Als meine Unterhose vom Himmel fiel - Jana Scheerer - E-Book

Als meine Unterhose vom Himmel fiel E-Book

Jana Scheerer

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das kennt doch jeder: Man sitzt in der Schule, schnippt die Papierkügelchen zurück, mit denen man beworfen wurde, schaut, was die Lehrerin so alles an die Tafel schreibt – und plötzlich segelt eine karierte Unterhose von der Decke und landet sanft auf dem Lehrerpult. Kennt man nicht? Doch genau das passiert Robert! Wer konnte denn auch ahnen, dass die neueste Erfindung von seinem bestem Freund Pelle solche Auswirkungen hat? Die sollte nämlich eigentlich für Ordnung sorgen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 146

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jana Scheerer

Als meine Unterhose vom Himmel fiel

Illustriert von Martina Liebig

Als meine Unterhose vom Himmel fiel

Kennt ihr das? Man sitzt in der Mathestunde, hört ein bisschen zu, schreibt sich ein paar Zahlen auf, schnipst die Papierkügelchen zurück, mit denen man beschossen wurde, schaut, was die Lehrerin gerade so alles an die Tafel malt – und dann segelt ganz langsam eine rot karierte Unterhose von der Decke.

Kennt ihr nicht? Bei uns ist genau das passiert.

Mit angehaltenem Atem verfolgten wir, wie die Unterhose hinter dem Rücken unserer Mathelehrerin hinabschwebte und sanft auf dem Lehrerpult landete.

Frau Schönlein drehte sich von der Tafel zurück zur Klasse und sagte: »Schreibt das dann bitte a…aaaaaaaaahhh!«

Alle lachten. Ich auch.

Als Frau Schönlein sich einigermaßen beruhigt hatte, hob sie die Unterhose mit spitzen Fingern auf und sah sie genauer an. »Da ist ein Namensschildchen eingenäht«, verkündete sie.

»Vorlesen!«, schrien alle. Ich auch.

»Robert Retzlaff«, las Frau Schönlein.

Das bin ich.

»Rotzlaff wird so rot wie seine Unterhose!«, rief unser Klassengroßkotz Oreo.

Mein Gesicht erreichte tatsächlich mindestens eine Acht auf der internationalen Tomatenskala, das konnte ich deutlich spüren.

»Entschuldige, Robert«, murmelte Frau Schönlein, »ich wollte deine Privatsphäre nicht verletzen.«

Die anderen bekamen Schnappatmung vor lauter Lachen. Ich stellte mich gleich mal darauf ein, dass für den Rest des Schuljahres alle fünf Minuten jemand zu mir sagen würde: »Hallo Robert, ist deine Unterhose wieder ohne dich unterwegs? Oh, entschuldige, ich wollte deine Privatsphäre nicht verletzen!«

Doch das mit der Privatsphäre war einen Moment später schon wieder vergessen. Denn meine Unterhose fing an, in den Händen von Frau Schönlein zu flackern wie ein Fernsehbild bei schlechtem Empfang. Dann verschwand die Unterhose ganz. Sie war einfach weg. Frau Schönlein schaute wie gelähmt auf ihre leeren Hände. Alle anderen in der Klasse auch. Sogar Oreo war still. Nur mein Freund Pelle sprang auf.

Frau Schönlein erwachte aus ihrer Starre. »Wo willst du denn hin, Pelle?«, rief sie.

Pelle war schon an der Tür und schrie: »Roberts Unterhose retten!«

 

Aber ich erzähle besser eins nach dem anderen. Damit meine Unterhose auf dem Lehrerpult landen konnte, mussten vorher eine ganze Menge Dinge geschehen. Eine Kette aus Ursachen und Wirkungen, wie Pelle sagen würde, der es gerne kompliziert mag.

Pelle ist ein großer Erfinder und war an der Sache mit der Unterhose nicht ganz unschuldig. Obwohl er mir eigentlich nur helfen wollte. Na ja – und seine Erfindung testen. Er hatte sich nämlich beim Wettbewerb Erfinder von morgen angemeldet und wollte unbedingt den ersten Preis gewinnen: eine Reise in ein Erfindercamp in Kalifornien.

