Geheimnisse sind unser Geschäft - Jana Scheerer - E-Book

Geheimnisse sind unser Geschäft E-Book

Jana Scheerer

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Beschreibung

Der neuste Fall führt die Detektei Donnerschlag nach Venedig! Dort gehen in einer Karaoke-Bar namens ›Der Teufel mit den drei goldenen Haaren‹ geheimnisvolle Dinge vor sich. Ob der als Teufel verkleidete Barbesitzer etwas mit den Gelddiebstählen zu tun hat, die sich in der Stadt seit Kurzem häufen? Der Täter scheint zumindest eine Vorliebe für Märchen zu haben, denn er hinterlässt nach jedem Raub rätselhafte Botschaften mit Märchenzitaten. Und dann finden Harald und seine beiden Detektivkolleginnen heraus, dass Venedig in großer Gefahr schwebt!

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Seitenzahl: 253

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Jana Scheerer

Geheimnisse sind unser Geschäft

Aus den Akten der Detektei Donnerschlag

Mit Illustrationen von Saskia Diederichsen

Außerdem von Jana Scheerer bei WooW Books erschienen:

Gefahr ist unser Geschäft (Band 1)

Geister sind unser Geschäft (Band 2)

Gauner sind unser Geschäft (Band 3)

Als meine Unterhose vom Himmel fiel

 

Arche Atrium AG, Imprint WooW Books, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Jana Scheerer

© Cover und Illustrationen: Saskia Diederichsen

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96177-595-8

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

Kapitel 1In dem meine Kollegin zur Stolperfalle wird, ich kein Croissant esse und Frau Dobbsen eine schlechte Nachricht erhält.

Es war ein Oktobermorgen wie aus der Weichspülerwerbung: duftend, warm und einschläfernd. Ich saß in meinem bescheidenen venezianischen Palästchen auf meinem hellblauen Himmelbett an meiner Reiseschreibmaschine und notierte die Eindrücke der beiden vergangenen Tage. Vorgestern die lange Zugfahrt von Ruckelnsen nach Venedig. Und gestern dann der erste Tag in dieser Stadt voller Brücken, Kanäle, Eiscreme und Touristen.

Ich plante, die ganzen Herbstferien hier in meinem kleinen Palazzo zu verbringen. Das Haus hatte zwölf Zimmer, die hohen Decken waren mit Ornamenten verziert, und die riesigen Fenster gingen direkt auf den wichtigsten Kanal Venedigs hinaus, den Canal Grande. Ein Blick nach draußen zeigte mir, dass dort schon jede Menge los war. Die Sonne spiegelte sich auf dem Wasser, Gondeln stießen fast zusammen, Wasserbusse hupten, und Motorboote kurvten mit halsbrecherischem Tempo durch das Chaos hindurch.

Ich gähnte.

Ein Klopfen riss mich aus meinen Betrachtungen.

»Ja, bitte?«

Es war mein Butler. Er steckte seinen Kopf zur Tür herein und sagte: »Dös Frühstöck öst im Speisözimmör servört!«

»Danke, Ortlieb, ich komme gleich«, antwortete ich.

Mein Butler nickte und zog sich höflich zurück.

Na gut, na gut, na gut: Das war natürlich nicht mein Butler, sondern Ortlieb, der Butler der Familie meiner Detektiv-Kollegin Trix Dobbsen. Und es war natürlich auch nicht mein Palast, sondern ein historischer venezianischer Palazzo, den Trix’ Vater gerade renovierte und in dem wir deshalb wohnen durften. Das hellblaue Himmelbett war also auch nicht meins.

Aber wenigstens die Reiseschreibmaschine gehörte mir! Sie war ein Geschenk meiner Großmutter. Ich verreise nämlich ungern ohne Schreibmaschine.

Und auch mein Magen gehörte mir selbst, woran er mich jetzt mit einem laut vernehmlichen Knurren erinnerte. Also auf zum Frühstück! Ich stellte die Schreibmaschine beiseite, schlug die Decke zurück, zog meinen Mantel über den Schlafanzug, setzte den Hut auf und machte mich auf den Weg.

Ich kam allerdings nicht weit. Auf dem dicken Teppich vor meiner Zimmertür lag ein Hindernis: meine Kollegin Wiebke.

»Äh, Wiebke?«, sagte ich. »Liegst du gut?«

»Grmpf.« Wiebke rappelte sich auf.

»Hast du vor meiner Tür geschlafen, um mich in der Nacht zu beschützen?«, fragte ich. »Das ist aber lieb von dir!«

Wiebke klopfte sich den Staub von der Hose und lächelte tatsächlich ein bisschen. »Nee, ich habe mich hier gerade eben erst hingelegt. Oder besser gesagt: Ich wurde hingelegt.«

»Mauhauhauhauhaunz!«, kam es von irgendwoher.

Ich kombinierte: »Du bist über Miss Moneypenny 2.0 gestolpert?«

Wiebke nickte. »Sie ist mir direkt zwischen die Füße gesprungen. Diese Mistkatze!«

Ich sah meine Kollegin überrascht an. Solche Ausdrücke benutzte sie sonst nicht.

»Ist doch wahr, das macht die Blödkatze doch extra!«, schimpfte Wiebke. »Wo ist sie denn jetzt hin?«

Ich sah mich um. Von der Blödkatze keine Spur.

