Als wir vom Aufbruch träumten - Farina Eden - E-Book

Als wir vom Aufbruch träumten E-Book

Farina Eden

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Beschreibung

Liebe und Verrat im Schatten des Mauerfalls – der große neue Roman der Autorin der »DDR-Saga« Ostberlin, 1989: Anni ist eine Rebellin. Gemeinsam mit ihren Studienfreunden Chrissi, Bene und Fexe taucht sie in die literarische Untergrundszene Ostberlins ab. Dank mutiger Texte werden die vier schnell bekannt – vor allem Anni ist der Star der Gruppe. Als sie dann auch noch in einer bekannten verbotenen Literaturzeitschrift veröffentlichen kann, beginnt sie daran zu glauben, dass sich mit Texten wirklich ein System sprengen lässt. Plötzlich nehmen jedoch willkürliche Verhöre und Auftrittsverbote zu. Gibt es einen Verräter in der Untergrundszene? Die Lage eskaliert, als Anni wegen landesverräterischer Hetze in Untersuchungshaft genommen wird. Und dann bricht die DDR zusammen. Während ihre Freunde schicksalhafte Entscheidungen treffen, weiß Anni nicht mehr, wem sie trauen kann ... Dramatisch, mitreißend, authentisch – der große Roman zu einem der emotionalsten Momente in der deutschen Geschichte: dem Mauerfall​  Farina Eden, aufgewachsen in der DDR, erzählt in »Als wir vom Aufbruch träumten« von einer Gruppe junger Schriftsteller in Ostberlin und ihrem Mut, die Stimme zu erheben.  »Farina Eden beschreibt diese Szenen, die einer wahren Begebenheit folgen, erschütternd emotional und mit viel Kenntnis über die Stasi-Methoden.« Ruhr Nachrichten über »Geteiltes Land - Zwischen Verlust und Liebe« (DDR-Saga 2)

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Sandra Lode

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: Aleah Ford/arcangel; mauritius images/Norbert Michalke/imageBROKER und Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Mirko

