Als ich noch ein Pferderäuber war - Erwin Strittmatter - E-Book

Als ich noch ein Pferderäuber war E-Book

Erwin Strittmatter

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Beschreibung

Ob Sommer, ob Winter, ob Krieg, ob Frieden – das Merkwürdige ist stets unterwegs, heißt es in Strittmatters „Laden“-Trilogie. Und es ist natürlich auch in diesen Geschichten präsent: das Merkwürdige, das Kuriose, das Sonderbare und Erstaunliche. Denn Erwin Strittmatter, Poet und Philosoph, der „uns den Himmel gezeigt hat überm Tellerrand“ (DIE ZEIT), richtete wie kein Zweiter alle Sinne auf den wirklichen Grund der Dinge. Hier erzählt er von den Wundern der sommerlichen Natur, von Hasen, Störchen, Staren, vom kauzigen Großvater, der eigentlich ein Dichter gewesen ist, von nicht alltäglichen Erlebnissen mit seinem Freund Brecht und von seltsamen Vorgängen bei Abels, Bebels und anderen Zeitgenossen. Und immer bezeugen diese Geschichten die Besonderheit der Strittmatterschen Erzählkunst: jene unwiederholbare Verschmelzung von Poesie, Weisheit und Humor. „Die realistische Poesie Strittmatters ist die eines Gärtners und Künstlers, der Menschen wie Bäume und Bäume wie Menschen zeigt und dessen Ziel die Wahrheit ist – in der Natur, im Menschen und in der Kunst –, Wahrheit als Ziel und Mittel.“ Lew Kopelew

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Über das Buch

Ob Sommer, ob Winter, ob Krieg, ob Frieden – das Merkwürdige ist stets unterwegs, heißt es in Strittmatters »Laden«-Trilogie. Und es ist natürlich auch in diesen Geschichten präsent: das Merkwürdige, das Kuriose, das Sonderbare und Erstaunliche. Denn Erwin Strittmatter, Poet und Philosoph, der »uns den Himmel gezeigt hat überm Tellerrand« (DIE ZEIT), richtete wie kein Zweiter alle Sinne auf den wirklichen Grund der Dinge. Hier erzählt er von den Wundern der sommerlichen Natur, von Hasen, Störchen, Staren, vom kauzigen Großvater, der eigentlich ein Dichter gewesen ist, von nicht alltäglichen Erlebnissen mit seinem Freund Brecht und von seltsamen Vorgängen bei Abels, Bebels und anderen Zeitgenossen. Und immer bezeugen diese Geschichten die Besonderheit der Strittmatterschen Erzählkunst: jene unwiederholbare Verschmelzung von Poesie, Weisheit und Humor.

»Die realistische Poesie Strittmatters ist die eines Gärtners und Künstlers, der Menschen wie Bäume und Bäume wie Menschen zeigt und dessen Ziel die Wahrheit ist – in der Natur, im Menschen und in der Kunst –, Wahrheit als Ziel und Mittel.« Lew Kopelew

Über Erwin Strittmatter

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).

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Erwin Strittmatter

Als ich noch ein Pferderäuber war

Geschichten

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Sehnsucht

Die Ankunft der Stare

Birken

Schwätzer

Weshalb mich die Stare an meine Großmutter erinnerten

Als ich noch ein Pferderäuber war

Großvaters Welt

Damals bei der Haferaussaat

Wassermühlen

Tran

Die Tabakpfeife

Das Teufelsmesser

Das Traumpony

Die Macht des Wortes

Lob auf den Juni

Mann und Maus

Der Hofhase

Der Spuk

Schweinebaldrian

Das Storchentreiben

Eifersucht

Saubohnen

Schildläuse

Zwei Männer auf einem Wagen

In einer alten Stadt

Meine arme Tante

Die blaue Nachtigall oder Der Anfang von etwas

Geschonneck und ich

Die Katze

Der Hut

Kundenerziehung

Bredel und Brecht

Mein Amerika

Schwertlilien

Mein Mantel aus Pferdeduft

Windige Geschichte

Hasennarreteien

Der Erdstern

Mathematik und Wunder

Rehe auf der Wiese

Besonderer Abend

Vogelzug

Zu dieser Ausgabe

Impressum

Sehnsucht

Die Wolken traten zur Seite, der Himmel klärte sich, und die Schneekristalle veränderten sich im Sonnenlicht. Viele von ihnen wechselten die Gestalt, verschwanden in der Erde und begaben sich auf die unterirdische Strecke des Wasserkreislaufs.