»Wahrscheinlich stimmt schon wieder was mit ihrer Programmierung nicht«, vermutete Wiebke. »Trix sollte sofort Fabia anrufen.«

Bei Miss Moneypenny 2.0 handelte es sich um eine Roboterkatze. Fabia Zanetti, Trix’ italienische Patentante, hatte sie Trix ausgeliehen. Fabias Firma Robo-Amico stellte Robotertiere aller Art her. Miss Moneypenny 2.0 sollte Trix über die Trennung von ihrer echten Katze hinwegtrösten, die in Deutschland geblieben war. Die original Miss Moneypenny wohnte zurzeit bei meiner Großmutter und vergnügte sich dort mit ihrer Katzenfreundin Fräulein Karnelia.

»Diese Schrottkatze«, schimpfte Wiebke weiter.

Ich hatte den Verdacht, dass Wiebke Miss Moneypenny 2.0 deshalb so nervig fand, weil sie selbst gerne ein Schnucki MäcGaffin 2.0 gehabt hätte. Wir waren erst zwei Tage von zu Hause weg, aber es war Wiebke deutlich anzumerken, wie sehr sie ihr Lieblingsschaf vermisste. Ich fragte mich, wie Wiebke das weitere zehn Tage aushalten sollte – so lange dauerten unsere Herbstferien noch.

»Miss Moneypenny 2.0 ist keine Miezekatze, sondern eine Miesekatze!«, stellte Wiebke fest.

»Mauhauhauhauhaunz!« Die Miesekatze schien nur auf dieses Stichwort gewartet zu haben. Sie sprang von einem Schrank herunter, rannte Wiebke und mich beinahe um und sauste davon.

»Wetten, dass sie jetzt zu Trix läuft, ein unschuldiges Gesicht macht und sich ausgiebig kraulen lässt? Diese Schrottkatze!« So langsam gingen Wiebke wohl die Katzenschimpfwörter aus. Sie lächelte und sagte: »Aber jetzt frühstücken wir! Ich lasse mir den schönen Tag nicht von dieser Ramschkatze verderben.«

Ich kombinierte: Es war ihr also doch noch ein Schimpfwort eingefallen.

 

Als wir das Esszimmer betraten, thronte auf Trix’ Schoß tatsächlich Miss Moneypenny 2.0 und schnurrte. Mit ihrem fluffigen weißen Fell und den glitzernden grünen Augen wirkte die Roboterkatze täuschend echt. Nur die Geräusche des Elektromotors verrieten, dass es sich um ein künstliches Tier handelte.

»Guten Morgen«, begrüßte Trix uns. Sie trug ihre Schuluniform: eine weiße Bluse, ein blaues Jackett und eine blaue Hose.

»Gut geschlafen?« Trix’ Vater schaute hinter seiner Zeitung hervor. Wie immer musste ich beim Anblick von Herrn Dobbsen ein Lachen unterdrücken. Anders als Trix war er blond, klein und dick – aber er hatte haargenau die gleiche Nase wie Trix, sodass es mir vorkam, als hätte er sich sein Riechorgan bei seiner Tochter ausgeliehen.

»In Venedig schläft man immer gut«, sagte Trix’ Mutter, die in der rechten Hand ein Croissant hielt und in der linken ihr Mobiltelefon.

Ich kannte das schon: Trix’ Eltern studierten beim Frühstück jeden Morgen die Zeitung und die Börsenkurse. Herr Dobbsen wollte wissen, was in der Welt passierte, und Frau Dobbsen wollte wissen, was an der Börse passierte. Sie arbeitete bei einer großen und wichtigen Humbuger Bank namens Brunnen-Bank – zurzeit in der italienischen Zweigstelle.

Frau Dobbsen biss in ihr Croissant und schaute wieder auf ihr Handy. Meine Oma hätte diese Art zu frühstücken gar nicht gut gefunden. »Voller Kopf – Bauch verstopft«, sagt sie immer.

»Ja, ich habe sehr gut geschlafen«, bestätigte Wiebke, »die Betten hier sind einfach himmlisch!«

Ich nickte nur. Eine Schlagzeile in Herrn Dobbsens Zeitung hatte meine Aufmerksamkeit erregt: PERICOLO DI ACQUA ALTA!

»Acqua alta?« Ich nahm mir ein Croissant. »Das heißt doch Hochwasser, oder?«

»Ja«, sagten Trix und Wiebke gleichzeitig. Beide sprachen ein wenig Italienisch – Trix, weil sie hier zur Schule ging, während die Familie für ein Jahr in Venedig lebte, und Wiebke, weil sie in Ruckelnsen einen Italienischkurs an der Volkshochschule gemacht hatte. Mir war es zu blöd gewesen, mich abends mit Frau Sörensen, Frau Hinnerksen und den anderen Freundinnen meiner Oma in einen müffelnden Klassenraum zu setzen und Italienisch zu büffeln. Jetzt bereute ich es, denn Trix und Wiebke ließen sich alles einzeln aus der Nase ziehen. »Und was heißt Pericolo?«, hakte ich nach. »Wird es Hochwasser geben?«