Pelles größte Konkurrentin in dem Wettbewerb war seine Zwillingsschwester Aura. Sie ist eine mindestens genauso große Erfinderin wie Pelle, und so brauchte er unbedingt eine bessere Erfindung als sie. Das brachte mich in eine blöde Situation, denn auch wenn ich es damals nicht zugegeben hätte: Ich fand Aura wirklich nett. Und als Pelle dann ausspionieren wollte, an was für einer Erfindung Aura arbeitete …

Moment mal, ich will ja eines nach dem anderen erzählen!

Also. Das hier sind meine Aufzeichnungen über die seltsamsten Tage meines Lebens. Ich versuche, alles aufzuschreiben und nichts wegzulassen. Egal, wie unglaublich, fantastisch oder peinlich es auch ist.

Dienstag, 8. August, 16.30 Uhr.1215½ Stunden VDUHL[1].

Alles fing damit an, dass es an einem Nachmittag im August bei meinem Vater und mir an der Tür klingelte. Ich zuckte zusammen. Nicht, weil ich besonders schreckhaft bin. Sondern weil es damals wirklich eine Katastrophe war, wenn jemand bei uns klingelte. Denn unsere Wohnung war – vorsichtig ausgedrückt – nicht so ganz vorzeigbar.

Weniger vorsichtig ausgedrückt könnte man sagen: Sie war komplett vollgestopft. Meterhoch stapelten sich Kisten und Kartons, um die herum kaputte Elektrogeräte, rostiges Werkzeug, abgetragene Klamotten, altes Spielzeug und abgewetzte Taschen und Koffer lagen.

Vom Flur war bloß ein enger Gang übrig geblieben.

In der Küche hingen die Wände voller Kuckucksuhren, die ohrenbetäubend um die Wette tickten. Auf den Herdplatten hatten sich drei Wecker (ohne Zeiger), zwei alte Radios (ohne Empfang) und ein riesiger Vogelkäfig (ohne Vogel) angesammelt. Kochen ging schon lange nicht mehr. Bei uns gab es jeden Tag Tiefkühlpizza mit Salat.

Im Wohnzimmer führte ein schmaler Pfad zum Sofa, auf dem zwischen Supermarktprospekten, Pizzakartons und Kakteen noch Platz für genau zwei Personen war: für mich und für meinen Vater.

Wobei wir auch schon bei dem Menschen angekommen sind, der an der vollgestopften Wohnung schuld war: meinem Vater. Seit drei Jahren hatte er nichts mehr weggeworfen. Keine abgelaufenen Werbeprospekte, keine leeren Pizzakartons, keine ausgetrunkenen Coladosen, keine alten Plastiktüten, keine kaputten Elektrogeräte und keine einzelnen Socken. Doch nicht nur, dass Papa nichts wegtat. Er schleppte auch ständig neuen Krempel von Trödlern und Flohmärkten an. Und er konnte wirklich für jedes Teil erklären, warum es absolut überlebenswichtig war.

Als es 1215½ Stunden vor der Unterhosenlandung bei uns klingelte, hatte ich Papa gerade vorsichtig gefragt, ob wir nicht vielleicht ein paar von den neunundvierzig einzelnen Socken aussortieren könnten.

»Nein, Robert«, sagte Papa, »die können wir doch noch als Salatschleuder benutzen. Falls unsere mal kaputtgeht. Oder auch für unterwegs. Salatschleuder to go, gut, was?« Papa lachte. Er hatte das mal in einem Film gesehen und führte mir gleich vor, wie es funktionierte: Aus der Küche holte er sich ein paar nasse Salatblätter, stopfte sie in eine Socke, hielt die Socke am Bündchen fest und ließ das Ganze so kreisen, als würde er ein Lasso werfen. »Wichtig ist dabei ein entspanntes Handgelenk«, erklärte er, »schön locker bleiben.«

Es klingelte noch mal.

