Die Beschuldigung - Elsa Zett - E-Book

Die Beschuldigung E-Book

Elsa Zett

0,0

Beschreibung

Was geschah an der Dorfstraße? Bei einem schrecklichen Unfall hat Nora alles verloren, was ihr im Leben etwas bedeutete. Als ihre Schwiegereltern sie eine Mörderin nennen, beginnt Nora, sich an die Zeit vor dem Unfall zu erinnern. Was ist an der scheinbar idyllischen Dorfstraße geschehen? Wer ist schuld am Tod eines Nachbarn? Und was hat Nora ganz zuletzt mit der Schwiegermutter besprochen? Wenn sie sich erinnern könnte, würde sie vielleicht verstehen. Elsa Zett erzählt in ihrem neuen Pageturner von einer besonderen Straße mit ihren Bewohnern und von den Folgen einer Lüge.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 251

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vorbemerkung
Teil 1
Warum?
Die Dorfstraße
Herr Knorpp
Erinnerungen
Die Heimfahrt
Vollmacht
Mörderin
Leo
Boulevardpresse
Hunde
Erwin
Rückkehr
Sauerei
Teil 2
Die Katzengeschichte
Katzen
Der Anfang
Erwins Motorradgespann
Mord
Wer?
Gerüchte und Mutmaßungen
Ludwig und Erwin
Unterton
Tschibo
Polizei
Streitigkeiten
Klatsch
Sie meint es doch nur gut
Erwin
Schuld
Familie
Betrunken
Vera
So viele Verluste
Veteranen
Wegziehen
Anwohnerversammlung
Hoffnung
Drei Tage im Regen
Schweigen
Abwarten
Trotz allem
Tom Dooley
Teil 3
Deshalb
Hass
Tierarzthelferin
Irrtum
Weihnacht
Lüge
Krähen
Wahrheit
Katzenfallen
INHALT

Buch:

Bei einem schrecklichen Unfall hat Nora alles verloren, was ihr im Leben etwas bedeutete. Als ihre Schwiegereltern absurde Vorwürfe gegen sie erheben, beginnt Nora, sich an die Zeit vor dem Unfall zu erinnern. Was ist an der scheinbar idyllischen Dorfstraße geschehen? Wer ist schuld am Tod eines Nachbarn? Und was hat Nora ganz zuletzt mit der Schwiegermutter besprochen? Wenn sie sich erinnern könnte, würde sie vielleicht verstehen.

Elsa Zett erzählt von einer besonderen Straße mit ihren Bewohnern und von den Folgen einer Lüge.

Autorin:

Elsa Zett, in Basel geboren, studierte Psychologie, Pädagogik und auch ein wenig Germanistik und kehrte immer wieder in ihre Heimatstadt zurück. Sie lebt dort in einem alten Haus und sammelt Geschichten.

Nach ihren Erfolgen mit »Der Fall Anouk« (2023), »Als der Bambus erwachte« (2024) und »Der Ander und sein Bruder« (2024) lässt sie sich für »Die Beschuldigung« wieder einmal von einem verstörenden Zeitungsbericht inspirieren.

Elsa Zett

Die Beschuldigung

Roman

Von Elsa Zett ist bereits erschienen:

Der Fall Anouk (2023)

Als der Bambus erwachte (2024)

Der Ander und sein Bruder (2024)

www.elsa-zett-autorin.com

Die Osttangente der Autobahn A2 führt direkt durch den Stadtkern von Basel und ist ein wichtiges Verbindungselement zwischen der Schweiz, Deutschland und Frankreich.

Bundesamt für Straßen ASTRA

Seit der Eröffnung der Osttangente vor vierzig Jahren habe sich die Lärmsituation wegen des zunehmenden Verkehrs deutlich verschlechtert.

Zeitungsmeldung vom 8.9.2017

Vorbemerkung

Die Knisterbergstraße hat es so nie gegeben. Weder in Basel noch in einer anderen Stadt. Sie ist eine Collage aus Splittern und Bruchstücken anderer Straßen, Häuser und Geschichten in anderen Zeiten und an anderen Orten. Genau wie ihre Bewohner, die alle erfunden sind, zusammengesetzt aus Eigenschaften wirklicher Menschen, aus Gewohnheiten und Abneigungen, einem Augenzwinkern und einem Kleidungsstück, einem Vor- mit einem falschen Nachnamen, einem Schicksal oder einem Tick. Ähnlichkeiten mit real existierenden Zeitgenossen können vorkommen. Wer eine findet, darf sie behalten.

Teil 1

Warum?

