Als Kind habe ich Stalin gesehen - Christoph Hein - E-Book

Als Kind habe ich Stalin gesehen E-Book

Christoph Hein

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Beschreibung

Eine respektvolle Schweigeminute angesichts der desolaten Lage des ostdeutschen Theaters schlug Christoph Hein auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR 1987 vor; in seiner kompromißlosen Rede gegen die in seinem Land herrschende Zensur formulierte er: »Die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar.« Offen und präzise, engagiert und leidenschaftlich, ironisch und sarkastisch meldet sich Hein in Essais und Reden aus den Jahren 1987 bis 1990 zu Wort – zur Literatur, Politik und Zeitgeschichte, zu Max Frisch und Arno Schmidt ebenso wie zum Historikerstreit und den Ereignissen des Oktober und November 1989.

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Seitenzahl: 300

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Christoph Hein

Als Kind habe ich Stalin gesehen

Essais und Reden

Suhrkamp

Inhalt

I

Des Menschen Auge hat’s nicht gehört

Leserpost oder Ein Buch mit sieben Siegeln

Ein deutscher Molière, sehr gallig, sehr bitter, sehr gelehrt

II

Die Welt ist kleiner geworden

Die Zensur ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar

1. Der verratene Leser

2. Über die Sitzgelegenheiten unserer Verleger

3. Ein Dank an die Presse

4. Das alte Lied: Literaturwissenschaft und Kritik

5. Über die Stille auf unseren Bühnen

6. Last and least: der Autor

Die Zeit, die nicht vergehen kann oder Das Dilemma des Chronisten

Als Kind habe ich Stalin gesehen

III

Die fünfte Grundrechenart

Öffentliche Erklärung

Die DDR ist nicht China

Ein Berliner Traum im Oktober 1989, der im August 1968 von deutschen Panzern auf dem Prager Wenzelsplatz überrollt wurde

Der Dialog reicht nicht aus

Der alte Mann und die Straße

Weder das Verbot noch die Genehmigung als Geschenk

Ein Brief an Sara, New York

An den Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg

Ich bin ein Schreiber von Chroniken

Wer heute so laut schreit, soll sagen, was er früher tat

IV

Der Apfelwein der Madame de Guermantes

Ein stilles, ein vergessenes Opfer

»… und andere«

Achtung, Abgründe!

Ein bißchen laut

Quellennachweis

I

Des Menschen Auge hat’s nicht gehört

Von der Magie und den Magiern

In der ehrwürdigen und fantastischen Familie der Geisterseher, in der großen, jahrtausendealten Gemeinschaft der Philosophen, Naturforscher, Schriftsteller und aller anderen Herren und Knechte des menschlichen Geistes waren die Magier die stets mißtrauisch betrachteten Verwandten, anfangs geehrt, gelegentlich gefürchtet, später verachtet und nicht selten erbarmungslos bekämpft.

Seit dem Mittelalter und besonders seit Erscheinen der Hexenbulle ›Summis desiderantes affectibus‹ des Papstes Innozenz VIII. (1484) wurden die Magier gemeinsam mit den Hexen zum verabscheuungswürdigen Kehrricht der Gesellschaft gezählt, und das einzige Licht, das ihr dunkles Dasein in den folgenden drei Jahrhunderten erleuchtete, war der Fackelschein des Scheiterhaufens, auf dem die Rechtgläubigen sie unter Gebeten und dem Gesang von Kirchenliedern verbrannten. Der ›Hexenhammer‹ (Malleus maleficarum), wie die deutschen Dominikanermönche Heinrich Kramer Institoris und Jakob Sprenger ihre Übersetzung und Auslegung der päpstlichen Bulle nannten, rottete zu Tausenden die Verdächtigen aus. Nach ungenauen Schätzungen – der Fortschritt ließ noch auf sich warten: der Massen- und Völkermord wurde erst im 20. Jahrhundert mit buchhalterischer Akribie betrieben – waren es Millionen in Europa, die wegen eines mörderischen, religiösen Wahns der Kirche und ihrer Statthalter ihr Leben lassen mußten.

Diese Scheiterhaufen überlebte auch eine der menschlichen Künste und Wissenschaften nicht, die Magie. Doch sie starb nicht am Aberglauben einer christlichen Kirche, sondern an den Entdeckungen der Naturwissenschaften und der nun weniger spekulativ als vielmehr experimentell arbeitenden Philosophie. Newton und die Dampfmaschine, Descartes und die politische Ökonomie entzogen einer magischen Welt- und Naturbetrachtung den Boden. Der Magier hatte ausgedient. Doch auch in der Hochzeit der magischen Künste waren die Magier selten unumstritten. Schwärmer und Schwindler, Hochstapler und Scharlatane drückten diesem Handwerk ihren Stempel auf und vermochten es, ihm unwiderrufbar den Geruch der Beutelschneiderei, des Betruges und der Häresie zu geben. Das Auftreten eigennütziger oder fanatischer Dilettanten in einem ansonsten honorablen Gewerbe kann aber nicht der letzte Grund für die schließlich resultierende Zwielichtigkeit gewesen sein, litten doch auch andere Forscher unter der niederdrückenden Zuneigung Unberufener: Wie viele Menschen wurden von Quacksalbern im Namen der Medizin getötet, wie viele wurden von einer allein schon darum fragwürdigen Philosophie um ihre Existenz gebracht, wurden unter Mithilfe einer sich erbaulich gebenden Literatur entmündigt und in Abhängigkeit gehalten, und wie viele starben an den Produkten einer Naturwissenschaft, die sich der Erfindung des Verderbens gewidmet hatte.