»Das wird befürchtet.« Trix kraulte Miss Moneypenny 2.0 den Nacken. »Pericolo heißt Gefahr.«

Herr Dobbsen ließ die Zeitung sinken und seufzte. Seine Augen wirkten ernst. »Ja, es droht tatsächlich eine Wetterlage, die Hochwasser auslöst. Und wenn Wasser in die Häuser dringt …«

»… ist das Wandgemälde, an dem du im Erdgeschoss arbeitest, in Gefahr, das wissen wir doch, Hinnerk.« Frau Dobbsen tätschelte ihrem Mann die Hand. »Aber das wird nicht passieren, denn es gibt ja jetzt ein Flutabwehrsystem.«

»Das aber bisher nicht aktiviert wurde!« Herr Dobbsen tippte auf die Zeitungsseite. »Die Herrschaften überlegen ernsthaft noch, ob sie es einschalten sollen.«

»Was passiert denn, wenn das System eingeschaltet wird?«, fragte Wiebke.

»Dann richten sich langsam Schutzwände aus Stahl auf«, erklärte Trix. »Die sollen dafür sorgen, dass bei Flut nicht zu viel Meerwasser in die Lagune reinfließt. Der Vater von Leonardo aus meiner Klasse hat uns das im Erdkundeunterricht erklärt. Er arbeitet als Ingenieur an dem Teil.«

Herr Dobbsen strich gedankenverloren die Zeitungsseite glatt. »Hoffentlich sind die Wände rechtzeitig oben!« Er sah richtig ängstlich aus.

Frau Dobbsen legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Hinnerk.« Sie lächelte. Einmal mehr fiel mir auf, wie ähnlich Trix ihrer Mutter sah. Die leicht schräg gestellten Augen waren zwar bei Trix grün und bei Frau Dobbsen schwarz, aber sie funkelten auf die gleiche Weise freundlich und zugleich ein wenig spöttisch. Hätte Frau Dobbsen so wie Trix eine Schuluniform getragen, wären die beiden glatt als Schwestern durchgegangen. Na ja, fast.

Herr Dobbsen seufzte. »Hoffentlich, hoffentlich funktioniert das Abwehrsystem! Oder, noch besser: Hoffentlich gibt es gar nicht erst Hochwasser!«

Frau Dobbsen schüttelte den Kopf. »Also weißt du, Hinnerk, jetzt sind wir schon drei Monate in Venedig, und du bist immer noch so ein norddeutscher Klamüserkopp. Nimm dir doch mal ein Beispiel an den Italienern! Die sehen alles gelassen, die sind immer lebenslustig, die sind immer fröhlich, die …

»Wo iste diese dumme Dobbsen!«, kam plötzlich ein Gebrüll von irgendwoher.

Frau Dobbsen wurde blass. »Das klingt ja wie Direktor Fe…«

»Ich konntö öhn nöcht aufhaltön.« Ortlieb stand mit bestürztem Gesicht im Türrahmen. Ein Mann drückte ihn zur Seite und stürmte mit energischen Schritten in den Raum.

»Signora Dobbsen!«, brüllte der Mann. »Signora Dobbsen! Wie konnte das geschehe?« Ich war überrascht, dass eine so laute Stimme aus einem so kleinen Körper kommen konnte. Der Typ war nicht größer als ich und hatte einen riesigen schwarzen Schnauzbart im Gesicht. »Erkläre Sie es mir, Signora Dobbsen!«, brüllte er jetzt. »Wie konnte das geschehe?«

Frau Dobbsen stand auf. »Direktor Feretti? Was machen Sie denn hier? Ist etwas passiert? Ich komme doch sowieso gleich in die Bank.«

»Passierte? Ob etwas passierte ist? Allerding iste etwas passierte! Ich werde Ihne sage, was passierte ist, Signora Dobbsen!« Der Mann ergoss einen italienischen Schimpfschwall über Frau Dobbsen. Sie wurde dabei immer blasser und sah aus, als könne sie es einfach nicht glauben. Ich warf Wiebke und Trix fragende Blicke zu, doch sie schienen auch nicht viel zu verstehen. »Bestimmte hat Ihre dumme Tochter irgendwo herumgesurfte, Signora Dobbsen!«, schloss der Mann seine Rede. »Oder Ihre nixnutzige Ehemann!«

»Also wirklich«, sagte Herr Dobbsen.

»Geht’s noch?«, meldete sich nun auch Trix zu Wort. Miss Moneypenny 2.0 richtete sich auf ihrem Schoß auf und fauchte.

Den Mann störte das nicht im Geringsten. Er schimpfte noch mal ordentlich auf Italienisch los, dann stürmte er durch die Tür.

»Öch göleite unserön Göst hönaus.« Ortlieb folgte ihm.

Frau Dobbsen ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie war kreidebleich.

»Was ist denn los, Mama?«, fragte Trix.

»Direktor Feretti hat mir gerade mitgeteilt, dass gestern Nachmittag rund um Venedig an den Geldautomaten unserer Bank mit gefälschten EC-Karten insgesamt 100000 Euro abgehoben wurden.«

»Illegal Geld abgehoben?«, fragte ich. »Wie denn das?«

»Direktor Feretti sagte, die Brunnen-Bank sei gehackt worden«, flüsterte Frau Dobbsen. »Mithilfe meines Benutzerkontos! Das kann mich den Job kosten!«

Kapitel 2In dem wir mehr über die gehackten Geldautomaten erfahren, eine Besichtigungstour planen und Trix überraschend höflich ist.