Donnerstag, 7. Januar 1988

Kapitel 2

Husum

Donnerstag, 7. Januar 1988

Kapitel 3

Anni

Samstag, 2. April 1988

Kapitel 4

Husum

Donnerstag, 28. April 1988

Kapitel 5

Mirko

Donnerstag, 28. April 1988

Kapitel 6

Anni

Samstag, 28. Mai 1988

Kapitel 7

Mirko

Samstag, 28. Mai 1988

Kapitel 8

Husum

Montag, 30. Mai 1988

Kapitel 9

Anni

Montag, 30. Mai 1988

Kapitel 10

Anni

Montag, 30. Mai 1988

Kapitel 11

Mirko

Montag, 30. Mai 1988

Kapitel 12

Anni

Donnerstag, 2. Juni 1988

Kapitel 13

Anni

Freitag, 3. Juni 1988

Kapitel 14

Husum

Freitag, 3. Juni 1988

Kapitel 15

Anni

Samstag, 4. Juni 1988

Kapitel 16

Mirko

Samstag, 4. Juni 1988

Kapitel 17

Mirko

Mittwoch, 8. Juni 1988

Kapitel 18

Husum

Mittwoch, 8. Juni 1988

Kapitel 19

Anni

Freitag, 17. Juni 1988

Kapitel 20

Anni

Freitag, 15. Juli 1988

Kapitel 21

Husum

Freitag, 15. Juli 1988

Kapitel 22

Mirko

Dienstag, 19. Juli 1988

Kapitel 23

Anni

Dienstag, 19. Juli 1988

Kapitel 24

Mirko

Mittwoch, 20. Juli 1988

Kapitel 25

Anni

Mittwoch, 20. Juli 1988

Kapitel 26

Anni

Mittwoch, 20. Juli 1988

Kapitel 27

Mirko

Mittwoch, 20. Juli 1988

Kapitel 28

Anni

Donnerstag, 21. Juli 1988

Kapitel 29

Anni

Donnerstag, 21. Juli 1988

Kapitel 30

Husum

Donnerstag, 21. Juli 1988

Kapitel 31

Mirko

Donnerstag, 21. Juli 1988

Kapitel 32

Anni

Samstag, 8. Oktober 1988

Kapitel 33

Anni

Samstag, 29. Oktober 1988

Kapitel 34

Husum

Samstag, 29. Oktober 1988

Kapitel 35

Husum

Freitag, 25. November 1988

Kapitel 36

Mirko

Dienstag, 13. Dezember 1988

Kapitel 37

Mirko

Donnerstag, 29. Dezember 1988

Kapitel 38

Anni

Donnerstag, 5. Januar 1989

Kapitel 39

Anni

Freitag, 6. Januar 1989

Kapitel 40

Mirko

Montag, 9. Januar 1989

Kapitel 41

Husum

Montag, 9. Januar 1989

Kapitel 42

Mirko

Dienstag, 21. Februar 1989

Kapitel 43

Anni

Freitag, 26. Mai 1989

Kapitel 44

Anni

Freitag, 26. Mai 1989

Kapitel 45

Husum

Samstag, 17. Juni 1989

Kapitel 46

Husum

Samstag, 1. Juli 1989

Kapitel 47

Mirko

Freitag, 7. Juli 1989

Kapitel 48

Anni

Montag, 31. Juli 1989

Kapitel 49

Husum

Sonntag, 13. August 1989

Kapitel 50

Husum

Sonntag, 10. September 1989

Kapitel 51

Anni

Samstag, 30. September 1989

Kapitel 52

Mirko

Samstag, 30. September 1989

Kapitel 53

Anni

Montag, 2. Oktober 1989

Kapitel 54

Anni

Donnerstag, 9. November 1989

Kapitel 55

Anni

Sommer 1990

Nachwort

Die Untergrundzeitschrift

Verräter in der Berliner Untergrund-Literaturszene

Verlassene Kinder

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1

Mirko

Donnerstag, 7. Januar 1988

Schon auf der Treppe, die aus dem U-Bahn-Schacht führte, pfiff Mirko eisiger Wind entgegen. Er zog die Mütze tief in die Stirn, zupfte den kratzigen Schal übers Kinn und schob seine Hände in die Jackentaschen. Bis in seine Amtsstube in der Magdalenenstraße waren es nur ein paar Schritte, doch heute trieb ihn nicht nur die Kälte zur Eile. In weniger als drei Minuten hatte er einen dringenden Termin mit einem, wie sein Vorgesetzter ihm mitgeteilt hatte, potenziellen IM.

Oberflächlich betrachtet hatte Mirko ein kollegiales, fast freundschaftliches Verhältnis zu Oberleutnant Manfred Schmeurer. Der war nicht nur sein Vorgesetzter, sondern auch Leiter der Abteilung HA XX, deren Augenmerk auf den Bereichen Kultur, Kirche und Untergrund lag. Mirko war vor etwas mehr als vier Monaten zu dieser Abteilung gestoßen, was vor allem daran lag, dass er während der Ausbildung an der Hochschule für Staatssicherheit durch besonderes literarisches Talent aufgefallen war. Genau deshalb traute man ihm zu, sich als falscher Schriftsteller unters Berliner Kunstvolk zu mischen und dort Staatsfeinde ausfindig zu machen und zu melden.

Mirko mochte seine Arbeit. Die Möglichkeit, seine Liebe zur Literatur mit den verantwortungsvollen Aufgaben eines Offiziers der Staatssicherheit zu verknüpfen, schien ihm wie ein Geschenk des Himmels. Er konnte in die faszinierende Welt der Kunst eintauchen und sie genießen, wurde dafür auch noch fürstlich entlohnt und erhielt die Anerkennung, die er sich immer gewünscht hatte.

An diesem Donnerstag im Januar war allerdings Eile geboten. Mirko hastete die zwei Treppenabsätze hinauf und betrat den Flur, an dessen Ende sich sein Dienstzimmer befand. Vor seiner Tür lief ein Mann ungeduldig auf und ab.

»Entschuldigen Sie vielmals«, begann Mirko, schlug dabei jedoch einen kühlen Ton an, um dem Besucher deutlich zu machen, dass er zwar höflich war, sich jedoch aufgrund seines Dienstgrades sicher nicht zu erklären hatte. »Ich wurde aufgehalten.«

»Kein Problem«, gab der Mann zurück. »Ich warte noch nicht lange.«

Mirko nickte kurz. »Dann kommen Sie mal herein in die gute Stube, wie es so schön heißt.«

Die Männer setzten sich an den Schreibtisch. Quadratisch. Hässlich. Braun. Und in jeder Amtsstube das gleiche Modell. Würde er je betrunken seinen Dienst antreten und dabei versehentlich auf der falschen Etage enden – er würde einige Zeit brauchen, um den Fehler zu bemerken. Eine Amtsstube sah aus wie die andere, und das galt nicht nur für das Gebäude in der Magdalenenstraße.

Wie immer, wenn er sein Büro betrat, fiel Mirko der muffige Geruch auf. Es war eine Mischung aus Bohnerwachs und kaltem Rauch, der noch immer in den Gardinen und der vergilbten Stofftapete hing und sich auch durch Dauerlüften nicht vertreiben ließ. Der riesige Gummibaum, der vor dem Fenster stand, hatte schon wieder Blätter verloren, was dem Raum neben diesem unangenehmen Geruch auch noch ein trostloses Aussehen verlieh. Die Gardinen und diese abscheuliche Pflanze sollten wirklich dringend ausgetauscht werden, doch natürlich war er sich darüber im Klaren, dass Gardinenstoffe nicht gerade im nächsten Kaufhaus erhältlich waren.

