Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Flint ist 59, als er seine Stelle verliert. Er nimmt es als Gelegenheit, zusammen mit seiner Frau Teresa einen Lebenstraum zu verwirklichen. Aussteigen, auf dem Land leben, sich selber mit Gemüse versorgen und Schafe züchten. Aber das verwahrloste Grundstück hinter dem hässlichen Eisengitterzaun, das sie schließlich kaufen, scheint verflucht zu sein. Pflanzen, Tiere und nicht zuletzt die hilfsbereiten Nachbarn durchkreuzen Flints Pläne und halten ihn auf in seinem Wettlauf gegen die Zeit. Denn da ist auch noch die verhängnisvolle Wette, die er mit seinem Schwiegervater abgeschlossen hat. Eine Geschichte über den Traum vom friedlichen Leben, die Mächte der Natur und des Schicksals und die Last einer alten Schuld. Vom Kämpfen, Scheitern und Nichtaufgeben.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 337
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Buch:
Flint ist 59, als er seine Stelle verliert. Er nimmt es als Gelegenheit, zusammen mit seiner Frau Teresa einen Lebenstraum zu verwirklichen. Aussteigen, auf dem Land leben, sich selber mit Gemüse versorgen und Schafe züchten. Aber das verwahrloste Grundstück hinter dem hässlichen Eisengitterzaun, das sie schließlich kaufen, scheint verflucht zu sein. Pflanzen, Tiere und nicht zuletzt die hilfsbereiten Nachbarn durchkreuzen Flints Pläne und halten ihn auf in seinem Wettlauf gegen die Zeit. Denn da ist auch noch die verhängnisvolle Wette, die er mit seinem Schwiegervater abgeschlossen hat.
Eine Geschichte über den Traum vom friedlichen Leben, die Mächte der Natur und des Schicksals und die Last einer alten Schuld. Vom Kämpfen, Scheitern und Nichtaufgeben.
Autorin:
Die Autorin mit dem Pseudonym Elsa Zett lebt und schreibt in ihrer Heimatstadt Basel. Sie studierte Psychologie und Pädagogik und arbeitete in verschiedenen Berufen, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. In ihrem ersten Buch – Der Fall Anouk, 2023 – war es eine Zeitungsnotiz, die den Anstoß zu einem ganzen Roman gab. »Als der Bambus erwachte« verdankt seine Entstehung eigenem schmerzlichem Erleben. In ihrem kleinen Garten kämpfte sie jahrelang gegen eine wuchernde Bambushecke. Sie lernte dabei, diesen Gegner zu fürchten, aber auch zu bewundern. Und es entstand der Plan, über den mächtigen Bambus zu schreiben.
ELSA ZETT
Als der Bambus erwachte
ROMAN
Je größer der Bambus,
desto tiefer beugt er sich.
Sprichwort aus Indien
Intro
Hilde würde diese Geschichte anders erzählen. Aber Hilde ist tot. Nur noch ein Häufchen Asche. Sie geht nicht mehr über die langen Wege zu den Nachbarn hinüber, mit einem frisch gebackenen Kuchen, guten Ratschlägen und wehenden weißen Kräuselhaaren. Hexenhaare, sagte Babette. Und vielleicht war ihre Oma wirklich eine Hexe. Eine freundliche Hexe, die es gut meinte und helfen wollte, wo sie nur konnte. Und die sich ehrlich freute, als die neuen Nachbarn das Gärtnerhaus kauften.
Das war im Dezember. Die Felder und Gärten lagen verborgen unter einer Schneeschicht, die dem Makler bis zu den Waden reichte und seine Kalbslederschuhe ruinierte. Aber er schimpfte nur leise darüber. Der Schnee war für lange Zeit die letzte Gelegenheit, um endlich doch noch einen Käufer zu finden, für dieses verflixte Objekt im Doppelhof. Im Sommer wäre es nicht möglich. Jedenfalls nicht zu diesem Preis. Und nicht mit dieser Vergangenheit.
Aber die Hillers wussten davon nichts. Sie suchten einfach einen Ort, an welchem sie ihren Traum verwirklichen konnten.
TEIL 1
Der Traum
»Pass auf!«, sagte Flint.
Aber sie steckten schon fest. Teresa hatte nicht acht gegeben. Sie hatte wohl die Landschaft betrachtet, die an diesem Tag weiß unter dem grauen Himmel lag, erstarrt in Kälte und Schnee. Jetzt drehten die Räder leer und der Motor heulte auf, als sie Gas gab.
»Hör auf«, sagte er. »Das macht es nur schlimmer.«
»Mist!« Sie schlug beide Hände auf das Steuer, traf die Hupe und erschrak. »Wir kommen zu spät. Was für eine Schnapsidee, die kürzeste Route zu nehmen.«
»Nur keine Panik. Das kriegen wir schon hin.«
Er stieg aus und sah sich die Sache an. Der Wind hatte den Schnee in einer Senke zusammengefegt und sie steckten mit der Schnauze des Toyota drin.
»Da kommen wir nicht durch. Wir müssen zurück.«
Teresa legte den Rückwärtsgang ein. Flint drückte beide Hände auf das kalte Blech der Motorhaube und während Teresa vorsichtig Gas gab, stemmte er seine ganze Kraft gegen den Wagen. Als der Reifen Halt fand und der Toyota plötzlich zurückrollte, rutschten Flint die Füße weg und er kippte auf alle viere in den Schnee.
Teresa stellte den Motor ab und kam zu ihm heraus.
Er rappelte sich auf, wischte die Hände ab und hauchte heftig hinein. Sieben Grad unter null. Handschuhe wären nicht schlecht. Aber er hatte nicht mit so viel Winter gerechnet. Sie hatten beide nicht damit gerechnet. In der Stadt war der Himmel trüb und die Luft kalt, aber die Straßen waren trocken, als sie losfuhren.
»Siehst du«, sagte er. »Wenn ich siebzig bin, kann ich das nicht mehr.«
Er zog die massigen Schultern hoch, sodass die rechte den goldenen Ohrring berührte, und Teresa hörte es in seinem Rücken knacken.
»Vielleicht schon vorher.«
Er wies jetzt bei jeder Gelegenheit auf sein Alter hin, als müsse er die Eile rechtfertigen, mit der sie nach einem Haus suchten, das er instandstellen konnte, und nach einem Garten für das Gemüse.
»Du bist aber noch nicht einmal sechzig«, sagte Teresa, »und wir kommen zu spät.«
Sie hatte sich mit dem Makler um 15 Uhr verabredet. Jetzt war es schon zehn vor.