Die Magie hatte ihren Ursprung und ihre Aufgabe in der Erklärung der Kräfte und Eigenschaften der Dinge zum Zwecke ihrer Handhabbarkeit, und sie betrieb ihre Kunst gleichermaßen mit wissenschaftlichen, religiösen und künstlerischen Mitteln. Die Naturwissenschaft verdrängte die Magie, indem sie fortschreitend natürliche Zusammenhänge statt der magischen Erklärungen setzen und beweisen konnte. Die Naturwissenschaft ist historisch aus der Magie geboren, sie prägt unsere Kultur, so wie die Magie eine frühere Kultur prägte. Magie und Naturwissenschaft hatten das übereinstimmende Ziel, die Dinge dieser Welt zu erkennen, die Gesetze ihrer Bewegungen zu erforschen, um die Erde dem Menschen untertan zu machen. Die Antworten fielen verschieden aus, doch ihr Unterschied war der der Zeit, der ungleichen Kulturstufen. Insofern standen sich Naturwissenschaft und Magie nie feindlich gegenüber, eine spätere Erkenntnisform löste eine frühere ab, doch sie diskriminierte sie nicht, sondern ersetzte sie und hob sie auf.

Die frühe Diffamierung der Magie, lange bevor die Forschung in der Lage war, die magische Erklärung der Welt durch eine wissenschaftliche zu ersetzen, erfolgte durch die Religion, genauer gesagt: durch die monotheistischen Kirchen. Als eifrigster Gegner erwies sich dabei das Christentum, das vorgab, den Aberglauben auszurotten, und durch die gewählten Methoden eben diesen Aberglauben in Europa nachhaltig kräftigte und neu belebte. Alle monotheistischen Religionen mußten die Magie bekämpfen, da diese selbst ein religiöses System war und zudem ausschließlich polytheistisch. Die Magie war die Naturwissenschaft und Religion einer frühen Stufe menschlicher Kultur, und so wie sich die entwickelnde Wissenschaft der beengenden Hülle ihrer religiös gebundenen Mutter entledigte, so versuchten die neuen, monotheistischen Religionen sich von einer als Naturerklärung verstehenden Götterlehre zu befreien. Die Allmacht der Magie, die sich aus der ursprünglichen Einheit von Naturerkenntnis und Glauben ergab, war endgültig mit dem ptolemäischen Weltbild zerbrochen worden. Die sich langsam emanzipierenden Wissenschaften verstanden sich immer weniger dazu, die herrschende Theologie nachzuweisen. Der Kampf des Monotheismus für einen Gott, dessen Macht unteilbar ist, vernichtete die Magie, aber auch die jahrtausendealte Verknüpfung von Wissenschaft und Religion. Und wenn auch der schließlich sich durchsetzende Monotheismus versuchte, der Wissenschaft wieder die Zügel des Glaubens anzulegen, und ihm gelegentlich blutige Erfolge beschieden waren, mit der Magie war das ehemals feste und einende Band endgültig zerstört worden. Der Monotheismus konnte polytheistische Weltanschauungen nur zurückdrängen und ausrotten, indem er unwillentlich die Einheit von Wissenschaft und Glauben zerstörte, auf denen die Allmacht der Magie und der Naturreligionen beruhte.

Die Magie ist in den frühen Kulturen aller Völker anzutreffen. Mit dem sich aus dem Tierreich erhebenden Menschen, mit dem arbeitenden, denkenden und spielenden Lebewesen Mensch, dem die Befriedigung der ursprünglichen Bedürfnisse nicht ausreicht und der für seine weitere Existenz und Tätigkeit der weit vorgreifenden Vorstellungen bedarf, entstand die Unendlichkeit einer geistigen Welt, die fortan die ihn selbst erweiternde und potenzierende zweite Heimat des Menschen wurde. Das Denken und die Fantasie, Mythos, Magie und Glauben waren die Produkte dieser Welt, wie diese selbst ihr Produkt war.

Der Wissenschaftler und Magier Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, ein Zeitgenosse Luthers, stellt die ursprüngliche Magie in seinem Werk ›De occulta philosophica‹ (1510) an die Spitze aller Wissenschaften und menschlichen Tätigkeiten: »Die magische Wissenschaft, der so viele Kräfte zu Gebot stehen, und die eine Fülle der erhabensten Mysterien besitzt, umfaßt die tiefste Betrachtung der verborgensten Dinge, das Wesen, die Macht, die Beschaffenheit, den Stoff, die Kraft und die Kenntnis der ganzen Natur. Sie lehrt uns die Verschiedenheit und die Übereinstimmung der Dinge kennen. Daraus folgen ihre wunderbaren Wirkungen, indem sie die verschiedenen Kräfte miteinander vereinigt und überall das entsprechende Untere mit den Gaben und Kräften des Oberen verbindet und vermählt. Diese Wissenschaft ist daher die vollkommenste und höchste, sie ist eine erhabene und heilige Philosophie, ja sie ist die absolute Vollendung der edelsten Philosophie. Jede regelmäßige Philosophie wird in Physik, Mathematik und Religion geteilt. Die Physik lehrt die Natur dessen, was in der Welt ist: sie erforscht und betrachtet die Ursachen, die Wirkungen, die Zeit, den Ort, die Art, die Erscheinungen, das Ganze und die Teile … Die Mathematik dagegen lehrt uns die ebene und die nach drei Richtungen sich erstreckende Natur kennen, sowie den Lauf der Himmelskörper beobachten … Die Theologie endlich lehrt uns, was Gott, was der Geist, was eine Intelligenz, was ein Engel, was ein Dämon, was die Seele, was die Religion sei, welche heiligen Einrichtungen, Gebräuche, geweihte Örter, Observanzen und Mysterien es gebe; auch unterrichtet sie uns über den Glauben, die Wunder, die Kraft der Worte und Zeichen … Es sind also die Physik, die Mathematik und die Theologie die drei mächtigsten Zweige der Gelehrsamkeit, welche die Magie umfaßt, miteinander verbindet und in Ausübung bringt, weshalb diese von den Alten mit Recht für die höchste und heiligste Wissenschaft gehalten wurde.«

Der Traum und die Idee von noch nicht existierenden Dingen, die Verknüpfung von Erscheinungen, um auf ihren Grund und ihr Gesetz zu kommen, das Erforschen von wirkenden, jedoch nicht greifbaren oder sichtbaren Kräften der Natur gehörten zu den neuen Tätigkeiten des Menschen. Und er erschuf sich mit der geistigen Welt einen Himmel und eine Hölle, bevölkerte sie mit den Geschöpfen seiner Fantasie und erfüllte sie mit den personifizierten Ergebnissen seiner Forschungen und Spekulationen. Glaube und Naturwissenschaft durchdrangen sich gegenseitig, waren voneinander abhängig und ergänzten sich im Maß ihres Fortschritts, des Fortschreitens des Menschen. In der Magie verkörperten sich gleichzeitig die neuesten Ergebnisse des naturwissenschaftlichen Forschens wie des spekulativen Denkens und der religiösen Welterklärungen, der Astronomie wie der Astrologie, der Physik und der Metaphysik, die Lehre vom Ackerbau und der Geisterbeschwörung. Wo es der Magie an Erkenntnis gebrach, behalf sie sich mit Zaubersprüchen, um – lange bevor die Voraussetzungen dafür gegeben waren und in einem Vorgriff auf eine erträumte Zukunft – dem Verlangen des Menschen zu genügen, sich die Erde untertan zu machen.