Nebenstrahlen des Sonnlichts, die das menschliche Auge nicht wahrnimmt, drangen durch die Federn der Vögel, erreichten ein kleines Sonnensystem in den Vogelleibern, die Drüsen, und die Drüsen sandten ihre wunderwirkenden Säfte ins Vogelblut. Die Vögel wurden lustig, lüstig und sehnten sich.

Als der Mensch den Gesang der Vögel vernahm und die Sonne auf seiner Haut fühlte, gingen auch in ihm Veränderungen vor: Seine Singstimme löste sich, und da er nicht wusste, was er singen sollte, summte er, und seine Nasenhöhle vibrierte und setzte sein Hirn und den Sitz seiner Sehnsucht in Schwingungen.

Die Ankunft der Stare

Föhnwind fiel ein, und der Schnee taute; er taute zwei Tage, und die Erde wurde sichtbar und begann zu duften, und über den Hof ging man wie über nasse Säcke. »Niwre Rettamttirts will ich heißen«, sagte ich zu meinen Söhnen, »wenn heute nacht die Stare nicht kommen!«

Meine Söhne nahmen mich beim Wort. Ich hatte leichtsinnig mit meiner Vaterautorität gespielt. In der Nacht wurde ich mehrmals wach, ging ans Fenster und lauschte hinaus. Der Himmel war bewölkt, und ich hörte nicht den geringsten Laut von ziehenden Vögeln. Und auch am Morgen vor meinem Arbeitsbeginn lauschte ich in die Dunkelheit, und es waren keine zuwandernden Vögel in der Luft.

»Na, Vater, was ist mit den Staren?« fragte mein Sohn Matthes am Frühstückstisch, aber da kam Ilja vom Pferdeputzen aus dem Stall und sagte: »Leider, es wird nichts mit dem verrückten Namen; auf Nachbars Fernsehantenne sitzen zwei Stare.«

Wir rannten hinaus, und die Stare saßen auf der Antenne und pfiffen, und ich sah dankbar zu ihnen auf, weil sie meine Vaterautorität gerettet hatten, aber da fragte Ilja: »Was war dieser NIWRE RETTAMTTIRTS eigentlich für ein Clown?«

Konnte ich verraten, dass ich es war, wenn man meinen Namen von hinten las?

Birken

Zuweilen kehren die Erdbewohner, die wir Bäume nennen, ihre Eigenheiten besonders deutlich hervor. Es kommt auf die Stellung des Lichts an. Das Licht aber hängt von der Jahreszeit, die Jahreszeit von der Erdlage und die Erdlage von den sich wandelnden Verhältnissen im Weltraum ab: So kommen alle Dinge auf Erden zu IHRER STUNDE.

Gestern hatten die Birken ihre Stunde; eine Reihe hundertjähriger stand an einem zerfahrenen Feldweg vor einem enzianblauen Märzhimmel. Der Schnee auf den Feldern war verharscht und reflektierte das Sonnlicht. Die Hundertjährigen agierten bei Ober- und Rampenlicht, wie man auf dem Theater sagen würde. Ihre hängenden Haarzweige bewegten sich im Felderwind, und ihre Rinden waren borkig wie altes Gebäck, mehr schwarz und grau als weiß. Sie waren Grenzbäume zwischen Weg und Feld und hatten lebenslang Raum genug auszuladen und sich zu breiten. Sie mussten sich breittun, der Ostwinde wegen, die im Winter an ihnen zausen. Jede Birke war dort ein Charakter, doch nicht charakteristisch für ihre Art.