Einen Moment lang saßen wir alle wie versteinert da. Dann nahm Herr Dobbsen die Hand seiner Frau und streichelte sie. »Aber das ist doch unmöglich«, sagte er leise. »Du hältst doch alle Sicherheitsmaßnahmen genauestens ein, Takara.«

Trix zeigte auf sich. »Deshalb hat Direktor Feretti ja auch gerade vermutet, dass die dumme Tochter von Signora Dobbsen daran schuld sein könnte. Oder der nixnutzige Ehemann.« Sie zeigte auf ihren Vater.

»Wirklich unverschämt«, murmelte Herr Dobbsen. »Überhaupt, wie der gebrüllt hat!«

Wiebke nickte. »Das ging echt gar nicht.«

Mich interessierten weniger die Manieren dieses Wüte-Direktors als vielmehr die Fakten. »Frau Dobbsen, waren in dem italienischen Schimpfschwall noch weitere Informationen enthalten?«

Frau Dobbsen seufzte. »Das Gebrüll war für mich auch nicht leicht zu verstehen, aber ich glaube, er hat gesagt, dass die Hacker noch im System drin sind. Es kann also jederzeit wieder illegal Geld abgehoben werden.«

»Oje!«, rief Wiebke und wurde dann sehr rot. »Äh, ich meine: Das klingt ja nicht so gut.«

Frau Dobbsen nickte düster. »Und er meinte, dass alle Abhebungen gestern zwischen 17 und 18 Uhr stattgefunden haben. Es wurden immer genau 2000 Euro abgehoben. Und es wurde jedes Mal Japanisch als Sprache ausgewählt.«

»Japanisch?«, fragte Wiebke. »Seltsam. Hat der Direktor nicht von einer italienischen Bande gebrüllt? Ich habe irgendwas von Teufel und drei goldenen Haaren verstanden, aber das kann nicht sein. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren hat doch mit Hackern nichts zu tun, das ist ein Märchen von den Brüdern Grimm.«

»Doch, das kann sein!« Herr Dobbsen blätterte aufgeregt in der Zeitung. »Ich habe darüber etwas gelesen, Moment … ja, hier ist die Überschrift.« Er tippte auf die Zeitung. »Das ist ein Interview mit der Chefin der Hackerbande Geheimkartell des Teufels mit den drei goldenen Haaren. Sie heißt Beppa Bassie und beschreibt in dem Interview, worum es ihrer Bande geht: Sie wollen reiche Firmen und Unternehmen dazu zwingen, für die Schäden einzustehen, die sie verursachen. Die Bande hat zum Beispiel das Computersystem eines Automobilkonzerns gehackt, sodass in den Fabriken alle Maschinen stillstanden. Das Unternehmen musste zwei Milliarden Euro an einen gemeinnützigen Verein spenden, der Bäume pflanzt, damit die Luft besser wird. Erst dann haben die Hacker ihnen die Kontrolle über ihre Maschinen wiedergegeben.«

»Und diese Beppa Bassie hat sich für die Zeitung interviewen lassen?« Ich konnte das nicht glauben. »Warum wurde die denn dabei nicht gleich verhaftet?«

Herr Dobbsen zuckte mit den Schultern. »Das Interview wurde schriftlich über ein Chatprogramm geführt. Beppa Bassie ist also persönlich gar nicht aufgetaucht. Außerdem würde die Zeitung ihre Gesprächspartner niemals an die Polizei ausliefern.«

»Also, wenn dieses Geheimkartell wirklich dahintersteckt«, überlegte Trix, »dann wird es ja bald eine Forderung an die Bank geben, oder? Worum könnte es denn gehen? Woran ist die Brunnen-Bank in deren Augen schuld?«

»Das kann alles Mögliche sein«, sagte Wiebke. »Vielleicht verleiht die Brunnen-Bank Geld an eine Firma, die Kreuzfahrten veranstaltet und damit dem Klima schadet. Oder an einen Chemiekonzern, der schmutzige Abwässer in Flüsse leitet, oder an …«

»Na toll!« Frau Dobbsen verschränkte die Arme vor der Brust. »Diese Verbrecher fühlen sich wohltätig wie Robin Hood, und ich muss es ausbaden!«

»Ob wohltätig oder nicht, es bleiben Kriminelle«, stellte ich fest. »Frau Dobbsen, hat der Direktor gesagt, ob es Aufzeichnungen der Sicherheitskameras an den Geldautomaten gibt?«

Frau Dobbsen seufzte tief. »Ja. Sie helfen nur leider nicht viel. Alle Täter haben ein Basecap und eine Sonnenbrille getragen und sich ihr Halstuch bis über die Nase gezogen. Da ist niemand zu erkennen. Deshalb hat der Direktor die Kameras auch als dumme Kameras beschimpft.«

»Dumm scheint sein Lieblingsschimpfwort zu sein«, stellte Wiebke fest.