Eine Magierin der Literatur, die Priesterin Önothea in dem Fragment des Petronius Arbiter, benennt diesen Menschheitstraum mit der Schilderung ihrer Macht: »Alles, was du auf Erden siehst, gehorcht mir. Sobald ich will, vertrocknet das blühende Gewand der Erde oder spendet reichen Erntesegen, sooft ich es wünsche. Wenn ich es will, fließt Wasser aus dem Fels und aus trocknen Klippen sprudeln verschwenderische Quellen. Die reißenden Wogen der Meere gehorchen mir, die Winde legen gezähmt mir ihre Gewalt zu Füßen. Mir gehorchen die Ströme, mir gehorcht der Tiger, der von mir beschworene Drachen weicht nicht von der Stelle … Durch meine zauberischen Kräfte zwinge ich den Fluß, daß er sein Wasser hinauf auf Berge schafft.«

Das fehlende Wissen um die Gesetze der Natur wurde mit dem Zauber ergänzt. Unverständliche, fremde Worte, Zauberlieder und zumeist sinnleere Beschwörungssprüche oder pseudomathematische Figuren und Instrumente, Zeichen und Körper mit vornehmlich drei, sieben oder neun Ecken, fantastische Zeichnungen von Tieren und Fabelwesen sollten die Kräfte der Natur zu den erwünschten Bewegungen nötigen. Eindeutiger wirksam als die Zauberworte und -zeichen waren die heilenden oder narkotisierenden Zaubertränke aus Kräutern und Wurzeln. All dies diente dazu, sich mit den Göttern zu verbinden, die guten und bösen Geister sich zu unterwerfen, um schließlich als ihr Meister zu erscheinen. Der Magier hatte den Anspruch, sich zum Herren der Götter und damit des Schicksals zu machen, um so, frei und allmächtig, furchtlos und furchtbar, selbst der Gott der Erde zu sein, der uneingeschränkte Beherrscher der Natur.

Die Macht der Magie beruhte auf der Beobachtung von erkannten und unerkannten Abhängigkeiten, von zufälligen Zusammenhängen und dem Versuch, aus früher gewonnenen Erfahrungen und angenommenen, wenn auch unsinnigen Gesetzmäßigkeiten das erwünschte Resultat zu bewirken. Wenn auf zwei gleichzeitig stattfindende Bewegungen eine dritte folgte, schloß man auf Ursache und Wirkung und hielt daran fest, bis durch weitere Beobachtungen neue Kausalzusammenhänge gesetzt wurden. Trial and error, Versuch und Irrtum war die methodische Grundlage der Magie, die sich nur darin von der Wissenschaft unterschied, daß sie zusätzliche Ergänzungen – religiöse oder irrationale Verbrämungen und Ersatzstücke – unverzichtbar enthielt. Insofern waren Magier wissenschaftliche Priester, die fast ausnahmslos in den frühen Kulturen aller Völker in hohem Ansehen standen.

Mit dem Christentum wird die Magie, die zuvor nur durch den vereinzelten Mißbrauch der Kunst verdächtigt und verfolgt wurde, grundsätzlich diskriminiert. Nun ist die Magie nicht weiter die Vorwegnahme menschlicher Möglichkeiten, der formulierte Anspruch auf die Allmacht und die bizarre, fantastische Herrschaft über die Natur, die Magie wird nun Gotteslästerung, Teufelswerk. Mit dem Monotheismus tritt der Teufel in die Welt. Die Gemeinschaft der Geister wird nun aufgelöst, das menschliche Denken und die Fantasie werden polarisiert. Die naturwissenschaftliche Forschung wie die philosophische Spekulation unterliegen den Dogmen der neuen Weltanschauung, und was – unter dem Himmel uneinheitlicher, sich bekämpfender und damit vielfältig und auch widersprüchlich verwendbarer Götter – zuvor wahr oder falsch, entsprechend und zutreffend oder inkongruent und fehlerhaft war, es wird nun gut oder böse. Das monotheistische Denken machte es dazu.

Das zentristische Denken von einem Gott, dem Allmächtigen und Allgewaltigen, entmündigte die Fantasie des Menschen und kastrierte vorübergehend die Wissenschaft, da sie ihr die Richtung und das Maß ihrer Schritte vorgab, nach denen sie ihre Forschungen zu betreiben hatte. Aus dem grenzenlosen Sohn der Götter, der kraft seiner Fähigkeiten sich die Erde unterwarf, wurde der hinfällige, demütige, aus der Gnade eines ihm unendlich überlegenen Gottes lebende Mensch. Alles, was er künftig zu schaffen imstande war, tat er gemäß eines ihm unbekannten, göttlichen Plans. Jeden seiner Schritte ging er an der Hand eines anbetungswürdigen, einzigartigen Wesens, das ihn lenkte, bestrafte und belohnte und das der eigentliche Schöpfer der geistigen und materiellen Reichtümer des Menschen war. So war der Monotheismus von seiner Grundlage her eine fatalistische Weltanschauung, zu der mit dem Christentum und der nun ausdrücklichen Trennung des irdischen und des himmlischen Reiches, der irdischen und der himmlischen Macht noch die politische Willfährigkeit und Ohnmacht hinzukamen.