Anders ihre Schwestern, die, zu einem Birkenwäldchen vereinigt, in einen alten Kiefernwald gebettet, am Seerand standen. Während es unter den Kiefern dunkel und moosdüster war, war’s unter den Birken sauber und hell wie in einer gut geputzten Stube, in der die Halbwüchsigen wie Mädchen in weißen Kleidern standen. Sie sahn auf den See mit den rungsig redenden Bauerngänsen hinunter und tuschelten einander – auch das wie Mädchen – bei jedem Windstoß Geheimnisse zu. Ihre Rinden waren von steigenden Säften belebt. Sie glänzten birkenheiter in den Tag.

Hinten am Hang lag eine vom Wind gebrochene Birkengroßmutter am Boden, und wenn der Fallwind herniederstieß, ächzten ihre Äste. Ihre Rindenröcke wellten und pellten sich, zeigten die zimtbraunen Unterseiten, während die dünneren Zweige noch glänzten. Und die Alte reckte sie der Sonne hin, als erhoffte sie, mit Hilfe dieser jugendlichen Reiser vom kraftweckenden Licht noch einmal ins Leben gerissen zu werden.

Schwätzer

Stare ahmen den Gesang und das Geplärr anderer Vögel nach. Einzeln gehalten, schwatzen sie ganze Sätze der Menschensprache nach. Es gibt ja auch Starenmenschen, wie wir wissen

Vor Jahrzehnten, so wird erzählt, hielt sich ein Organist einen Star im Käfig. Als er seinem Herrn eines Tages entflog und mit anderen Staren in das Netz eines Vogelstellers geriet, plapperte er einen Satz nach, den er häufig von seinem Herrn gehört hatte: »Ich bin der Kantor von Jüterbog.« Der abergläubische Vogelfänger erschrak und ließ diesen Star und alle seine Artgenossen, die sich im Netz befanden, frei.

Jener Star, der im Kasten, rechts von meinem Blumenfenster, wohnt, hängte seinem Gesang bisweilen die Strophe der Haubenlerche an. Sicher hatte er den Winter in der Nähe einer Haubenlerche verbracht, und deren wehmütige Melodie hatte sich in sein Starenhirn eingedrückt. Der Gesang der grauen Vogelschwester mit dem Federhäubchen hatte meinem Star Eindruck gemacht.

Weshalb mich die Stare an meine Großmutter erinnerten

Ich hörte ihren Pfiff. Fünf Stare saßen auf der Fernsehantenne und sahen nach dem langen Flug aus der Winterheimat ein wenig verwelkt aus.

Es fiel noch einmal Schnee, und der blieb eine Woche liegen. Die Stare zogen in die Wälder, aber wenn unser Hund sich satt gefressen hatte, waren sie da und säuberten den Hundenapf. Nach der Mahlzeit probierten sie hin und wieder einen kühnen Pfiff, aber danach zogen sie die Köpfe ein und ließen die Flügel hängen, als bedauerten sie, unzeitgemäß fröhlich gewesen zu sein.

Menschengedanken fliegen mit Überlichtgeschwindigkeit; nicht nur in die Weite, in die Höhe und in die Tiefe, sondern auch in die Zukunft und in die Vergangenheit: Das Verhalten der Stare erinnerte mich an meine Großmutter, die vor vierzig Jahren starb. Sie sang zuweilen mit brüchiger Stimme, die an Jodeln erinnerte, ein Lied, das wir Kinder gern hörten: »Wie heißt König Ringangs Töchterlein? / Rohtraut, Schön-Rohtraut. / Was tut sie denn den ganzen Tag, / da sie wohl nicht spinnen und nähen mag? / Tut fischen und jagen …«

Der Text war von Eduard Mörike, aber das wussten wir damals noch nicht.