»Woher weiß er überhaupt, dass die Bank ausgerechnet über Ihr Benutzerkonto gehackt wurde, Frau Dobbsen?«, fragte ich weiter. »Und: Wie sind die Hacker in Ihr Konto reingekommen?«

Frau Dobbsen zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Der Sicherheitsexperte der Bank untersucht gerade meinen Computer im Büro. Nachher will er sich dann meinen Rechner hier zu Hause vornehmen.«

»Und die Polizei?«, fragte Wiebke. »Unternimmt die gar nichts?«

Frau Dobbsen schüttelte den Kopf. »Die Bank will erst mal keine Polizei einschalten. Die ganze Sache soll geheim bleiben, damit es keine Panik unter den Kunden gibt. Das wäre für die Bank das Schlimmste: wenn die Kunden denken, ihr Geld läge nicht mehr sicher. Dann wollen plötzlich alle ihr ganzes Vermögen abheben, und die Bank würde bankrottgehen. Der Direktor hofft, dass sie die Hacker aus dem System rausschmeißen können, bevor irgendjemand etwas mitbekommt.«

Ich holte meinen Notizblock aus der Manteltasche und notierte die Informationen.

»Äh … Harald?«, sagte Herr Dobbsen. »Das ist kein Fall für die Detektei Donnerschlag, das ist dir hoffentlich klar. Mit diesen Cyberkriminellen ist ganz offensichtlich nicht zu spaßen. Und ich musste deiner Großmutter versprechen, dass wir gut auf euch aufp–«

»Verzeihöng«, kam plötzlich Ortliebs Stimme von der Tür. »Vör döm Haus stehön zwei jungö Damön, die Beatrix abholön wollön.«

Miss Moneypenny 2.0 sprang von Trix’ Schoß herunter und fauchte Ortlieb an. Sie schien zu spüren, dass Trix ungern mit ihrem vollen Namen angesprochen wurde.

Trix stand schnell auf. »Ups, ich wollte Carla und Mafalda ja heute abholen! Das habe ich wegen dem schimpfenden Direktor total vergessen!«

»Buongiorno!« Zwei Mädchen schauten an Ortlieb vorbei zur Tür herein. Sie trugen die gleiche Schuluniform wie Trix.

»Hier öst heutö öffensichtlöch Tag dör offenön Tör!« Ortlieb seufzte und dampfte beleidigt ab.

Die Mädchen betraten den Raum. Beide waren so groß wie Trix. Eine zierlich und mit roten Locken, die fast so aussahen wie bei Wiebke – nur in einem dunkleren Rot. Die andere kräftiger und mit kurzen blonden Haaren.

»Salve!«, rief Trix.

»Buongiorno!«, grüßten Trix’ Eltern und Wiebke.

Ich murmelte etwas Unverständliches, das hoffentlich italienisch klang. Dann zeigte ich auf mich und sagte: »Harald Donnerschlag.«

Die Rothaarige nickte freundlich. »Sono Carla Sasbeppi.« Sie hatte eine überraschend tiefe, raue Stimme.

»Sono Mafalda Morelli«, sagte die andere.

»Sie heißen Carla Sasbeppi und Mafalda Morelli, Harald«, übersetzte Wiebke.

»Das hatte ich beinahe selbst kombiniert. Aber trotzdem vielen Dank.« Wiebke ging mir langsam ziemlich auf die Nerven mit ihrer Italienisch-Angeberei. Ich zeigte auf sie. »Sono Wiebke Jansen.«

Mafalda lachte laut auf. Auch Carla lächelte, aber nicht spöttisch, sondern eher freundlich. »Du hast gesagt: Ich bin Wiebke Jansen«, erklärte sie. »Sono heißt auf Italienisch ich bin.«

Ich spürte, wie ich rot wurde, und überspielte meine Verlegenheit mit einem Kompliment. »Warum sprichst du denn so ausgezeichnet Deutsch, Carla?«

Jetzt wurde Carla ebenfalls rot. »Meine Oma kommt aus Südtirol, dort wird außer Italienisch auch Deutsch gesprochen. Sie hat es mir beigebracht. Wir unterhalten uns immer auf Deutsch, dann versteht uns sonst keiner in der Familie. Na ja, außer meinem Vater.«

»Dein Akzent klingt toll, besonders, wie du das R rollst«, stellte ich fest, woraufhin Carla noch röter wurde.

»Bei uns in Norddeutschland rollen nur noch die alten Leute das R«, bemerkte Wiebke kühl.

»Also, bei dir klingt es jedenfalls großartig, Carla«, sagte ich nochmals. »Wie bei einem Filmstar aus einem Schwarz-Weiß-Film.«

»Großartig!«, äffte Wiebke mich leise nach.

»Wir müssen los!«, rief Trix ungeduldig dazwischen und angelte sich ihre Schultasche vom Boden.

Ich erhob mich ebenfalls. »Vielleicht können wir ein Stück zusammen gehen. Wiebke und ich wollen heute zum Dogenpalast.«

Wiebke schnaufte leise. »Ich glaube nicht, dass der auf dem Weg zur Schule liegt. Und außerdem spricht man es Doschenpalast aus.«

»Wie auch immer. Wir wollen also diesen Palast anschauen und dann eine Stadtbesichtigung machen.« Und an den Geldautomaten der Brunnen-Bank ermitteln, ergänzte ich in Gedanken.