Die Dorfstraße

Morgens gegen zehn, wenn es auch im Winter schon hell ist, wenn die Rentner in Nummer 53 beim Frühstück sitzen und Leo seine Zeitung zu Ende gelesen hat, geht der alte Herr Knorpp durch die Knisterbergstraße. Er geht langsam, so tief gebückt, dass sein Rücken fast waagrecht über dem Pflaster schwebt, und scheint unsicher auf den mageren Greisenbeinen. Alle paar Schritte bleibt er stehen und dreht den Kopf nach links und rechts, um etwas anderes zu sehen, als den grauen Straßenbelag und seine eigenen immer sauber geputzten Schuhe. Wenn er sich anstrengt, kann er hinaufschauen bis zu den Erkerfenstern im ersten Stock, die es hier an fast allen Häusern gibt.

Herr Knorpp sieht manches, was andere nicht beachten. Moos an niedrigen Gartenmauern und Grasbüschel im Straßengraben, verlorene Münzen, ausgespuckte Kaugummibatzen, leere Zigarettenschachteln, ein totes Tier unter einem Fliederbusch. Wenn er stehen bleibt, bleibt neben ihm auch Leika stehen, seine alte Mischlingshündin. Sie dreht die graue Schnauze zu ihrem Meister hin und blickt ihn aufmerksam an, als wollte sie fragen: Geht es? Schaffst du es noch?

Wenn sie dann weitergehen, bis zum Haus von Erwins Schwester, dann bewegt auch die Hündin ihre dünnen Greisinnenbeine vorsichtig und scheint ein wenig zu taumeln.

Sie kommen von der breiten Beznauerstraße her, wo die Lastwagen der Straßenbahn den Weg versperren und die Fußgänger auch auf den Zebrastreifen ihres Lebens nicht sicher sein können, und gehen zwischen den niedrigen Häuserreihen der Knisterbergstraße langsam Richtung Gösgenweg. Zwei waagrechte Körper mit tief gesenkten Köpfen. Einer geht auf vier Beinen, der andere hat die Hände auf den Rücken gelegt, wo sie die Hundeleine halten. Der Riemen hängt zwischen ihnen in einem lockeren Bogen und spannt sich niemals an. Und niemals lässt Herr Knorpp hier seine Leika von der Leine. Er könnte sie nicht zurückrufen, wenn sie einer von Helenes Katzen zu nahe kommen wollte. Leika ist halb taub und bei dem Lärm würde sie ihren Meister bestimmt nicht hören.

Denn die Knisterbergstraße ist keine gewöhnliche Straße und beileibe nicht so friedlich, wie sie aussieht. Sie ist ein Rauschen und Rumpeln, ein Donnern, Quietschen und Knarren, ein nie versiegender Lärm, am Tag und in der Nacht, eine Qual wie Zahnschmerzen und eine Zuflucht hinter vielfach verglasten Lärmschutzfenstern. Die Knisterbergstraße verläuft neben der Stadtautobahn.

Dabei sieht das kurze Stück zwischen Beznauerstraße und Gösgenweg aus wie eine vergessene Idylle aus längst vergangener Zeit. Nicht ohne Grund nennen die Bewohner diesen Abschnitt die Dorfstraße. Die Straße ist schmal und die Häuser stehen sich nahe gegenüber. In den Vorgärten blühen im Frühling Blumen und Fliederbüsche hinter bemalten Lattenzäunen. Die Häuser sind hell gestrichen, an den Fenstern hängen Gardinen, die Briefkästen sind geleert und die Reifen der Fahrräder in den ordentlichen Vorgärten prall gepumpt.

Jedenfalls auf der linken Seite, dort wo die Häuser mit den ungeraden Hausnummern stehen.

Auf der rechten Seite fehlen ein paar von den alten Häusern. Einige scheinen nicht bewohnt zu sein. Und sie stehen auch nicht geschlossen Schulter an Schulter da, sondern ziemlich unregelmäßig wie Zähne in einem schadhaften Gebiss. Gleich an der Ecke, wenn man von der Beznauerstraße her kommt, wurde das Pflegeheim hingebaut. Ein Neubau aus den Siebzigerjahren, ein hässlicher Kasten aus Beton. Er passt nicht zu den übrigen Häusern in der Reihe. Auch wenn die nicht so schön geputzt und gepflegt sind wie jene auf der andern Straßenseite. Aber der Stil ist derselbe wie gegenüber. Kleine Stadthäuser, gut hundert Jahre alt, mit einem Erker im ersten Stock. Wer dort ans Fenster tritt, sieht nicht nur auf die gegenüberliegenden Häuser, sondern kann beim Nachbarn auf der gleichen Seite bis fast zur Haustür sehen, ohne sich hinauszulehnen.

Herr Knorpp kennt die Leute, die hier wohnen. Wenn auch nicht alle mit dem Namen, so doch vom Sehen, denn er kommt schon lange jeden Tag durch die Straße. An manchen Tagen sogar zweimal.