»Der wird schon warten.«
Flint setzte sich auf die Fahrerseite. Teresa registrierte es dankbar. Sie konnten auf dem schmalen Fahrweg nicht wenden und im Rückwärtsfahren war Flint ein Meister.
Es war wirklich keine gute Idee, auf dem Navi ›kürzeste Route‹ anzuklicken. Bei diesem Wetter. Teresa war dagegen gewesen. Aber Flint ließ sich nicht abhalten. Ich krieg das schon hin, sagte er. Wie immer. Und er würde auch nicht zugeben, dass sie recht gehabt hatte.
Er fuhr den ganzen gewundenen, schneebedeckten Holperweg rückwärts bis zur Landstraße, ohne einmal in Schwierigkeiten zu geraten. Hier war die Fahrbahn schwarz und fast trocken. An den Rändern türmten sich schmutzige Schneewälle. Flint nahm die vielen Kurven eine nach der anderen so schnell, wie es gerade noch ging. Teresa fürchtete, dass ihr übel werden würde. Aber sie sagte nichts. Es machte sich nicht gut, zu spät zu kommen. Nicht, wenn man ein Haus kaufen wollte. Die Auswahl war nicht groß und das Jahr näherte sich Weihnachten. Und nach Weihnachten war es so gut wie Silvester und nur bis dann galt das Angebot, das ihnen ihr Vater zu guter Letzt gemacht hatte.
Hinter der Passhöhe sahen sie das Dorf. Bauernhäuser längs der Straße, ein Brunnen unter einem Schneeberg, Lichter in den Fenstern, Weihnachtsschmuck. Sogar an diesem düsteren Dezembernachmittag sah der Ort freundlich aus.
»Biegen Sie links ab«, sagte die Stimme aus dem Navi.
Nach ein paar Metern wurde die Straße steiler, die Räder drehten durch. Sie stiegen aus, hüllten sich in ihre Jacken und gingen zu Fuß weiter. Unter dem Schnee war die Straße glatt und rutschig. Sie mussten langsam gehen. Winzige Flocken fielen auf sie herab.
Und da war der kleine Bauernhof, den sie im Internet gesehen hatten. Mit den braunen Fensterläden und dem weit herabgezogenen Dach erinnerte er Teresa an das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Aber die Läden hier brauchten einen neuen Anstrich und die Scheiben waren lange nicht geputzt worden. Und hinter den Scheiben brannte nirgendwo ein Licht. Sie waren vierzig Minuten zu spät.
Sie klopften an die Tür, riefen Hallo, gingen ums Haus herum und betrachteten den großen Garten an der Seite. Dahinter duckte sich eine Scheune oder ein Stall unter hohen Bäumen. Das würde den Schafen gefallen. Aber es war niemand da.
»Arschloch«, knurrte Flint. »Hätte doch warten können.«
»Hättest du gewartet, bei der Kälte? Wir sind fast eine Stunde zu spät.«
»Dreiviertel. Wir hätten ihn anrufen müssen.«
»Rufen wir ihn an.«
Teresa hatte schon das Handy gezückt. Es war besser, wenn sie anrief. Doch dann hielt sie ihm das Display hin. Ein einziger winziger Balken.
Flint grinste. »War es nicht das, was wir wollten?«
Klar, so hatten sie es sich vorgestellt. Er jedenfalls. In den vergangenen Wochen, als der Konflikt eskalierte und die Mitglieder der Aufsichtsbehörde ihn zu jeder Tageszeit anriefen, um ihn etwas zu fragen, ihm etwas mitzuteilen, eine Beschwerde der Mitarbeitenden weiterzuleiten, ihn zu tadeln, ihm zu sagen, dass sie enttäuscht seien und von ihm als Führungskraft mehr erwartet hätten, da hatte er das Funknetz, das Festnetz und erst recht das Internet mit seinen sozialen Medien zum Teufel gewünscht. Er sehnte sich danach, in Ruhe gelassen zu werden, damit er einfach nur in Frieden leben könnte.
Teresa zuckte die Schultern. Die Gelegenheit war vorbei. Sie hatten den Makler verpasst und konnten ohnehin nicht warten, bis er noch einmal hier herauskäme. Sie mussten weiter, denn sie hatte noch zwei weitere Besichtigungstermine verabredet.
Drei Objekte, hatte sie zu Flint gesagt und die Adressen ins Navi getippt.
Sie hatten sich an den Ausdruck gewöhnt, aber Teresa fand ihn immer noch unpassend. Ein Objekt war ein toter Gegenstand ohne Seele und Gedächtnis. Aber dieses Haus hier, dachte Teresa und sah noch einmal zurück, bevor sie ins Auto stieg, dieses Haus hatte eine Geschichte, ein Leben und einen Charakter. Es bewahrte die Erinnerungen an Menschen und Ereignisse in seinen Mauern und verbarg im Garten vergrabene Geheimnisse. Ein solches Haus war ein Subjekt. Und ein solches Haus wollten sie kaufen.
»Es wäre zu abgelegen gewesen«, sagte Teresa, als sie wieder durch das hübsche Dorf fuhren.
»Mir hätte es gefallen.«
»Aber die Lage ist nicht gut. Zu hoch oben. Da schneit es im Mai noch einmal und im September schon wieder.«
»Hmm«, brummte Flint, »das wäre schlecht fürs Gemüse.«
Er musste Gemüse anbauen. Mindestens fünfzehn verschiedene Arten verlangte der Alte. Das war doch bescheuert. Der hatte alles wörtlich genommen. Aber er würde das schon hinkriegen. Noch auf dem Heimweg von jenem vermaledeiten Besuch beim Schwiegervater, während Teresa schweigend und verstimmt am Steuer saß, hatte er im Kopf eine Liste geschrieben. Bohnen, Erbsen, Karotten, Zwiebeln, Kohlrabi, Rettiche, Radieschen, Blumenkohl, Weißkohl, Rotkohl, Grünkohl, Kopfsalat, rote Beete, Rauke, Tomaten und all das Grünzeug für Salat. Er würde zwanzig Sorten haben. Der Alte sollte sich wundern. Wenn sie nur erst ein Haus gefunden hatten. Eines mit einem großen Garten.
»Ich will nicht, dass wir im Winter ganz abgeschnitten sind.«
Teresa dachte immer noch an die schneeverwehte Straße und an das Bauernhaus ohne Mobilfunksignal.