Mirko räusperte sich und mahnte sich zur Konzentration. »Ich freue mich sehr, dass Sie uns Ihre Hilfe anbieten«, begann er das Gespräch. »Wir können wache Augen und Ohren brauchen, wie Sie sich sicher denken können.«

Der Mann nickte. »Möchten Sie, dass ich mich vorstelle?«

Mirko schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, ich kenne Ihre Personalien. Außerdem sollten Sie sich von nun an daran gewöhnen, dass Sie in der Abteilung unter einem Decknamen geführt werden und bei dienstlichen Belangen auch nur noch unter diesem aufzutreten haben.«

Mirko sah den Mann mit den zerzausten Stoppelhaaren ruhig an und bemerkte das Lächeln, das ihm bei der Erwähnung eines Decknamens übers Gesicht huschte. So einer also, überlegte er, einer, der sich nur um des Bespitzelns willen andient. Vermutlich hatte der Mann, der ein wenig jünger war als Mirko selbst, zu viele Filme gesehen und erträumte sich nun das Leben eines 007. Es war Mirkos Aufgabe, ihm den Ernst seiner zukünftigen Tätigkeit zu verdeutlichen.

»Sie sind sich darüber im Klaren, dass es möglicherweise auch Freunde sein werden, zu denen Sie uns Informationen zu liefern haben? Wer immer in Ihren Kreisen auffällig wird, ist zu melden. Ganz gleich, ob es langjährige Weggefährten oder Familienmitglieder sind oder die neue Geliebte.«

»Ich bin mir der Tatsache bewusst und bereit dafür.«

»Gut, dann wäre das geklärt. Dann sind Sie ab heute für das MfS, das Ministerium für Staatssicherheit, tätig.« Mirko schlug eine Akte auf, die seine Sekretärin Karina ihm bereitgelegt hatte. »Haben Sie eine Präferenz hinsichtlich eines Decknamens? Ansonsten würde ich …«

»Nein, nein«, sagte sein Gegenüber hastig. »Ich hätte da einen Vorschlag, wenn es keine Einwände gegen Ortsnamen gibt.«

»Aber nicht doch.« Mirko lehnte sich abwartend zurück.

»Husum bitte«, sagte der zukünftige IM, als würde er in einem Café seine Kuchenbestellung aufgeben.

»Warum ausgerechnet Husum?«

»Der Geburtsort meines Idols.«

»Also dann Husum. Soll mir recht sein.« Mirko trug den neuen Decknamen in die Akte ein und fragte nicht weiter danach, wer das Vorbild seines Gegenübers war. Stattdessen machte er sich daran, seinen neuen Mitarbeiter einzuweisen. »Ihnen ist sicher bewusst, dass auch Sie unter Beobachtung stehen, bis Sie sich bewährt haben. Sie werden sich regelmäßig, das heißt spätestens nach vier Wochen, mit mir in Verbindung setzen und Bericht erstatten. Die Ergebnisse Ihrer Observationen sind in schriftlicher Form abzufassen und mit Ihrem Decknamen gegenzuzeichnen.«

Husum nickte. »Gibt es denn schon einen ersten Auftrag?«

Fast hätte Mirko die sorgfältig einstudierte Beherrschung verloren und lauthals gelacht. Einen so beflissenen Spitzel wie diesen Husum hatte er bisher noch nicht erlebt.

»Vorerst nicht«, antwortete er ruhig. »Bewegen Sie sich in Ihrem Umfeld. Seien Sie aufmerksam, aber unauffällig. Verhalten Sie sich so, wie Sie es immer tun – nur dass Sie dabei Augen und Ohren offen und den Stift parat halten. Kriegen Sie das hin?«

»Selbstverständlich, Offizier Meißner.«

»Nun, Husum, das wäre dann alles für heute.«

Nachdem der neu rekrutierte IM sein Amtszimmer verlassen hatte, griff Mirko in seinen Aktenkoffer und holte seine in Pergamentpapier gewickelte Leberwurststulle, einen Apfel und die Thermoskanne hervor. Während er das Brot auspackte, fiel ihm ein, dass er Leberwurst als Kind immer gehasst hatte, weil seine Mutter ihm nur die grobe mit den dicken Knorpel- und Fettstücken aufs Brot gestrichen hatte. Inzwischen hatte er zur feinen gewechselt und kaufte diese auch nicht mehr in der Kaufhalle, sondern im teureren Deli.

In diesem Moment klopfte es.

»Ja?«

Seine Sekretärin steckte den Kopf durch die Tür. »Kaffee, Chef?«, fragte sie ohne jede Scheu vor seinem Dienstgrad. Sie hatte diesen kumpelhaften Ton ihm gegenüber von Tag eins an angeschlagen, und aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters, Karina Koslowski könnte gut und gern seine Mutter sein, ließ er ihr dies auch durchgehen.

»Nein, danke. Ich hab alles dabei.«

Karina schüttelte lachend den Kopf.

»Was ist so lustig?«, fragte Mirko mit vollem Mund.