Das Haus neben dem Pflegeheim, das mit dem besonders großen Erker gehört dem alten Herrn mit der Glatze und der Goldrandbrille, der Bücher schreibt und immer freundlich ist. Und dann kommt die Bude, die jetzt Erwins Schwester gehört. Vielleicht hat sie das Haus auch schon verkauft. Das weiß niemand so genau, obwohl die Leute hier manches über ihre Nachbarn wissen. Daneben ist eine Lücke. Struppiges Gras wächst hier und wird von niemandem mehr gemäht, seit Erwin es nicht mehr tut. Obwohl es verboten war, pflegte er hier sein Motorrad mit dem Beiwagen abzustellen, wenn er auf den Straßen in der Nähe keinen Parkplatz fand. Da war die Welt der Dorfstraße auf ihre Weise noch in Ordnung. Jetzt ist das blaue Gefährt mit der riesigen Kiste auf dem Seitenwagen verschwunden.

Das Haus neben der Lücke steht schon lange leer. Im Vorgarten wachsen stachelige Tannenbäume und der Zaun bräuchte einen Anstrich. Zu verkaufen, steht auf einem Schild hinter dem Küchenfenster. Aber es ist nicht leicht, einen Käufer zu finden für ein Haus an der Knisterbergstraße. Nicht für eines mit einer geraden Hausnummer, auf der rechten Straßenseite, wenn man vom Pflegeheim her kommt. Denn das sind die Häuser an der Autobahn. Hinter diesen Häusern, wo einst Gärten waren, Blumen blühten und Kinder spielten, ragen Betonstämme auf und tragen statt Baumkronen und Blättergrün die sechs Spuren der Stadtautobahn wie Kometenschweife aus Beton.

Herr Knorpp dreht den Kopf nach links, wenn er am Haus Nummer 45 vorübergeht. Wie es ihr wohl geht, der unglücklichen Frau Weinberger? Aber Leika interessiert sich nicht dafür. Sie zieht es weiter zum übernächsten Haus, wo die Fromms wohnen mit ihren Katzen. Da hat Leika viel zu schnüffeln und manchmal kauert sie sich hin, um ihre Anwesenheit zu dokumentieren.

An der Ecke überqueren die beiden den Gösgenweg und gehen weiter durch die Knisterbergstraße, immer umtost vom Lärm der Autobahn, bis ganz hinab ans Ufer des Rheins. Unter den Platanen wenden sie sich nach links, fort von dem Getöse, bis sie zum Bäckerladen kommen, der hier der Konkurrenz des Supermarkts trotzt. Herr Knorpp bindet die Hündin umständlich am Fahrradständer fest, bevor er sich am Geländer die drei Stufen zur Ladentür hinaufzieht, um drinnen frische Brötchen zu kaufen. Er zieht einen Stoffbeutel aus der Tasche seines Mantels und reicht ihn der Verkäuferin über den Ladentisch. Und wenn er dann ganz langsam und sorgfältig die Stufen wieder hinabgestiegen ist, bindet er Leika los und macht sich mit ihr auf den Heimweg. Jetzt aber nimmt er den direkten Weg zur Steinbruchstraße, wo er wohnt.

Herr Knorpp

Nora hatte Herrn Knorpp beim Bäcker kennengelernt. In jenen glücklichen Tagen als sie Lehrerin am Gymnasium war. Es war Freitag. Da musste sie nicht zur Arbeit. In der Nacht war Schnee gefallen und sogar auf der Straße liegen geblieben. Auf dem Rasen im rückwärtigen Garten lag eine richtig dicke Schicht nasser Schnee. Dimitri wollte einen Schneemann bauen, den ersten seines Lebens, und Tim war gleich nach dem Aufstehen mit ihm hinausgegangen. Nora holte Brötchen fürs wohlverdiente Frühstück.

Was für Kinder und ihre Väter ein Vergnügen war, war für Fußgänger wenig erfreulich. Der nasse Schnee bedeckte das Pflaster nur dürftig und wo Schuhe und Stiefel ihn platt gedrückt hatten, bildete er jetzt tückisch glitschige Inselchen. Leika stand vor dem Bäckerladen ein wenig zittrig auf ihren vier Pfoten und blickte besorgt auf ihren Herrn, der sich nicht recht traute, den nächsten Schritt zu tun.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Nora, als sie mit ihren Brötchen aus dem Geschäft kam und der alte Herr immer noch dastand, wie Minuten davor, als sie hineingegangen war.

Er hätte wohl besser zu Hause bleiben sollen, meinte Herr Knorpp. Es sei heute schon sehr rutschig.

Nora nahm seine Stofftasche und seinen Arm. Sie brauchten lange bis zu dem Haus an der Steinbruchstraße. Als Nora mit den Brötchen nach Hause kam, war der Schneemann fast fertig.

Seit jenem Tag, als Dimitri seinen ersten Schneemann gebaut hatte, waren Herr Knorpp und Nora Bekannte, die miteinander plauderten, wenn sie sich vor der Bäckerei oder in der Knisterbergstraße begegneten. Nora blieb stehen und Herr Knorpp drehte den Kopf an seinem gebückten Körper zur Seite, damit er Nora von unten herauf ins Gesicht blicken konnte.