Der Magier, stets bedrängt von der sich entwickelnden Wissenschaft, die sich von den Glaubenssätzen und sowohl von den Göttern wie von Gott zu emanzipieren sucht, ist nun existentiell gefährdet durch den neuen Glauben, der der Magie jede Berechtigung bestreitet.

Georg Conrad Horst, ein »Großherzoglich-Hessischer Kirchenrath und Pfarrer zu Lindheim«, im 19. Jahrhundert einer der verständigsten und aufgeschlossensten Historiker der Magie, der mit mehreren Schriften diese Kunst und Wissenschaft sammelte, dokumentierte und einzuordnen suchte, schreibt zum Unterschied der Magie im polytheistischen und monotheistischen Zeitalter: »Die Ansicht des Heidenthums von seiner Zauberei war in ihrer Art consequent, indeß die ganze christliche Zauberwelt Widerspruch und Unsinn in sich ist. Wenn die Götter selbst unvollkommen, dem Schicksal unterworfen, oft unter sich uneins, oft in ihren Aussprüchen ungerecht, in ihrem Thun beschränkt waren: – welche Kunst konnte dann ehrenvoller an sich, und welche mußte zu gleicher Zeit erwünschter seyn als die, die Macht solcher Gottheiten zu brechen, sich über das Schicksal zu erheben, und so Götter, Menschen, Himmel, Erde zu beherrschen? […]

Inconsequent, nichtig, erbärmlich erscheint, damit verglichen, die christliche Zauberei.

Die welthistorische Parallele zwischen Heidenthum und Christenthum drängt sich nun auch in diesem unbedeutend scheinenden, und doch höchst wichtigen Punkt von selbst auf. Es sind keine gesuchten, sondern ganz nahe liegende Antithesen, worin sie sich ausspricht.

Im Christenthum herrscht Gott, der Unendliche, Mächtige, und – Alleinige.

Alle Zauberei im Christenthum ist daher ein Widerspruch in sich, eine Herausforderung Gottes, ein Verlust der Seele ewiger Seligkeit.

Im Heidenthum herrschen der guten und bösen Götter eine Menge. Der heidnische Zauberer ist ein Freund, ein Vertrauter der Götter; der christliche ein Bundesgenosse des Teufels. Der heidnische Zauberer macht auf die hohe Auszeichnung, der Götter Gewalt nach seinem Sinn zu gebrauchen, Anspruch, und darf sich seiner Kunst rühmen. Der christliche Zauberer ist nur ein Schwarzkünstler, wie sein Gott, der schwarze Höllenfürst, und seine Kunst, die aus der Hölle stammt, ist mit Schmach bedeckt.

Der heidnische Zauberer kann Ansprüche selbst auf die Religiosität machen, denn der Geist der Götter (vergleiche Daniel V. 14f.) ist in ihm. Der christliche Zauberer ist ein Gottesleugner, und seine Kunst Abfall von Gott, Aufruhr gegen den Himmel.

Der heidnische Zauberer ist trotzig und ein Stolzer; der christliche feig und ein Elender.

Mit einem Wort alles zusammen zu fassen: Dort thut ein Gott das Zauberwunder, hier thut’s der Teufel. Dort erhebt sich durch Zauberkraft der Mensch über das Schicksal, und macht sich so selbst zu einem Gott. Hier erniedrigt er sich unter das Schicksal, und macht sich von der Hölle abhängig.

Endlich, die heidnische Zauberkunst führte zu Ruhm und Ehre; die christliche – auf den Scheiterhaufen.«

In der Sprache der Theologie ist der entscheidende Wandel des Magierbilds erfaßt: der göttergleiche Mensch der polytheistischen Kultur wird in der christlichen zum ohnmächtigen Geschöpf Gottes, von ihm abhängig oder – so er sich gegen Gott empört – von der Hölle.

Die neuen Priester können die Priester des alten Glaubens, die heidnischen, nicht wie die Naturwissenschaften mit Beweisen zurückdrängen und aufheben, sie haben keine anderen Mittel zur Hand wie die von ihnen verachteten Magier. Sie setzen Glaubensspruch gegen Glaubensspruch, Zauberei gegen Zauberei, Dogma gegen Dogma. Im Buch Exodus (2. Mose 7,8-12) werden diese Kämpfe der neuen Ideologen gegen die alten beschrieben: »Jahwe sprach zu Mose und Aaron: ›Wenn der Pharao euch auffordert: Wirket doch ein Wunder! dann sprich zu Aaron: Nimm deinen Stab und wirf ihn vor den Pharao hin. Er wird zu einer Schlange werden.‹ Mose und Aaron kamen zu dem Pharao und taten, wie Jahwe befohlen hatte. Aaron warf seinen Stab vor den Pharao und seine Diener hin, und er wurde zu einer Schlange. Da ließ der Pharao die Weisen und Zauberer rufen, und die ägyptischen Zauberer taten dasselbe mit ihren Zauberkünsten. Alle warfen ihre Stäbe hin, und diese wurden zu Schlangen. Aber der Stab Aarons verschlang ihre Stäbe.«

Ausrottbar aber ist der Magier noch nicht. Die Naturwissenschaft ist bis ins späte Mittelalter hinein nicht in der Lage, ihn vollständig zu ersetzen. Zum anderen ist er, im Mythos wurzelnd, die Verkörperung menschlicher Möglichkeiten. Über allen natürlichen und politischen Grenzen stehend, ist er die Freiheit und die Macht. Jeder das Individuum bedrückende Zwang kann durch den Magier gelöst werden. Das abstrakte Paradies, die Herrlichkeit nach dem Tod, findet im Magier seine konkrete, irdische Entsprechung. Er ist die Mensch gewordene Legende, die Inkarnation der Gottähnlichkeit, der lebendige Traum seiner Allmacht.

Und der Magier ist gefürchtet. Auch dies hilft ihm, weiterzuleben. Seine Macht ist grenzenlos und somit auch furchtbar und dämonisch. Trotz Verbot und Verfolgung, trotz der tödlich bedrohlichen Ächtung als Häretiker bleibt er hilfreicher oder verderblicher Beherrscher der Geister im verängstigten Bewußtsein der Völker. Vor allem der Mißbrauch seiner Kunst, die den Magier in ein Zwielicht von Heiligkeit und Diabolie brachte, half ihm nun gelegentlich, die Zaubergläubigkeit seiner Zeitgenossen nutzend, den inquisitorischen Verfolgungen durch die neue Ideologie zu begegnen.

