eingeflogenen Rettungsmannschaften konnten bei drei Opfern nur noch den Tod feststellen, beim vierten gab es noch minimale Überlebenschancen. Mit diesem Opfer an Bord stürzte der Hubschrauber unmittelbar nach dem Abheben ab, ein Rettungsarzt und ein Sanitäter starben. Die letzten per Funk durchgegebenen Worte des Arztes waren: „Ich fühle mich nicht berufen, hier schon den Tod festzustellen. Ich möchte dem Patienten nur jede Chance geben.“

Bemerkenswert ist auch der Lawinenunfall vom 6. Februar 1969, weil er im Rahmen eines Bundesheerkurses geschah. Von der 20-köpfigen Gruppe wurde knapp unterhalb des Zischgelesgipfels ein Schneebrett losgetreten, das drei Soldaten mitriss, zwei konnten nur noch tot geborgen werden. Tatsächlich vergeht kaum ein Jahr ohne Lawinenunfall am Zischgeles (3004 m). Der Gipfel zählt zu den beliebtesten Skitourenbergen weit und breit. Luis Melmer: „Der Zischgeles ist ein Mythos, ein Berg mit zwei Gesichtern, er hat eine gute Seite, aber auch eine ganz schreckliche. Du hast 30, 40 Leute im Gipfelhang, am Vormittag hat er gehalten und am Nachmittag ist er gegangen.“

Das obere Gleirschtal ist das kargste der drei großen Sellrainer Seitentäler. Blick nach Süden, in der Bildmitte der langgestreckte Rücken der Grubenwand, links der zackige Grat zwischen Schöntalspitze und Zischgeles.

© H. Schlosser

Wesentlich farbenprächtiger ist ein Sonnenaufgang am Roten Kogel. Blickrichtung Nord mit Wetterstein (links) und Karwendel (rechts).

© J. Pfatschbacher

Seit bald 130 Jahren ist die Straße durch die Melachschlucht zwischen Kematen und Sellrain die Lebensader des Tales.

Die Mautstelle am Taleingang (rechts) hat längst ausgedient. Alle paar Jahre kommen neue Galerien hinzu. Die Unwetter vom Juni 2015 beweisen, dass es einen absolut sicheren Schutz der Straße wohl nie geben wird.

© H. Schlosser/Archiv G. Jäger (rechts)

Berüchtigt für seine Bergstürze ist der Grieser Hausberg Freihut (2614 m). In zeitgenössischen Beschreibungen des gewaltigen Bergsturzes von 1852, bei dem sich auch der Gipfelaufbau veränderte, heißt es, das „furchtbare Lärmen“ sei bis Innsbruck zu hören gewesen. Anfang des neuen Jahrtausends kam erneut Bewegung in die Ostflanke des beliebten Aussichtsberges. Um die vom Grieser Ortskern ins Lüsenstal vorangeschrittene Besiedelung zu schützen, wurde 2003 ein 400 Meter langer und 15 Meter hoher Schutzdamm errichtet.

Gescheiterte Seilbahnprojekte

Ende der 1970er- und in den 1980er-Jahren gab es im Sellrain massive Bestrebungen zu skitechnischen Erschließungen in den Bereichen Praxmar–Lampsen–Koglalm und Sellrain–Seiges. Die lokalen Projektbetreiber konnten auf die Unterstützung der jeweiligen Gemeinde, aber auch des Landes bauen. Eine am 17. Juni 1979 erlassene Verordnung nach dem Tiroler Raumordnungskonzept sah die Umsetzung eines der beiden Projekte vor, weil man sich davon Entwicklungschancen für die gesamte Region versprach. Der Verordnungstext war so offen formuliert, dass auch eine Genehmigung beider Projekte möglich schien.

Als im Herbst 1979 das Lampsenprojekt öffentlich und ein Baubeginn im Frühjahr 1980 angekündigt wurde, entrüsteten sich Naturschützer und Alpenverein. Eine Protestskitour mit 200 TeilnehmerInnen im März 1980 begrüßten in Praxmar die Projektproponenten mit einem Transparent („Das Sellraintal grüßt seine Protestierer – beim Liften oder Tourengehen seid ihr alle gern gesehen!“), Marketenderinnen und Schnapsln durchaus freundlich. Letztlich scheiterte das Projekt an Zerwürfnissen zwischen den lokalen Gesellschaftern der Familie Melmer vom Alpengasthof Praxmar (zugleich Grundeigentümer am Lampsen) und jenen aus dem Zillertal, die zur Finanzierung ins Boot geholt worden waren. 1984 wurde das Lampsenprojekt endgültig zu Grabe getragen.

Ab 1981 forcierte die Gemeinde Sellrain massiv die Erschließung der Seiges vor ihrer Haustüre im Fotscher Tal. In den wechselnden Erschließergesellschaften schienen Finanziers bis nach Kanada auf. Im Lauf der Zeit wurden wiederholt adaptierte Projektvarianten eingereicht und mit den Grundeigentümern (Agrargemeinschaft, Bundesforste) Verträge ausgehandelt. Jahrelange Streitereien unter den Projektpartnern zögerten die Realisierung hinaus, bis die Bundesforste und vor allem das Land Tirol umdachten und Ende der 1980er-Jahre ihre Genehmigungszusagen widerriefen.

Knapp 30 Jahre später gibt es im Tal kaum noch jemanden, der den Plänen nachweint. Es hat sich herumgesprochen, dass die erhofften wirtschaftlichen Impulse bescheiden geblieben wären und die kleinräumigen Skigebiete heute ums Überleben kämpfen würden. Mit dem Ende der Seilbahnträume wurde der Weg des sanften Tourismus im Sellrain alternativlos. Bezeichnend, dass von den 1974 über das Tal verstreuten zehn kleinen Schleppliftanlagen gegenwärtig nur mehr zwei Minilifte existieren.

Kraftwerk Sellrain-Silz

Nicht erspart blieb dem Sellrain die energiewirtschaftliche Nutzung vieler Bäche für das Pumpspeicherkraftwerk Sellrain-Silz (siehe Beitrag von Luis Töchterle Seite 30). Seit 1981 in Vollbetrieb, ist sein Herzstück der Speicher Finstertal im benachbarten Kühtai. Schwer belastet war das Tal in den Jahren zuvor durch den Baustellenverkehr. Die Restwassermengen liegen teilweise bei null – und wären heute nicht mehr genehmigungsfähige Eingriffe in den Wasserhaushalt. Meist sind die Wasserfassungen gut versteckt und von Wanderwegen kaum einsehbar. Eine Ausnahme ist beim Abstieg vom Westfalenhaus über den Winterweg zu sehen. Unterhalb der Längentaler Alm verschwindet der Bach in einem „Tiroler Wehr“ zur Gänze und hinterlässt ein trockenes Bachbett. Die Gemeinden stehen zu den Verträgen mit dem landeseigenen Kraftwerksbetreiber TIWAG, weil der Kraftwerksbau infrastrukturelle Verbesserungen ermöglich hat und die budgetschwachen Gemeinden auf die jährlichen Zuwendungen angewiesen sind.