»Guten Tag, Frau Weinberger, geht es Ihnen gut?«

Und auch Leika hob die graue Schnauze und bewegte kaum merklich den ausgefransten Schwanz.

»Ja«, sagte dann Nora, »mir geht es gut.«

»Und Mann und Sohn sind wohlauf?«

»Auch ihnen geht es gut. Dimitri geht ja jetzt in die Schule.«

»Gefällt es ihm dort?«

»Oh ja. Er ist sehr glücklich.«

Damals war auch Nora glücklich. Herr Knorpp konnte es ihr ansehen.

Aber jetzt hatte man Nora Weinberger in der Straße schon lange nicht mehr gesehen. Nur selten sprachen die Nachbarn noch über sie. Nein, sie ist nicht mehr im Krankenhaus. Es ist ja schon ein Jahr her. Ich glaube, sie ist irgendwo zur Kur, um sich zu erholen. Kann man sich erholen von so etwas? Und was macht sie danach? Ob sie wieder zurückkommt?

Verstohlen, als ob das Hinsehen unanständig wäre, blicken die Nachbarn auf die linke Straßenseite. Da stehen sie in einer Reihe, die Häuser mit den ungeraden Nummern, gepflegt und geputzt das eine wie das andere, mit rot gedeckten Ziegeldächern und vorspringenden Erkern im ersten Stock. Und mittendrin das Haus mit der Nummer 45, in dem seit Monaten niemand mehr wohnt. Auch Noras freundliche Schwiegermutter hat nie mehr jemand gesehen.

Erinnerungen

In ihren Ohren war noch das Geräusch. Ein Geräusch so schrecklich, dass sie es nicht beschreiben konnte. Ein kreischendes Krachen, ein schrilles, kratziges Klirren ... Und Schreie. Wahrscheinlich waren da auch Schreie gewesen. Nora konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Danach nichts mehr. Dunkelheit. Und davor ... Was war davor gewesen?

Nora humpelte langsam durch den Klinikpark. Ob sie je wieder normal würde gehen können? Bestimmt, hatte die Krankengymnastin gesagt. Aber Sie müssen viel üben. Gehen Sie hinaus in unsern schönen Park. Da scheint heute die Sonne.

Es war Ende November. Bald wieder Weihnachten. Bald würde es ein Jahr her sein. Die Sonne stand tief und blendete sie in den Augen. Wie damals. Am 26. Dezember als es passierte. An das Datum erinnerte sie sich.

Sie waren bei den Schwiegereltern zum Mittagessen eingeladen. Sie fuhren frühzeitig hin. Dimitri freute sich auf die Geschenke, die bei den Großeltern für ihn bereit lagen. Weil Weihnachten war.

Nora fühlte diese Leere aufsteigen. Diese schwarze Müdigkeit. Sie setzte sich auf eine Parkbank und lehnte den Krückstock gegen die Lehne.

Es war alles gewesen, wie jedes Jahr. Tims Vater hatte das Mittagessen gekocht und danach gab es Weihnachtsgebäck, das Regula gebacken hatte. Sieben Sorten hatte sie gemacht.

»Meine Oma ist die beste Köchin der Welt«, verkündete Dimitri und kaute mit vollen Backen.

»Aber das Essen hat doch der Opa gekocht«, sagte Regula.

»Aber du kannst es genauso gut«, sagte Dimitri.

Er schwärmte für seine Großeltern. Und Paul und Regula liebten den einzigen Enkel über alles. Und sie verwöhnten ihn. Großeltern dürfen das, sagte Regula, du wirst ihn schon nicht so verwöhnen, wie wir es mit Timmy gemacht haben.

Sie entschuldigte sich bei jeder Gelegenheit dafür bei Nora, dass ihr Sohn auf das gewöhnliche Leben nicht vorbereitet sei. Sie sei froh, sagte sie, dass Timmy eine so tüchtige und realistische Frau gefunden habe. Das sei genau das, was der verträumte Künstler brauche. Sie hörte allerdings trotzdem nicht auf, ihn zu beschützen, wo sie konnte. Aber sie mischte sich nie in die Ehe ein, wie andere Schwiegermütter das angeblich tun.

Anfangs konnte Nora es kaum glauben. Regula glich nicht dem Bild, das sie sich von einer Schwiegermutter gemacht hatte. Und auch nicht dem von einer Millionärin. Sie hatte nie zuvor mit reichen Menschen zu tun gehabt und es dauerte lange, bis Nora begriff, dass die Weinbergers nicht nur reich, sondern sehr reich waren. Tim sprach nie darüber. Geld war ihm egal.