»Es könnte ja sein, dass eines der Kinder uns einmal braucht.«
Flint nickte nur und wandte die zusammengekniffenen Augen nicht von der Straße. Sie verschwand jetzt beinahe hinter dickem Flockengestöber. Ihre Kinder waren erwachsen und selbstständig. Erfolgreiche und tüchtige Leute, die im Leben zurechtkamen. Aber er wollte jetzt nicht darüber diskutieren. Sie mussten endlich ein Haus finden. Seit Wochen suchten sie jetzt, seit jenem lächerlichen Abend bei Teresas Vater. Das Angebot gilt bis zum Ende des Jahres, hatte der gesagt. Und auch das hatte er akzeptiert. Er wollte nicht feilschen. Aber vielleicht hätte er es tun sollen. In zwei Wochen war Weihnachten. Die Zeit lief ihnen davon.
»Vielleicht bekommen wir bald Großkinder und die möchte ich in meiner Nähe haben.«
Flint nickte noch einmal. Mit mehr Überzeugung jetzt. Er hatte keine Lust, Opa gerufen zu werden, dafür fühlte er sich zu jung. Aber Enkelkinder würden ihm Freude machen. Das wusste er.
»Wir sind noch zu früh«, sagte Teresa und lenkte den Wagen an den Straßenrand. »Ich glaube, da unten ist es.«
Sie sahen auf das Haus hinunter und er hielt den Atem an. Dann ließ er die Luft durch die zusammengepressten Lippen entweichen.
»Sieh dir das an«, sagte er andächtig. »Das ist unser Haus.«
Teresa lächelte ihn an. Er hat noch nicht aufgegeben, dachte sie. Nach all den Absagen und Niederlagen. Aber mit dem mickrigen Darlehen, das ihr Vater ihnen in Aussicht gestellt hatte, würden sie kein Haus finden. Da war sie allmählich sicher. Besser so, sagte sie sich. Wenn sie kein Haus fanden, kam der verrückte Vertrag nicht zustande. Aus und vorbei. Aber Flint war überzeugt, dass er die Abmachung erfüllen würde, wenn sie nur erst das passende Grundstück hatten.
»Das ist genau das, was wir brauchen.«
Er schaute auf das Anwesen hinunter, das in einer kleinen Senke lag, als hätte es jemand eigens dort hingestellt, um ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Wohnhaus, im rechten Winkel zur Straße gebaut, in gutem Zustand, wie es schien, jedenfalls mit glänzenden grünen Fensterläden. Davor ein lang gestreckter Garten. Noch unter dem Schnee konnte man die Begrenzungen der Beete und dazwischen die schmalen Weglein sehen. Und weiter hinten gab es Weideland mit einem Stall darauf. Teresa sah schon die Schafe, ihre Schafe, dort weiden. Aber sie ließ sich davon nicht fortreißen.
»Wenn wir den Preis nicht herunterhandeln können, liegt es nicht drin«, sagte sie.
Sie hatte lange gezögert, bevor sie den Termin mit dem Makler festgelegt hatte. Eigentlich war dieses Haus viel zu teuer für ihre Verhältnisse.
Flint brummte und sagte nichts. Er hatte nicht gezählt, wie viele Objekte sie schon angesehen hatten. Er hätte jedes genommen. Er stellte ja keine Ansprüche. Wände verputzen, aufmauern, rausschlagen, Fußböden abschleifen, Leitungen verlegen. Mit dem größten Vergnügen! Er konnte ja nicht den ganzen Tag Bücher lesen. Aber nicht einmal für eine Bruchbude reichte das Geld. Der alte Geizkragen! Wenn er ihn schon triezen musste, dann hätte er wenigstens eine anständige Summe herausrücken können. Teresa würde irgendwann ja ohnehin alles erben. Aber der Alte wollte ihn ärgern und zur Schnecke machen. Nun ja, er hatte sich saudumm angestellt. Vielleicht hätte er ihm vom Schrebergarten erzählen müssen. Wie er den hingekriegt hatte. Vielleicht wäre die Sache mit dem Darlehen dann besser gelaufen. Aber es war typisch. Der Alte verstand ihn immer falsch, legte jedes Wort auf die Goldwaage. Dabei wollte er ihn doch nur beruhigen. Er sollte sich keine Sorgen um seine Tochter machen. Sie war bei ihm in guten Händen. Aber der Alte glaubte es nicht. Seit dreißig Jahren verachtete er ihn. Er sei ein großspuriger Angeber, hatte er mehr als einmal gesagt.
»Da kommt jemand. Das muss der Makler sein.«
Ein schlanker Mann anfang vierzig in engen Jeans und kurzer Lederjacke kam durch den Schnee gestapft. Sie stiegen aus und gingen ihm entgegen.
Er wolle es ihnen gleich sagen, begann er, ohne ihnen die Hand zur Begrüßung hinzuhalten. Die Leute, die das Grundstück vor einer halben Stunde besichtigt hatten, seien entschlossen, es zu kaufen. Sie hätten dreitausend mehr geboten als der ausgeschriebene Verkaufspreis und auch schon einen Vorvertrag unterschrieben.
»Einen was?«, fragte Flint. Aber der Makler ging nicht auf die Frage ein. Wenn sie nicht bereit seien, höher zu gehen, mache es keinen Sinn, dass sie das Objekt besichtigten.
Dann sei die Sache wohl erledigt, sagte Teresa ohne Weiteres und ging zum Auto zurück. Flint blieb noch eine Minute vor seinem Traumobjekt stehen. Er sah zu, wie der Makler durch den Garten zum Haus hinunter ging, auf der Matte vor der grün lackierten Tür den Schnee von den Schuhen klopfte und im Haus verschwand. Dann ging er zum Auto.
Teresa saß schon hinter dem Steuer und sah seine massige Gestalt herankommen. Er hatte den Kopf eingezogen, als ob er überhaupt keinen Hals hätte. Der Schnee reichte ihm bis zu den Waden und ließ seine Beine noch kürzer als sonst erscheinen. Mit jedem Schritt kickte er eine Schneewolke vor sich her. Er war enttäuscht und das war kein Wunder. So ungefähr wie dieses hatten sie sich ihr Traumhaus vorgestellt. Wenn er noch ein wenig durchgehalten hätte, hätten sie es sich leisten können. Aber es war schon richtig gewesen, dass er aus dem Job ausgestiegen war. Wenn man seinen unfreiwilligen Abgang so nennen wollte. Die vorzeitige Pensionierung hatte ein Loch ins Budget gerissen. Aber es wäre nicht weitergegangen. Er hatte es vermasselt, wegen einer Lappalie, einem Konflikt, der sich mit ein klein wenig Diplomatie hätte lösen lassen. Genau wie die Sache mit ihrem Vater. Aber Diplomatie war nun einmal nicht sein Ding. Das hatte sie in den vergangenen dreißig Jahren oft genug erlebt. Es hatte ihr Leben nicht leichter gemacht. Aber vielleicht liebte sie ihn auch gerade deshalb. Bei Flint wusste man immer, woran man war.