Apropos Kühtai: Der Ort am Übergang ins Ötztal gehört zur Gemeinde Silz und ist quasi eine Antithese zum Sellrain. Abgesehen von der Beeinträchtigung des Landschaftsbildes durch die mächtige Mauer des Finstertalstausees, ist Kühtai ein Retortenskiort mit zahlreichen Liften, 40 Pistenkilometern und 2000 Gästebetten (doppelt so viele wie in der gesamten Region Sellraintal). Gravierend leidet das Sellraintal an Winterwochenenden unter dem Verkehr ins und aus dem Skigebiet.

Aufstieg vom Alpengasthof Lüsens über den Sommerweg zum Westfalenhaus. Wie mit einem Lineal ist die Kante des Lüsener Ferners gezogen, nur noch wenig Eis ragt darüber hinaus. Rechts die mächtige Gestalt des Lüsener Fernerkogels. Rund um den Standort des Fotografen gibt es ausgedehnte Heidelbeerfelder, wodurch sich im August der zweistündige Aufstieg deutlich verlängern kann.

© H. Schlosser

Lüsener Fernerkogel

Wird über die „schönsten Talschlüsse der Ostalpen“ geredet, fällt rasch der Name Lüsens. Derartige Attribute neigen zu hohlem Pathos, bloß widersprechen kann man in diesem Fall wirklich nicht. Da passt schon vieles zusammen: der sich weitende, sanft ansteigende Talboden, die Wasserfälle auf der orographisch rechten Melachseite, der Lüsener Ferner – auch wenn der einst mächtige Gletscher kaum noch über die wie mit einem Lineal gezogene Kante reicht. Und dann natürlich der Lüsener Fernerkogel (3298 m). Schon in Gries, am Beginn des Tales, ist seine Spitze sichtbar, spätestens beim Alpengasthof Lüsens zeigt er sich in seiner ganzen wuchtigen Schönheit. Die Vergleiche reichen bis zum Matterhorn.

Die erste dokumentierte Besteigung gelang dem berühmten Alpinisten Peter Karl Thurwieser, ein Salzburger Theologe mit Tiroler Wurzeln, am 24. August 1836. Geführt wurde Thurwieser von den beiden Praxmarer Gamsjägern Philipp Schöpf (76-jährig!) und dessen Schwiegersohn Jakob Kofler. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Fernerkogel nur selten bestiegen. 1879 kam zum Weg der Erstbesteiger durch das Horntal der wesentlich anspruchsvollere über den Nordgrat hinzu.

Die Region Sellraintal in Zahlen

Die Reliefenergie des Sellrains ist beachtlich. Der tiefste Punkt liegt am Beginn der Schluchtstrecke der Melach am Ortsrand von Kematen auf 650 m und erreicht beim Lüsener Fernerkogel und dem Hinteren Brunnenkogel 3300 m.

Drei Täler, drei Stützpunkte: Alpenvereinshütten im Sellrain

Die drei großen Seitentäler des Sellrains werden nicht zuletzt von drei Alpenvereinshütten geprägt: die Potsdamer Hütte im Fotscher Tal, das Westfalenhaus im Lüsener Längental und die Pforzheimer Hütte im Gleirschtal. Für alle drei Sellrainer AV-Hütten gilt, dass sie in attraktiven Skitourengebieten liegen und daher zweisaisonal geführt werden. Die Hüttennamen weisen darauf hin, dass ihre Gründungssektionen aus Deutschland kommen − bei den Tiroler AV-Hütten mehr Regel denn Ausnahme. Die drei Hütten wurden 1908, 1926 und 1932 eröffnet, also relativ spät, was auch ein Hinweis darauf ist, dass es sich bei den Sellrainer Bergen nicht um eine alpintouristisch früh begehrte Region handelt.

Westfalenhaus

Die Sektion Münster/Westfalen entstand 1903, das Attribut „alpenfern“ passt perfekt. Obwohl ihr anfangs nur 60 Mitglieder angehörten, konkretisierte sich innerhalb eines Jahres der Traum von einem Haus in den Alpen. Der Standort im Talschluss von Innichen gefiel der Sektion, ein Vertrag aber kam nicht zustande. Wir werden sehen, ein glückliches Scheitern. Es kam der Bauplatz im Lüsener Längental ins Spiel, der bereits einige Zeit in AV-Zeitschriften favorisiert worden war. 1906 einigte sich die Sektion mit dem Grundstückseigentümer, dem Innsbrucker Stift Wilten, über einen langfristigen Pachtvertrag. Am 3. September 1908 konnte die mit sechs Schlafplätzen ausgestattete Hütte auf 2273 Meter Höhe eröffnet werden.

Der bis heute unveränderte Standort ist optimal: lawinensicher und vom Tal (Praxmar bzw. Lüsens) in zweieinhalb Stunden erreichbar (sofern man nicht im August in den schier unerschöpflichen Heidelbeerfeldern hängen bleibt). Zudem ist das Westfalenhaus ein ideal gelegener Knotenpunkt für die Übergänge zu Pforzheimer Hütte, Winnebachseehütte und Amberger Hütte (Gletschertour), zugleich Ausgangspunkt für zahlreiche Gipfeltouren (Seeblaskogel, Längentaler Weißenkogel, Schöntalspitze, Grubenwand etc.). Zum 100. Hüttengeburtstag hat sich die Sektion mit einer Generalsanierung beschenkt. Heute verfügt die Hütte über 56 Schlafplätze und zeitgemäße Standards im Umweltbereich. Das Dieselaggregat hat fast ausgedient. Die Kochkünste von Hüttenwirt Rinaldo di Biasio und seinem Team sind legendär.

Pforzheimer Hütte

Die Gründung der Sektion Pforzheim datiert bereits in das Jahr 1891. Zehn Jahre später eröffnete sie ihren alpinen Stützpunkt in der Südtiroler Sesvennagruppe. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Abtrennung Südtirols widerfuhr den Pforzheimern die ersatzlose Enteignung, so wie allen anderen Sektionen des DuOeAV mit Hütten auf nunmehr italienischem Staatsgebiet.

Dieser Verlust entmutigte die wachsende Sektion (1925: 600 Mitglieder) nur kurz und sie fand mit Unterstützung von Innsbrucker Freunden eines der wenigen Gebiete der Ostalpen, in dem ein Hüttenbau noch möglich war: „Insbesondere entbehrte eines der schönsten Sellrainer Seitentäler, das zu stolzen, gletschergeschmückten Gipfeln führende Gleirschtal eines Stützpunktes für Bergsteiger. Diese Lücke soll die Neue Pforzheimer Hütte füllen. Neben dem Gleirschtal und seinem Bergkranz umfaßt das Arbeitsgebiet der Sektion Pforzheim noch ein weiteres Sellrainer Seitental, das kurze Kraspestal und die es umschließenden Gipfel“, schrieb der langjährige Sektionsobmann Adolf Witzenmann nach der Eröffnung der Neuen Pforzheimer Hütte (2308 m) am 5. September 1926.