Tims Mutter war Geld nicht egal. Überhaupt kam sie Nora als ganz normale Frau vor, die mit beiden Füßen auf der Erde und im Leben stand. Zweifellos hatte sie ihren Tim verwöhnt und offensichtlich konnte sie ihn immer noch nicht loslassen, obwohl er verheiratet und Vater eines Sechsjährigen war. Aber war Tim nicht ein sanfter und liebenswürdiger Mensch geworden, der allem, was lebte, freundliche Gefühle entgegenbrachte? So sollte Dimitri auch einmal werden, dachte sie damals. Und deshalb war Regula für Nora ein Vorbild, eine Mutter, wie sie sie nie gehabt hatte. Und einen Vater wie Paul hätte sie sich auch gewünscht.

Und wo waren die beiden jetzt? Warum kamen sie nicht, um sie zu besuchen? Wahrscheinlich hatte man sie am Anfang nicht zu ihr gelassen. Das war schon möglich. Da schwebte sie zwischen Leben und Tod. Aber seither waren Monate vergangen und sie hatte nichts von ihnen gehört.

Etwas musste geschehen sein. Nach jenem Mittagessen am 26. Dezember. Hatte sie mit Regula gestritten? Sie erinnerte sich nicht genau. Aber es musste wohl so gewesen sein. Tim war aufgestanden und hatte Dimitri an die Hand genommen. »Wir gehen schon zum Auto«, sagte er. Daran erinnerte sie sich. Aber sie war noch geblieben. Hatte mit Regula gesprochen. Hatte sie doch einen Streit angefangen? Obwohl sie doch versprochen hatte, heute nicht zu streiten. Tim hatte sie es versprochen. Um Dimitris Willen. Der Kleine litt darunter, dass die Mama und die Oma in letzter Zeit so heftig diskutierten. Warum, hatte er gefragt, ihr habt euch doch so lieb. Und das stimmte ja auch.

Nora legte die Hände über die Augen. An manches, was geschehen war, konnte sie sich deutlich erinnern, sah es vor sich, als wäre es ein Film. Und anderes entglitt ihr, versank in diesem feuchten Nebel. Vielleicht war mit ihrem Kopf doch etwas nicht in Ordnung.

»Mit Ihrem Kopf ist alles in Ordnung, Frau Weinberger«, hatte die Ärztin gesagt, nachdem sie eine Reihe von Untersuchungen und Tests ausgewertet hatte. »Vielleicht wollen Sie sich an manches einfach noch nicht erinnern.«

Aber sie musste sich erinnern, wollte Ordnung in dieses Durcheinander bringen. Sie wollte endlich verstehen, was geschehen war.

Die Heimfahrt

Eigentlich hatte sie nicht fahren wollen. Daran erinnerte sie sich deutlich. Sie waren spät dran. Zwar war für diesen Tag kein Glatteis oder Schneefall zu befürchten, aber sie wollte auf keinen Fall in der Dunkelheit durch das Waldstück fahren, wo auf der engen Straße die Scheinwerfer der entgegenkommenden Wagen so überwältigend blendeten, dass sie manchmal nicht wusste, ob sie noch in ihrer Spur war. Aber nach der Diskussion mit der Schwiegermutter war vier Uhr vorüber. Es wurde früh dunkel so kurz nach Weihnachten. Und eigentlich hatten sie ausgemacht, dass Tim auf dem Rückweg fahren würde.

Aber als sie beim Auto ankam, saß Tim mit Dimitri auf der Rückbank und machte keine Anstalten, herauszukommen. Er sprach auf Dimitri ein, der quengelte und heulte wie ein Dreijähriger und sich nicht anschnallen lassen wollte. Dabei war er im Frühling sechs geworden und eigentlich ein verständiges Kind. Sie sagte sich, dass er die Spannungen in der Familie spüre und deshalb so widerspenstig sei. Tim gelang es besser, den Jungen zu trösten. Er hatte schon immer bessere Nerven gehabt. Aber, dachte Nora damals, vielleicht war er einfach so ruhig, weil er beim Mittagessen schon ein paar Gläser Wein getrunken hatte. Und deshalb setzte sie sich ans Steuer.

Die Fahrt durch den Wald. Auch daran erinnerte sie sich. Sie hatte diese Fahrt so oft gemacht. Und doch war es diesmal nicht ganz wie immer gewesen. War sie wütend auf Tim? Sie war nicht einfach verärgert und besorgt, weil er in letzter Zeit zu viel trank, weil er so passiv war, knappe Antworten gab und sich kaum an den Gesprächen beteiligte. Diesmal war es etwas anderes. Sie erinnerte sich, dass sie kein Wort sagte, als sie einstieg und die Autotür hinter sich so heftig zuzog, wie sie konnte. Sie spürte noch diesen lodernden Zorn irgendwo in sich, den sie damals empfunden hatte. Aber sie wusste nicht, weshalb.

