Die Rassistin - Jana Scheerer - E-Book
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Die Rassistin E-Book

Jana Scheerer

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Beschreibung

Nora Rischer sitzt im Behandlungsstuhl einer Kinderwunschpraxis, als eine E-Mail sie erreicht: Rassistischer Vorfall an unserer Universität. Sie ist neugierig, vorauseilend empört – und sie stutzt: Ist da etwa ihr eigenes Seminar in der Germanistik gemeint? Rischer ist erschüttert. In ihrem Kopf werden kritische Stimmen laut, eine innere Anklage beginnt: Hat sie sich als Dozentin tatsächlich rassistisch verhalten? Soll sie sich entschuldigen? Und weshalb? Aus ehrlichem Schuldbewusstsein oder um sich zu retten? Wird sie gecancelt, obwohl sie kein alter weißer Mann ist, sondern eine queere Frau, die sich bislang für linksliberal gehalten hat? »Die Rassistin« ist eine schwarze Komödie, die den Rückzug auf allzu bequeme Gewissheiten verweigert. Komisch und präzise nimmt die Autorin all die menschlichen Reflexe, Widersprüche und rhetorischen Geschütze unter die Lupe, die einen konstruktiven gesellschaftlichen Austausch über Diskriminierung so kompliziert machen.

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Seitenzahl: 219

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Jana Scheerer

Die Rassistin

Roman

Schöffling & Co.

Aus Transparenzgründen möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich den vorliegenden Roman nicht selbst verfasst habe. Trotz eines großzügigen Stipendiums des Deutschen Literaturfonds und viel guten Zuredens meiner Agentin, meines Verlegers und meiner Ehefrau ist es mir leider nicht gelungen, aus meinem Exposé zum Projekt »Die Rassistin« einen Roman zu machen. Ich bekam den Stoff und die Figur nicht in den Griff; hatte wohl auch zu viele Skrupel.

Von diesen Schwierigkeiten berichtete ich vor einiger Zeit einem guten Bekannten, dem Schriftsteller und Literatur­wissenschaftler Anton Ansbach. Er lud mich zum Kaffee ein, tröstete mich – und stand genau ein halbes Jahr später plötzlich lächelnd mit einer dicken Mappe unter dem Arm bei mir vor der Tür. Er habe da einfach mal was runtergeschrieben, sagte er, im Rahmen seiner Tätigkeit an der Universität habe er nämlich eine Sache am Rande mitbekommen, die gut zum Titel »Die Rassistin« passe.

Etwas befremdlich war es schon für mich, dass Anton aus meinem Titel und meiner Idee einen eigenen Roman entwickelt hatte, der vollkommen anders war als das, was mir vorschwebte. Aber immerhin gab es jetzt den Text, und er gefiel mir ganz gut. Anton schlug vor, mit dem Geld vom Literaturfonds und dem Vorschuss vom Ver­lag halbe­halbe zu machen und meinen Namen auf den Buchdeckel zu setzen. Bücher von Autorinnen, meinte er, gingen im Moment einfach besser und würden häufiger besprochen.

Antons Text habe ich eins zu eins übernommen und – im Sinne der Transparenz und zum Zweck der Kontextua­ lisierung – alle mir bekannten Kommentare und Hinweise aus Antons Umfeld miteinbezogen. Selbstverständlich kann ich für beiderlei Inhalt keine Verantwortung übernehmen.

 

Jana Scheerer, 46, gute Bekannte des Autors

Stimmt schon, ich würde lieber in einem versöhnlicheren Roman mitspielen.

 

Nora Rischer, 44, Hauptfigur

Es ist ja Antons Sache, was er schreibt, und ich judge auch eigentlich nicht gerne. Aber dass er als Protagonistin diesmal eine lesbische Cis-Frau nimmt, finde ich schwierig. Okay, Anton ist vierundvierzig, so wie die Hauptfigur, und er ist schwul – aber das ist doch nicht das Gleiche. Anton meint dazu, er könnte sich zum Beispiel bei der Szene in der Kinderwunschpraxis das Sitzen im gynäkologischen Untersuchungsstuhl gut vorstellen, weil er so oft beim Proktologen wäre, und da müsse er auch mit gespreizten Beinen auf so einen Stuhl. Aber woher will er wissen, ob das so ähnlich ist? Er hat doch den Vergleich gar nicht. Anus und Vulvina, das sind vollkommen verschiedene Welten.