»Das erlauben sich auch nur Sie, Chef«, sagte sie und grinste noch immer. »Sie waren spät dran, haben vermutlich die Nacht zum Tag gemacht. Aber noch Zeit finden, um Stulle und Kaffee vorzubereiten.«

Mirko nickte mit einem breiten Lächeln im Gesicht. »Die wichtigen Dinge im Leben müssen auch in Fällen wie diesen sein. Und überhaupt, wie kommen Sie darauf, dass ich etwas anderes tun könnte, als nachts zu schlafen? Vielleicht wurde ich ja bereits heute Morgen dienstlich aufgehalten.«

»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht«, sagte Karina und schloss leise die Tür.

Mirko lächelte, goss sich Kaffee ein und hielt genüsslich die Nase darüber. Echter Bohnenkaffee, dachte er seufzend. Das war eines der wenigen Dinge, die seine Sekretärin noch nicht durchschaut hatte. Obwohl er inzwischen täglich den ihm angebotenen Kaffee ablehnte, war sie noch nicht auf die Idee gekommen, dass er eben nicht den billigen Muckefuck in seiner Thermoskanne hatte, sondern echten Röstkaffee aus dem Intershop. Kam Karina Koslowski erst hinter sein Geheimnis, würde er den Kaffee zukünftig mit ihr teilen müssen, und das musste er verhindern, denn dafür war das braune Pulver nun wirklich zu wertvoll und zu schwer zu bekommen.

Sah man von seinem Geiz in Sachen Kaffee einmal ab, waren Frau Koslowski und er ein Herz und eine Seele. Sie war wirklich ein wenig wie seine Mutter, die ihn nur ansehen musste, um ihn zu durchschauen. Und wenn er ehrlich war, gefiel ihm dieser Umgang zwischen ihnen, denn mit ihrer Herzlichkeit hatte sie dafür gesorgt, dass er sich auf der neuen Dienststelle sofort willkommen gefühlt hatte. Er war davon überzeugt, dass er sich auf sie verlassen konnte.

Vorsichtig pustete Mirko in die Tasse und trank einige Schlucke Kaffee. Schwarz, stark und ungesüßt. Milch, Sahne oder Zucker würden den guten Geschmack nur verfälschen. Dann stellte er die Tasse beiseite und griff noch einmal nach der Dienstanweisung 2/85. Die war, wie üblich, mit den Worten Vertrauliche Verschlusssache gekennzeichnet. Er überflog die ersten Seiten, blieb an der für ihn wichtigen Stelle hängen und nickte zufrieden. Er hatte sich exakt an die Anweisung gehalten, in der es hieß, dass zur wirksamen Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit vor allem IM einzusetzen seien, die in der Lage waren, vertrauliche Beziehungen zu feindlichen Kräften herzustellen, in die Konspiration des Feindes einzudringen und rechtzeitig Informationen über feindliche Pläne und Absichten zu beschaffen.

Mirko war davon überzeugt, dass er genau so einen IM in Husum gefunden hatte, denn der Mann bewegte sich in einer Untergrundszene, die dringender Überwachung bedurfte. Natürlich war Husum nicht sein einziger IM, und Mirko dachte auch nicht daran, dem Mann blind zu vertrauen. Stattdessen würde er Informationen von ihm abwarten und sich parallel dazu selbst in die Szene einschleusen.

Mirko horchte in sich hinein und legte die rechte Hand flach aufs Herz. Sein Puls hatte sich beschleunigt, doch es war nicht etwa Sorge, die ihn umtrieb. Vielmehr verspürte er so etwas wie positive Anspannung und Aufregung. In diesem Moment nahm er sich fest vor, nicht einfach nur einer unter vielen zu sein. Er wollte sich einen Namen machen und für die Abteilung HA XX schnellstens unverzichtbar werden.

Dafür musste er nicht viel mehr tun, als seine IMs mit großer Sorgfalt auszuwählen und selbst die richtigen und für ihn fruchtbaren Kontakte zu knüpfen. Er war neu auf dieser Dienststelle, sein Gesicht noch gänzlich unbekannt. Trat er zurückhaltend auf und machte von seinem literarischen Talent Gebrauch, würden die feindlichen Kräfte der Untergrundszene ihn schnell für einen der Ihren halten und über kurz oder lang sicher auch offen über Pläne und Vorhaben sprechen, die der DDR Schaden zufügen könnten.

»Geduld und ein wenig Geschick«, murmelte er vor sich hin, das war alles, was er außer seinen IMs noch benötigte.

Von beidem hatte Stasioffizier Mirko Meißner mehr als genug.

Kapitel 2

Husum

Donnerstag, 7. Januar 1988

Husum stand unschlüssig am Bahngleis. Eigentlich hatte er Bärbel versprochen, sich den Nachmittag für sie und ihre gemeinsame Tochter Zeit zu nehmen. Eigentlich. Denn natürlich stand ihm der Sinn ganz und gar nicht nach Frau und Kind. Er wusste, dass Bärbel nur darauf wartete, dass sie zusammenzogen und er sich um sie und Sabine kümmerte. Das würde allerdings nie passieren, denn er hatte nicht die Absicht, sich und seine Talente hinter der langweiligen Fassade eines spießigen Familienlebens verkommen zu lassen.