Überdies versucht die Magie, sich dem schnell ausbreitenden und – durch wechselnde Bündnisse die Unmündigkeit und Uneinigkeit der politischen Mächte Europas nutzend – selbst zur politischen Großmacht aufsteigenden Christentum zu assimilieren. Nun erscheint die Magie, bisher selbst göttliche Kunst, demütig und gottgefällig. Sie trennt sich von den alten heidnischen Göttern und unterwirft sich den christlichen Dogmen erlaubter Forschung und Praxis. Johann Nicolaus Martius unterteilt in seiner Schrift ›Unterricht von der Magia naturali und derselben medicinischen Gebrauch‹ (1751) die Magie in mathematische, diabolische und natürliche. Die letztere, die natürliche Magie, besteht aus einem – aus christlicher Sicht – zugelassenen und einem nicht zugelassenen Teil.

Agrippa von Nettesheim bemüht sich in seinem Werk fortgesetzt um den Nachweis, daß die magischen Künste nur dem Gottgläubigen möglich seien, daß allein Gott die Fähigkeit zur Magie verleihen kann: »Manche aber werden, teils aus Vorurteil und Beschränktheit, teils aus Bosheit und Übelwollen gegen uns, ob sie gleich die Sache nicht verstehen, den Namen Magie im übeln Sinne nehmen und ausrufen: Dieser lehrt verbotene Künste, er streut den Samen der Ketzerei aus, beleidigt fromme Ohren und erregt bei gebildeten Leuten Anstoß; er ist ein Hexenmeister, ein Mensch, der dem Aberglauben huldigt, der mit bösen Geistern umgeht. Nein, ich bin ein Magier, und ein Magier bedeutet, wie jeder Gelehrte weiß, keinen Zauberer, keinen Abergläubischen, keinen, der mit bösen Geistern im Bunde steht, sondern einen Weisen, einen Priester, einen Propheten. Was zum Nutzen der Menschen, zur Abwendung von Unglück, zur Zerstörung von Zauberwerk, zur Heilung von Krankheiten, Vertreibung von Gespenstern, Erhaltung des Lebens und der Ehre, und zum zeitlichen Wohlergehen, ohne Gott und die Religion zu beleidigen, geschehen kann, wer wollte dies nicht sowohl für nützlich als für notwendig erachten? […] Vor allen Dingen ist zu bemerken, daß wir das Wort Magier in dieser Schrift so verstanden wissen wollen, daß der ein Magier sei und heiße, dem aus göttlicher Gnade geistige Wesen augenscheinlich dienen, zur Erkenntnis der ganzen Welt und der darin enthaltenen Naturen, sie seien sichtbar oder unsichtbar … Alles ist möglich dem, der glaubt, alles aber unmöglich dem Ungläubigen und Nichtwollenden. Nichts ist hier mehr hinderlich, als die Wankelmütigkeit und Unbeständigkeit des Gemüts, unnützes Treiben, Völlerei, Unzucht und Ungehorsam gegen das Wort Gottes. Deshalb soll der Magier ein gottesfürchtiger, frommer Mann sein, standhaft in Worten und Werken, eines starken und festen Vertrauens zu Gott, vorsichtig und keines Dinges zu viel begehrend, außer der Weisheit in göttlichen Dingen.«

Und sein Zeitgenosse Paracelsus setzt den Magier wieder auf den alten Thron der Auserwählten in unmittelbarer Gottesnähe, nun in der Gnade und Abhängigkeit eines einzigen Gottes und den Platz teilend mit dem hohen Klerus, wenn er in seiner ›Philosophia sagax‹ schreibt: »Nun ist der Anfang der Magie eine Auslegung der unnatürlichen Zeichen, um diese zu erkennen wie Gott sie übernatürlich an den Himmel stellt, und die doch wie natürlich erscheinen. So wurde unter anderem der östliche Stern über Bethlehem erkannt. Ebenso wie Christus auf Erden wie ein Mensch gewandelt hat, so hat auch jener Stern unter anderen Sternen gestanden. Und wie Christus allein von den Seinigen erkannt wurde, so werden die Sterne allein von den Magiern erkannt. Darum sind die Magier die Ausleger solch übernatürlicher Zeichen am Himmel, wie die Apostel Erkennende Christi, und sind dazu gesetzt, das Wort auszulegen, welches Christus spricht: Es werden Zeichen in Sonne, Mond und Sternen usw. So sind die Magier auch Ausleger aller Propheten und der apokalyptischen Offenbarung.«

Trotz aller Wandlungen des Magiebegriffs sind bis zu Beginn der Neuzeit Bestimmungen, Aufgaben und Bestandteile der Magie in ihrem Anspruch, gleichermaßen Wissenschaft und Religion zu sein, unverändert geblieben. Der Magier war ursprünglich ein Weltweiser, der die Geheimnisse der Natur zu erforschen suchte und dabei die unterschiedlichsten, zumeist im Orient verbreiteten Philosopheme nutzte. Bis zum Mittelalter war er Astronom und Astrologe, Mathematiker und Nekromant (also Toten- und Geisterbeschwörer), Physiker und Zauberer, Chemiker und Goldmacher, Zeichendeuter und Wahrsager. Er beherrschte die Geomantie (Erdwahrsagekunst), die Chiromantie (Handwahrsagekunst), die Physiognomie (Gesichtsausdruckskunst), die Hydromantie (Wahrsagekunst aus dem Wasser), die Pyromantie (Wahrsagekunst aus dem Feuer), die Berillistica (Anwendung gewisser Steine in Kristallform), er beherrschte die umwandelnde Magie, die ihn befähigte, lebende Körper zu bilden, und die kabbalistische Kunst, durch die er ungebunden an Natur, Zeit und Raum wirken konnte.