 

Mia Z., 18, Nachbarstochter des Autors

Anton hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass er einen Roman aus dem Vorfall in meinem Seminar gemacht hat. Also, aus den Geschehnissen. Diesen Rassismusvorwürfen gegen mich. Die Geschichte ist schon ein paar Semester her, trotzdem wühlt es mich immer noch auf, wenn ich daran denke. Deshalb konnte ich mich auch bisher nicht überwinden, das Manuskript zu lesen. Fast bereue ich es, dass ich Anton damals ins Vertrauen gezogen habe. Er hat mir zwar versichert, dass zwischen seiner Hauptfigur Nora Rischer und mir keine Gemeinsamkeiten bestehen und mich niemand erkennen wird. Ich behalte mir trotzdem rechtliche Schritte vor.

 

Prof. Dr. Brigitte E., Universitätskollegin des Autors

Wissen Sie, was ich zu allen meinen Patienten sage? Ich sage: »Ich habe Humor, den brauche ich auch, denn ich schau den ganzen Tag in Ärsche.« Mit meiner humorvollen Art kommt allerdings nicht jeder klar, es haben mich sogar schon Patienten im Internet miesgemacht, nur wegen dem ehrlichen deutschen Wort »Arsch«! Na, das haben die umsonst. Der Herr Ansbach ist da anders, der kann noch lachen. Das muss er auch, schon wieder vergrößerte Hämorrhoiden, ich sag mal: Bei Herrn Ansbach kommen eben leider zwei Risikofaktoren zusammen. Er sitzt viel, und er ist schwul. Ist nicht böse gemeint, aber ist eben einfach so. Da muss der Anus, auf gut Deutsch gesagt, so einiges einstecken. Ansonsten ist Herrn Ansbachs Arsch top, das habe ich ihm auch genauso gesagt, er sitzt nur eben einfach zu viel, ich sag mal: Das lässt sich in dem Beruf wohl nicht vermeiden. Trotzdem sollte er Pausen einlegen, zwischendurch aufstehen, den Beckenboden entlasten, aber als ich ihm das bei seinem letzten Besuch vor einigen Monaten mal so vorsichtig angedeutet habe, hat er nur abgewunken, das ginge zurzeit nicht, er sitze nämlich gerade an der Korrektur von seinem neuen Roman. »Und, worum geht’s?«, habe ich gefragt. Wenn ich das Proktoskop einführe, erkundige ich mich nämlich immer ganz gern nach Hobbies, Beruf oder Enkelkindern, das lenkt die Leute ab. Bei den Antworten höre ich normalerweise gar nicht richtig hin – aber bei Herrn Ansbach habe ich dann doch aufgehorcht. In seinem neuen Roman Die Rassistin geht es wohl um diese ganze Beleidigte-Leberwurst-Entschuldigungs-Hysterie zurzeit, wer was gesagt haben soll, wer ein Wort benutzt haben soll, das nicht mehr benutzt werden sollte, und wer sich dafür sofort entschuldigen muss und wer sich dafür tatsächlich entschuldigt und wer nicht und wer was darüber denkt und wer sich davon jetzt wieder verletzt fühlt. Haargenau so hat Herr Ansbach das zwar nicht formuliert, er war eigentlich fast etwas einsilbig, als ich seine Hämorrhoidalknoten verödet habe, aber ich habe schon verstanden, wie er das meint. Und ich sag mal: Genauso ist es, der Herr Ansbach liegt da völlig richtig, diese ganzen beleidigten Leutchen bräuchten dringend ein paar echte Probleme, dann wäre der Quatsch bald vorbei. Zum Beispiel sollten die mal den ganzen Tag in Ärsche schauen müssen … Spaß beiseite, ich habe das Buch bis jetzt noch nicht gelesen, bin noch nicht dazu gekommen, aber ich finde es gut, es wurde wirklich Zeit, dass da mal einer differenziert was dazu schreibt, so wie Herr Ansbach. Wir brauchen doch dringend was Differenziertes zu diesem ganzen hysterischen Blödsinn. Aber so richtig differenziert, mit Schmackes!

 

Dr. med. Dieter L., Proktologe des Autors

Anton hat mir sein neues Buch Die Rassistin geschenkt (er schenkt mir all seine Bücher, mit Widmung), aber ich habe noch nicht reingeschaut, ich hatte noch nicht die Zeit dazu. Ich finde es jedenfalls wirklich gut, dass Anton sich damit auseinandersetzt, wie verbreitet Rassismus in Deutschland trotz aller Bemühungen leider immer noch ist.