Trix war schon an der Tür. »Wiebke hat recht, der Palast liegt nicht auf unserem Weg. Außerdem nehmen wir sowieso den Wasserbus.« Sie sah auf die Uhr. »Wenn wir uns nicht sehr beeilen, kommen Carla, Mafalda und ich zu spät! Tschüs!«

»Ciao!«, riefen Carla und Mafalda, und bevor ich dasselbe rufen konnte, waren die drei schon durch die Tür.

»Ich gehe auch los«, sagte Frau Dobbsen. »Ich muss unbedingt in die Bank und dort die Wogen glätten.«

Bei dem Wort Wogen schaute Herr Dobbsen so besorgt, dass ich sicher war: Er dachte an das drohende Hochwasser. »Dann werde ich ebenfalls an die Arbeit gehen.« Er faltete die Zeitung zusammen.

 

Einen Moment später saßen Wiebke und ich allein am Frühstückstisch. Wobei: Ganz allein waren wir nicht. Miss Moneypenny 2.0 hatte es sich auf Trix’ verlassenem Stuhl gemütlich gemacht und schnurrte vor sich hin. Aber da war noch ein anderes Geräusch …

»Ist das etwa dein Magen, Harald?«, fragte Wiebke.

Tatsächlich. Es war mein Magen, der da mit der Roboterkatze um die Wette schnurrte, äh: knurrte. Wegen der ganzen Aufregung hatte ich nur ein einziges Croissant gegessen. Und das, wo meine Detektiv-Regel 14 lautet: Frühstücke stets ausgiebig, denn die Ermittlungen lassen dir vielleicht keine Zeit für weitere Mahlzeiten.

»Würdest du so freundlich sein, mir noch ein Croissant zu reichen, Wiebke?«, fragte ich. Wiebke hatte mir vor unserer Reise nämlich extra eingetrichtert, dass man in Italien besonders höflich ist.

»Das ist kein Croissant, sondern ein italienisches Cornetto, da gibt es feine Unterschiede«, informierte Wiebke mich sehr viel weniger höflich. Aber immerhin reichte sie mir eins von den leckeren Teilen.

Ob Croissant oder Cornetto – das war den Geschmacksknospen auf meiner Zunge vollkommen schieten-didi, wie meine Oma sagen würde. Mit anderen Worten: komplett egal. Es schmeckte einfach köstlich. Ich nahm mir ein Beispiel an Frau Dobbsen und wischte mit dem Daumen der rechten Hand über mein Mobiltelefon, während ich in der linken das Cornetto hielt. Geheimkartell des Teufels mit den drei goldenen Haaren, googelte ich. Tatsächlich hatte die Hackerbande sogar einen deutschen Wikipedia-Eintrag! »Bei der Hacker-Chefin Beppa Bassie scheint das Computertalent in der Familie zu liegen«, teilte ich Wiebke kauend mit. »Beppas Großmutter war eine der ersten Informatikerinnen Italiens, steht hier.«

»Ich kombiniere …«, sagte Wiebke, »du willst ermitteln?«

»Das ist eigentlich mein Spruch, Wiebke.« Ich kaute und schluckte. »Aber du hast recht: Ich will in der Sache ermitteln. Du etwa nicht?«

Wiebke schüttelte energisch den Kopf. »Nee, natürlich nicht! Herr Dobbsen hat gesagt, dass wir das lassen sollen, weil es zu gefährlich ist. Wir haben ja auch überhaupt keine Anhaltspunkte. Und außerdem sind wir hier, um Urlaub zu machen. Ich will die Stadt besichtigen.«

»Eine Stadtbesichtigung wird gleich viel interessanter, wenn ein Kriminalfall im Spiel ist«, gab ich zu bedenken. »Vielleicht können wir an den Geldautomaten irgendwelche Spuren sicherstellen. Und gefährlich kann das nicht sein. Die Hacker werden doch gar nicht bemerken, dass wir uns dort umsehen. Die sitzen irgendwo in ihrem Hauptquartier am Rechner.« Ich stellte mir ein paar blasse, pickelige Computer-Nerds vor, die bei heruntergezogenen Jalousien auf ihre Bildschirme starrten. »Ich muss in diesem Fall ermitteln, Wiebke, ich wollte mich schon immer mit Hackern beschäftigen. Kriminalität übers Internet ist die Kriminalität der Zukunft!«

Wiebke schaute mich missbilligend an.

»Und deshalb ist es wichtig, dass unsere Detektei Erfahrung im Umgang mit Hackern sammelt«, ergänzte ich. »Oder willst du, dass wir in ein paar Jahren total veraltet sind? Eine komplett verkalkte Detektei? Ich sehe unsere Visitenkarten schon vor mir: Detektei Donnerschlag: Kalk ist unser Geschäft! Sie erreichen uns per Fax, berittenem Boten oder Festnetztelefon!«

Wiebke verdrehte die Augen, stand auf und trat zu den Balkontüren, vor denen der Canal Grande glitzernd in der Sonne lag. »Na gut, ich kann ja gleich mal im Internet nachschauen, wo sich die Geldautomaten der Brunnen-Bank befinden«, murmelte sie. »Die Bank heißt hier in Italien Banca Fontana, oder? Fontana bedeutet auf Italienisch Brunnen. Vielleicht hast du Glück, und einige der Geldautomaten liegen auf unserer Stadtbesichtigungs-Route. Dann können wir meinetwegen einen Blick drauf werf–, hä?« Wiebke öffnete einen Flügel der Balkontür und trat hinaus. Ihre Stimme ging im Gebrause der Schiffsmotoren und dem fröhlichen Geschrei der Leute fast unter. »Sag mal, da unten an der Wasserbushaltestelle, diese vollkommen bepackte Person – ist das nicht Trix?«

Ich folgte Wiebke auf den Balkon. Der Anblick war überwältigend. Man schwebte geradezu über dem Kanal. Schnell schloss ich meinen Mantel. Auch wenn die Sonne kräftig schien, wehte ein recht kühler Wind.