»Ich geh schon!«, sagte ich schnell, denn ich machte immer lieber selbst die Tür auf. Dabei musste man nämlich darauf achten, dass die Mobile Spießer-Idylle richtig installiert war.

Die Mobile Spießer-Idylle bestand aus einem Vorhang, einem Schirmständer und einer Garderobe. Der Vorhang teilte im vorderen Bereich des Flures ein Stück ab. Vor den Vorhang hatte ich ganz ordentlich den Schirmständer und die Garderobe gestellt. Und an die Garderobe hatte ich Mamas alte Strickjacke gehängt. Wenn der Vorhang geschlossen war, wirkte es von der Wohnungstür aus, als wäre bei uns alles in bester Ordnung. So war es möglich, Briefträgern, Paketboten und Nachbarn die Tür zu öffnen, ohne dass sie die Zustände bei uns zu sehen bekamen.

Normalerweise war ja Pelle für die Erfindungen zuständig, aber die Mobile Spießer-Idylle hatte ich mir selbst ausgedacht. Pelle wusste nämlich gar nicht, was bei mir zu Hause los war. Ich hatte ihn schon ewig nicht mehr zu uns eingeladen. Es war mir einfach zu peinlich.

Bis 1215 ½ Stunden vor der Unterhosenlandung hatte die Mobile Spießer-Idylle immer sehr gut funktioniert. Ehe ich die Tür aufmachte, zog ich jedes Mal den Vorhang hinter mir zu und prüfte noch einmal, ob wirklich alles verdeckt war.

Das tat ich auch an diesem Tag. Dann öffnete ich die Tür.

Davor stand Frau Winzig, unsere neugierige Nachbarin aus dem zweiten Stock. Sie hielt eine Tupperdose in den Händen.

»Hallo.« Am liebsten hätte ich die Tür gleich wieder zugemacht, aber Frau Winzig hatte schon ihren Fuß auf die Schwelle gesetzt.

»Robert! Warum macht ihr denn nicht auf? Ich stehe hier schon bestimmt eine Stunde!«

»Und wieso haben Sie dann erst nach neunundfünfzig Minuten geklingelt?«

Frau Winzigs Mundwinkel zuckten. Wahrscheinlich dachte sie darüber nach, ob sie beleidigt abziehen sollte. Doch ihre Neugierde siegte.

»Ich bring euch meinen Kirsch-Kokos-Schoko-Spezial-Streuselkuchen, Robert! Hab zu viel gebacken. Alleine bekomme ich den nie aufgegessen. Kann ich kurz reinkommen?« Mit der Tupperdose voran versuchte sie, sich an mir vorbei in die Wohnung zu schieben.

Ich nahm ihr die Dose ab und verstellte ihr den Weg. Frau Winzig schielte in Richtung Vorhang.

Bis zu diesem Zeitpunkt hätte auch an diesem Tag alles so ausgehen können wie immer: Frau Winzig wäre enttäuscht abgezogen, weil sie wieder einmal ihre Neugierde nicht hatte befriedigen können. Papa und ich hätten den Streuselkuchen gegessen und überlegt, was Frau Winzig uns wohl demnächst Leckeres vorbeibringen würde, um einen Blick in unsere Wohnung zu erhaschen.

Doch an diesem Tag kam es anders.

Aus der Wohnung war ein lautes Rumpeln zu hören. Papa schrie.

Ich drehte mich um, riss den Vorhang zur Seite und rannte ins Wohnzimmer. Papa war verschwunden. Vor dem Sofa wogte ein Meer aus Supermarktprospekten.

»Papa?«, rief ich. »Papa?«

Aus Richtung Sofa kam ein Stöhnen. Die Prospekte raschelten. Dann erhob sich eine Hand daraus und winkte. »Hallo Robert, hier unten ist alles bestens!« Das war Papas Stimme. Sie klang etwas dumpf, aber sonst normal. Ich atmete auf.