Man musste die Vatermutter ausdauernd ums Singen bitten. »Wenn ich sing, passiert was«, behauptete sie. Einmal hätte die Tante ihren goldenen Ehering verloren, nachdem Großmutter gesungen habe, ein anderes Mal hätte drei Wochen nach dem Gesang der Alten die Kuh verkalbt, und als Großmutter im Jahre zwanzig zu ihrem Geburtstag im Oktober gesungen habe, wäre jahrsdrauf im Januar der Großvater gestorben. Aber welche Großmutter kann beharrlichen Enkelbitten widerstehen? Am Abend ihres fünfundsechzigsten Geburtstags gelang es uns, die Greisin zum Singen zu überreden. Vielleicht hatte auch der Alkohol eines Gläschens Grog mitgeholfen, das Lied von Schön-Rohtraut in der Großmutter lockerzumachen. Sie glühte und sang: »Was siehst du mich an so wunniglich? / Wenn du das Herz hast, küsse mich! …«

Unser Wolfsspitz tat, wenn er Gesang oder Mandolinengeklimper hörte, auf seine Weise mit. Es waren in ihm noch seine Urväter, die Schakale, zugange, und am Geburtstagsabend der Großmutter hielt er den Ziehbrunnen für den geeignetsten »Steppenhügel« zum Mitsingen.

Großmutter sang, der Wolfsspitz heulte und sprang auf den Brunnenkasten, aber der Deckel des Kastens war nicht geschlossen, und der Hundegesang verwandelte sich in ein Plätschern.

Meine Schwester, die um Wasser gegangen war, entdeckte den schwimmenden Wolfsspitz im Brunnen. Die Geburtstagsgäste stürzten auf den Hof. Die Männer ließen eine Leiter in den Brunnen, ein Onkel stieg hinab und brachte den triefenden Hund am Halsband herauf.

In der Stube saß Großmutter und schluchzte: »Habe ich’s nicht gesagt?«

Von diesem Geburtstag an war die Vatermutter nie mehr zum Singen zu bewegen. Der Aberglaube hatte ihr das letzte Lied geraubt.

Als ich noch ein Pferderäuber war

Ich will erzählen, wie man ein Pferderäuber wird, aber sollten auch andere Tatsachen die Gelegenheit nutzen und mich zu ihrem Maul machen, so werde ich sie nicht daran hindern.

Ich war zehn Jahre alt, als ich das erste Pferd für die väterliche Kleinlandwirtschaft erhandelte. Das war mein Gesellenstück als Pferdehändler, und die Tatsache ging in die mündliche Familienchronik ein.

Das erhandelte Pferd war ein weitgereistes Tier, eine »importierte« Trakehnerstute, ein Ross aus dem damaligen Lande Ostpreußen also, ein Rassepferd, und auf den Schenkel der Stute war die Stilisierung einer Elchschaufel gebrannt, und die Stute war eine Einmaligkeit unter den Pferden, die bis dahin über unseren Hof gezogen waren.

Ich hatte das hirschrote Tier bei einem Kleinbauern im Nachbardorf entdeckt, und der Kleinbauer hatte die Trakehnerin von einem verkrachten Gutsbesitzer erworben.

Die Stute gehörte dort zur »Konkursmasse«, und sie war billig gewesen, aber der Kleinbauer konnte sie nicht behalten, denn sie war ihm als Einzelpferd zu schwach, deshalb wollte er sie verkaufen, und er wollte sie nicht ohne Gewinst verkaufen. Sie sollte fünfhundert Mark kosten.

Der Preis überstieg unsere Verhältnisse, doch ich beschwor den Vater, die Gelegenheit nicht zu versäumen, ein gutes Pferd zu kaufen, und der Vater gab nach, aber er machte zur Bedingung, das Pferd dürfe nicht mehr als dreihundert Mark kosten.

Ich weiß nicht, ob der hagere Stutenverkäufer sich über mich lustig machte oder ob er meine eingelernte pferdehändlerische Geschicklichkeit bewunderte, jedenfalls handelte er mit mir, doch beim Preis von dreihundertundfünfundsiebzig Mark stockte der Handel.

Ich rannte nach Hause, und ich verständigte den Großvater, und ich tat damit, glaub ich, nichts anderes, als es Botschafter in der großen Politik tun, wenn sie mitten in Verhandlungen in ihre Heimatländer zurückfliegen, um sich Direktiven für eventuelle Kompromisse zu holen.