 

Nina T., 43, beste Freundin des Autors

Mir erscheint der Roman ziemlich problematisch. Ich habe da Bauchschmerzen. Wenn man mit einem Text in einen so sensiblen Diskurs eingreift, wenn man das Risiko eingeht, Menschen vor den Kopf zu stoßen, Menschen zu verunsichern, Menschen zu verletzen – dann stellt sich für mich die Frage: Bringt dieser Text uns überhaupt weiter, ist dieser Text hilfreich? Das würde ich in diesem Fall eher mit Nein beantworten. Ich befürchte, dass der Roman sogar Beifall von der falschen Seite erhalten wird. Leider ist Anton auf keinen meiner vorsichtigen Änderungsvorschläge eingegangen. Und der Verleger hat darauf bestanden, dass wir das Buch genau so bringen. Er ist ganz begeistert von Antons »literarischem Formbewusstsein«, von seinem »virtuosen Humor vor dem komplexen Hintergrund zutiefst menschlicher Unzulänglichkeit.« Ist vielleicht auch ein Generationending, Anton und er sind ja beide weiße Männer Mitte vierzig. Oder der Verleger hofft einfach auf einen kleinen Skandal. Tja, er muss wissen, was er tut.

 

Hannah B., 31, Lektorin

Es wäre mir lieber, wenn Anton sich nicht so weit aus dem Fenster lehnen würde. Das gibt doch Ärger, an der Uni auf jeden Fall und vielleicht auch darüber hinaus. Und unserer Ehe hat das Buch ohnehin schon geschadet, weil Anton während des Schreibens partout wollte, dass ich als Leser »mit Migrationshintergrund« meine Meinung dazu abgebe. Nur weil meine Großeltern aus Italien nach Deutschland gekommen sind, muss ich jetzt seinen persönlichen Sensitivity Reader spielen. Früher hat Anton mich um meine literarische Meinung zu seinen Texten gebeten.

 

Fabio A., 41, Ehemann des Autors

Anton AnsbachDie Rassistin

Roman

1.

Beginn der Untersuchung

Mittwoch, 10. Januar, 12:05 Uhr, Berlin-Frohnau

 

Auch wenn die hier untersuchten Ereignisse etwas anderes nahelegen, wäre es falsch, Nora Rischer einen grundsätzlichen Mangel an Achtsamkeit, Rücksicht oder Empathie zu attestieren. Rischer vermeidet Flugreisen –

Jedenfalls die Kurzstrecken!, ruft Rischer.

Rischer verspeist keine Lebewesen –

Außer manchmal Nordseekrabben, murmelt Rischer.

Rischer fährt nicht Auto –

Höchstens im Urlaub!

Und Rischer benutzt keine Kaffeekapseln –

Nur im Büro.

Sie ist ein guter Mensch mit einem schlechten Gewissen. Alles Unrecht der Welt lastet auf ihr, als wäre es ihre Schuld. Als sie vor einigen Jahren bei einem USA-Aufenthalt in einem Supermarkt an einem Regal die Beschriftung Guilt Free Zone entdeckte (es befanden sich ausschließlich zuckerfreie Produkte darin), kam sofort der Wunsch in ihr auf, ein Brett auszuräumen und sich in das Regal zu betten. Eine schuldfreie Zone wäre das Paradies für Rischer. Sie ist also weit davon entfernt, sich über die Folgen ihres Handelns keine Gedanken zu machen.

Rischer faltet die Arme vor ihrer mit einer weißen Bluse bekleideten Brust, blickt auf ihre nackten, blass-blauen Beine und nickt.

Allerdings fragen sich viele von uns, ob Rischers generalisiertes, abstraktes schlechtes Gewissen nicht auch der Abwehr von Schuld dienen könnte. Übertüncht Rischer das Nagen der Dinge, für die sie wirklich und tatsächlich verantwortlich ist, mit einem schlechten Gewissen wegen jener Dinge, an denen sie zumindest nicht unmittelbar schuld ist – und das sich deshalb viel leichter beruhigen lässt?

Äh, wie bitte?

Vorsicht, Frau Rischer, lehnen Sie sich nicht zu weit vor! In diesen Untersuchungsstühlen verliert man schnell das Gleichgewicht.

Rischer schüttelt den Kopf. Mache ich mich jetzt auch noch schuldig damit, dass ich mich schuldig fühle? Kann ich noch irgendwas sagen, tun, fühlen, ohne gleich an irgendetwas schuld zu sein? Rischer haut mit der schlaffen linken Faust auf ihren nackten, schlecht rasierten Oberschenkel. Und wo man sich überall rasieren muss!, schimpft Rischer, und wenn man sich mal wo ein paar Haare wachsen lässt, ist das gleich eine identitätsbildende Maßnahme. #letitgrow!