»Heute ist wohl nicht unser Tag«, sagte er. »Ich hab Hunger.«
Ob es in der Nähe irgendwo ein Café gab, eine Kneipe, eine Bar?
Sie hielten im nächsten Ort am Straßenrand an und fragten einen rotgesichtigen Mann, der Schnee vom Vorplatz eines Hauses auf die Straße schippte. Der starrte zuerst auf Flints Ohrring und machte ein Gesicht, als hätten sie nach einem Edelbordell gefragt. Ja, sagte er endlich, in Hofwiesen, gleich neben dem Dorfladen.
»In Hofwiesen gibt es einen Dorfladen?«
Teresa hatte die Karte gründlich studiert. Das Grundstück, das sie heute als letztes noch besichtigen wollten, war irgendwo in der Gegend um Hofwiesen. Sie fühlte sich gleich besser.
›Hofwiesener Dorfladen‹, stand über der Tür. In dem schmalen Gang dahinter versperrte ein Wegweiser aus Holzlatten den Weg. Links zeigte er zum ›Dorfladen‹, rechts zur ›Dorfschänke‹. Der Hofwiesener Dorfladen war alles zugleich. Laden, Cafébar, Kneipe, Treffpunkt. Gelächter, Stimmen und das Brummen einer Kaffeemaschine.
Sie fanden einen Platz am Fenster, tranken Kaffee, blickten auf die wenig befahrene Straße hinaus und sprachen nicht über die zwei verpassten Gelegenheiten.
»Na gut, dann fahren wir halt hin und sehen uns das an«, sagte Flint, von zwei Tassen schwarzer Brühe und einem monströsen Brötchen mit Schinken und Käse gestärkt und besänftigt, aber ohne spürbares Interesse.
»Klar machen wir das«, sagte Teresa, »warum nicht?«
»Mit dem Objekt stimmt doch etwas nicht?«
Das war ihnen gleich klar gewesen. Ein Grundstück von stattlicher Größe, bestimmt nicht kleiner als die beiden, die ihnen heute schon entgangen waren, mit einem Wohnhaus und einem Schuppen. Zum halben Preis. Das musste einen Grund haben.
»Es ist sehr abgelegen«, mutmaßte Teresa. Aber das waren andere auch gewesen.
»Das kann nicht der Grund sein. Je weiter weg vom Ort, desto besser.«
Halb meinte er es ernst. Was sie von Hofwiesen gesehen hatten, auf dem kurzen Weg vom Ortsschild bis zum Dorfladen, war ein Gewirr aus alten Bauernhäusern und Neubauten jeder Stilrichtung, Fachwerk neben Marmor. Dazwischen Misthaufen, Thujahecken und Palmen neben der altehrwürdigen Dorflinde. Irgendwelche Vorschriften zum Schutz des Dorfbildes schien es nicht zu geben.
»Das Haus wird in schlechtem Zustand sein.«
»Du meinst, das Dach ist kaputt und das Klo läuft ins Wohnzimmer ab.«
»Das wäre halb so schlimm«, sagte Flint. Die Vorstellung schien ihm zu gefallen. »Vielleicht ist der Garten verwildert.«
»Das wäre ja dann auch kein Problem.« Teresa lächelte ihn an. Er hatte aus dem Stück Urwald, das der verlassene Schrebergarten gewesen war, in einem einzigen Jahr einen prächtigen Gemüsegarten gemacht.
»Immerhin gibt es hier einen Dorfladen, das ist schon mal ein Pluspunkt.«
»Und eine Dorfkneipe!«
»Dorfschänke«, verbesserte ihn Teresa.
Während Flint zur Kasse ging, um zu bezahlen, inspizierte Teresa den Laden. Er war nicht groß, aber auf den Regalen lag das, was sie brauchen würden, um einen Haushalt zu führen. Dinge zum Essen, Waschen und Putzen. Schreibwaren und eine letzte Zeitung vom Tag. Neben der Kasse eine Theke mit Brot, Käse und Wurst.
Gut, dachte Teresa. Kartoffeln und Gemüse sind das halbe Leben, Käse und Fleisch die andere Hälfte.
Als Flint Feierabendgärtner geworden war, nur weil er beweisen wollte, dass er ein verwildertes Grundstück bezwingen und zähmen konnte, fing er plötzlich an, sich für Gemüse zu interessieren. Teresa hatte ihn groß angeschaut, als er davon erzählte.
»Du kannst doch Brennnesseln nicht von Kohl unterscheiden«, sagte sie.
Und da hatte sie recht. Ans Pflanzen und Ernten hatte er eigentlich nicht gedacht. Es war das Roden, das ihn an dem vernachlässigten Garten reizte, das Graben und Herausreißen. Er hatte das Gefühl, dass das die Aufgabe war, die er brauchte. Früher hatten die Bekannten ihn gefragt, ob er nicht helfen könne, das alte Klavier bei der Tante abzuholen, eine Wand im Eigenheim einzureißen oder ein frisch geschlachtetes Rind zu zerlegen. Heute beauftragten seine Freunde für Umzüge, Baumfällaktionen und andere Schwerarbeit eine einschlägige Firma. Und die jüngeren Leute, seine Mitarbeiter in der Jugendhilfe-Einrichtung, wären nie auf die Idee gekommen, Adrian Hiller um Hilfe bei schwerer Arbeit zu bitten. Nicht nur, weil er der Chef war und sie eine gewisse Distanz wahrten, sondern auch, weil er bald sechzig und also ein ziemlich alter Sack war. Aber er brauchte es immer noch, das triumphale Gefühl, wenn er den Kachelofen über die Türschwelle gewuchtet hatte.
Inzwischen wusste er alles über Gemüse und wie man es anbaut. Er hatte sogar einen Gartenbaukurs absolviert. Er wollte Teresa überflügeln mit Wissen und Können rund um den Bauerngarten.
Ihre Mutter hatte den schönsten Garten weit und breit gehabt und Teresa, einziges Kind, musste ihr viel helfen beim Pflanzen, Gießen und Unkraut jäten, beim Beeren pflücken und Bohnen aufbinden. Das alles lernte Flint von Grund auf unter fachkundiger Anleitung und mit Begeisterung. Den ersten Kopfsalat zelebrierte er, als hätte er eben erst den Salat schlechthin erfunden und für jedes seiner eigenhändig gezogenen, garantiert bio- und ökologischen Gemüse probierte er drei Kochrezepte. Aber Vegetarier war er nicht geworden.