Papa winkte noch einmal. Weil der Rest seines Körpers von den Prospekten bedeckt war, sah es aus, als würde mich eine einzelne Hand aus einem Prospektemeer grüßen. Wie in einem Horrorfilm, der von fünf Supermarktketten gesponsert ist. Der Angriff der 99-Cent-Monster oder so. Papas Kopf tauchte auf. An seiner Stirn klebte ein blauer Coupon, auf dem in gelber Schrift minus zehn Prozent stand.

»Du hast da was.« Ich zeigte auf meine Stirn.

»Oh.« Papa pflückte sich den Coupon vom Kopf. »Die Socken-Salatschleuder ist mir aus der Hand geflutscht und in die Prospektestapel geflogen, und ich bin aufgesprungen, um die Stapel aufzufangen. Aber ich war zu langsam, und alle Stapel sind umgefallen, auf mich drauf.« Papa seufzte. »Was soll’s. Es ist ja …«

»Furchtbar! Es ist einfach furchtbar! FURCHT-BAR!«

Ich drehte mich um. In der Tür zum Wohnzimmer stand Frau Winzig und konnte sich gar nicht sattsehen. »Herr Retzlaff?«, rief sie, als sie Papa auf dem Boden zwischen den Prospekten entdeckt hatte. »Das sieht ja fürchterlich aus hier! Fürch-ter-lich! Sie armer Mann! Sie ar-mer Mann!«

»Oh! Hallo Frau Winzig!«, sagte Papa. »Ich … ich … ich … ich hab hier gerade ein kleines Nickerchen gemacht.«

Frau Winzig sah ihn skeptisch an.

Bevor Papa ihr noch erzählte, wie toll das sanfte Rascheln der Prospekte ihm beim Einschlafen half, rief ich schnell dazwischen: »Das ist nämlich so: Wir haben die Wohnung mit Kisten und … äh … äh … Sachen ausgekleidet, damit mein Vater eine bessere Akustik hat. Zum Celloüben.«

Das hatte ich mir als Ausrede überlegt – falls mal jemand die Mobile Spießer-Idylle überwinden und unsere Wohnung sehen sollte. Papa ist Orchestermusiker, weshalb ich die Geschichte einigermaßen glaubwürdig fand.

Frau Winzig fand das offenbar nicht. Ihre rechte Augenbraue wölbte sich steil nach oben. »Akustik, so, so«, sagte sie und schaute sich weiter im Wohnzimmer um.

Ich versuchte, sie zurück in den Flur zu drängen. Doch Frau Winzig wich mir aus und schlüpfte durch die Kistenstapel tiefer ins Wohnzimmer hinein. Dann schnappte sie sich Papas Hand und zog ihn aus dem Prospektehaufen heraus.

»Also, Herr Retzlaff«, murmelte sie dabei, »Herr Retzlaff, also …« Ich meinte zu hören, wie sie sich bemühte, möglichst betroffen zu klingen. Aber so ganz konnte sie ihre Begeisterung über diese Sensation nicht verbergen.

Vermutlich, dachte ich, läuft sie gleich zu den Nachbarn und erzählt denen brühwarm, in welchen Verhältnissen der arme, arme Herr Retzlaff lebt. Und erst recht der kleine Robert! Ich konnte direkt Frau Winzigs Stimme hören: Robertchen ist doch noch ein Kind! Na ja, ohne Mutter, das kann ja nicht gut gehen. Es ist einfach tragisch, dass Frau Retzlaff so früh verstorben ist! Einfach tragisch! TRA-GISCH!

»Lassen Sie meine Mutter da raus!«

»Wie bitte?«

Ich biss mir auf die Zunge. Frau Winzigs Rede hatte ja nur in meinem Kopf stattgefunden. »Nichts«, sagte ich schnell.