Es ist diese für Rischer untypische Wut, die uns alarmiert hat, die uns gezeigt hat, dass hier eingegriffen, geholfen werden muss, dass an diesem kalten Januartag in diesem energetisch sanierten Gebäude, in diesem sanft abgedunkelten Behandlungszimmer, in diesem modernen Untersuchungsstuhl, unter diesem Mobile aus saftigen Äpfelchen, Blumen und Bienen und eifrigen Störchen, eine eigentlich einfühlsame und wache Person liegt, der es aber gerade nicht gutgeht, die sich unverstanden fühlt, die nicht versteht, die nicht mehr mitkommt, die dabei ist, abzurutschen, wegzugleiten, der einiges erklärt werden muss. Denn es ist keine gesunde Wut, die Rischer fühlt, diese Wut dient keinem guten Zweck, nein, diese Wut ist nicht progressiv, sondern – wir müssen es leider so sagen, Frau Rischer – diese Wut ist rückwärtsgewandt und egozentrisch.

Die Lektorin

Dieser passiv-aggressive Tonfall der Wir-Stimme ist definitiv problematisch. Das wirkt als Geste des Autors in sich auch wieder passiv-aggressiv, finde ich. Und so holt man doch die Leser*innen nicht ab.

Prof. Dr. Brigitte E.

Gott sei Dank, diese Nora Rischer hat ja wirklich gar nichts mit mir gemein.

Der Proktologe des Autors

Ich sag mal: Das Buch habe ich mir anders vorgestellt.

Die beste Freundin des Autors

Ich dachte, es geht um Rassismus?

Unsinn! Rischer wackelt mit den violett angelaufenen Zehen. Nicht meine angebliche Wut hat euch »alarmiert«, sondern ich selbst habe euch vor fünf Minuten engagiert, nachdem ich die E-Mail bekommen habe. Weil ich nämlich vollkommen ehrlich sein will, weil ich nämlich nichts Falsches – nichts Unrichtiges, korrigiert Rischer sich – nichts Unrichtiges annehmen will in Bezug auf … auf den Vorfall, um den es in dieser E-Mail geht. Die Sache. Die Angelegenheit. Die Begebenheit. Die Ereignisse. Die Geschehnisse … Rischers Zehen kommen aus dem Rhythmus, verhaken sich fast, Rischer verstummt.

Rischer denkt gerade über etwas nach, das sie nicht mit uns teilen möchte, stellen viele von uns besorgt fest.

Aber das muss sie auch nicht. Wir sind auf Rischers Auskünfte nicht angewiesen, denn wir sprechen zwar mit Rischer, hören uns ihre Version des Vorfalls – der Geschehnisse, murmelt Rischer – also: der Geschehnisse an, doch einige von uns haben auch Zugang zu Rischers Gedanken und Gefühlen. Sie gewährt ihn, weil sie ganz sicher gehen möchte, vollkommen ehrlich zu sein, nicht nur in Bezug auf ihr Verhalten und die äußeren Umstände, sondern auch in Bezug auf ihre inneren Einstellungen und Motivationen.

Seht ihr, ich habe euch engagiert, Rischer triumphiert, und nicht umgekehrt, ihr gebt es also zu, und zwar zum Faktenchecken, und nicht, um Behauptungen über mich an den Haaren herbeizuziehen!

Nichtsdestotrotz ist es doch Fakt, Frau Rischer, dass Sie wütend sind?

Ja, aber nicht, weil ich verzweifelt bin oder abgehängt oder weil mir was erklärt werden muss!

Nichtsdestotrotz ist es doch Fakt, Frau Rischer, dass Sie die Einordnung der Geschehnisse durch das Referat gegen Rassismus des AStA noch nicht so ganz nachvollziehen können?

Ja, weil das alles Unsinn ist!

Die Empfindungen der Betroffenen erscheinen Ihnen also unsinnig, Frau Rischer? Das ist Fakt?

Ja, weil … Rischer blickt auf das Mobile. Die Störche, die Äpfel, die Bienen und die Blumen haben an Schwung verloren. Ist eigentlich auch egal. Ich bin gar nicht wütend.

Rischer ist also nicht mehr wütend –

Ich war auch nie wütend!

Na gut, wenn es Sie glücklich macht, Frau Rischer, erklären wir dies zum Fakt: Rischer war auch nie wütend. Sie sehen, wir sind entgegenkommend.