Noch in der Renaissance finden wir ihn im Vollbesitz dieser Kräfte und Fähigkeiten, wenngleich der Anspruch auf göttliche Gewalt durch das Christentum zerstört und sein Vermögen als Gnade aus der Hand Gottes empfangen wurde. Nun ist alles nur dem möglich, der an Gott glaubt, und der Magier ist – bei Strafe seines Lebens – genötigt, Gott um die Geheimnisse zu bitten und diese »zum Lob und zur Ehre Gottes, und zu des Nächsten Nutzen« zu gebrauchen. Die Künste der Magier sind in einen christlichen Mantel gehüllt, wenngleich ihre archaische, unchristliche Natur – wie die folgende Aufzählung der Magierkünste durch Agrippa zeigt – überdeutlich hervorlugt und eine unbedeckte, gefährdete Blöße bleibt: »Der höchsten und größten Geheimnisse sind sieben.

1. Alle Krankheiten kurieren und heilen können, innerhalb sieben Tagen, entweder durch Charaktere oder natürliche Mittel, oder durch die oberen Geister, mit der Hilfe Gottes.

2. Leben, so lange es einem gefällt, das Leben auf ein jedes Alter verlängern können, nämlich das natürliche körperliche Leben. Dieses Geheimnis haben die ersten Eltern gehabt.

3. Die Kreaturen, die in Gestalt persönlicher Geister in den Elementen wohnen, zu seinem Dienst haben; desgleichen die Zwerge, Nymphen, Dryaden und Waldmännlein.

4. Mit den Intelligenzen aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge reden können, und von einem jeden Ding hören, wozu es verordnet und was es nützt.

5. Sich selbst regieren können, zu dem Ende und Ziel, das einem von Gott vorgesetzt und verordnet ist.

6. Gott, Christum und den heiligen Geist erkennen, das ist die Vollkommenheit des Mikrokosmos.

7. Wieder geboren und verwandelt werden wie Enoch.

Diese sieben Geheimnisse kann der Mensch ohne Beleidigung Gottes von den Geistern Gottes erlernen, wenn er ein ehrbares und standhaftes Gemüt hat.

Der mittleren Geheimnisse sind auch sieben.

1. Die Verwandlung der Metalle, oder die Alchemie, welche Kunst an sich selbst zuverlässig und wahr ist; sie wird aber sehr wenigen verliehen, und nicht ohne besondere Gnade und Barmherzigkeit Gottes, denn es liegt nicht an jemandes Wollen oder Trachten, sondern an Gottes Erbarmen.

2. Die Heilung der Krankheiten durch metallische Arznei, Edelsteine, den Stein der Weisen und Ähnliches.

3. Astronomische und mathematische Wunder zu verrichten, wie mit etlichen Wasserkünsten; ferner, nach des Himmels Influenz aller Sachen und Geschäfte zu ordnen und was dergleichen mehr ist.

4. Allerlei Wirkungen aus der natürlichen Magie zu vollbringen.

5. Zukünftige Dinge natürlicher Weise vorherzusagen.

6. Alle Künste, wozu Handarbeit gehört, gründlich zu erlernen.

7. Alle Künste, die durch die engelhafte oder geistige Natur des Menschen ausgeübt werden, gründlich kennenzulernen.

Die sieben geringeren Geheimnisse sind diese:

1. Reich zu werden und viel Geld und Gut zu bekommen.

2. Von einem geringen Stande zu hohen Ehren zu gelangen, und sich und die Seinigen hoch empor zu bringen und große Taten zu verrichten.

3. In Kriegssachen sich auszuzeichnen, große Dinge glücklich auszuführen, und in allem der Erste zu sein.

4. Auf dem Lande und in der Stadt ein guter Haushalter zu sein.

5. Ein kluger und geschickter Handelsmann zu sein.

6. Ein guter Philosoph, Mathematiker und Arzt zu sein, der seinen Aristoteles, Plato, Euklid, Hippokrates, Galen etc. wohl versteht.

7. Ein guter Theologe zu sein, der die Bibel gehörig gelesen, ein Scholastiker, der alle alten und neuen Scribenten in der Theologie kennengelernt hat.«

In Agrippas Zeit fällt auch die Entstehung der Faustsage, des berühmtesten Magiers der neueren Literatur. Aus dem Buchdrucker Johann Faust und dem Taschenspieler Georg Sabellicus, der sich Faust der Jüngere nannte, entstand jene Faustfigur, die uns aus Volksbüchern überliefert wurde. Die ersten Manuskripte von und über Faust entstanden Ende des 16. Jahrhunderts, die ersten gedruckten Bücher erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts, wenn auch einige Buchdrucker mit falschen Druckdaten den Eindruck zu erwecken suchten, ihre Bücher seien bereits um 1500 geschrieben und gesetzt worden. Die vielen Zauberbücher des Dr. Faust (»Fausti Höllenzwang«, »Dr. Fausts Großer Höllenzwang«, »Dr. Fausts Dreifacher Höllenzwang«, »Dr. Fausts Großer und Gewaltiger Höllenzwang« usf.) gewinnen rasch Verbreitung und – zumal für Manuskripte – werden riesige Summen bezahlt. (Einer der Autoren solcher Faustbücher läßt seinen Faust sehr doppelsinnig sagen: »Die Geister zu bezwingen, / Daß sie uns Schätze bringen: / Das lehre ich. / Wer reich seyn will auf Erden, / Kans durch dies Buch leicht werden: / Das wurde ich.«) Die Faustbücher wurden schnell Spekulationsobjekte. Scharlatane und Hochstapler – ein Übel, an dem die Magie stets und zunehmend zu leiden hatte – treten in unübersehbarer Zahl auf den Märkten auf, bis das Ansehen dieser Kunst durch den Mißbrauch als Jahrmarktszauber heruntergewirtschaftet war und man unter Magie nur noch verbrecherische Machenschaften aus Eigennutz und zum Schaden anderer verstand.

Obgleich nicht nur die Magier, sondern auch die hervorragendsten Gelehrten der Renaissance sich für die Magie einsetzten und sie mit den Glaubenssätzen der katholischen Kirche in Übereinstimmung zu bringen suchten, war die Entscheidung der Kirche gefallen. Die päpstliche Bulle und der deutsche ›Hexenhammer‹ verurteilten die der Magie, der Zauberei und des Umgangs mit dem Teufel verdächtigen Personen zu einem qualvollen Tod. Der Hexenwahn wird zum Ende des 15. Jahrhunderts durch den Klerus initiiert und herrscht in den folgenden Jahrhunderten auf entsetzlichste Weise in Europa.