»Wir essen dann Schaffleisch«, sagte er, wenn Teresa diesen Punkt ansprach. In ihrem künftigen Leben, fern von Supermarkt und üppigem Einkommen würde Fleisch ein Luxus sein.
Aber die Schafe waren Teresas Traum, eine Erinnerung an die wandernden Herden, die im Winter über die Felder zogen, umgeben von einer Aura aus Abenteuer und Fernweh, Entbehrung und hartem Leben. Zum Träumen eben und zum Scheren waren ihre Schafe gedacht, vielleicht zum Melken, aber bestimmt nicht zum Schlachten und Essen.
»Lass uns gehen.« Flint stand neben ihr und musterte die Auslage im Schokoladenregal, »sonst kommen wir noch einmal zu spät.«
Sie fuhren durch ein Dorf namens Bittel. Dahinter kam ein kleiner Weiler. Auf dem Vorplatz vor einem ausladenden Bauernhaus saßen Katzen. Es war eine ganze Katzenversammlung. Sicher zwanzig Tiere, wenn man genau hinschaute. Im Schnee kauerten sie, vor der Einfahrt, auf Fenstersimsen, Mäuerchen und Obstkisten. Sie saßen nur da und schienen nichts weiter zu tun.
»Was war das?«, fragte Flint.
»Eine Katzenversammlung«, sagte Teresa. »Das gibts.«
»Wie heißt denn der Ort?«
»Weiß nicht«, sagte Teresa, »vermutlich Katzenhausen.«
»Biegen Sie rechts ab«, sagte die Navi-Stimme. »Dann biegen Sie rechts ab.«
Ein Sackgassensignal und ein Wegweiser ›Im Doppelhof 1-2‹. Da musste es sein.
»Ziel vor Ihnen.«
Nach hundert Metern verzweigte sich der schmale Fahrweg. In der Gabelung stand ein auffällig langer und dünner Mann in einem dunklen Mantel neben einem dunklen Auto und versperrte ihnen die Weiterfahrt. Flint hielt an und ließ die Scheibe herunterfahren.
»Waldner«, stellte sich der Mann vor. »Sind Sie Frau Hiller?«
Er beugte seinen langen Körper herunter und spähte durch das Wagenfenster an Flint vorbei zu Teresa hinüber.
»Fahren Sie mir nach.«
Er stieg in seinen Wagen und lotste sie auf den Weg, der nach links auf eine verschneite Hecke zuführte. Dahinter war eine graue Fassade zu erkennen.
Es war nicht weit, hundertfünfzig Meter schätzte Flint. Der Makler hielt auf dem Platz vor der Hecke an. Flint stellte sich daneben.
Zuerst fiel ihm die Buchenhecke auf. Der Schnee klebte auf den braunen Blättern, die die Sicht auf das Grundstück nahmen. Auch jetzt im Dezember, denn manche Buchen werfen das Laub im Herbst nicht ab, auch wenn es braun und trocken geworden ist.
Flint mochte diese Art Hecken nicht, nicht im Winter. Ihm wäre es lieber, wenn die verdorrten Blätter abfallen würden, statt hier hängen zu bleiben wie eine makabre Mahnung an die Vergänglichkeit.
Die Hauswand hinter der Hecke war grau und fleckig. Ein leeres kleines Fenster unter dem Giebel ließ ihn an ein finsteres Kämmerchen denken oder an ein Treppenhaus ohne Licht.
Der Makler stieß in der Hecke ein Gartentor auf. Eine Metallgittertür, die Teresa bis zur Schulter reichte. Sie gehörte zu einem Zaun aus dem gleichen Material. Massives Eisengitter. Grau und hässlich zog er sich hinter der Buchenhecke an der ganzen Frontseite des Grundstücks hin. Jedenfalls ist der stabil, dachte Teresa. Ein Schaf käme da nicht hindurch und auch kein Hund. Im besten Fall vielleicht ein Eichhörnchen.
Sie traten in einen schneebedeckten Garten. Links stand das Wohnhaus, zweistöckig, schmucklos, abweisend. Ein Fensterladen hing schief. Einer fehlte. Auf der rechten Seite begrenzten Sträucher und Bäume das Grundstück. Im Sommer mochten sie als Sichtschutz dienen, jetzt sah Teresa durch die kahlen Äste hindurch etwas entfernt ein helles Haus mit großen Fenstern und einer vorgelagerten Terrasse. Nachbarn, dachte sie.
Und da war wieder der Gitterzaun. Zwischen Büschen und Bäumen lief er schnurgerade von Pfosten zu Pfosten, natürlich auch sie aus Metall, jeder gleich kantig und dunkel und mit einem Schneehäubchen obendrauf. Eine unüberwindbare Grenze zu den Nachbarn. Ob die Streit gehabt hatten? Teresa kniff die Augen zusammen und spähte bis dorthin, wo eine Hecke, eine richtig hohe diesmal, am unteren Ende den Garten begrenzte. Vom Zaun war dort nichts zu sehen.
Der Makler stand schon an der Haustür, als Flint sagte:
»Können wir zuerst den Garten sehen?«
»Sehen Sie sich um«, sagte Herr Waldner. »Ich warte so lange drinnen auf Sie.«
Er trug Stiefeletten mit dünnen Ledersohlen.
Sie folgten einer verwischten Spur, die am Wohnhaus vorbei führte. An der hinteren Seite des Hauses war ein Schuppen angebaut oder ein kleiner Stall. Er musste einmal einem besonderen Zweck gedient haben, denn in die Türe waren Glasscheiben eingesetzt. Dort endete die Spur. Dahinter gab es nur noch den Garten. Ein lang gestrecktes Stück Land unter unberührtem Schnee, das sanft zu jener hohen Hecke hin abfiel.
»Beerensträucher«, sagte Flint. Er deutete nach links, wo hinter dem Schuppen niedrige Büsche standen. Dahinter, deutlich abgehoben vom hellen Schnee, eine dunkle Linie bis ans Ende des Gartens. Der Metallzaun.
Sie folgten dem Zaun auf der rechten Seite. Auf halbem Weg hörte die Hecke auf. Aber der Zaun lief weiter. In langer Reihe standen die schwarzen Pfosten, nackt bis auf die weißen Mützen.
»Was ist denn das?«
Teresa blieb erschrocken stehen und fasste nach Flints Arm. Sie hatten den letzten Busch in der Hecke erreicht und konnten jetzt ungehindert auf das Nachbarhaus hinüber sehen. Es sah freundlich aus, stand wie zufällig zwischen hingestreuten Bäumen und Büschen mitten im Weideland, ohne Zaun oder Grenze.