Solange er denken konnte, hatte er davon geträumt, Spion zu werden. Vermutlich waren es die Erzählungen seines Opas gewesen, der einst aus Russland gekommen war und vor Husums Zubettgehen immer wieder aufregende Geschichten eines KGB-Agenten namens Juri zum Besten gegeben hatte.

Er hatte seinen Großvater einmal gefragt, ob Juris Abenteuer denn nicht eigentlich seine eigenen gewesen wären. Anstelle einer Antwort hatte der alte Mann allerdings nur verschwörerisch den Zeigefinger auf die Lippen gelegt und ihm zugezwinkert. Damals war Husum überzeugt gewesen, dass die Geste ein Geständnis war. Doch weder Opa noch Eltern hatten ihn je in seiner Vermutung bestätigt, und heute gab es niemanden mehr, der seine Fragen beantworten konnte. Großvater und Mutter lagen längst unter der Erde, und sein Vater vegetierte ohne Erinnerungen in einem Altersheim vor sich hin – so war das eben, wenn sich Paare erst spät dazu entschieden, ein Kind in die Welt zu setzen.

Beim Gedanken an seinen Vater kam Husum eine Idee. Statt die Bahn zu Bärbel zu nehmen, würde er seinen alten Herrn im Heim besuchen. Es war ein eisiger Januartag, doch die kalte, klare Luft tat gut und schärfte seine Sinne. Er zog sich die Mütze über die Ohren und machte sich auf den kurzen Fußweg zum S-Bahnhof Lichtenberg, in dessen Nähe das Pflegeheim lag.

Den Gedanken an seine wütende Freundin und die Heulerei der vierjährigen Sabine schob er beiseite. Ihm war trotz Tochter längst klar, dass die Beziehung zwischen ihm und Bärbel vor dem Aus stand. Er war eben nicht gemacht für ein heiles Familienleben – jetzt schon gleich gar nicht mehr. Als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit hatte er Wichtigeres zu tun, als Bärbels Launen zu ertragen oder Sabine auf der Schaukel anzuschubsen. Er war dabei, sich seinen lang gehegten Traum zu erfüllen! Dafür würde er von nun an jede freie Minute opfern. Bärbel musste verstehen, dass er zu Höherem berufen war, und tat sie es nicht, würde er sich eben noch schneller trennen. Es war ohnehin Zeit für diesen Schritt. Nach fünf Jahren nebst ungeplantem Nachwuchs schränkten ihn die zwei mehr ein, als dass sie sein Leben bereicherten.

Kurz darauf betrat Husum das Zimmer seines Vaters. Wie so häufig saß der vor dem Fenster und starrte durch die weiße Gardine hinaus. Mehr als die Straße gab es nicht zu sehen, und das Wetter war grau und trostlos.

»Na, sieh einer an«, begann Husum mit gedämpfter Stimme. »Wird dir diese immer gleiche Aussicht nicht irgendwann langweilig, Vati? Wie geht es dir denn heute?«

Der alte Mann wackelte lediglich mit dem Kopf, was Husum als seine Art der Begrüßung auffasste, denn er sprach schon seit Monaten nicht mehr.

»Ich hole dir erst mal einen Becher Tee. Wie ich dich kenne, hast du seit Stunden keine Pflegerin mehr gesehen und deswegen sicher auch nichts getrunken.«

Er lief hinaus auf den Flur. Vor dem Schwesternzimmer stand ein Tisch mit gefüllten Teekannen und Bechern. Husum griff nach einer Kanne und stapelte zwei Becher ineinander. Nach dem Fußweg durch die Kälte konnte auch er einen heißen Tee vertragen. Zurück im Zimmer füllte er einen Becher zur Hälfte und goss den Tee mehrere Male von einem Behälter in den anderen, damit er schneller abkühlte. Dann prüfte er die Temperatur und hielt seinem Vater den Becher unter die Nase.

»Trink einen Schluck«, bat er leise. Sein Vater kam der Aufforderung, ohne zu zögern, nach. Husum entspannte sich langsam und begann zu erzählen.

»Endlich ist es so weit, Vati. Ich bin dabei, ist das denn zu glauben? Dabei hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben. Und jetzt das. Husum – diesen Namen solltest du dir merken.« Er hielt inne, schlug sich mit der flachen Hand lachend gegen die Stirn und nahm seine Worte zurück. »Das war natürlich Blödsinn. Du und was merken, was, Vati?« Er strich dem alten Mann über den Arm, nahm ihm den Teebecher wieder ab und füllte ihn erneut.