Weil es Fakt ist!, beharrt Rischer. Dass ich nie wütend war.

Wie Sie wünschen, Frau Rischer: Weil es Fakt ist. Können wir uns nun der Untersuchung des Vorfalls zuwenden?

Es ist nicht deshalb Fakt, weil ich es mir wünsche, sondern: Weil. Es. So. Ist.

Wie Sie wollen, Frau Rischer, weil es so ist.

Nicht, weil ich es will, sondern weil –

Unter uns entsteht Unruhe, Ungeduld. Warum ist Rischer, die bisher jede soziale Realität für konstruiert hielt, plötzlich so wild auf Fakten? Hat sie doch bis vor Kurzem noch bei allen Gelegenheiten mit einem Glas Rotwein in der Hand verkündet: Fakten sind heutzutage auf jede Party eingeladen, saufen dann zu viel und desavouieren sich.

Ja, Rischer winkt ab, aber das war vor –

Vor dem Vorfall, Frau Rischer?

Den Geschehnissen, korrigiert Rischer, und wir sollten Verständnis dafür haben, dass sie so auf diesem Wort besteht. Erstens wäre es sehr viel angenehmer für Rischer, wenn der Vorfall kein Vorfall wäre, und zweitens hat sie in der Situation den Vorfall gar nicht als Vorfall erkannt.

Das stimmt, Rischer nickt versöhnt, und das ist doch mal ein interessanter Fakt, das weist doch auf etwas hin: Mir ist von der betreffenden Seminarsitzung ein vollkommen anderes Detail besonders in Erinnerung geblieben. Rischer bemerkt, wie weit sie im Untersuchungsstuhl nach unten gerutscht ist, und stemmt sich mit den Füßen hoch, woran sie sich nämlich erinnere, sagt Rischer, sei der in der überartikulierten Aussprache süddeutscher Dialektsprecher geäußerte Satz – Rischer atmet ein, gibt ihrem Gesicht einen bieder-harmlosen Ausdruck: Dieses fucking Seminar hat – Rischer spricht langsam, laut, überdeutlich – Dieses fucking Seminar hat mit dem Real Life sowas von überhaupt nichts zu tun!

Rischer macht eine Pause, erwartet ein Lachen, erhofft ein Lachen, ein Gemeinschaft stiftendes Lachen vielleicht, doch weshalb, Frau Rischer, sollten wir uns über Ihre möglicherweise verletzend wirkende Imitation dieser Sprechweise amüsieren?

Ich höre da aber doch einige lachen, sagt Rischer. Ganz im Hintergrund.

Sie täuschen sich, Frau Rischer, da lacht niemand.

Dann eben nicht. Rischer räuspert sich, spricht weiter, schneller, schwunglos: Dieses fucking Seminar hat mit dem Real Life sowas von überhaupt nichts zu tun. Ein Studierender in der ersten Reihe, berichtet Rischer, einer von diesen selbstbewusst geschniegelten, einer von denen mit der Aura eines angehenden Investmentberaters, ein Studierender der Art, die es früher in den Geisteswissenschaften gar nicht gab, oder höchstens in der Geschichtswissenschaft, dieser Studierende jedenfalls hat das vor der Sitzung zu seiner Sitznachbarin gesagt. Ich habe in dem Moment gerade mein Notebook an den Beamer angeschlossen, also nach unten geschaut, trotzdem muss dem Studierenden klar gewesen sein, dass ich ihn hören kann – aber er hat nicht etwa aggressiv oder aufsässig gesprochen, nein, nein, sondern in einem leicht resignativen, locker-verbindlichen Ton, so wie man über den Klimawandel plaudert oder die Verspätungen der Deutschen Bahn. Rischer schüttelt ungläubig den Kopf. Und als ich das Seminar dann eröffnet habe, ging schlagartig eine interessante Veränderung mit ihm vor: Eben hatte er noch auf seinem Stuhl gehangen wie ein nasser Sack auf dem Sofa, nun straffte er sich plötzlich – Rischer richtet sich im Untersuchungsstuhl auf, so gut es eben geht –, saß da, als hätte er einen Stock verschluckt, hielt einen blauen Füllfederhalter – Rischer führt Daumen und Zeigefinger zusammen – schreibbereit in der Hand, nickte verstehend, meldete sich mit steil zur Decke gerecktem Finger, schnipste sogar mehrmals ungeduldig, als ich ihm nicht sofort das Wort erteilte, und lieferte verbindlich-bemühte Beiträge. Nur um, sobald die Sitzung beendet war, wieder in sich zusammenzusinken und überlaut festzustellen: Endlich fucking vorbei!