Großvater erklärte sich bereit, fünfundsiebzig Mark auf den vom Vater bewilligten Betrag draufzulegen, und er ging mit ins Nachbardorf, aber der krummhagere Bauer sagte, er hätte nur spaßhalber mit mir gehandelt, er könne das Pferd nicht für einen Schinderpreis hergeben. Ich sah den Bauern aus dem Keller meiner kindlichen Enttäuschung an, und der Bauer schien zu spüren, dass er dem Weltgewissen gegenüberstand.

Die Trakehnerstute zog bei uns ein, und sie war fromm. Das Adjektiv »fromm« benutzt der Mensch nur für sich und für Pferde, aber damit die Unterschiede zwischen Mensch und Pferd nicht ganz verwischt werden, bringt es ein Pferd nur zur Frommheit und nie zur Frömmigkeit. Jawohl, das O mit den zwei Strichelchen am Kopfe behielt sich der Mensch sicherheitshalber vor, aber man kann trotz dieses mückigen Unterschiedes ermessen, wie nahe ihm das Pferd einst gestanden haben muss, als es ihm noch Rakete und Ernährer zugleich war.

Die Stute war also fromm, und das war wichtig für meine Mutter. Sie streichelte das Tier mit ausgerecktem Arm. Die Stute zog den Mistwagen und den Pflug, und das war wichtig für meinen Großvater; er bearbeitete unsere kleinen Äcker mit ihr.

Die Stute ließ sich reiten, ging in der Kutsche und war schön. Das war wichtig für mich. Es lag ein goldener Schimmer über dem hirschroten Fell der Stute. Ihr Haar glänzte, und es ging eine große Schönheit von der Stute aus. Wenn die Stute auch Fohlen bekommen hätte, wäre mein Ruhm als Pferdehändler in der Familie und im Dorfe noch größer gewesen, aber die Stute bekam keine Fohlen mehr, denn man hatte sie zu lange nicht als Zuchtstute benutzt, und sie fohlte nicht mehr.

Mein Vater fuhr mit dem Brotwagen in die Nachbardörfer, und er ließ sich gern mit der Stute und ihren raumgreifenden Gängen und ihrem unermüdlichen Trab sehen, und alles ging gut, und alle waren mit der Stute zufrieden.

Der Sommer kam. Der Sommer ging. Graue Pferdebremsen wurden geboren. Sie nährten sich von Pferdeblut, sie waren ein ganzes Geschlecht, das sich vom Blute der Pferde nährte. Sie zeugten Junge und verschwanden. Die Bäume und die Sträucher zeugten Blätter und verloren sie im Herbst, und wir nannten die Blätter Fallaub. Im Frühjahr erschienen neue Blätter, und auch die alterten im Laufe eines Sommerhalbjahres, und sie erstarrten zu Fallaub und fielen, und alles schien sich zu wiederholen, die Bremsen und die Blätter, doch es waren in jedem Sommer andere Pferdebremsen und andere Baumblätter, denn wir sind grobsinnig und täuschbar.

Auch unsere Stute alterte unter ihrem Goldglanz. Sie wurde anfällig, und eines Tages steckte das Stutenschicksal in der Gestalt eines Immersäufers den Kopf aus dem Fenster des Wirtshauses und rief: »Nicht so stolz, Bäcker, vorm Durst sind wir alle gleich, Bäcker!«, und der Vater konnte diesen Zuruf aus Rücksicht auf seine Kundschaft nicht unbeachtet lassen.

Es war ein eisklarer Märzentag, und es graupelte. Es war ein Tag, an dem es angenehmer war, Grog als Bier zu trinken, und die vom Brotausfahren erhitzte Trakehnerstute stand uneingedeckt im eisverbrämten Ostwind vor der Wirtshaustür.