Bis heute trägt die Unterkunft auch den Namen Adolf-Witzenmann-Hütte. Witzenmann wird nachgesagt, dass er alle 56 Gipfel des Gleirsch- und Kraspestals bestiegen hat. Über den 1937 verstorbenen Adolf Witzenmann ist allerdings auch zu erwähnen, dass er als Mitglied des Hauptausschusses dazu beitrug, den Alpenverein im nationalsozialistischen Gedankengut auf- und damit untergehen zu lassen. Im Unterschied zu vielen anderen AV-Hütten waren die drei im Sellrain während des Zweiten Weltkriegs fast durchgehend bewirtschaftet. Genutzt wurden die Hütten primär für Erholungsurlaube von Frontsoldaten und die paramilitärische Ausbildung der Hitlerjugend.

Das Westfalenhaus, links der Lüsener Fernerkogel, im Hintergrund in der Mitte der klein gewordene Längentaler Ferner. Hier stürzte am 8. 8. 2012 ein Bergsteiger aus Bayern in eine 15 Meter tiefe Gletscherspalte, aus der er erst sechs Tage später nahezu unverletzt gerettet wurde.

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Die Potsdamer Hütte (links) und die Pforzheimer Hütte (rechts) sind die alpinen Unterkünfte im Fotscher bzw. Gleirschtal. Sie sind Ausgangspunkt zu Wanderungen und hochalpinen Touren sowie (mit dem Westfalenhaus) Etappenziele der Sellraintaler Hüttenrunde.

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Heute befindet sich die Pforzheimer Hütte gemeinsam mit dem benachbarten Westfalenhaus im Zentrum der Sellraintaler Hüttenrunde. Nach zahlreichen Erweiterungen und Adaptierungen zählt die Pforzheimer Hütte mit 46 Schlafplätzen (+ zehn Notlager) zu den bestausgestatteten AV-Hütten im weiten Umkreis. Zur ausgezeichneten Bewirtung durch das Team von Hüttenwirtin Ingrid Penz zählen seit einiger Zeit auch nepalesische Spezialitäten.

Vom Talort St. Sigmund ist die Hütte in zweieinhalb Stunden erreichbar, Übergänge führen zum Westfalenhaus, zur Schweinfurter Hütte, Winnebachseehütte und nach Praxmar. Zu den beliebtesten Gipfeltouren gehören Zwieselbacher Rosskogel, Rotgrubenspitze, Zischgeles und Lampsenspitze.

Potsdamer Hütte

Einen wunderschön gelegenen Bauplatz für ihr alpines Refugium hat die 1907 gegründete Sektion Potsdam im hinteren Fotscher Tal auf 2020 m gefunden. Die Eröffnung der Potsdamer Hütte fand am 24. Juli 1932 statt und schloss eine Lücke zwischen dem Senderstal am Fuße der Kalkkögel im Osten (Adolf-Pichler-Hütte, Kemater Alm) und dem Lüsenstal im Westen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Potsdam in der sowjetischen Besatzungszone und in der Folge in der DDR. Für die Potsdamer Bergsteiger war weder eine Wiedergründung ihrer Sektion möglich, noch ihr Sellrainer Arbeitsgebiet erreichbar. Als sich 1953 eine Rückgabe der von den Alliierten als deutsches Eigentum beschlagnahmten AV-Hütten an ihre früheren Besitzer abzeichnete, wurden darauf auch ehemalige, in der BRD lebende Mitglieder der Sektion Potsdam aufmerksam. Einige darunter gründeten 1955 im mittelfränkischen Dinkelsbühl die „Sektion Potsdam des DAV – in Dinkelsbühl e.V.“ Wenig später war diese neue Sektion Eigentümerin der Potsdamer Hütte, sie heißt inzwischen „Sektion Dinkelsbühl des DAV e.V.“ Mit der nach der deutschen Wiedervereinigung neu entstandenen Sektion Potsdam bestehen freundschaftliche Beziehungen. Heute schmückt sich die Potsdamer Hütte mit dem Prädikat kinderfreundlich und verfügt über 56 Schlafplätze. Abgesehen vom Roten Kogel, über den ein Übergang nach Lüsens führt und der als einer der schönsten Skitourenberge Tirols gilt, sind die Gipfel rund um die Potsdamer Hütte eher wenig bekannt. Das ändert nichts daran, dass es attraktive Bergtouren von leicht bis schwierig gibt, die allesamt als aussichtsreich gelten. Die Potsdamer Hütte besticht mit ihrem historischen Ambiente in der Stube, Hüttenwirt Michael Schaffenrath sorgt für klassisch-bodenständige Küche.

Der Zustieg vom Tal kann in Sellrain oder Tanneben beginnen. Nach dem Gasthof Bergheim teilt sich der Zustieg in den Sommer- und Winterweg. Einen wunderschönen „Umweg“ gibt es über die Almindalm und den Schellenberg. Eine geschützte Naturschönheit ist der mäandernde Fotscher Bach bei der Hinteren Alm. Einen eindrucksvollen Blick darauf hat man von der Potsdamer Hütte. Nicht zuletzt führt in die Fotsch eine der längsten Rodelbahnen Tirols, die nach zweieinhalbstündigem Aufstieg in winterlicher Traumlandschaft bei der Potsdamer Hütte endet.

Die wichtigsten Gipfel

Hinterer Brunnenkogel (3325 m)

Vorderer Brunnenkogel (3306 m)

Lüsener Fernerkogel (3298 m)

Hoher Seeblaskogel (3235 m)

Gleirscher Fernerkogel (3189 m)

Lüsener Spitze (3186 m)

Zwieselbacher Rosskogel (3081 m)

Lüsener Villerspitze (3027 m)

Zischgeles (3004 m)

Schöntalspitze (3002 m)

Haidenspitze (2975 m)

Lampsenspitze (2876 m)

Roter Kogel (2832 m)

Samerschlag/Schartlkopf (2829 m)

Seejoch (2808 m)

Pockkogel (2807 m)

Oberstkogel (2767 m)

Rosskogel (2646 m)

Freihut (2625 m)

Windegg (2577 m)

Der mäandrierende Fotscher Bach unterhalb der Potsdamer Hütte ist als Naturdenkmal ausgewiesen.

Zur Zeit der Schneeschmelze ist die Melach (rechts) in ihrem Oberlauf ein tosendes Naturereignis, Überflutungen von Brücken und Wegen sind dabei keine Seltenheit (hier im Bereich der Längentaler Alm).