War es wirklich nur, weil Tim schon mittags betrunken war? Er trank viel, schon in den Tagen davor. Sie hatte gedacht, es sei, weil Weihnachten bevorstand, all die Spannungen zwischen ihnen. Aber wenn sie es sich überlegte, hatte es schon früher begonnen. Dabei hatte Tim zuvor nie viel getrunken. Es sei nicht gut für den Sport, sagte er immer. Und er wolle Dimitri ein Vorbild sein. Beides meinte er ernst. Er war ein leidenschaftlicher Radfahrer und ein pflichtbewusster Vater. Aber Willensstärke war keine seiner Tugenden. Irgendwann hatte er angefangen, mehr zu trinken, als gut für ihn war. Und am Stephanstag war er schon am Nachmittag angeduselt gewesen.

Deshalb hatte Nora sich ans Steuer gesetzt, ohne ein Wort zu sagen, hatte die Autotür zugeknallt und den Motor gestartet. Hinten quengelte Dimitri. Er hatte sich immer noch nicht anschnallen lassen. Tim sprach auf ihn ein.

Jedes Mal, wenn Nora jetzt die Augen schloss, sah sie sich durch das Waldstück fahren. Sie saß am Steuer. Tim und Dimitri auf der Rückbank. Dimitri schien sich beruhigt zu haben. Er stellte dem Vater eine Menge Fragen und Tim gab einsilbige Antworten. Das meiste konnte Nora nicht verstehen. Sie musste sich auf die Straße konzentrieren. Sie hätten früher aufbrechen müssen. Zwar war es noch nicht dunkel, aber sie fuhren der Wintersonne entgegen, die ihr grell und fast waagrecht direkt ins Gesicht blendete.

»Meine Oma ist die beste Autofahrerin der Welt«, sagte Dimitri. Nora verstand nicht, was Tim daraufhin brummte, aber das Kind lachte, also musste es wohl etwas Lustiges gewesen sein. Vor der Rechtskurve ging sie vom Gas und dann trat sie auf die Bremse. Vor ihr rote Lichter, Rücklichter, Bremslichter, Warnblinker. Der Verkehr war zum Stehen gekommen.

Im Rückspiegel sah sie den dunkelgrauen SUV hinter sich schnell aus der Kurve kommen. Dann dieses fürchterliche Geräusch. Sie wurden nach vorne geschleudert. Ihr Fuß rutschte vom Bremspedal. Dimitri schrie. Tims Gesicht im Rückspiegel. Dann ein riesiger Schatten. Splittern, Krachen, Kreischen, grelles Licht. Leere Dunkelheit.

Vollmacht

Fast ein Jahr war das her. Seither hatte Nora die Schwiegereltern nicht gesehen. Anfangs hatte sie es nicht bemerkt. Erst als sie wieder anfing, die Welt wahrzunehmen, mit Menschen zu sprechen, nachzudenken, sich an einiges zu erinnern, wurde ihr allmählich klar, dass etwas nicht stimmte. Man habe keine Besuche zugelassen, sagte man ihr, als sie nachfragte. Sie stand unter Schock. Sie war schwer verletzt. Und sie erinnerte sich nicht an alles, was geschehen war.

Das sei normal, sagten die Ärzte und Krankenschwestern, nach einer so schweren Verletzung und einem so schlimmen Schock erinnern sich die meisten Menschen nicht an alles, was vor dem Unfall war. Manchmal kommt die Erinnerung plötzlich zurück, manchmal langsam und unvollständig und manchmal nie.

Nora war bewusstlos, als sie aus dem zusammengeknitterten Wrack ihres Wagens geborgen wurde. Sie hörte die Sirenen der heranrasenden Rettungsfahrzeuge nicht, sah nicht, wie die Leute von der Feuerwehr den hinteren Teil des Autos aufschneiden mussten, um den blutüberströmten Tim herauszuziehen, den leblosen Dimitri. Sie erfuhr es erst später. Wann? Wer hatte es ihr gesagt? Und was war es, was sie gesagt hatten? Dass ihr Mann und ihr Sohn tot waren. Das Kind sei schon ohne Leben aus dem Wrack geborgen worden. Der Mann verstarb noch auf der Unfallstelle. Die schwer verletzte Mutter wurde ins Krankenhaus überführt.

So stand es dann auch in der Zeitung.

Horror-Crash, schrieb die Lokalzeitung, Vater und Kind sterben bei Kollision mit einem Reisebus. Nach ersten Ermittlungen saß der Vater (†42) mit dem sechsjährigen Sohn auf der Rückbank, als das Heck des Wagens auf der Gegenfahrbahn von einem spanischen Reisebus gerammt wurde. Dem Vernehmen nach waren beide nicht angegurtet. Die Mutter und Ehefrau (38) wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Spital eingeliefert. Wie es zum Unfall kam, ist noch nicht restlos geklärt. Offenbar waren außer dem Reisebus mehrere Autos am Unfall beteiligt.