»Dann ist ja gut.« Frau Winzig nahm mir die Tupperdose mit dem Streuselkuchen ab. »In so einer Situation«, sagte sie, »hilft bei mir immer ein Stück Kuchen! Mit einer schönen Tasse Kaffee! Ich koche gleich welchen.«

»Nein!«, rief ich. Auf keinen Fall durfte Frau Winzig auch noch unsere vollgerümpelte Küche sehen.

»Ich muss jetzt dringend Cello üben«, kam Papa mir zu Hilfe, »zum Kaffeetrinken habe ich leider gar keine Zeit.«

Frau Winzig trommelte mit den Fingern auf der Tupperdose herum. »Sind Sie sicher? Ein kleines Päuschen mit Kaffee und Streu…«

»Ganz sicher!« Papa klang richtig verzweifelt.

»Aber Herr Retzlaff, manchmal tut es gut, mit jemandem zu reden!«

Kurz dachte ich: Vielleicht braucht Frau Winzig ja selbst jemanden zum Reden! Quatsch, sagte ich mir, die ist doch bloß neugierig.

Frau Winzig räusperte sich. »Das ist also geklärt. Ich koch dann mal den Kaffee! Für dich einen Kakao, Robert?«

»Nein!«, riefen Papa und ich gleichzeitig.

Doch Frau Winzig beeindruckte das nicht. Sie ging zielstrebig in unsere Küche. Wir liefen hinterher.

»Um Himmels willen! Hier ist es ja noch voller! Was ist denn in den vielen Schuhkartons? Und in den Einmachgläsern? Sind das alles Zuckertütchen? Und Streichhölzer? Und die ganzen alten Joghurtbecher … und … und … was macht denn der Vogelkäfig da auf dem Herd? Ist der auch für die Akustik? Also, Herr Retzlaff, hier kann ich beim besten Willen keinen Kaffee kochen, tut mir wirklich leid.«

»Schade«, sagte Papa. Er klang erleichtert.

Frau Winzig lächelte. »Kein Problem. Wir trinken einfach bei mir Kaffee. Kommen Sie runter? So in zehn Minuten?«

Bevor mir eine Ausrede einfiel, war Frau Winzig schon auf dem Flur und zog die Wohnungstür hinter sich zu. »Bis glei-eich!«, rief sie.

»Das«, sagte Papa, »ist ja gerade noch mal gut gegangen.«

»Noch mal gut gegangen?« Ich konnte es nicht fassen. Das war überhaupt nicht gut gegangen! Wenn Frau Winzig im ganzen Haus herumtratschte, wie es bei uns aussah, dann würden uns alle Nachbarn schief anschauen. Und früher oder später würden auch alle in der Schule Bescheid wissen, und die anderen würden mich auslachen, und die Lehrer würden die Polizei rufen, und die Polizisten würden zu uns nach Hause kommen und unsere Wohnung für unbewohnbar erklären und mich in ein Heim stecken, und Papa wäre alleine, und … und in zehn Minuten mussten wir mit Frau Winzig Kaffee trinken!

»Nur schade, dass sie den Streuselkuchen wieder mitgenommen hat«, sagte Papa. »Na ja, man kann nicht alles haben.« Er ging zurück ins Wohnzimmer.

»Papa!«, rief ich ihm hinterher. »Wir müssen in neuneinhalb Minuten bei Frau Winzig sein! Was denkt die denn, wenn wir nicht kommen?«

Keine Antwort.

Ich schaute ins Wohnzimmer. Dort saß Papa auf dem Boden und sortierte die heruntergefallenen Prospekte. »Vielleicht nach Supermarktketten?«, murmelte er.

Ich kannte das schon. Verrückterweise war unsere Wohnung deshalb so unordentlich, weil Papa zu ordentlich war. Er überlegte immer stundenlang, nach welchem System er die Sachen sortieren sollte. Und wenn er ein Prinzip gefunden hatte, entschied er sich einen Tag später anders und fing wieder von vorne an.