Die Stute wurde krank. Sie bekam Verschlag, und sie konnte die Hinterbeine nur noch schleppend bewegen. Obwohl ich weiß, dass ein Pferd keine Hinterbeine hat, schreibe ich nicht Hinterhand. Ich bitte alle Pferdemänner und alle Mitglieder der Reit- und Pferdezuchtverbände, mir zu verzeihen, denn es sollen mich viele Leser verstehen, aber sie werden mich nicht verstehen, wenn ich im Berufsgruppen-Latein schreibe, in der Kastensprache der Jäger zum Beispiel mit ihren Lauschern, Löffeln und Geäsen.

Ich nehme es den Grünröcken nicht übel, wenn sie über mich, den gemeinen Mann, die Riecher rümpfen, und ich bitte auch prophylaktisch die Sportler um Entschuldigung, wenn ich ihren Berufsjargon ignoriere, denn es bleibt dabei: ich halte den Dadaismus für dekadent.

Der Großvater behauptete, mein Vater wäre schuld an der Krankheit der Stute, er hätte sie zu lange uneingedeckt vor dem Gasthaus stehenlassen. Aber Schuld her, Schuld hin: der Tod sucht Ursache, und Großvater hätte nicht so ausfällig werden sollen, denn »alle sieben Jahre passt ein Schuh«, heißt es bei uns in der Heide, und darin steckt eine Erfahrung: Nachlässigkeiten und Versehen, für die du deinen Nachbarn tadelst, als ob du sein Oberrichter wärest, sind schon unterwegs zu dir, und es kann sieben Jahre währen, bis sie dich erreichen, aber sie treffen auch dich, und auch du wirst was vernachlässigen, und auch du wirst etwas versehen.

Großvater rieb die Stute mit Kampferspiritus ein, legte ihr Lehmkompressen auf, und er probierte all seine Pferdeheilkünste durch, doch sie schlugen nicht an. Die Augen unserer Trakehnerstute trübten sich, und der Goldglanz ihres Haares flog mit der Gesundheit davon. Der Tod begann in der Stute einen geheimnisvollen Beschluss des Lebens zu verwirklichen, und er saß bereits im Blute und in den Muskeln der Stute, und er löste die Stute von dorther auf.

Unsere Trakehnerin sollte zum Rossschlächter im Glasmacherort in der Heide gebracht werden, aber wer sollte sie hinführen, wer?

Der Großvater wollte den Galgengang nicht übernehmen. Der Vater hatte keine Zeit. Die Großmutter sollte die Stute nicht wegbringen, denn ein Schindergang war keine Weibersache. Es blieb nur einer übrig, und das war ich, und ich war stolz, dass mir Großvater die Mannshärte für den Schindergang zutraute.

Ich schob mir zwei Butterbrote in die Jackentaschen, setzte die Schirmmütze auf und ging zum Stall. Ich nahm dem Großvater den Strick aus der Hand, aber ich vermied es, die Stute anzusehen, und ich sah starr zum geöffneten Hoftor hinaus. Ich verhielt mich, wie sich der Mensch im allgemeinen dem Unglück gegenüber verhält: er sieht ab von ihm, obwohl was zu lernen wäre, wenn er hin- und draufsähe, aber der Mensch schaut lieber in die Zukunft, und er träumt, dass die Zukunft makellos und ohne Unglück sein wird, und dabei leuchtet aus einem Loch am Wege schon die rote Mütze seines nächsten Unglücks, und er hätte dieses Unglück vielleicht umgehen können, wenn er sein letztes Unglück genauer betrachtet hätte.

Auf dem Mühlberg hinter der hölzernen Windmühle straffte sich der Stutenstrick. Ich musste mich doch umschauen. Die Stute blickte nach dem hellgelben Bäckereigehöft zurück. Es war, als ob sie ahnte, was ihr bevorstand. Wenn ich meinen Großvater gefragt hätte, ob die Stute es ahnte, so hätte er mir geantwortet: »Sie ahnt es!« Aber der Großvater war ein einfältiger Kossät, und seine Antwort wäre anzweifelbar gewesen, doch war auch ein gewisser Thomas Mann einfältig, wenn er behauptete, Transzendenz sei vor allem im Tierischen? Er wird es wohl erfahren haben. Ich stehe nicht an, Dichtern genauso zu traun wie Wissenschaftlern, weil ich erfuhr, dass in jedem echten Wissenschaftler ein Poet und in jedem echten Poeten ein Wissenschaftler steckt, und die echten Wissenschaftler wissen, dass ihre Hypothesen dichterische Ahnungen sind, und die echten Dichter wissen, dass ihre Ahnungen unbewiesene Hypothesen sind, und weder die einen noch die anderen lassen sich von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen verwirren oder halten einander für Kontrahenten.