Nora las diese und ähnliche Meldungen erst Wochen später, nachdem sie von der Intensivstation auf die normale Abteilung verlegt worden war. Auf den Bildern vom Unfall sah sie, dass der Bus blau gewesen war. Sie hatte keine Erinnerung an ihn. Vielleicht hatte sie ihn gar nicht gesehen. Sie erinnerte sich nur an den dunklen SUV, der hinter ihr zu schnell aus der Kurve kam, und an den ersten Aufprall. Auch was dann geschah, erfuhr sie aus der Zeitung. Der SUV-Fahrer hatte nicht rechtzeitig gebremst. Der Wagen war auf ihren kleinen Peugeot geknallt und hatte ihn zuerst in den Wagen davor und dann auf die Gegenfahrbahn geschoben. Dort erfasste der entgegenkommende Reisebus das Heck ihres Autos mit den erlaubten 80 Stundenkilometern. Die Insassen auf dem Rücksitz hätten keine Chance gehabt.

In einem andern Bericht hatte sie gelesen, dass ihr Mann und ihr Sohn nicht angeschnallt gewesen waren. Allerdings, so war man sich einig, hätte sie das in diesem Fall auch nicht gerettet.

Inzwischen waren die Wunden an ihrem Körper verheilt, die Knochen zusammengewachsen. Bald würde sie aus der Reha-Klinik entlassen werden. In ein paar Wochen, hatte die Ärztin gesagt.

»Sie brauchen Ruhe. Sie müssen das alles zuerst verarbeiten.«

Aber das mit der Ruhe war leicht gesagt.

Wie konnte sie ruhig sein, wenn ihr Mann und ihr Kind tot waren? Und sie waren tot. Tot und begraben. Aber wo?

Tim wollte auf dem städtischen Friedhof begraben werden. Das hatte er mehr als einmal gesagt, wenn sie das Grab von Noras Großeltern besuchten. Und Dimitri wollte das auch, obwohl er noch zu klein war, um zu verstehen, was tot und begraben sein bedeutet. Ihm gefiel der riesige Park mit den Bäumen und Blumen. Die Gräber waren ihm herzlich egal.

Der Weg war weit, denn die Großeltern hatten sich einen Platz auf einer Wiese ganz oben am Waldrand gewünscht. Sie mussten am Krematorium vorbei und an den hohen Mauern mit Urnengräbern, die aussahen wie Schließfächer am Bahnhof, dann über viele Treppen, bis zu der Stelle, wo flache Steine im Gras lagen.

Wenn sie Glück hatten, trafen sie Rehe in den stillen Nischen hinter einer Hecke, die ruhten oder ungeniert die frischen Blumen von den Gräbern abweideten.

»Schön hier«, sagte Tim. Die Sonne schien warm und die Blätter am nahen Waldrand waren bunt gefärbt. »Hier möchte ich auch einmal liegen.«

»Ich auch«, sagte Dimitri und legte sich neben den Stein seiner Urgroßeltern ins halbhohe Gras.

Sie lachten.

»Nicht jetzt«, sagte Tim. »Erst viel, viel später, wenn ich tot bin.«

Es machte Tim nichts aus, über den Tod zu sprechen. Er war 42 Jahre alt, selbstständiger Fotograf mit eigenem Atelier und dem Kopf voll künstlerischer Ambitionen, Erbe eines Millionenvermögens und Vater eines sechsjährigen Sohnes. Der Tod war fern.

Jetzt war Tim selber fern. Er war tot, und er war in einem Dorf in den Bergen begraben, wo Nora nie gewesen war. Das hatte ihr jemand mitgeteilt. Eine Amtsstelle? In jenem Dorf, sie hatte den Namen gerade vergessen, besaßen die Schwiegereltern ein Haus. Dort wollten sie sich zur Ruhe setzen, jetzt, wo alles verloren war.

So hatten sie es geregelt, während Nora im Koma lag und weder urteils- noch handlungsfähig war. Sie waren die Eltern und Großeltern der Verstorbenen und sie hatten für genau diesen Fall eine Vollmacht.

Nora hatte die Vollmacht unterschrieben. Es war ihr logisch vorgekommen. Wer sonst sollte entscheiden und für Dimitri sorgen, wenn sie und Tim gemeinsam verunfallten und nicht handlungsfähig wären?

»Du meinst, wenn wir beide mit dem Flugzeug abstürzen und gleichzeitig im Koma liegen?«, fragte Tim seine Mutter, als sie wieder einmal auf so eine Vollmacht zu sprechen kam.

»Tim!«, sagte sein Vater.

Aber Regula ließ sich nicht beirren. »Genau das wird mit dieser Vollmacht geregelt. Ihr solltet darüber nachdenken.«

Und weil Nora vielleicht ein wenig erschrocken dreinsah, fügte sie hinzu:

»Das wird natürlich nie nötig sein, aber man sollte doch einfach an alles denken.«

»Okay«, sagte Tim und lächelte desinteressiert. Er hatte sich längst damit arrangiert, dass seine Mutter ihrem Namen Ehre machte. Regula regelt eben, sagte er. Meist hatte er ohnehin nichts einzuwenden. Regula verstand sich aufs Regeln und wenn sie für Tim etwas regelte, ersparte ihm das viel Mühe. So war es immer gewesen.