Als Hexenwahn nämlich können nicht die magischen und wunderlichen Vorstellungen bezeichnet werden, die sich aus dem Stand der Naturerkenntnis, einer fehlenden Psychologie und dem begreifbaren, weil vorgreifenden Wunsch nach der vollständigen Herrschaft über die Natur ergaben, und auch nicht die betrügerischen Absichten von Scharlatanen, die sich auf Kosten eines unwissenden Volkes zu bereichern suchten. Mit Hexenwahn als unverantwortlichem und gefährlichem Irrsinn sind allein jene Vorstellungen zu bezeichnen, die die herrschende Geistlichkeit dahin brachten, ein ihr unverständliches, manchmal wunderliches oder törichtes Verhalten von Forschern und von unmündigen, einfältigen, in den abergläubischen Vorstellungen der Zeit verhafteten Menschen als ein mit dem Tod zu strafendes Vergehen zu ahnden. Der Teufel wurde in ein System gebracht und damit und durch diese wahnwitzigen Systematiker in die Welt gesetzt. Er war in den Jahrhunderten dieses religiösen Wahns weit wirklicher vorhanden als Gott, Christus oder die Heiligen, denn wer sich auf göttliche Stimmen oder Erscheinungen berief, hatte wenig Aussicht, damit bei der Obrigkeit Gehör oder gar Glauben zu finden, dagegen war der Teufel bei jedem weltlichen oder geistlichen Herrn, vor jedem Gericht eine zugelassene, beweiskräftige Person. Über Wunder, Zauber- und Hexenkünste wurde zu Gericht gesessen, die unsinnigsten Behauptungen wurden als erwiesene Tatsachen registriert und, in diesem Wahn befangen, die fürchterlichen Urteile gesprochen und vollstreckt.

G. C. Horst schreibt in der ›Dämonomagie‹, seiner Geschichte des Glaubens an Zauberei und dämonische Wunder: »Kurz, die Wirkungen von dem Glauben an Hexerei auf das häusliche, bürgerliche und gesammte gesellschaftliche Leben waren in der Hexenperiode weit über alle Vorstellungen hinaus, die wir uns jetzt noch davon machen können, traurig, zerfleischend und empörend … Zum Beispiel, zwei Weiber zanken sich miteinander, und im Eifer nennt die Eine die Andere eine Drachenh – – –; ein Scheltwort, das zur Ehre der Menschheit ausgestorben ist, und nur Mitleid, oder Lachen erregen kann, das aber in der Hexenperiode eine bedeutende Rolle spielt. Die Obrigkeit erfährt durch ein drittes altes Waschweib diese Zänkerei, läßt beide Weiber unversehens festsetzen, die Drachenh – – – wird auf die Folterbank geworfen, sie gesteht, daß sie eine Hexe sey, bekennt aber auf zwei andere Weiber im Orte, diese kommen, wie sie, auf die Folter und denunzieren andere Sieben, die meisten Familien verlassen nun Haus und Hof und flüchten in andere Dörfer oder in Wälder, nach kurzem Proceß werden vier Weiber verbrannt, die Hälfte der Familien ist zu Grunde gerichtet, Niedergeschlagenheit, Mißtrauen, Verzweiflung herrschen, der Ort ist wie von der Pest verwüstet. Dieß ist ein treues Bild eines Hexenprocesses, wie ich es aus Inquisitionsacten genommen habe.«

Der religiöse Wahn richtete sich mit seinen verheerenden Folgen vor allem gegen die Frau, die im durch die christliche Lehre bestärkten Patriarchat als das Geschöpf der Unreinheit und der teuflischen Verführung angesehen war. In der Frau fand der Teufel das Schlupfloch, um auf die Welt zu kommen, und eine Ideologie, die jeden Mann aufforderte, bei seinem Seelenheil keine Frau zu berühren (Paulus’ ›Korintherbriefe‹), nutzte folgerichtig die Zeiten des hysterischen Hexenwahns und der Vernichtung des Dissidenten zu einem mörderischen Feldzug gegen das weibliche Geschlecht. In dem Bestreben, das Christentum auszudehnen und zu stärken, bestärkte die Kirche allein Denunziation und Heuchelei, den Aberglauben und das Teufelscredo und ließ erbarmungslos und qualvoll die ihr Verdächtigen hinrichten. Der berüchtigte ›Hexenhammer‹, ein katholisches Gesetzbuch, das zum bürgerlichen erhoben wurde, ein deutsches Hexenprozeßrecht, in dem der Hexenglaube in ein förmliches System gebracht wurde und die Gerichtsverfahren in allen Einzelheiten bis zur Tortur und dem Urteil auf Verbrennen festgeschrieben waren, wurde von den nachfolgenden Päpsten sukzessive für weitere Länder sanktioniert, bis schließlich in ganz Europa der Hexenwahn die geistliche und weltliche Obrigkeit beherrschte. Auch in den protestantischen Ländern wurden Hexen ausfindig gemacht, verurteilt und verbrannt, und der Eifer der protestantischen Hexenjäger war nicht geringer als der der katholischen Foltermeister, zumal der Besitz der Verurteilten zum größten Teil den christlichen Inquisitoren zufiel.

In Bamberg wurden in zwanzig Jahren mehrere Hundert Frauen und Männer öffentlich hingerichtet, die man der Zauberei beschuldigte. Der spanische Großinquisitor Thomas de Torquemada verurteilte in den achtzehn Jahren seiner Tätigkeit als Hexenjäger über 100 000 Menschen.