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Heute ist der Fernerkogel im Winter ein beliebtes Skitourenziel. Im Sommer wird zum Bedauern der Sellrainer ihr Paradeberg fast nur mehr von der Stubaier Seite aus bestiegen (Franz-Senn-Hütte/Rinnennieder). Der klassische Anstieg von Lüsens aus ist laut Kapferer „ein wunderschöner Steig, aber fast unmöglich zu begehen“. Der Steig ist zugewachsen, im oberen Teil sind die Wassermassen der Melach ein kaum zu überwindendes Hindernis. Kapferer möchte in einem nicht unumstrittenen Projekt den Steig restaurieren, die Melach mit einer Brücke überwinden und eine Biwakschachtel errichten.

Bergsteigerdörfer

Als Redakteur der Buchreihe „Alpingeschichte kurz und bündig“ habe ich in den letzten Jahren alle in der Initiative Bergsteigerdörfer des ÖAV zusammengefassten Orte mehr oder weniger gut kennengelernt. 20 Orte und Talschaften in sieben Bundesländern sind es inzwischen, 2015 kam mit Ramsau bei Berchtesgaden eine deutsche Gemeinde hinzu. Die Orte haben ganz unterschiedlichen Charakter, aber sie haben sich gemeinsam der Philosophie der Bergsteigerdörfer verschrieben. Auf der Homepage www.bergsteigerdoerfer.at gibt es dazu viel nachzulesen, darunter einen umfassenden Kriterienkatalog, der die Bergsteigerdörfer auch als Umsetzungsprojekt der Alpenkonvention ausweist. „Die österreichischen Bergsteigerdörfer sind vorbildhafte regionale Entwicklungskerne im nachhaltigen Alpintourismus mit einer entsprechenden Tradition. Sie garantieren ein hochwertiges Tourismusangebot für Bergsteiger und Bergwanderer, weisen eine exzellente Landschafts- und Umweltqualität auf und engagieren sich für die Bewahrung der örtlichen Kultur- und Naturwerte.“ Eine große Stärke der Bergsteigerdörfer ist der Austausch zwischen den Orten – keine Konkurrenz, sondern voneinander lernen.

Als Kapferer von dem Projekt erfuhr, wusste er sofort: „Das passt doch auf uns.“ Kapferer steckte zuerst Elisabeth Schwarz, die Sekretärin im St. Sigmunder Tourismusbüro, mit der Idee einer Bewerbung an, dann brauchte es viel Überzeugungsarbeit und Geduld. In den Gemeindestuben von Gries und Sellrain, den Tourismusbetrieben, im Alpenverein. Am 14. Juni 2013 schließlich kann die Beitrittsfeier in St. Sigmund begangen werden: Die drei Talgemeinden St. Sigmund, Sellrain und Gries sind als „Region Sellraintal“ Mitglied im erlesenen Kreis der Bergsteigerdörfer.

Inzwischen ist die Leitidee im Tal gut verankert, das Logo der Bergsteigerdörfer so präsent wie kaum in einem anderen Ort.

Zu einem Hit hat sich die Sellrainer Hüttenrunde entwickelt, sie ist – im Gegensatz zum eingangs beschriebenen 24-Stunden-Marsch – eine Erkundung in Zeitlupe.

Die Sellraintaler Hüttenrunde ist nicht zuletzt von Plätzen geprägt, die in ihrer Kargheit beeindrucken. Die westlichste Etappe führt durch die schier endlosen Kare unterhalb von Hochreichkopf, Wechner- und Acherkogel.

Der Kraspessee (rechts) ist ein Kleinod am Ende des gleichnamigen Tals, fotografiert vom Anstieg zum Zwieselbacher Rosskogel.

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Hüttenrunde mit Varianten

Die Hüttenrunde lässt viele Routenvarianten offen, etwa indem der eine oder andere Gipfel mitgenommen wird oder schwierige und lange Etappen geteilt oder umgangen werden können. Der vom DAV herausgegebene Folder (www.sellrainer-huettenrunde.at) bietet dazu verschiedene Anregungen. Die klassische Variante beginnt und endet in Sellrain, wird üblicherweise in sieben Tagen gegangen, während der an die 6000 Höhenmeter zu bewältigen sind. Voraussetzungen sind neben Kondition und Ausdauer Trittsicherheit und Schwindelfreiheit.

Es beginnt harmlos mit dem Aufstieg zur Potsdamer Hütte. Der zweite Tag hat es bereits in sich: Aufstieg zum Roten Kogel, hinunter nach Lüsens, rauf zum Westfalenhaus. Keine schwierigen Wege, aber 1500 Höhenmeter im Aufstieg und 1200 im Abstieg ziehen sich, vor allem mit Gepäck für eine Woche auf dem Rücken.

Der dritte Tag ist mit dem Übergang zur Pforzheimer Hütte relativ kurz (fünf Stunden), aber das Gelände über die Zischgenscharte (kurzer Abstecher zur Schöntalspitze möglich) und die jährlich kleineren Reste des Zischgenferners ist als schwierig einzustufen. Der vierte Tag führt zur Schweinfurter Hütte, wobei ich die längere Route über den Zwieselbacher Rosskogel und das steile, schottrige Fidaskar empfehle. Allein der Tiefblick auf den Kraspessee ist diesen Umweg wert.

Die Route des fünften Tages zur Bielefelder Hütte – sie liegt zur Gänze außerhalb des Sellrains – ist die einsame Königsetappe der Hüttenrunde. Erst führt der Steig über die Hochreichscharte, dann durch endlose Kare, garniert mit kürzeren und längeren seilversicherten Passagen – neun Stunden, schwierig, aber traumhaft schön. Umso erholsamer der sechste Abschnitt ins Kühtai, zur bizarr an der Landesstraße liegenden Dortmunder Hütte.

Die letzte Etappe führt über den Sellraintaler Höhenweg zurück nach Sellrain. Das Gelände ist nicht schwierig, allerdings ist die Gehzeit mit neun Stunden sehr lang.

Lieblingsflecken

Von Haggen ganz im Westen des Sellrains führt über Almgelände, ein paar Steilstufen und schließlich Geröll und Steinplatten ein Wanderweg durch das Kraspestal. Nach zweieinhalb Stunden und 900 Höhenmetern ist das Ziel Kraspessee erreicht. Ein Platz von karger, archaischer Schönheit. Am Ufer des flachen Gletschersees unterhalb der Gipfel von Zwieselbacher Rosskogel und Kraspesspitz liegt feinster Sand.

Die wahren Alpinisten steigen vom See über die steilen Flanken und die Reste des Kraspesferners hinauf zum Zwieselbacher. Ich liege lieber eine Stunde am Strand in einer entrückten, stillen, fremden Welt, die mich an die Hochgebirge der Welt erinnert, ohne jemals dort gewesen zu sein. Drei Stunden später sitze ich an meinem Schreibtisch in Innsbruck. Das Sellrain macht’s möglich.

Interview

Der St. Sigmunder Altbürgermeister Karl Kapferer und der Seniorchef des Alpengasthofs Praxmar Luis Melmer prägen seit Jahrzehnten die touristische Entwicklung in den Sellrainer Bergen. Hannes Schlosser hat mit ihnen gesprochen.