Rischer lehnt sich in ihren Untersuchungsstuhl zurück und seufzt: Immerhin hat dieser Teilnehmende das Thema des Seminars gleich praktisch umgesetzt. Es geht dabei nämlich darum, wie wir durch unser Verhalten soziale Situationen konstruieren.

»Frau Rischer?«

»Ja?«

»Die Frau Doktor ist gleich bei Ihnen, dauert nur noch einen kleinen Moment. Die Eisprungspritze haben Sie ja heute Morgen gesetzt, oder?«

Rischer nickt, »ja, heute Morgen um fünf«, die Tür schließt sich, das sei es, woran sie sich von der Sitzung erinnere, sagt Rischer. Der angebliche Vorfall hingegen, der sei ihr gar nicht aufgefallen. Mit den Chinesen sei nichts, gar nichts Bemerkenswertes vorgefallen, also: geschehen – mit den internationalen Studierenden aus China, meine ich, korrigiert Rischer sich, da war absolut nichts, alles ganz normal, wie immer eigentlich.

Heute um 11:15

[email protected]

An: [email protected]

Betreff:Rassistischer Vorfall an unserer Uni

In einer Lehrveranstaltung am Institut für Germanistik kam es gestern zu einem rassistischen Vorfall. Eine Lehrperson missbrauchte ihre strukturelle Macht, um drei internationalen Studierenden auf Grundlage der Ethnizität die Lernfähigkeit abzusprechen. Die rassistische, autoritäre und unsensible Art der Lehrperson führte bei den drei Studierenden zu tiefen Verletzungen und verunsicherte auch andere Teilnehmer*innen des Seminars. Rassismus darf es an unserer Universität nicht geben! Wir fordern deshalb eine rasche Aufklärung des Vorfalls, eine öffentliche Entschuldigung der Lehrperson und entsprechende Konsequenzen der Universitätsleitung.

Diese Nachricht geht an alle Studierenden und Lehrenden der Universität sowie an die Hochschulleitung und ausgewählte Medien.

Mit lieben Grüßen

Das Referat gegen Rassismus des AStA

Prof. Dr. Joachim Hollerbruch, Lehrstuhl für Sprachphilosophie

Mit lieben Grüßen, das Referat gegen Rassismus des AStA! Liebe Grüße, darunter machen die’s heutzutage ja nicht mehr! Das ist wie bei Starbucks, der kleinste Kaffee heißt Tall, dann kommt Venti, dann Grande. Nee, umgekehrt. Eigentlich gehe ich auch gar nicht zu Starbucks.

Der Literaturkritiker

Spätestens an dieser Stelle biegt der Roman in Richtung Farce ab. Eine so plumpe Parodie des – zugegebenermaßen oftmals ein wenig technokratischen – Stils solcher offener Briefe und Petitionen ist dem Anspruch des Autors, eine differenzierte Darstellung aktueller Diskurse zu leisten, nicht angemessen.

Prof. Dr. Brigitte E.

Ich kann nicht fassen, dass Anton die Original-E-Mail in seinem Buch verwendet! Dass er die überhaupt noch hat! Den Moment, als ich den Betreff der Mail gelesen habe, werde ich nie vergessen. Rassistischer Vorfall an unserer Uni – ich habe nicht im Traum gedacht, dass ich damit gemeint sein könnte. Ich habe die Mail geradezu mit Neugierde geöffnet, mit einer klammheimlichen Vorfreude am Skandal. Ja, das ist mir von diesem Moment besonders in Erinnerung geblieben. Das hat mich im Nachhinein richtig beschämt.

Die beste Freundin des Autors

Ja, so ist es leider. Rassismus gibt es überall.

2.

Rischer schaut irritiert um sich, sie war nicht darauf eingestellt, so früh mit der E-Mail konfrontiert zu werden, glaubte sie in ihrem Mobiltelefon verborgen, hoffte wohl, uns noch ein wenig hinhalten zu können. Aber so viel Zeit haben wir nicht, Frau Rischer.

Rischer nickt verstehend. Rischer lacht überlaut. Wisst ihr, was wirklich absurd ist? Als ich vorhin gemerkt habe, dass es noch dauert, dass ich nur, damit eine Person weniger das Wartezimmer verstopft, schon mal halbnackt hier hereingesetzt worden bin, und als ich aus Langeweile auf mein Handy geschaut habe und da die Mail in meinem Postfach war mit dem Betreff Rassistischer Vorfall an unserer Uni – da habe ich nicht nur Bestürzung gefühlt. Nein, ich habe die Mail mit einer Art freudigem Interesse geöffnet.