Als die Stute sich mir zuwandte, war’s mir, als rännen Tränen aus ihren getrübten Augen, und da tropfte auch mir das entsprechende Wasser aus den Augen, und der Wind, der die Mühle trieb, wehte meine Männlichkeit davon. Ich verfütterte meinen Reiseproviant an das Tier, denn ich erhoffte mit dieser Gift Verzeihung für meine beabsichtigte Roheit von der Stute zu erlangen, und ich wendete, und ich trieb heimzu, und der Stutenstrick hing durch, und er spannte sich nicht mehr.

Der Großvater trat aus seiner Baukammer. Er sah, was mit mir war, und er atmete tief. Alle Luft über dem Hofe schien in seiner Lunge zu verschwinden, und dann brüllte er: »Der Deibel soll dir holen!« Niemals vorher und nachher hat mich mein Großvater so zornig beschimpft wie dennmals, als ich die Todesstute zurückbrachte. Er explodierte, und seine Worte sprangen wie giftige Splitter umher, und wer mich je in gleicher Weise »explodieren« sah, der halte mir zugute, dass da das Erbteil von meinem sorbischen Muttervater durchbrach. Ich mühe mich, dieses Erbteil zuunterst in der Truhe meiner Charaktererbteile zu halten, aber es gibt immer wieder Anlässe, die es telekinetisch nach oben fahren lassen.

Brecht versuchte mich zu lehren, wie man seinen brausenden Zorn, wie man seine rappeligen Zörner bezwingt und wie man sie in Theaterkräche ummünzt, aber je länger ich Brecht kannte und beobachtete, desto gewisser wurde mir, dass auch ihm nicht immer gelang, was er mich lehren wollte. Wenn nach einem seiner Theaterkräche seine Halsmuskeln zuckten, so hatte sich das Leben nicht von ihm belehren lassen.

Großvater packte den baumelnden Pferdestrick. Er machte sich barhaupt auf den Weg in den Glasmacherort. Er fluchte, und er spie nach allen Seiten aus, und seine Tränen tropften auf den blauen Kutscherschurz.

Wenn man sich eine Stärken- und Längenordnung für Gewissensbisse vorstellt, dann steht auf der obersten Zeile die Qualenmenge, die sich der Umbringer eines Menschen zu machen hat, sofern er diesen Menschen nicht für sein Volk oder Vaterland oder aus politisch unumgänglichen Gründen, wie es des öfteren heißt, umbrachte, denn in diesem Falle verteilen sich die Gewissensbisse auf alle Mitglieder der Gemeinschaft, für die er mordete, und er darf sich fast so fühlen, als wäre er kein Mörder. Auf den unteren Zeilen dieser Liste würden dann die Zeitlängen von Gewissensbissen stehen, die den Vernichtern von Blattläusen und Wasserflöhen abverlangt werden, und die Zeiträume dieser Bisse wären kurz, fast nicht mehr registrierbar, und die Gewissensbisse für die Vernichtung von Mikroben würden überhaupt nicht aufgeführt sein, denn an der unteren Grenze seiner Sehkraft scheint die Verantwortung des Menschen für das Leben zu enden, obwohl wir seit langem wissen, dass das ein Irrtum ist, denn der Mensch bekommt es zu spüren, wenn er zum Beispiel gegen Bodenbakterien frevelt und die Erde, aus der er selber herauswuchs, verwüstet, aber wir fahren trotzdem fort, in diesen Dimensionen zu sündigen.