Luis Melmer (LM) » Nachdem wir in den Achtzigerjahren die Lifterschließung Lampsen nicht gemacht haben und andere Skigebiete massiv aufgerüstet haben, war uns klar, dass die Richtung da herinnen eine andere sein muss, wenn wir überleben wollen. Skitourengeher hat es damals noch relativ wenige gegeben, und wir haben sehr viel Glück gehabt mit der Entscheidung, uns auf diese zu spezialisieren. Dann ist der Boom mit den Schneeschuhwanderern dazugekommen, Sanfter Tourismus hat es überall geheißen, das hat dann bei uns voll eingeschlagen. Eisklettern war schon in aller Munde, dazu die Lawinenausbildungskurse mit dem Alpenverein. Für uns war es ein Leichtes, zu den Bergsteigerdörfern zu gehen, die Kriterien haben wir zu hundert Prozent erfüllt.

Karl Kapferer (KK) » Wichtig war auch, dass der Skibus gekommen ist, das war ein maßgeblicher Punkt, dass wir bei den Bergsteigerdörfern aufgenommen wurden.

LM » Der Sommer hat eine Zeit nicht so gut ausgeschaut, da haben uns die Bergsteigerdörfer viel gebracht und diese Sellraintaler Hüttenrunde. Im Sommer ist es viel besser geworden.

KK » Der Bruno Kohl von der Pforzheimer Hütte hat das erfunden. Wir waren am Anfang ein bissl skeptisch. Wir haben heuer trotz der Unwetterkatastrophen ein Plus von fünf Prozent, das haben wir den zwei immer vollen Hütten zu verdanken, weil die Bergsteiger oft die Runde gemacht haben.

Hannes Schlosser (HS) »Wurde die Bergsteigerdorfidee mit der Bevölkerung diskutiert?

KK » Mit den Betrieben und Zimmervermietern haben wir schon geredet.

LM » Es wird von der Bevölkerung mitgetragen. Einige sind enttäuscht, die haben gemeint, jetzt füllen uns die Organisatoren der Bergsteigerdörfer die Betten. Aber man muss was dazu tun. Wenn meine Gäste den Roten Kogel gehen, muss ich sie im Fotscher Tal wieder holen. Dafür haben wir einen eigenen Bus.

KK » Von selber geht es nicht, wir haben den Grundstein gelegt.

LM » Wir brauchen in den Tälern Idealisten, Leute, die drinnen wohnen, selber gern Berg gehen und den Tourismus richtig leben. In Sellrain draußen sind alle Pendler nach Innsbruck, die leben ein anderes Leben wie wir herinnen.

Karl Kapferer © H. Schlosser

„Unser Kapital sind die Wanderwege“

Uns gibt der Gedanke der Bergsteigerdörfer sehr viel Kraft. Man muss es den Kindern vorleben. Meine Enkelin geht zweite Klasse Hauptschule, die sagt, sie macht in der Villa Blanka die Hotelfachschule und der Opa baut ihr noch ein Gästehaus. Wir waren sechs Kinder und haben die Gäste gehasst. Wir mussten ja Weihnachten unsere Zimmer verlassen und in den vierten Stock raufgehen, nur weil die Gäste gekommen sind. Die Eltern hatten nie Zeit zu Weihnachten, das hat man um zehn, elf auf d‘Nacht gefeiert oder am Tag davor oder überhaupt nicht.

HS »Wie geht es weiter?

KK » Unser Kapital sind die Wanderwege und die Beschilderung. Da musst du jedes Jahr dran sein. Ich bin geringfügig angestellt beim TVB und betreue das. Die drei Sektionen machen auch einiges. Was ich nicht einsehe, dass du bei händischen Sanierungen bald für jeden Steig eine naturschutz- und wasserrechtliche Genehmigung brauchst.

LM » Wir müssen uns das Ursprüngliche mit den Übergängen so erhalten, wie es ist. Da kann nicht jeder mit Halbschuhen gehen und das kannst du nicht übers Reisebüro bewerben. Der Alpenverein mit den Sektionen ist da sehr wichtig. Wichtig ist auch, dass wir den Wander- und Skibus sowie öffentliche Verkehrsmittel bis Praxmar weiterhin haben. Wir haben Schweizer Gruppen, die kommen mit der Bahn nach Innsbruck und fahren mit dem Postauto herein. Es steht kein Auto herum und es sind 30 Leute da. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

HS »Was sind eure persönlichen Lieblingsberge?

KK » Jetzt werde ich 65, am Fernerkogel bin ich 52 Mal oben gewesen, im Sommer wie im Winter, darunter die Nordgrat-Erstbegehung im Winter. Ich gehe genauso gern den Zischgeles, weil er wesentlich einfacher ist.

LM » In meiner Jugend hat mich sicher der Zischgeles geprägt mit dem Lawinenunglück 1951, wo meine Schwester und meine Oma tödlich verunglückt sind. Geprägt haben mich auch die Erlebnisse mit Lawinentoten am Zischgeles. Wenn man mit einem Verunfallten herunterkommt und es steht die Familie am Parkplatz, stellt es dir die Haare auf. Dann kann man den Zischgeles verwünschen, aber wenn man das nächste Mal wieder oben ist – skifahrerisch ist es weitaus der schönste Berg.

HS »Und im Sommer?

KK » Der Freihut ist ein wunderschöner Aussichtsberg.

LM » Im Sommer ist das für mich der Oberstkogel, da gehe ich auch gern auf den Zischgeles rüber.

KK » Das ist eine gewaltig schöne Runde.

LM » Im Sommer haben wir viele schöne Wege. Der Höhenweg zum Westfalenhaus hinein am Fuße des Oberstkogels zum Beispiel. Ich gehe ebenso gern den Sellraintaler Höhenweg, auch weil ich ein älterer Mensch bin. Das kann ich so richtig genießen, auch allein. Ich muss nicht immer auf einen Gipfel steigen. Dort ist die Aussicht schön, bis zu den Kalkkögeln herüber, da hockt man sich nieder und schaut und schaut. Dann gehst 500 Meter weiter und musst dich wieder umdrehen, weil du wieder in ein anderes Seitental siehst.

Luis Melmer © H. Schlosser

Sellrainer Stadtwäscherinnen

Seit Maria Theresias Zeiten bildeten die Waschhütten einen entscheidenden Wirtschaftsfaktor im Sellraintal

>> Georg Jäger

Die Arbeit der Waschweiber war hart, besonders im Winter, ihr Ruf indes nicht so rein wie die Wäsche, die sie für die Tiroler Landeshauptstadt wuschen.

Bis die Waschmaschine ihren Siegeszug antrat, war das gewerbsmäßige Wäschewaschen und -bleichen die Haupterwerbsquelle der Frauen im Sellrain. Es gab fast keinen Sellrainer Ortsteil, in dem nicht für die Innsbrucker Haushalte gewaschen wurde. In großen, schweren Körben wurde die Wäsche zum Trocknen ins Freie gebracht, wie dieses im Jahr 1941 entstandene Bild aus Sellrain zeigt.