Rischer fragt sich, woher letzteres Gefühl kam. Sicher ist es nicht so, dass sie sich an rassistischen Vorfällen erfreut, ganz im Gegenteil. Nein, es war ein Gefühl des Einverständnisses, das sie beim Öffnen der Mail erfüllte; eine Sicherheit, dass rassistische Vorfälle an ihrer Universität nicht akzeptiert werden. Vielleicht war auch ein wenig Neugierde dabei, eine Prise Schadenfreude und ein Funken vorauseilender Parteinahme, denn dass sie grundsätzlich auf der Seite derer steht, die rassistische Vorfälle bekämpfen, war ja klar.

Jedenfalls bis vor acht Minuten.

Dass es um mein Seminar geht, flüstert Rischer, um das Referat der drei Studierenden aus China – das habe ich beim Lesen gleich nach der dritten Zeile erkannt.

So wie schon vor acht Minuten schießt diese Erkenntnis jetzt erneut von Rischers Kopf über das Zwerchfell und den Bauch bis ins Steißbein hinunter und schickt von dort eine Welle aus Scham, Furcht, Unglaube und Wut zurück nach oben. Doch welchen Impuls löste und löst diese Welle in Rischers Hirn aus? Will Rischer in sich gehen und überlegen, ob die Kritik des AStA berechtigt ist?

Na ja, das natürlich auch, murmelt Rischer.

Nein, Rischers erster Impuls war, mit zitternden Fingern die Worte Rassistischer Vorfall, Uni Berlin und Nora Rischer zu googeln und erleichtert festzustellen, dass diese Kombination null Treffer erbrachte.

Rischer greift schnell ihr Telefon, googelt noch mal, diesmal mit für das Display fast zu feuchten Fingerspitzen, und, ja: Immer noch null Treffer.

Für Rassistischer Vorfall und Uni Berlin vermehren sich die Treffer allerdings rasant, Frau Rischer. Zahlreiche Studierende drücken ihr Unbehagen und ihre Empörung aus. Das Hashtag #UniBerlinIckkotze scheint zu trenden. Es wird eine Entschuldigung gefordert –

Aber nicht von allen, ruft Rischer. Nicht alle fordern eine Entschuldigung.

Stimmt, Frau Rischer, hier ist auch ein Blogbeitrag mit dem Titel Rassistischer Vorfall an der Uni Berlin: Warum eine Entschuldigung nicht ausreicht.

Rischer wirkt bestürzt, stellen viele von uns fest.

Und damit liegen Sie ganz im Trend, Frau Rischer. Auch diverse Satiriker*innen, Blogger*innen und Politiker*innen haben bereits ihrer Bestürzung über den Vorfall Ausdruck verliehen, und – ja, tatsächlich: Sogar die Beauftragte für Diskriminierungsfreiheit der Uni Berlin hat sich schon in den sozialen Medien zu Wort gemeldet, allerdings zeigt sie sich erst mal nur von der »Schilderung« des Vorfalls entsetzt und fordert Aufklärung.

Immerhin ahnt bisher niemand, dass es um mich geht, Rischer atmet langsam aus, immerhin. Immerhin.

An der Klärung dieser Frage wird allerdings mit Nachdruck gearbeitet, Frau Rischer. Es gibt eine Online-Petition mit der Forderung: Rassistischer Vorfall an der Uni Berlin: Die Lehrperson soll zu ihrem Fehler stehen und sich entschuldigen.

Eine Petition? Rischer kann es kaum glauben, aber ja, da auf der Petitionsplattform steht sie, zwischen Rettet das Hallenbad Holltrup und Fünfhundert Bundestagsabgeordnete sind genug. Hundertachtundsechzig Unterschriften bisher.

Hundertachtundsechzig? Das sind ja nicht viele, beruhigt Rischer sich.

Hundertneunundsechzig, Frau Rischer. Hundertsiebzig. And counting.