Aber nahe am Zaun, nahe bei ihnen, erhoben sich schwarze Gestalten aus dem Schnee, reglos und riesig wie verkohlte Baumstämme nach einem Waldbrand.
Es waren Frauen. Drei schwarze Frauengestalten mit üppigen Brüsten und gewaltigen Schenkeln. Jede, wie es schien, aus einem einzigen Baumstamm herausgeschnitten. Sie standen da drüben im Schnee und steckten die Köpfe zusammen wie Nachbarinnen, die sich in der Sauna begegnet sind und Unerhörtes miteinander zu besprechen haben.
Flint trat zum Zaun und rüttelte daran. Das Gitter bewegte sich nicht. Er trat mit dem Stiefel gegen einen Eisenpfosten. Es fiel kein Flöckchen aus der Schneemütze. »Der hält«, sagte Flint und in seiner Stimme lag deutliche Anerkennung. Es kam nicht oft vor, dass ein Hindernis seinen Kräften widerstand. Erst jetzt sah Teresa, dass das Eisengitter in einer niedrigen Betonmauer verankert war. Der Schnee hatte sie überall zugedeckt.
Durch den tiefen Schnee folgten sie dem Zaun bis ans Ende des Gartens, vorbei an Obstbäumen und einem großen alten Nussbaum.
Teresa spähte durch die hohe Hecke. Dahinter entdeckte sie auch hier das Eisengitter. Der hässliche Zaun lief an allen vier Seiten um das Grundstück herum, schnurgerade, rechtwinklig, schulterhoch, unüberwindbar und fest wie für die Ewigkeit. Nur war er in der hohen Hecke nicht so deutlich zu sehen, denn zwischen Holunder, Erlen und Haselbüschen wuchs noch etwas anderes. Teresa ging näher und legte den Kopf in den Nacken. Helle, ganz dünne Stämme, sehr aufrecht und glatt mit regelmäßigen Verdickungen ragten zwischen den kahlen Ästen der Bäume auf und trugen mitten im Winter Kronen aus grünem Laub.
»Schau mal den Bambus«, sagte sie zu Flint, als er herantrat. »Ist das nicht schön?«
»Ja«, sagte Flint und sah in die schneeverklebten grünen Blätter hinauf, die im Wind metallisch raschelten, »sieht hübsch aus, und verdeckt den schrecklichen Zaun«.
»Schön ist er nicht«, gab Teresa zu, »aber vielleicht ist er ganz nützlich.« Sie dachte an ihre Schafe. Die würden nicht in den Garten eindringen.
Sie gingen zurück zum Haus. Der Schnee fiel jetzt in nassen Flocken so groß wie Münzen. Aus einem Fenster im Erdgeschoss schimmerte Licht. Das düstere Haus hatte ein Auge geöffnet, um sie anzusehen. Wenigstens eines.
Herr Waldner erwartete sie am Eingang und führte sie dann von oben nach unten durchs Haus. Vermutlich hatte er die Reihenfolge einstudiert. Er zeigte ihnen zuerst die drei dunklen Kammern und das senfbraun geflieste Bad im oberen Stock, dann im Erdgeschoss die Küche, mit olivfarbenen Fließen, und die Wohnstube mit Kaminofen und gestreifter Tapete. Er stieg mit ihnen in den Keller, wo er die Heizung lobte, die noch gar nicht alt sei. Und schließlich wagte er sich sogar noch einmal aus dem Haus und führte sie in den Schuppen mit der Glastür.
»Eine kleine Werkstatt«, sagte er, wie einer, der eine Überraschung aus dem Hut zaubert. »Lässt sich natürlich auch als Garage nutzen.«
»Da müsste man aber ein Loch in den Zaun schneiden, um reinzukommen«, bemerkte Flint.
»Ach ja, der Zaun«, sagte Herr Waldner. »Ein massives Stück Wertarbeit.«
Teresa fand das Wort treffend, auch wenn es ihr ungewöhnlich vorkam und sie nicht sicher war, ob Herr Waldner es ironisch meinte. Flint grinste jedenfalls.
Das Objekt interessierte ihn. Das sah Teresa an den aufmunternden Blicken, die er ihr zuwarf, als sie ins Haus zurückgingen.
»Sehen Sie sich ruhig noch einmal um«, sagte Herr Waldner.
Er folgte ihnen durch alle Räume und verbreitete unablässig seine Erklärungen über das Haus und seine Vorzüge. So wie ein katholischer Geistlicher im Hochamt das Rauchfass schwenkt. Die Bausubstanz sei ausgezeichnet. Hier habe ganz früher die Familie gewohnt, die die Villa und den Garten pflegte.
»Deshalb heißt es hier in der Gegend immer noch das Gärtnerhaus. Und das dort drüben«, er wies auf das Gebäude nebenan, »nennen sie die Villa.«
Das Haus hatte lange leer gestanden, aber es war im Innern nicht so baufällig, wie es von außen gewirkt hatte. Natürlich, die Armaturen in Küche und Bad sahen alt aus, die Fließen an den Wänden uralt. Das meiste war ohnehin unter einer Schicht aus Staub und Spinnweben verborgen. Wer weiß, was dahinter noch an Überraschungen wartete. Aber es schien alles da zu sein, was man zu einem zivilisierten Leben brauchte: Heizung, Wasser, Strom. Dazu der Luxus eines Kaminofens im Wohnzimmer. Mit Farbe, Fleiß und Flints Muskelkraft konnte es ein schönes Zuhause werden. Die fleckige, trost- und lieblose Fassade sah man von innen ja nicht. Und der Garten schien ideal für das, was sie vorhatten. Genug Platz für Gemüse und Kartoffeln, Sträucher für Beeren, Bäume für Obst. Und womöglich kiloweise Nüsse. Und rundherum ein stabiler Zaun, dachte Teresa.
Wo denn das Weideland sei, das zu dem Grundstück gehöre, fragte sie.
»Gleich da, hinter dem Zaun«, sagte der Makler und deutete auf die hohe Hecke am Ende des Grundstücks. »Vier Ar Wiese. Die gehören zum Haus.«
»Wo ist der Haken an der Sache, Herr Waldner?«, sagte Flint unvermittelt und wenig freundlich. Der Makler blickte ihn erschrocken an.