Foto: W. Kahl junior, Wien Alle Abb. © Bildarchiv Georg Jäger

Die Waschhütten als „Schulen der Sittenlosigkeit“, 1908 und 1916

Der zwischen 1906 und 1918 in der Gemeinde Sellrain wirkende Pfarrer Josef Hosp geht am 1. Oktober 1908 auf das damals vor Ort noch von 40 bis 50 Sellrainer Wäscherinnen praktizierte Gewerbe mit folgendem Satz ein: „Die Waschhütten sind durch die schlechten Reden wahre Schulen der Sittenlosigkeit, wo die schon im schulpflichtigen Alter dort arbeitenden Kinder aufgeklärt und verdorben werden.“ Im entsprechenden Visitationsbericht der Pfarre Sellrain zeichnet der Geistliche zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein recht düsteres Sittenbild. In den Sellrainer Gasthäusern hielten sich nämlich gerne die „Waschweiber“ und Wäschefrächter auf: „Trink- und Vergnügungssucht verschlechternd. Arbeiter bekommen zu 9 Uhr und Marende ungesunden Schnaps, die Wäscherinnen Ihre Halb mit Schnaps gemischt, auch schon die Kinder. Die drei Wirte und zwei Gastausschenken haben großen Schnapsconsum. Die Fuhrleute sind doch bei Gelegenheit alle mehr (oder) weniger Alkoholiker.“

Als Draufgabe wurde am 30. Oktober 1916 nochmals eine fürstbischöfliche Visitation durchgeführt, bei der wiederum in Verbindung mit dem Wäschewaschen für die Innsbrucker Haushalte die religiös-sittlichen Verhältnisse hinterfragt werden. Und hier ist die Antwort des Sellrainer Pfarrers Josef Hosp: „Die Sitten lassen etwas zu wünschen übrig wegen der Nähe der Stadt und dem häufigen Verkehre mit derselben wegen der Wäscherei-Besitzereien. Die Sonn- und Festtagsausflügler aus der Stadt geben wegen ihrer oft sehr legeren Kleidung manches Ärgernis.“ Der zweifelhafte Ruf der Sellrainer Waschhütten als Plauderstuben mit Gesprächen zweideutigen Inhalts zeigt sich in der Formulierung: „In den Wäschereien kommen öfters auch nicht gerade sittenreine Geschwätze vor.“ Und über den sonntäglichen Alkoholkonsum der Frauen heißt es: „Nach dem Gottesdienst wird den Weibern im Wirtshaus ein Trunk bezahlt.“

„Thal Sellrain nähret sich mit der Tuchbleich und städtischen Wäsche“

Die Anfänge des fast durchwegs von verheirateten Frauen und jungen Mädchen ausgeübten Wäschebleichens und Wäschewaschens für die Innsbrucker Stadtbevölkerung reichen im Sellraintal noch in die Zeit Maria Theresias zurück. Bereits im Tiroler Generalsteuerkataster aus dem Jahr 1780/82 steht: „Thal Sellrain nähret sich mit der Tuchbleich und städtischen Wäsche.“ Dieses gewerblich steuerfreie Waschen wurde in der Blütezeit von 60 Haushalten (davon 49 in Sellrain und elf in Gries im Sellrain) betrieben.

Viele Haushalte in Innsbruck und Hall ließen deshalb ihre Schmutzwäsche von den Sellrainerinnen waschen, weil das Wasser dort als besonders weich galt und die selbst hergestellte Aschenlauge aus Buchen- oder Fichtenholz verwendet wurde. Das weiche oder „enthärtete“ Sellrainer Gebirgswasser mit seiner Schmutz lösenden Kraft enthielt keine schädlichen Kalksalze in gelöster Form. Das harte Innsbrucker Kalkwasser reinigte die Schmutzwäsche nicht, sondern riss den „Dreck“ geradezu an sich, was zum „Vergrauen“ einzelner Wäschestücke führte.

Das Gasthaus „Weißes Rössl“ als Sammelplatz der Wäscherinnen

Vom ausgehenden 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Sellrain die „Waschküche“ oder „Waschkuchl“ der Tiroler Landeshauptstadt. Erst mit dem Aufkommen der Waschmaschinen nach dem Zweiten Weltkrieg erlosch diese wichtige Einnahmequelle. Die Kiebachgasse in der Innsbrucker Altstadt mit dem Gasthaus „Weißes Rössl“ war früher der Sammelort und Umschlagplatz für die Sellrainer Wäscherinnen, welche jeden zweiten Freitag oder Samstag in der Früh mit ihren Wäschefrächtern auf Rossfuhrwerken in die Stadt fuhren. Dort kamen sie um 7:00 Uhr an, um die gereinigte Wäsche auszutragen und die neue Schmutzwäsche ganzer Häuserblocks oder Stadtteile in Empfang zu nehmen.

Im „Weißen Rössl“ wurden nicht nur die Handwagen, sondern tagsüber auch die Pferde eingestellt, bevor man zwischen 18:00 und 20:00 Uhr die Rückfahrt antreten konnte. Eine Übernachtung in der Stadt kam aus Kostengründen nicht in Frage. Für das hart erarbeitete Geld kauften sich die Sellrainerinnen verschiedene Naturalien: Getreide, Kaffee, Mehl, Schmalz und Zucker. Es waren in Innsbruck nicht nur die reicheren Familien, die sich im Sellraintal ihre Schmutzwäsche reinigen ließen. Wer in einer Altstadtwohnung mit fünf bis sechs Personen in zwei Räumen hauste und selbst kein Recht besaß, den Dachboden oder Keller zu benützen, der hatte überhaupt keine andere Wahl, als die dreckigen Wäschestücke auswärts nach Sellrain zu geben. Die wichtigsten städtischen Kundschaften der Sellrainer Wäscherinnen waren die Bürgerfamilien in Wilten, Hötting und Mühlau.

Ein Sellrainer Wäschewagen bei der Kiebachgasse in Innsbruck, um 1910. Die Wäsche wurde vierzehntäglich geholt und geliefert und der Stadttag zum Einkauf genutzt.