Rischer schnauft durch die Nase, verärgert, das ist ein komplett unsinniges Anliegen für eine Petition, findet sie, Gewissensentscheidungen von Individuen werden doch aufgrund von Argumenten getroffen, von mir aus auch aufgrund von Vorurteilen und Emotionen, aber jedenfalls in inneren Prozessen, und nicht durch Mehrheitsentscheid – und doch spürt Rischer es schon, das Drücken der hundertsiebzig, nein, hundertdreiundsiebzig Stimmen. Rischer wischt über ihr Telefon, als könne sie so die hundertfünfundsiebzig Stimmen wegwischen. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob an dem Vorwurf was dran ist, sagt Rischer und legt das Telefon auf ihrem Bauch oberhalb einer kleineren Speckfalte ab, sonst hätte ich euch ja gar nicht gerufen, behauptet Rischer, ja, wenn der Vorwurf berechtigt ist, dann werde ich mich natürlich entschuldigen – aber da ist nichts dran, wirklich nicht!, beteuert Rischer, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, ich habe einfach nur gesagt, wie’s ist, ich wollte den Studierenden aus China helfen, aber heute sind alle so überempfindlich, alle fühlen sich immer gleich verletzt, und –

Der Proktologe des Autors

Genau! Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

Die Lektorin

Tja.

Rischer verstummt.

3.

Vielleicht stellen Sie sich besser erst mal vor, Frau Rischer. Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.

Rischer hält die Zehen still. Rischer nickt.

Ja … also: Ich heiße Nora Rischer und bin vierundvierzig Jahre alt. Ich bin in Stuttgart geboren und in Hannover aufgewachsen. Ich bin promovierte Sprachwissenschaftlerin. Zurzeit vertrete ich den Lehrstuhl für Soziolinguistik am Germanistischen Institut der Universität Berlin. Mein Spezialgebiet ist die ethnomethodologische Konversationsanalyse. Ich interessiere mich also dafür, wie Menschen miteinander interagieren.

Einige von uns nicken erfreut, sie sind auch aus Stuttgart oder auch aus Hannover oder auch aus Berlin oder auch promoviert oder auch vierundvierzig oder haben auch Linguistik studiert oder interessieren sich auch dafür, wie Menschen miteinander interagieren – aber nicht alle von uns sind mit Rischers Vorstellung einverstanden. Einige finden, dass Rischer entscheidende Fakten ausgelassen hat.

Rischer streckt den Hals in die Richtung, aus der die kritischen Stimmen zu kommen scheinen, na, was kann ich denn noch über mich sagen? Ach so, na klar, ich weiß, was ihr meint: Ich bin mit einer Frau zusammen.

Dieser Fakt erstaunt viele von uns, sie hätten Rischer nicht für queer gehalten. Das liegt gar nicht unbedingt an dem langen roten Haar oder dem rosaglänzenden Lipgloss oder der sorgsam aufgetragenen Wimperntusche oder der taillierten Bluse – nein, Rischer gibt einfach einen heterosexuellen Vibe ab, hat eine heterosexuelle Aura, die sich vermutlich mit keinem Holzfällerhemd der Welt kaschieren ließe.

Ja, ja, ich weiß, Rischer nimmt uns diese Wahrnehmung nicht übel, sie kenne das schon, Rischer winkt freundlich ab, sie werde fast immer als heterosexuell gelesen, und Rischer verdenkt das wirklich niemandem, Rischer zuckt die Schultern, es ist ja offensichtlich, dass ich nun mal nicht gerade dem Prototyp des Begriffs »Lesbe« entspreche. Das hat nichts mit Vorurteilen zu tun, findet Rischer, denn aus Sicht der Prototypensemantik – sie betrachtet das gerne ganz nüchtern aus semantischer Perspektive –, aus Sicht der Prototypensemantik gebe es für jeden Begriff nun mal typische und weniger typische Vertreter, sagt Rischer. In der allgemeinen Vorstellung des Begriffs »Vogel« zum Beispiel stehe das Rotkehlchen im Zentrum und der Pinguin ganz außen. Rischer lächelt. Ich bin also gewissermaßen der Pinguin unter den Lesben.

 

Aber es gibt doch eigentlich ziemlich viele homosexuelle Pinguine?, wirft jemand ein, ein anderer ruft: Unter den Heten als Rotkehlchen herumzuflattern, ist ja auch ganz bequem, was, Frau Rischer? – doch Rischer verliert plötzlich das Interesse an dieser Analogie.

So geht es auch vielen von uns. Rotkehlchen? Pinguine? Ernsthaft jetzt? Rischer soll sich endlich richtig vorstellen!

Rischer kaut auf ihrer Unterlippe herum. Ja, was wollt ihr denn noch hören? Vielleicht Hobbys? Ich schreibe gerne Gedichte.

Diese Information entlockt vielen von uns ein Lächeln, einigen ein anerkennendes (auch sie schreiben Lyrik), anderen ein belächelndes Lächeln (Gedichte schreiben – ist