»Jetzt schau doch mal da runter«, drängte Wiebke mich.

Und tatsächlich: Unten vor unserem Palazzo, auf der Plattform, die in den Kanal ragt, damit man von dort in die Wasserbusse steigen kann, stand Trix. In den Armen hielt sie drei Schultaschen. Neben ihr erkannte ich Carla und Mafalda – beide ohne Tasche.

»Warum trägt Trix denn bloß deren Taschen?«, murmelte Wiebke.

»Trix weiß eben, dass man in Italien sehr höflich ist«, bemerkte ich. »Im Gegensatz zu anderen hier anwesenden Personen verbessert sie auch nicht ständig unhöflicherweise mein Italienisch.«

Wiebke überhörte den Seitenhieb. »Also, so viel Höflichkeit geht aber zu weit! Schau mal, Trix fällt ja fast um!«

Gerade legte an der Plattform ein längliches weißes Schiff an: das Vaporetto, also der Wasserbus. Ich hatte schon erlebt, wie sehr die Plattform schaukelte, wenn der Wasserbus kam. Und Trix musste dieses Schwanken nun mit dem Gewicht von drei Schultaschen bewältigen.

»Jetzt wäre sie beinahe gestolpert!«, rief Wiebke. »Wieso helfen die zwei ihr denn nicht? Die schauen seelenruhig zu, wie Trix fast ins Wasser fällt! Ach, jetzt hilft ihr endlich jemand. Zum Glück!«

Einer der Schaffner des Wasserbusses hatte Trix an der Schulter gepackt und ihr auf das Schiff geholfen. Mafalda und Carla hüpften leichtfüßig hinterher, der Wasserbus legte ab.

Ich sah ihm noch einen Moment nach, dann verzog ich mich nach drinnen. Um draußen nur einen Schlafanzug unter dem Mantel zu tragen, war das Wetter jetzt im Oktober doch etwas zu frisch.

Wiebke folgte mir. Auf Trix’ Platz am Esstisch lag immer noch Miss Moneypenny 2.0. Die Katze war mit Fellpflege beschäftigt und schien wie alle Katzen dabei ihre Umwelt komplett zu vergessen. Sie blickte nicht mal auf, als Wiebke und ich uns zu ihr an den Tisch setzten.

Ich nahm mir noch ein Croissant, äh: Cornetto.

Wiebke beobachtete gedankenverloren Miss Moneypenny 2.0. »Wieso trägt Trix die Taschen von Carla und Mafalda?«, murmelte sie dabei. »Also, irgendwas stimmt doch nicht mit ihr.« Sie sah mich an. »Und als Trix uns vorgestern vom Bahnhof abgeholt hat, da wirkte sie so … abgelenkt. So als würde sie sich gar nicht freuen, dass wir kommen. Dabei hatten wir uns seit drei Monaten nicht gesehen!«

Ich schmierte mir Marmelade auf mein Cornetto. »Vielleicht ist Trix einfach ein bisschen im Stress. Eine neue Schule ist immer aufregend. Und dann ist der Unterricht auch noch auf Italienisch! Und sie hat ganz neue Schulfächer …«

Wiebke nickte. »Gondelfahren zum Beispiel.«

»Gondolino«, korrigierte ich Wiebke kauend. »Das Boot, in dem Trix in der Schule trainiert, heißt nicht Gondel, sondern Gondolino.«

»Gondolino«, wiederholte Wiebke. »Stimmt, das hat Trix uns geschrieben. Dabei fällt mir was ein.« Sie holte ihr Mobiltelefon heraus. »Hier, auf den Fotos, die Trix uns von ihrem Bootstraining geschickt hat – sind da nicht auch diese Carla und diese Mafalda drauf?« Sie tippte auf das Bild, das zwei Mädchen in einem flachen Boot stehend zeigte.

»Stimmt, das sind sie«, bestätigte ich und nahm noch einen Bissen. »Die Pfirsichmarmelade ist übrigens vorzüglich, solltest du auch probieren.«

Wiebke zoomte die Gesichter der beiden heran. »Hm, Mafalda wirkt eigentlich ganz nett. Aber Carla schaut ziemlich arrogant.«

»Nee, gar nicht!«, protestierte ich. »Carla sieht doch total nett aus!«

»Ist ja auch egal.« Wiebke winkte ab. »Jedenfalls sollten wir die Augen offen halten. Nicht dass Trix in der Schule gemobbt wird!«

»In dieser Sache können wir frühestens heute Mittag etwas erreichen, wenn Trix zum Essen nach Hause kommt.« Ich strich mir die Krümel von den Händen. »Bis dahin bleibt noch jede Menge Zeit, ein paar Automaten der Banca Fontana unter die Lupe zu nehmen.«

Wiebke machte eine Handbewegung, die sehr italienisch aussah. Sie schien so viel zu bedeuten wie: »Toll finde ich es nicht, aber es geht wohl nicht anders!«

Und genau so war es.