»Wo war ich? Richtig. Merken musst du dir nichts. Aber das ist mein Deckname. Husum. Ich bin jetzt ein richtiger Spion. Ich werde beobachten, zuhören und abwägen, was für den mir vorgesetzten Offizier bedeutsam sein könnte. Das berichte ich dann. Wird nicht ganz einfach, vor allem, wenn ich meine Freunde auskundschaften muss, die ich ja trotz allem nicht verlieren will. Aber ich sollte mir nicht zu viele Sorgen machen, was, Vati? Wird schon schiefgehen, schließlich bin ich zum Spion geboren. Mehr noch, ich werde nebenbei auch noch zu einer echten Szenegröße, zumindest ist das mein Plan. Sie werden mich um Rat fragen, mich brauchen, damit sie bekannt oder vielleicht sogar berühmt werden. Kommen sie dabei nicht vom sozialistischen Weg ab, ist alles bestens. Aber natürlich«, er rieb sich grinsend die Hände, »natürlich wäre das für mich nur der halbe Spaß. Wäre doch langweilig, wenn ich jetzt, da ich ein Spion sein darf, nichts zu berichten hätte, richtig? Aber was mache ich mir Sorgen? Ich weiß doch, dass einige meiner Freunde gedanklich schon längst falsch abgebogen sind. Mit ihrer intellektuellen Überheblichkeit hinterfragen sie das System und seine Regeln, freunden sich mit dem Gedankengut imperialistischer Klassenfeinde an oder tragen gar die Idee in sich, unser System umzustürzen. Und genau da«, Husum klopfte mit den Fingerspitzen auf den Tischrand, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, »komme ich ins Spiel. Gehen sie zu weit, werde ich Meldung machen, und dann werden sie aus dem Verkehr …«

Der Rest seines Satzes ging im Husten seines Vaters unter. Husum stellte seinen Teebecher beiseite, erhob sich und klopfte ihm behutsam auf den Rücken. »Hast du dich verschluckt?« Er beugte sich hinunter und sah seinem Vater direkt ins Gesicht.

»Judas.«

Husum zuckte zusammen und unterbrach das Rückenklopfen. Sein Vater hustete, röchelte und würgte, als wäre er kurz vor dem Ersticken. Sicher hatte er sich verhört.

»Wie war das?«, fragte er trotzdem, und sein Puls beschleunigte sich. Er sah seinem Vater direkte ins Gesicht, erkannte jedoch keinerlei Regung in dessen Mimik. »Hast du was gesagt, Vati?«, fragte er erneut, doch der alte Mann reagierte nicht und hustete und röchelte noch eine ganze Weile weiter. Den Tee, den Husum ihm anbot, damit sich sein Reizhusten beruhigte, ignorierte er. Stattdessen starrte er weiter aus dem Fenster.

Wenig später verabschiedete sich Husum von seinem Vater. Auf dem Weg aus dem Pflegeheim traf er auf eine Krankenschwester.

»Entschuldigen Sie, kann es sein, dass mein Vater wieder spricht?«

Die übergewichtige Schwester schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich würde Ihnen gern Gutes vermelden, aber nein. Seine letzten Worte sind Monate her, und schon damals war es nur wirres und unzusammenhängendes Gebrabbel. Ich möchte wirklich keine falschen Hoffnungen wecken.«

Husum hob kurz die Hand und nickte dann. Die Auskunft der Schwester hätte ihn beruhigen sollen, und ein Stück weit tat sie das ja auch. Aber mit jedem Schritt, den er ging, war er überzeugter davon, dass er völlig richtig gehört hatte. Es gab keinerlei Zweifel an der Demenz seines Vaters. Aber er war trotzdem sicher, dass der Mann noch immer den einen oder anderen lichten Moment hatte. Möglicherweise hatte er die Geschichte, die Husum ihm heute erzählt hatte, ganz genau verstanden. Und ebenso war es möglich, dass sein Vater dieses eine Wort sorgfältig ausgewählt hatte, um ihm klarzumachen, was er von seiner Spitzeltätigkeit hielt.

Husum lächelte voller Stolz. Sein Vater war der einzige noch lebende Verwandte, wenn man von seiner Tochter einmal absah. Sein ganzes Leben lang hatte er versucht, seine Eltern stolz zu machen, doch nie war er gut genug gewesen. Irgendwann war er sogar auf die schiefe Bahn geraten und hatte versucht, durch Betrug an Geld zu kommen, mit dem er dann wiederum seine Eltern beeindrucken wollte. Sein Vater hatte ihn damals durchschaut und ihm gedroht, dass er nicht davor zurückschrecken würde, sein eigenes Kind anzuzeigen, wenn er nicht sofort damit aufhörte.

Seinen Traum, ein richtiger Spion zu werden wie dieser Juri aus den Erzählungen seines Großvaters, hatte sein Vater immer als dumme Kinderei abgetan. Als die Ärzte vor zwei Jahren Demenz bei ihm diagnostiziert hatten, war Husum enttäuscht gewesen, bedeutete dies doch, dass er nie erfahren würde, wenn sein Sohn es am Ende doch schaffte. Und nun das! Sein Vater hatte den einzigen lichten Moment ausgerechnet in der Sekunde, in der er ihm von seinem Erfolg erzählte! Dass er ihn dabei als Judas betitelt hatte, störte Husum ganz und gar nicht. Er war weder naiv noch dumm. Er wusste selbst, dass er genau das war: ein Verräter. Doch so war das eben, wenn man sich für das Leben eines Spions entschied. Es gab Menschen, deren Vertrauen man gewinnen und die man dann verraten und hintergehen musste. Es lag in der Natur der Sache, dessen war sich Husum voll und ganz bewusst. Doch das aufregende Leben, das ihm nun bevorstand, würde ihm gar keine Zeit für ein schlechtes Gewissen lassen. Von jetzt an lebte er eben den Traum, für den sein Vater ihn immer ausgelacht hatte.