„Sellrainer Weiber und Kinder mit Spritzen beschäftiget“, 1837–1858

Das Tirol-Handbuch für Reisende von Beda Weber aus dem Jahr 1837 enthält die erste genaue Beschreibung der Sellrainer Wäscherinnen: „Zu den Erwerbsquellen des Thales gehören zuerst die allbekannten Leinwandbleichen und Waschstätten, wozu die Selrainer besondere Gelegenheit haben, und wodurch sie mit der ganzen Nachbarschaft in Verkehr kommen. Vom halben Innthale wird Leinwand zum bleichen, und viele Weisswäsche von Innsbruck dahin geschickt. Die Selrainer erscheinen selbst mit ihren kleinen, aber gewandten und gut gefütterten Pferden, und liefern die Stoffe zum bleichen und die Wäsche grösstentheils auf einspännigen Wagen ins Thal. Ungefähr 45 Haushaltungen geben sich damit ab. Auf jeder dieser 45 Bleichstätten zählt man im Durchschnitte ungefähr 12.000 Ellen Leinwand, so dass in einem Jahre bei 540.000 Ellen in Selrain gebleicht werden. Der daraus fliessende Gewinn ist eben nicht gross. Theils kosten Pottasche, Holz, Seife und anderer Bedarf sehr viel, theils ist die Bleicharbeit sehr mühsam, mit Gefahr des Diebstahles und der Beschädigung, und das Aus- und Einführen mit grossem Zeitverlust verbunden. Aber ein überraschender Anblick ist es für den Reisenden, die besetzten Bleichstätten zu schauen rings um Haus und Hof, Weiber und Kinder mit Spritzen beschäftiget, alles überschwemmt und begossen, wie in der Nixen- und Nymphen Heimath.“

Aus der Feder von Hermann Dreyer, der sich im Jahr 1857 als Kurgast einige Tage in Bad Rothenbrunn aufhielt, ist 1858 folgende Kurzdarstellung des Wäschereigewerbes überliefert: „Frei sieht man auf die Wiesen jenseits des Baches, die mit unzähligen grauen und weißen Leinwandstücken belegt und mit gestreut liegenden hölzernen Waschhütten bedeckt sind; Wäscherinnen sind eifrig vor ihnen beschäftigt, und ihr fröhliches Geplauder und Singen würde zu mir herüber dringen, wenn nicht das Tosen der Melach alle anderen Töne verschlänge. Sellrain ist die Bleiche und Waschanstalt Innsbrucks.“

Weiß gewaschene Hemden aufgrund der „Gletschermilch“, 1872–1877

Der schon längst vergessene Tiroler Autor Julius Günther thematisierte im Jahr 1872 ebenfalls die Wäsche waschenden Sellrainer Frauen. Dazu interviewte er eine sehr zufriedene Innsbrucker Kundschaft: „‚Ah! wie sauber das gewaschen ist! Wo lassen Sie das besorgen, Madame?‘ – ‚In Sellrain. Nicht wahr, es ist vortrefflich und dabei doch verhältnismäßig so billig. In der Stadt käme mir das nöthige Feuerungsmaterial theurer zu stehen, von der Mühe und all den andern Unbequemlichkeiten gar nicht zu reden.‘ – Man darf in Innsbruck sicher sein, in hundert Fällen, wo man diese Frage stellt, wenigstens fünfzig Mal obige Antwort zu erhalten. Ja, Sellrain ist das Wasch- und Bleichthal par excellence.“

Der deutsche Reiseschriftsteller Heinrich Noë ging 1876 bei den „Naturansichten und Gestalten aus Tirol“ ganz ausführlich auf die Sellrainer Stadtwäscherinnen ein: „Man hört das Geplätscher, den klatschenden Ton der geklopften Wäsche. Drüben stürzt ein Wasserfall durch Fichten den Mädchen entgegen, welche singend zum Bach hinabschreiten, um die Linnen, welche hier oben, im Blockhause, aus der Lauge hervorgezogen worden sind, in die reine Eisfluth einzutauchen.“ Danach warf Heinrich Noë die Frage des Verdienstes auf: Ihr müsst’ Euch doch ein hübsches Geld ersparen? „O, von dem Gelde, das wir erlösen, kommt das wenigste als Guldenzettel in’s Thal herein. Bei uns wachst nichts – also nehmen wir statt des Geldes Mehl, Schmalz, Getreide und brauchen kein Fuhrlohn dafür auszugeben, weil wir ohnehin mit unseren Wäschewagen hereinfahren müssen.“ Warum ließen die Innsbrucker Frauen ihre Schmutzwäsche nicht in der Stadt, sondern bei Euch im Sellraintal waschen? „Das ist bald erklärt. Erstlich kostet in der Stadt das Holz viel mehr als bei uns da (dabei deutete sie auf den summenden Wald, der uns auf allen Seiten umgab) und dann gebrauchen wir keinen Chlorkalk und wie alle die anderen Mittel heißen, durch welche das Weißzeug zwar schnell gewaschen, aber sicher zerstört wird. Und dann geben wir uns mit aller Wäsche die gleiche Mühe. Wir waschen das Hemd eines Schlossers so blühweiß wie das eines Prälaten. Weil uns das Holz und die Wohnung so wenig kosten, können wir unsere Arbeit auch viel billiger geben, als die Wäscherinnen in der Stadt. Die Hauptsache bleibt aber das da!“ Die Wäscherin deutete auf das vorbeirauschende Bergwasser. – Wieso? „Das versteht sich doch von selber, daß man ohne Wasser nicht waschen kann.“ Das feuchte Nass fehlt aber auch in Innsbruck nicht. „Aber solches Ferner-Wasser haben sie doch nicht.“ Jetzt fiel mir ein, dass der volkstümliche Beiname „Gletschermilch“ für die Melach sich auf das milchig-trübe Ferner- oder Schmelzwasser bezog, womit die Wäsche besser gereinigt werden konnte. Die hellgraue bis bräunliche Färbung (= Gletschertrübe) rührte von den im mitgeführten Schuttmaterial enthaltenen Farbstoffen her.

Der bekannte Tiroler Volkskundler Ludwig von Hörmann beschreibt 1877 das Tal der Wäscherinnen ganz zutreffend so: „Wenn wir das Thal an sonnigen Sommertagen durchwandern, so sehen wir überall auf langen Stricken zwischen den Bäumen, auf Gängen und Zäunen schneeweiße Wäsche flattern, andere ruht blendend auf dem grünen Rasen ausgebreitet. Daneben an einem rauschenden Bächlein spannt sich in langen Zeilen halbweißes Leinen und gibt vom Erwerbszweige des Thales Kunde: Bleichen und Waschen.“ Die städtischen Herrschaften legten großen Wert darauf, dass ihre Wäschestücke in reiner Luft und auf grünem Rasen getrocknet wurden. In der Stadt konnte man kaum Wäsche aufhängen. Bekanntlich rauchte und rußte es dort aus vielen Kaminen.

Frauen und Mädchen jeglichen Alters waren in den Waschhütten beschäftigt: Sellrainer Wäscherinnen beim Rasten und „Hoangarschten“ (einen Plausch halten), 1935.