»Wir haben schon einige Grundstücke besichtigt, wir konnten uns ein Bild machen. Von den Preisen meine ich.« Flint drückte sich immer kompliziert aus, wenn er sich in einen Konflikt hineinmanövrierte. »Warum ist das hier so billig?«
Der Makler hob die schmalen Schultern bis zu den Ohrläppchen hinauf und verzog den Mund. »Ich bin der Makler. Ich habe den Preis nicht gemacht«, sagte er.
Aber als Flint ihn nur grimmig von unten herauf anstarrte, holte er doch zu einer Erklärung aus.
»Das ist ja ein wirklich schönes Anwesen. Ländlich und ruhig gelegen. Aber das nächste Dorf ist vier Kilometer entfernt. Bittel heißt es wohl, das Dorf. Da gibt es ein paar Häuser und sonst nichts. Kein Einkaufsladen, keine Schule, keine Bushaltestelle, keine Kneipe. Also nichts für junge Familien. Und außerdem ...«
Jetzt blickte der Makler auf seine Schuhe, die trotz seiner Enthaltsamkeit bei der Gartenbesichtigung etwas Schnee abbekommen hatten, sodass sich eine kleine Pfütze auf dem Küchenboden bildete. Dann hob er den Kopf und sah Flint an.
»Der Garten ist in einem etwas verwilderten Zustand. Bei dem Schnee können Sie das jetzt nicht sehen. Aber ...«
Er wies mit einem langen dünnen Arm auf die untere Hecke, die vom Küchenfenster aus gut sichtbar war.
»Sehen Sie die hohen grünen Pflanzen dort? Das ist Bambus. Der ist hier überall wild gewachsen. Nicht nur an den Rändern, glaube ich. Das soll ein kleiner Wald gewesen sein. Der Besitzer hat ihn letztes Jahr mitsamt den Wurzeln ausbaggern lassen. Man hat natürlich neue Erde eingefüllt. Gute Gartenerde. Aber der ganze Garten muss jetzt halt neu angelegt werden. Von Grund auf.«
Der Makler blickte versonnen aus dem Fenster und hob noch einmal die mageren Schultern.
»Ich verstehe nichts davon. Aber eigentlich finde ich den Garten ganz schön.«
Er war der dritte Grundstücksmakler, der sich bemühte, einen Käufer für das Objekt zu finden. Er hatte den Auftrag angenommen, mit risikoangepasster Provision, nachdem die Verkäuferin, eine Erbengemeinschaft, deren Mitglieder über die halbe Welt verstreut schienen, mit dem Preis noch einmal zurückgegangen war.
Flint lächelte Teresa zu und sie wusste, was er dachte. Dass er das Kind schon schaukeln würde. Oder das Schifflein, schließlich war er Käpten Flint. Was immer das Problem sein mochte, er würde es hinkriegen. Das war sein Credo und sein Code. Und wenn er es einmal ausgesprochen hatte, war es ein Versprechen. Dann hing er daran wie ein Kampfhund an seinem Gegner. Dann würde er eher untergehen, als wieder loslassen.
»Können wir es uns noch überlegen?«, fragte sie schnell. »Bis morgen?«
Herr Waldner machte ein Gesicht wie ein Bestatter am offenen Grab.
»Selbstverständlich können Sie es sich noch überlegen, so lange sie wollen. Nur kann ich Ihnen natürlich nichts versprechen. Heute sind noch zwei Interessenten angemeldet. Wenn jemand ein Objekt kaufen will, schließen wir in der Regel sofort einen Vorvertrag ab. Dann ist das Objekt reserviert, bis die Finanzierung geklärt ist. Ja und dann«, er zog die Mundwinkel nach unten und schnippte mit den Fingern, »dann ist es weg.«
»So schnell geht das nicht weg«, sagte Teresa auf dem Weg zum Wagen. »Wer soll so etwas kaufen, hier am Arsch der Welt?«
Flint grinste: »Halt so verrückte Freaks wie wir.«
»Wir sollten es lieber lassen«, sagte Teresa. »Irgendwie ist es – unheimlich.«
»Das meinst du nur, weil das Haus so verwahrlost ist. Stell es dir im Sommer vor, wenn der Garten grün ist und hinter dem Zaun die Schafe weiden.«
»Und wir unter den Bäumen unsere Liegestühle aufstellen und den ganzen Tag in dicken Büchern lesen.«
»Genau.«
»Und wenn wir einmal aufblicken, sehen wir einen Gitterzaun. Wie im Gefängnis.«
»Wenn die Bäume Blätter haben, sieht man ihn kaum. Und du kannst ja Blumen daran wachsen lassen. Winden und Wicken. Oder Erbsen und Stangenbohnen.«
Als sie schon im Wagen saßen, kamen zwei vermummte Gestalten über den Fahrweg gestapft. Er ein Riese in waldgrünem Anorak. Unter der Kapuze war nur ein grauer Vollbart zu sehen. Die Frau trug jene Art Stiefel, die wie kleine Hunde aussehen, pelzig und viel zu groß für einen Menschenfuß. Über den Ohren eine rote Pudelmütze mit einer Bommel oben auf dem Scheitel.
»Zwei Verrückte«, sagte Flint düster. »Das Haus ist weg.«
Sie fuhren durch den Weiler, den Teresa Katzenhausen genannt hatte und durch das Dorf Bittel, von welchem Herr Waldner gesprochen hatte, ›kein Laden, keine Bushaltestelle‹, bis nach Hofwiesen.
»Lass uns anhalten«, sagte Teresa, als sie in Hofwiesen am Dorfladen vorüberkamen.
Später, in den schlimmsten Momenten, dachte sie, dass sie ihrem Bauchgefühl hätte folgen müssen. Es war ein Fehler und sie wusste es. Aber sie konnte nicht anders. Flint zuliebe wollte sie es tun. Auch wenn ihr nicht wohl dabei war. Sie war die Schatzmeisterin, darauf bestand Flint. Zwar hatte der Vater das Darlehen ihm gegeben, schließlich hatte er die unglückliche Verhandlung geführt und den Vertrag mit den bekloppten Bedingungen unterschrieben, aber es war doch das Geld, das Teresa irgendeinmal erben würde. Falls bis dann noch etwas übrig war von dem Bauernhof ihrer Großeltern. Und deshalb musste jetzt sie entscheiden.
Es war nicht fair. Sollte sie am Ende die Verantwortung tragen für eine Entscheidung, die noch viel verrückter war, als alle glaubten?
Ihr seid verrückt, sagten die besten Freunde, jene die sich trauten. Und es war eine Verrücktheit. Auf jeden Fall eine gewagte Sache. Frührentnerpaar zieht aufs Land, um den Lebensabend mit Schafen und Gemüse zu verbringen. Am Ende noch schnell die Träume eines ganzen Lebens verwirklichen. Gab es nicht genug Beispiele, dass das schief gehen musste?