Kapitel 3In dem wir die Sehenswürdigkeiten Venedigs besichtigen, auf teuflische Beweisstücke stoßen und den ersten Zeugen befragen.

Als Wiebke und ich eine halbe Stunde später das Erdgeschoss betraten, hätten wir fast Herrn Dobbsen umgerannt. Er stand auf einer Leiter und arbeitete an dem steinernen Kopf, der über dem Eingang zum Treppenhaus prangte. Herr Dobbsen schwankte ein bisschen, fing sich aber zum Glück gleich wieder.

»Entschuldigung!«, rief Wiebke. »Wir wussten nicht, dass Sie heute an dem Kopf arbeiten.«

Herr Dobbsen wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ist ja gerade noch mal gut gegangen.« Er nahm seine Staubmaske ab und atmete tief durch.

»Was für eine hässliche Fratze«, bemerkte ich. »Also – ich meine natürlich den steinernen Kopf!«

Wiebke trat mir auf den Fuß. »Das ist doch klar, Harald!«

Herr Dobbsen lachte.

»Äh, wie der die Augen aufreißt«, redete ich schnell weiter, »und wie dem die Zunge aus dem Mund baumelt, und diese dicke Nase! Warum hängt man sich denn so was über die Tür?«

»Die Hässlichkeit ist durchaus beabsichtigt, Harald.« Herr Dobbsen zeigte auf den Kopf. »Der soll dafür sorgen, dass nichts Böses das Haus betritt: keine bösen Menschen, keine bösen Geister, keine Teufel, kein Unglück …«

Ich schüttelte meinen eigenen, sehr viel ansehnlicheren Kopf. »Aus langjähriger detektivischer Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass Kriminelle sich durch solchen Quatsch nicht abhalten lassen, Herr Dobbsen.«

»Und Geister und Teufel gibt es nicht«, ergänzte Wiebke.

Herr Dobbsen kraulte den Steinkopf freundschaftlich unter dem Kinn. »Tja, früher war man eben abergläubisch, Kinder. Heute ist so ein Kopf einfach nur Dekoration. Und natürlich ein interessantes geschichtliches Objekt. Genauso wie das Wandgemälde, das ich restauriere. Habt ihr es euch eigentlich schon mal richtig angeschaut? Es zeigt eine historische Karte von Venedig.« Herr Dobbsen wies stolz auf die Wand gegenüber.

Wiebke und ich wandten uns höflich dem Gemälde zu.

»Faszinierend«, stellte ich fest. Es war sehr gut zu erkennen, dass Venedig mal aus vielen kleinen Inseln bestanden hatte, die nach und nach miteinander verbunden worden waren.

»Venedig hat sich ganz schön verändert«, bemerkte Wiebke. »Na ja, kein Wunder. Die Karte ist ja auch sehr alt.«

»Von 1720!«, rief Herr Dobbsen.

Ich nickte. »Damals gab es den Bahnhof natürlich noch nicht. Und viel weniger Brücken als heute. Ich glaube, in diesen Zeiten ist man ohne Boot in Venedig nicht weit gekommen.« Dann riss ich mich los. Wir hatten anderes zu tun, als stundenlang das Wandgemälde zu betrachten. Schließlich gab es etwas zu ermitteln!

 

Vor dem Haus erfasste mich noch einmal das ungläubige Staunen, das ich bereits vorgestern bei unserer Ankunft empfunden hatte. Obwohl ich Venedig schon oft im Fernsehen und auf Fotos gesehen hatte, erschien es mir wie ein Traum: Vor uns lag keine mehrspurige Straße, sondern ein breiter Kanal, an dem die Häuser standen, als wäre es das Normalste der Welt. War es hier ja auch.

»Woow!«, rief neben mir Wiebke. »Irgendwie kommt mir das immer noch alles so unecht vor!«

Ich nickte. »Aber so schön der Canal Grande auch ist – wir müssen in die andere Richtung, oder?«

Wiebke holte ihr Mobiltelefon aus der Tasche. »Ja, genau. Der Markusplatz ist in der entgegengesetzten Richtung.«

Ich sah sie erwartungsvoll an.

»Und der erste Geldautomat steht am Campo Sant’Angelo«, ergänzte Wiebke. »Um dahin zu kommen, müssen wir die Gasse direkt hinter uns nehmen.«

Also tauchten wir in den Schatten der schmalen Gasse ein. Es war seltsam: Gerade hatten wir noch das Motorengebrumm und das fröhliche Rufen vom Canal Grande gehört – und jetzt war es plötzlich komplett still und menschenleer. Zum Glück, denn die Gasse war so eng, dass Wiebke und ich hintereinander gehen mussten. Rechts und links ragten die Häuser über uns auf wie steile Berge. Ich zog den Gürtel meines Mantels enger. Im Schatten war es ganz schön kühl.