»Oder nach Preisentwicklung? Was meinst du, Robert? Von teuer nach billig? Oder umgekehrt? Oder chronologisch?«

»Wie?«

»Na, nach der Reihenfolge ihrer Ablaufdaten!«

»Wir müssen in acht Minuten bei Frau Winzig sein.«

Papa schaute noch nicht mal von seinen Prospekten auf.

»Ich kann nicht, tut mir leid, Robert, du siehst doch, dass ich hier aufräumen muss.«

Ja, das sah ich allerdings. Ich bekam eine unglaubliche Wut. Auf Papa, der unsere Wohnung mit unnützem Zeug vollstopfte und dabei noch so tat, als würde er aufräumen. Auf mich, weil ich Frau Winzig in die Wohnung gelassen hatte. Und auf Frau Winzig mit ihrem strunzdoofen Streuselkuchen.

»Bleib nicht zu lang.«

»Hä?«

»Na, ich denke, du willst runter zu Frau Winzig, Streuselkuchen essen!« Papa legte pfeifend einen Prospekt auf den anderen. Offenbar hatte er sich für ein Ordnungssystem entschieden.

Ich drehte mich um, ging aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Auf dem Flur zog ich meine Schuhe an. Vielleicht konnte ich Frau Winzig ja irgendwie dazu bringen, den Anblick unserer Wohnung aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Leider hatte ich weder Ahnung von Hypnose noch von Gehirnwäsche oder manipulativer Überredungskunst.

 

Frau Winzig hingegen ist im Überreden ganz groß. Aber das ahnte ich nicht. Sonst wäre ich sicher zu Hause geblieben. Und dann wäre meine Unterhose niemals auf dem Lehrerpult gelandet.

Dienstag, 8. August, 17.00 Uhr.1215 Stunden VDUHL.

An Frau Winzigs Tür hing ein vertrockneter grüner Kranz, der mit weißen und rosafarbenen Schleifen verziert war. Auf einem Namensschild stand in geschwungenen Buchstaben W. Winzig. Ich drückte auf den golden glänzenden Klingelknopf daneben. Es ertönte nicht nur ein einfaches Klingeln, sondern gleich eine ganze Melodie: DIIIIE-dumm-DIIE-dumm-DUMM-diiiie-DUMM!

Dann riss Frau Winzig die Tür auf. »Robertchen! Wie schön! Wo ist denn dein Vater?«

Ich schaute Frau Winzig tief in die Augen. »Sie haben nichts gesehen«, murmelte ich, »Sie haben nichts …«

»Wie bitte? Du musst deutlicher sprechen, Robertchen, nicht so nuscheln.«

»Sie haben nichts gesehen!«, sagte ich laut und deutlich.

»Was habe ich nicht gesehen?«

»Dass unsere Wohnung … äh, egal.« Ich gab es auf. »Mein Vater konnte leider nicht mitkommen. Er muss Cello üben.«

Frau Winzig lächelte. »Seltsam, ich höre ihn gar nicht spielen! Es ist doch sonst so hellhörig hier im Haus!«

»Ja, ähm … er macht gerade noch … äh … Trockenübungen. Da hört man nichts.«

Frau Winzigs rechte Braue bog sich nach oben. »Ach so. Na ja. Vielleicht ist es auch gar nicht schlecht, wenn wir zwei beide uns mal alleine unterhalten! Hereinspaziert, mein lieber Robert!«

Am liebsten wäre ich direkt wieder verschwunden. Aber mir fiel keine Ausrede ein. Also seufzte ich und ging hinein.

Ich war noch nie in Frau Winzigs Wohnung gewesen. Mein erster Gedanke war: Ach, so viel Platz ist hier, wenn nicht alles mit Kisten und Krempel vollsteht! Dann sah ich mich genauer um. Die Wände waren in einem hellen Rosa gestrichen. Auf einem weißen Tischchen mit gebogenen Beinen stand ein altmodisches goldenes Telefon. Es roch künstlich nach irgendwelchen Blumen.

»Wir setzen uns gemütlich in die Küche, was, Robertchen?« Frau Winzig machte eine einladende Handbewegung.