Und dann war da noch der Punkt, von dem die Freunde nichts wussten, der Pakt mit ihrem Vater. Der machte alles erst richtig schwierig. Sie mussten Gemüse anbauen. Das Haus musste deshalb nicht nur billig sein, sondern auch einen großen Garten haben. Ein halbes Jahr hatte der Vater ihnen gegeben, um ein Grundstück zu finden. Und in ein paar Tagen war die Zeit um. Wenn sie keines fanden, hatte Flint verloren. Denn so würde ihr Vater es verstehen. Als Eingeständnis, dass Flint den Mund zu voll genommen hatte, dass er es sich nicht zutraute. Seid ihr doch noch zur Vernunft gekommen, würde er zufrieden sagen.
Flint fuhr auf den Parkplatz vor dem Dorfladen, stellte den Motor ab und sah sie an.
»Was hat er über den Garten gesagt? Als du fragtest, warum es so billig sei.«
»Nichts Schlimmes«, sagte Flint. »Da wurde gerodet und ausgebaggert und dann neue Erde eingefüllt. Wenn jemand einen schönen Garten mit alten Rosen und grünem Rasen will, ist das natürlich blöd. Aber für uns ist es genau richtig. Da müssen wir nur noch anpflanzen.«
Teresa nickte. Schon als sie Katzenhausen passierten, wo die Versammlung beendet war und keine einzige Katze zu sehen, wusste sie, dass unterm Strich nichts dagegen sprach, gegen dieses Haus. Außer dem verdächtig tiefen Preis und dem schrecklichen Zaun. Und einem Frösteln, das wohl vom nassen Schnee kam.
»Wir hätten gleich unterschreiben müssen«, sagte Flint in die Stille, die entstanden war, als er den Motor abstellte und das Radiogedudel mitten im Ton abbrach. »Jetzt ist es vielleicht schon ...«, er zog die Mundwinkel nach unten und schnippte mit den Fingern, »– weg.«
Teresa musste lachen, obwohl ihr nicht danach war.
»Meinst du wirklich, dass wir das kaufen sollen?«
»Wenn es noch zu haben ist, sollten wir zugreifen. Wahrscheinlich ist es unsere letzte Chance.«
Er hatte recht.
»Adrian«, sagte sie. Außer seiner Mutter nannte ihn niemand bei seinem Taufnamen, nur Teresa in sehr ernsten Momenten. »Wir müssen kein Haus kaufen und keinen Garten, nicht jetzt.«
»Willst du warten, bis dein Vater tot ist?«
Sie schwieg.
»Ich werde bald sechzig. Ich weiß nicht, wie lange ich noch Häuser ausbessern kann. Wir müssen es jetzt machen.«
Er würde zugrunde gehen, wenn er nur herumsaß und darauf wartete, dass Teresa pensioniert würde. Sie war zwölf Jahre jünger als ihr Mann, aber wenn er aufhörte, würde auch sie aufhören und sie würden aufs Land ziehen. Ein Haus kaufen. Etwas Eigenes aufbauen. Das war schon lange beschlossen.
»Dieser blöde Vertrag ...«
»Hör auf damit. Ich krieg das hin. Das weißt du.«
Er hatte recht. Der Vertrag war idiotisch, kindisch, ein Schwachsinn unter Männern. Flint würde die Bedingungen einhalten. Er hatte schon einmal bewiesen, dass er es konnte. Und es war ja nur für ein Jahr.
»Willst du wirklich in diesem hässlichen Haus wohnen?«
»Das Haus ist gar nicht so schlecht. Das Nötigste bringen wir noch diesen Winter in Ordnung. Nächstes Jahr haben wir ja dann richtig viel Zeit.«
Nur im ersten Jahr mussten sie die Bedingungen erfüllen, hieß es in dem bescheuerten Papier. Danach gehörte das Darlehen für zwanzig Jahre ihnen. Aber wenn sie bis Ende Jahr nichts gefunden hätten, lief das Angebot des Vaters aus.
»Adrian«, sagte sie noch einmal, »werden wir das schaffen? Ich glaube, mein Vater hat es ernst gemeint.«
»Wir werden das schon schaukeln«, sagte Flint feierlich. Er hatte die Hand am Zündschlüssel. »Willst du, dass wir zurückfahren?«
Es war eine Weile ganz still im Wagen. Sie hörte ihren Mann neben sich atmen.
»Ja«, sagte Teresa.
Hildegard Jacobi verbrachte zwei unruhige Wochen.
»Was glaubst du?«, fragte sie ihren Mann. »Ob da jemand einzieht?«
Karl zuckte die Schultern. »Reserviert bedeutet gar nichts. Das heißt nur, dass jemand interessiert ist. Aber verkauft ist es erst, wenn verkauft drauf steht.«
Hilde hatte nachgesehen. ›Reserviert‹ stand immer noch auf dem Streifen quer über dem Angebot auf der Website der Maklerfirma. Hilde sah täglich nach. Obwohl das Nerven kostete. Das Internet lief langsam hier draußen. Und war nicht stabil. Man musste eine Tasse Tee neben die Tastatur stellen, ehe man daran ging, sich einzuloggen, und eine Handarbeit im Schoß halten, denn es dauerte, bis sich etwas tat, und manchmal erschien die Nachricht ›keine Internetverbindung‹ mehrmals, bevor sich endlich die gesuchte Seite öffnete. Hilde seufzte dann und dachte, dass die schlechte Verbindung ins Netz das Haus nebenan auch nicht attraktiver machte.
»Aber reserviert heißt doch, dass es jemand haben will.«
Hilde wünschte sich Nachbarn. Seit zwei Jahren waren sie ganz allein hier draußen.
»Wir werden es schon erfahren, wenn es so weit ist. Sei doch nicht so ungeduldig.«
Sie schüttelte den Kopf. Die weißen Kräuselhaare schaukelten um ihr Kinn wie die Staubfäden der Waldrebe im Herbst.
»Du hast gut reden«, sagte sie. »Ich bin vierundachtzig. Ich kann nicht mehr jahrelang warten.«
Sie lächelte ihn an wie einen kleinen Bruder. Karl war fünf Jahre jünger, noch nicht einmal achtzig. Sie wies ihn gerne darauf hin, dass sie älter war als er und dass sie, auch abgesehen davon, schon richtig alt war.
»Eine schöne Frau wird nicht alt«, sagte er dann jedes Mal. Und das tat ihr gut.