Ein Historiker, der Däne Alfred Lehmann, bemerkte dazu in seinem Werk ›Aberglaube und Zauberei‹ (1898): »Wie viele im Laufe der Jahrhunderte ihr Leben als Hexen eingebüßt haben, ist unmöglich zu sagen, aber man hat es während eines Jahres in einer einzelnen Stadt so weit getrieben, daß man tausend Menschen mordete, und als man die Verfolgung einstellte, gab es in Deutschland ganze Landstriche, in denen nur noch zwei Weiber am Leben waren; dabei waren die Männer aber lange nicht immer frei ausgegangen. Alle Sachverständigen sind sich deshalb darin einig, daß die Anzahl der verbrannten Hexen Millionen betragen hat.«

Der Hexenwahn der christlichen Kirchen wütete bis ins 17. Jahrhundert, vereinzelt wurden sogar bis in das 19. Jahrhundert Hexen zu Tode gebracht.

Geistliche, Juristen, Ärzte und Philosophen wandten sich bald nach Beginn der amtlichen Hexenverfolgung gegen diesen Wahn und sprachen sich – zunehmend offener – gegen das kirchliche Dogma aus. Von größter Bedeutung – neben den entscheidenden politischen Veränderungen in Europa und dem daraus folgenden Machtverlust des Vatikans – waren die Fortschritte der Naturwissenschaft, deren Ergebnisse den Teufels- und Hexenglauben immer aberwitziger erscheinen ließen und damit wirksam zur Beendigung des religiösen Wahnsinns beitrugen. Eben diese Entwicklung der Naturwissenschaften veränderte nachhaltig die gesamte Magie. Sie trennte sich von den Glaubenssätzen und den Zaubersprüchen. Astrologie und Nekromantie verschwinden aus der Kunst der Magier, diese noch bis ins ausgehende Mittelalter sakrosankten Bestandteile werden ersatzlos aufgegeben, genauer gesagt: sie werden durch die entdeckten Gesetze der Natur aufgehoben. Es waren Hilfsmittel einer unwissenden Menschheit, um sich auf dieser Erde einzurichten, sie waren nicht stimmig, jedoch nicht falsch. Sie waren die hilfreichen Krücken eines menschlichen Anspruchs auf die Welt und die gesamte Natur. Falsch und unsinnig wurden sie erst, als die experimentelle Wissenschaft die tatsächlich wirkenden Gesetze erkannte und zu beweisen vermochte.

Wenn auch die magische Wissenschaft durch die Ergebnisse der Naturwissenschaft immer weiter verdrängt wurde und an Bedeutung verlor, beide Wissenschaften standen sich nicht feindlich gegenüber, vielmehr war die neue, experimentelle Forschung ein Kind der buntschillernden und oftmals zwielichtigen Magie. Ihr philosophischer Anspruch einte sie, so sehr auch ihre Methoden und Mittel sie unterschied. Die Alchimie bereitete die Chemie vor, die Physik hat ihren Ursprung in der Magia naturalis, Astronomie und Mathematik haben in ihrer Geschichte die alten Magier und Astrologen. Noch Newton, dessen Entdeckungen in der Mathematik, der Optik und der Mechanik ihn zum Begründer der klassischen Physik werden lassen, experimentierte zeit seines Lebens auch als Alchimist; ebenso Paracelsus, der Arzt und Naturwissenschaftler, und viele der berühmtesten Forscher jener Jahrhunderte.

Die Magia naturalis, in der Frühgeschichte lediglich ein Bestandteil der Magie, wird zu Beginn und im Verlauf der naturwissenschaftlichen Revolution zum alleinigen Tätigkeitsfeld der magischen Forscher. Nun wird die Magie zu der Kunst, Kräfte zwischen Körpern wirken zu lassen, deren natürliche Herkunft noch zweifelhaft erscheint, magisch. Casper Schott schreibt 1657 in seiner ›Magia universalis naturee et artis‹: »Natürliche Magie nenne ich eine gewisse verborgene Kenntnis der Geheimnisse der Natur, wodurch man, wenn man die Natur, die Eigenschaften, verborgene Kräfte, Sympathien und Antipathien der einzelnen Dinge erkannt hat, gewisse Wirkungen hervorrufen kann, die diejenigen, welche mit den Ursachen unbekannt sind, seltsam oder gar wunderbar erscheinen.«

Mit dem 18. Jahrhundert endet die Geschichte der Magie. Die letzten Zauberbücher sind nur noch populäre Wissenschaft, die neuere Erkenntnisse, soweit sie im Alltag von unmittelbarem Nutzen sind, unter das Volk bringen und sich dabei der alten Form der Zaubersprüche bedienen, um sich auf diesem traditionellen Weg leichter Gehör zu verschaffen. Sie enthalten kaum noch tatsächliche Zaubersprüche, Beschwörungen, wie sie bis ins ausgehende Mittelalter in der magischen Literatur zu finden sind. Diese letzten Zauberbücher bieten Ratschläge für Haus und Hof, mehr oder weniger nutzvolle Hinweise für Acker- und Weinbau, probate und fragwürdige Hausmittel, etwas Metall- und Gesteinskunde sowie einige Experimente, die den Zeitgenossen zu verblüffen oder zu unterhalten vermochten. Völlig verlorengegangen ist der große, antizipative Griff auf die Welt, der Anspruch, totale Wissenschaft zu sein, also Naturforschung wie auch Philosophie und Religion. Es ist der letzte und banale Auftritt jenes vormals geachteten und gefürchteten Beherrschers der Natur und aller Geister, ein Auftritt bereits auf dem Jahrmarkt. Nach ihm kommen, gefördert vom Spiritismus, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts auflebt, die Gaukler, Scharlatane und Hochstapler, die Salonastrologen und politischen Okkultisten, die sich noch auf die Magie berufen, aber zur Kriminalhistorie gehören, zur Geschichte des Betruges, des politischen Verbrechens oder der Dummheit. Der Zauberkünstler Cagliostro und der mit Magnetismus und Elektrizität sein Publikum verblüffende und schröpfende Mesmer, der Teufelsaustreiber Gassner und der Geisterbeschwörer Schrepfer sind Väter der nun wirksam werdenden Magie. Ihre Künste gründeten weder auf Wissenschaft noch auf der Religion, ihr Kapital war, wie Chledowski sagte, ihr Glaube an die menschliche Dummheit, und dieses Kapital trug hohe Zinsen.

Die Anziehungskraft, die diese verspäteten