»Wir werden es uns überlegen«, sagte Nora.

»Ihr solltet das tun. Denkt doch an das Kind.«

»So falsch ist das nicht«, sagte Tim zu Nora, als sie darauf zurückkamen. Auf dem Heimweg im Auto war es, als Dimitri hinten in seinem Kindersitz eingeschlafen war. »Schließlich haben wir ein Kind.«

Für ihn war die Sache einfach. Wenn ihm etwas zustieße, Unfall, Schlag, Herzinfarkt, und er nicht mehr in der Lage wäre, zu entscheiden, was mit seiner Kunst, seinem Fahrrad, seinem Sohn und seinen noch unbezahlten Rechnungen zu geschehen habe, dann würde natürlich Nora all das für ihn regeln. Und wenn sie eben doch beide im gleichen Flugzeug gesessen hatten, dann würde seine Mutter das übernehmen. Regula war geradezu prädestiniert für eine solche Aufgabe.

Aber wen sollte Nora bestimmen? Tim natürlich. Aber wen an seiner Stelle, wenn sie wirklich im gleichen Flugzeug säßen oder am gleichen Tag vom Schlag getroffen wurden. Oder wenn sie vom Schlag getroffen würde, weil Tim bei einer seiner wahnwitzigen Passabfahrten mit dem Rennvelo in einen Abgrund gestürzt war. Sie konnten es sich nicht verkneifen, Witze darüber zu machen. Das Thema war zu beängstigend.

Ihre Mutter, ihre schwache, schon für sich selber kaum entscheidungsfähige Mutter, brauchte sie nicht zu fragen, sie würde die Aufgabe entsetzt von sich weisen. Eine Freundin? Natürlich hatte Nora Freundinnen, aber keine kannte sich in ihren persönlichen Dingen aus, keine war ihr so nah.

Und außerdem ging es ja auch um Dimitri.

Regula übernahm die Aufgabe gerne. Nora unterzeichnete ein Papier. Und dann hatte sie es schnell wieder vergessen. Es spielte keine Rolle. Sie würde es nicht brauchen.

Mörderin

Aber jetzt hatte sie es doch gebraucht. Und Regula hatte alles anders gemacht, als sie und Tim es sich gewünscht hatten. Warum? Regula hatte ihrem Timmy doch nie einen Wunsch abgeschlagen. Und sie wusste ganz bestimmt, wie sehr das alles Nora treffen musste. Sie hatte sie doch immer wie eine Tochter behandelt. Warum hatte sie sich jetzt von ihr losgesagt? Losgesagt. Hatte sie das? Das Wort scheuchte eine Erinnerung in ihr auf. Sie versuchte, sie zu packen, aber sie entzog sich, ließ wieder diese Benommenheit zurück. Wie bei einer zu schweren Schulaufgabe. Und warum hatte der stille freundliche Paul das alles zugelassen? Und was war dieses »alles«?

»Fragen Sie nach«, hatte die Psychologin gesagt, die ihr helfen sollte, ins Leben zurückzufinden. »Fragen Sie, wenn Sie es wirklich wissen wollen.«

Ihr Handy war beim Unfall zerstört worden, zersplittert in tausend Scherben. Vielleicht waren all die Adressen und Telefonnummern, die letzten Schnappschüsse und Selfies mit Dimitri, Regulas witziger Gruß zum Geburtstag und das Foto vom Einzug in die Knisterbergstraße noch irgendwo gespeichert, konnten abgerufen und wieder hergestellt werden, als ob nichts geschehen wäre. Nora wusste es nicht. Aber es war nicht schwer, die Telefonnummer von Regula und Paul Weinberger zu finden. Es standen sogar zwei Nummern im Telefonbuch, als Nora sich endlich aufraffte, dort nachzusehen. Die Weinbergers hatten einen Festnetzanschluss in ihrem Zuhause in der Stadt und einen im Ferienhaus in den Bergen, dort wo sie jetzt in der Nähe von Sohn und Enkel leben wollten. Und Nora erinnerte sich, dass die Anrufe vom Festnetz auf Regulas Handy umgeleitet wurden, wenn sie das Haus verließ.

Sie hatte die beiden Nummern in ihr neues Handy getippt. Vor ein paar Tagen schon. Mit dem Zeigefinger der linken Hand. Die Rechte war immer noch steif und die gebrochenen Finger ungelenk. Sie zog das Telefon hervor und betrachtete es unschlüssig. Dann schob sie es wieder in die Manteltasche zurück. Weshalb sollte sie anrufen? Sie wusste doch, weshalb Regula sie nicht besuchen kam. Auch das hatte sie schlussendlich aus der Zeitung erfahren. Aber sie konnte es nicht glauben.