»Wer zuletzt lacht, Vati …«, murmelte Husum und verließ mit beschwingten Schritten das Pflegeheim. Er war so guter Dinge, dass er sogar beschloss, doch noch bei Bärbel vorbeizuschauen. Heute Abend neben einem warmen Körper einzuschlafen, würde ihm sicher guttun.

Kapitel 3

Anni

Samstag, 2. April 1988

Anni drückte mit ihrem Daumen eine halbe Minute auf den Klingelknopf. Und als wäre das unangenehme Schrillen in den Ohren nicht schon schlimm genug, drängelte sich nun auch noch Chrissi neben sie auf den Treppenabsatz und schlug mit der flachen Hand ungeduldig gegen das dicke Milchglas der Eingangstür.

»Habt ihr sie noch alle?«, fragte Bene anstelle einer Begrüßung, nachdem er die Tür geöffnet hatte. »Ihr wisst doch genau, dass ich vom Dachgeschoss noch die Treppe runtermuss. Was soll dieser Lärm?«

Chrissi schickte ihm ein Luftküsschen, schob sich an ihm vorbei, nahm die schräg sitzende, knallrote Baskenmütze ab und schüttelte ihre halblangen blonden Locken auf.

Anni beobachtete die beiden grinsend. Benes anfänglich genervter Gesichtsausdruck wich totaler Faszination, während er Chrissi keine Sekunde aus den Augen ließ. Andersherum war nicht zu übersehen, dass Christine Huber nichts anderes im Sinn hatte, als ihrem Studienfreund Benjamin Kreisler den Kopf zu verdrehen. Das Theater zwischen ihnen zog sich schon seit Beginn ihrer gemeinsamen Studienjahre hin. Heute waren sie längst keine Studenten mehr, und trotzdem hatte keiner von ihnen bisher den ersten Schritt gewagt.

Anni hatte inzwischen sogar eine heimliche Wette mit Fexe abgeschlossen, wann sie sich denn nun endlich ihre Gefühle eingestehen würden.

»Redet vielleicht mal jemand mit mir?«, hakte Bene nach.

»Entschuldige.« Anni legte dem Freund die Hände auf die Schultern und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wir haben fast zwei Stunden aus Mitte raus bis zu dir nach Kaulsdorf gebraucht.«

»Ein weiterer dämlicher Schienenersatzverkehr hat Berlin in ein Irrenhaus verwandelt«, sagte Chrissi. »Busse überfüllt, Bahnen platzen aus allen Nähten, und viele Fahrstrecken sind gesperrt, weiß der Kuckuck, warum.«

Anni lief hinter Chrissi und Bene die Treppen hinauf in die Dachgeschosswohnung. Sie stellte einmal mehr fest, dass er sich wirklich glücklich schätzen konnte. Seine Eltern lebten in diesem hübschen, weiß getünchten Eckhaus in Berlin Kaulsdorf, fernab vom Trubel, aber eben doch nah genug am Stadtkern, um die Vorteile des Hauptstadtlebens genießen zu können. Während andere Berliner oft jahrelang nach eigenen vier Wänden suchten, hatte Bene einfach das obere Stockwerk seines Elternhauses bezogen. Hier hatte er seine Ruhe und genoss zur gleichen Zeit, dass seine Mutter noch immer die Wäsche für ihn wusch.

»Was ist mit Fexe?«, fragte Chrissi.

»Verspätet sich wie immer«, antwortete Bene.

Die Frauen setzten sich auf das verschlissene Ecksofa im Wohnzimmer, während Bene zwei Seltersflaschen aus der Küche holte.

»Du tropfst.« Anni deutete auf die Wasserspur, die er aus der Küche hinter sich hergezogen hatte.

»Mein Kühlschrank hat praktischerweise den Geist aufgegeben. Ich kühle ab heute mit kaltem Wasser im Waschbecken.« Er wischte die Flaschen links und rechts an den Hosenbeinen seiner Cordhose ab und stellte sie auf den Wohnzimmertisch.

»Was ist denn nun so wichtig, dass Fexe uns einbestellt hat?«, fragte Chrissi, während sie Wasser einschenkte.

»Kann ich hellsehen?«, gab Bene grinsend zurück.

Wenige Minuten später klingelte es erneut. »Na also.« Anni erhob sich. »Ich geh schon.«

Gut gelaunt hüpfte sie die schmale Treppe hinunter und öffnete die Tür. »Auch schon da? Wie schaffst du es, immer zu spät zu kommen? Ich meine, wirklich immer? Du bestellst uns ein und selbst …«

»Ja, ja.« Fexe winkte ab und legte zur Begrüßung seine Wange auf Annis. Er nahm die Sonnenbrille ab und ersetzte sie durch eine kleine schwarze Nickelbrille, mit der er Anni an John Lennon erinnerte.