Foto: M. Gritsch

Das lange Waschprogramm – Vom „Seachteln“ zum „Schwoaben“

Der Innsbrucker Starjournalist Herbert Buzas besuchte Mitte der 1950er-Jahre das Sellraintal. Die von ihm beschriebenen sieben Waschvorgänge waren langwierig und würden bei den Erfindern der Waschmaschinen und heutigen Hausfrauen wohl nur Kopfschütteln hervorrufen. Hier die sieben wesentlichen Arbeitsschritte:

Erster Schritt: Sortieren der Schmutzwäsche nach bunten (farbigen) und weißen Stücken; zweiter Schritt: Einweichen der einzelnen Wäschestücke in Buchen- oder Fichtenaschenlauge, etwa drei Stunden lang; dritter Schritt: Vorwaschen der aus dem Laugebad genommenen feinen Wäsche auf einem Brett mit Seife und Bürste oder Klopfen („Bluien“) der groben Wäsche mit einem Holzschlegel („Bluier“), um den Schmutz zu entfernen; vierter Schritt: Seihen („Seachteln“) siedend-heißer Lauge durch die über den Zuber gespannten Leintücher, in dem die vorgewaschene Wäsche ruhte (= erster Waschvorgang). Dieser zuletzt beschriebene Vorgang wiederholte sich acht- bis neunmal, wobei jedes Mal die Lauge abgelassen und neu gekocht wurde. Über die Zahl der angegebenen Laugengüsse finden sich sehr abweichende Angaben. Nach Peter Rosegger wurde in der Steiermark genauso wie in Tirol im Sellraintal „die Wäsche neunmal mit heißer Lauge überbrüht, weil sonst die Läus nicht sterben“. Fünfter Schritt: Schwemmen („Schwoaben“) der Wäsche im kalten Wasser (= zweiter Waschvorgang), um durch kräftiges Hin- und Herschwenken die letzten Schmutzreste herauszubringen. Sechster Schritt: Übergießen der Wäsche mit einem Eimer voll heißen Wasser, um die Wäschestücke ein zweites Mal in Form eines Wechselbades zu schwemmen; Siebter Schritt: Aufstocken der sauberen, nassen Wäsche in der Waschhütte. Die Rasenbleiche und das Wäscheaufhängen im Freien beendeten den aufwändigen Arbeitsvorgang.

Das Besorgen der Wäsche war aufwändig und langwierig: bis zu sieben Arbeitsgänge waren erforderlich.Links: Auch größere Buben mussten mithelfen und die zur Bleiche ausgelegte Wäsche besprühen (Foto von 1954).

Mitte: Waschhütte mit „Bluitisch“, „Bluier“ und „Seachtelroafn“ in den 1930er-Jahren.

Rechts: Wäscherinnen in der Neder/Grinzens beim mühsamen Schleppen des vollgefüllten Wäschekorbs, 1955.

Foto: J. Niederbacher (links)/M. Wegscheider (Mitte)

Das Trocknen der einzelnen Wäschestücke übernahmen im Sommer bei schönem Wetter die Sonne und der Wind. In der kalten Jahreszeit mussten neben den geheizten Bauernstuben die Dachböden und luftigen Stadel aufgesucht werden. Die getrocknete Wäsche wurde schließlich zusammengelegt, gebündelt und sortiert in einen Wäschesack für den Abtransport nach Innsbruck gegeben.

Die Arbeitsgeräte in den Waschhütten – Vom „Bluier“ zum „Zuber“

Es gab früher fast keinen Sellrainer Ortsteil, wo nicht für die Innsbrucker Haushalte gewaschen wurde. Der Zeitzeuge Ludwig von Hörmann berichtet 1877 über die von mehreren Frauen gemeinsam benützten Sellrainer Waschhütten: „Die Gehöfte bekommen durch dieses Handwerk ein ganz eigenthümliches Aussehen. Fast bei jedem Hause steht eine sogenannte Waschhütte; es ist dies eine hölzerne, oft nur aus rohen Baumstämmen zusammengefügte Baracke mit zwei bis drei ‚Waschöfen‘ und ‚Waschzubern‘ versehen.“ Im Jahr 1955 wurden in der Gemeinde Sellrain 30 Waschhütten gezählt. Und in einer solchen „zugluftigen“ Sellrainer Waschhütte gab es u. a. folgende Arbeitsgeräte:

Zum Trocknen wurde die Wäsche im Sommer im Freien aufgehängt (in der Neder/Grinzens, 1955). Im Winter wurde die Wäsche in den Stuben und Stadeln getrocknet.

Links: Kleine Helferinnen beim Wäscheausbreiten in Gries im Sellrain, 1950

Foto: A. Sickert (links)/ A. Wegscheider (rechts)

Das Wäschewaschen als Schwerarbeit für Frauen und Mädchen

An der Seite älterer Waschfrauen oder „Waschweiber“ halfen auch Kinder, darunter Mädchen und Buben. Die erwachsenen Männer holten das Holz für die Beheizung der Waschkessel, sammelten die getrockneten Wäschestücke auf der Wiese ein, führten den Wäschetransport durch und kümmerten sich mit den Frauen um die Wäschezustellung in der Stadt.

Die Wäsche wurde nicht in der Melach gewaschen, sondern im weichen Quellwasser bei den Waschhütten. Leider hat der Innsbrucker Museumskustos Balthasar Hunold das Melach-Klischeebild in die Köpfe der Stadtbewohner und Touristen gebracht, wenn er 1883 in seinem Gedicht („An der Melach“) u. a. schreibt: „Schön ist’s droben erst im Thale, / Wo geschäftig bei den Linnen / An der Melach knieend singen / Sellrains blonde Wäscherinnen.“

Das seit Kindheitstagen ausgeübte Schwemmen der Wäsche im oft eiskalten Wasser wirkte sich im hohen Alter schädlich auf die Gesundheit der Sellrainer Stadtwäscherinnen aus. Betagte Frauen konnten sich nicht einmal mehr selbst den Zopf flechten, weil ihre zerschundenen Hände vom vielen Waschen unbeweglich wurden. Ganz schwere Lasten trugen die Frauen auf ihren Schultern.

Verdiensthöhe und Niedergang der Sellrainer Stadtwäscherei

Das Geld aus der schmutzigen Arbeit des Stadtwaschens, bei der sich zahlreiche Frauen und Mädchen ihre Hände wundrieben, war für viele Familien die einzige regelmäßige Einnahmequelle. Was verdienten die Sellrainerinnen mit der Stadtwäsche? Im Jahr 1949 betrug das Waschgeld für ein Handtuch 30, für ein Leintuch 60 und für ein Hemd 50 Groschen. Nachdem 1966 das Wäschewaschen für Innsbruck langsam ausstarb, verlangte man ungefähr das Vierfache. Das Ende kam mit der Einführung der Waschmaschinen und weil die Sellrainer als Tagespendler mehr verdienen konnten als die paar Schilling bei der Innsbrucker Wäsche. Nun blieben die Frauen auf den zumeist kleinen Höfen, betreuten das Vieh, kümmerten sich um die Kinder, Eltern und ersten Gäste. Die Türen der letzten Waschhütten im Sellraintal wurden Mitte der 1970er-Jahre für immer geschlossen. Dass Innsbruck so sauber und rein war, verdankte die „Stadt im Gebirge“ auch den Sellrainer Wäscherinnen – mit ihren durch die schwere Arbeit und das Feuer in den Waschküchen erröteten Gesichtern!

Literaturtipp

Georg Jäger: Gletschermilch und Kirschsuppe. Karges Leben an der Melach. Historische Streifzüge durch das Sellraintal, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2015.