»Was machen unsere zwei Turteltauben?«

»Wenn ich Glück habe, sitzen sie jetzt knutschend auf dem Sofa.«

»Ha!« Fexe lachte und schüttelte dann siegessicher den Kopf. »Träum weiter, die Wette verlierst du, und Ende August wirst du mir eine Kurzgeschichte auf den Leib schreiben müssen.«

»Falsch. Du widmest mir einen deiner verdrehten Texte«, sagte Anni und dachte an den ungewöhnlichen Wetteinsatz, den sie beide nach einer durchdiskutierten Nacht vereinbart hatten. Wer immer auch die Wette verlor, die Ende August auslaufen würde, musste dem jeweils anderen einen eigenen Text widmen und diesen bei einer Lesung, wenn sie denn je irgendwann einmal eine haben würden, mit entsprechender Widmung vortragen.

Lachend betraten Anni und Fexe das Wohnzimmer. Da Chrissi und Bene sich noch immer mit einigem Sicherheitsabstand gegenübersaßen, zog Fexe zwei imaginäre Colts aus den Hosentaschen, deutete mit ausgestreckten Zeigefingern Schussbewegungen an und ließ dabei ein albernes »Piu, piu« hören. Anschließend pustete er gegen die Fingerspitzen, als müsste er den Rauch des Colts wegblasen.

»Was soll das denn?«, fragte Chrissi.

»Ich gewinne«, sagte Fexe.

»Und was?«

Ferdinand Schmoller, wie Fexe mit vollständigem Namen hieß, legte den Zeigefinger auf die Lippen und ließ die Frage unbeantwortet.

Einen Moment lang unterhielten sich die Freunde über Alltägliches, dann aber siegte Annis Ungeduld.

»Jetzt lass schon hören. Warum sind wir hier?«

Wie zu erwarten, ließ Fexe sich auch diesmal Zeit. Er war schon immer ein Mann großer Auftritte gewesen, und wenn es eine Möglichkeit gab, im Mittelpunkt zu stehen, dann kostete er diese aus, solange es ging. Statt zu antworten, zog er ein zerknittertes Päckchen Karo aus der Hosentasche, klopfte es gegen die Tischkante, sodass eine Zigarette herausfiel, und zündete sie an. Dann reichte er die Schachtel herum und blies Kreise in die Luft.

Anni zündete sich ihre Zigarette als Letzte an, stand dann aber auf und öffnete das Dachfenster, damit der Qualm abziehen konnte.

»Also gut. Es geht los, wenn ihr wollt.«

Annis Puls beschleunigte sich, denn sie wusste sofort, was Fexes Worte bedeuteten.

»Wo? Wann?«

»Eine Kneipe. Ach, was rede ich da. Viel weniger als das. Nennt sich Lottes Eck. Ist nicht mehr als ein Wohnzimmer mit etwas größerem Erker. Von der Straße aus nicht zu sehen und über einen Hinterhof zu erreichen. Offiziell empfängt Besitzerin Lotte da nur ein paar Freunde, die sie mit Bier und Hackepeterstullen bewirtet. Aber diese vermeintlichen Freunde sind Künstler und Intellektuelle, und was Lotte wirklich antreibt, ist, Leuten wie uns eine Bühne zu bieten.«

Annis Gedanken rasten, und sie brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Es war also endlich so weit. Zum allerersten Mal würde sie mit einer ihrer Geschichten an die Öffentlichkeit gehen. Zugegeben, eine kleine Öffentlichkeit. Vermutlich nicht mehr als zwei Handvoll Interessierter, die möglicherweise auch selbst Texte oder Lieder schrieben und deswegen besonders kritisch sein könnten.

»Und dieser Lotte können wir trauen?«, fragte Bene.

»Ich hoffe doch«, gab Fexe leichthin zurück. »Ich meine, es ist ihr Wohnzimmer, das sie hergibt. Käme raus, welche Künstler in ihren vier Wänden ein und aus gehen und was dabei laut gesagt wird, wäre sie ganz sicher die Erste, die sie wegsperren würden.«

»Wie genau wird es laufen?«, fragte Chrissi.

»Ich stecke noch in den Planungen.« Er nahm seine Brille ab und pustete einen Fussel vom Glas. »Wir gestalten den ganzen Abend. Lyrik, Kurzgeschichten, Lieder, wir sollen zwei bis drei Stunden füllen. Das Wie bleibt uns überlassen. Ich brauche nur vorab ein Thema oder Motto, unter dem der Abend laufen soll, dann müssen Reklamezettel in den Druck und verteilt werden, sodass wir auch Publikum haben.«

»Reklame? Heißt das, die Zuschauer zahlen also, um uns zu sehen?«, hakte Anni nach.

»Das hoffe ich doch. Nicht sonderlich viel, aber es ist ein Anfang. Und mit ein bisschen Glück läuft es danach von selbst.«

Das nervöse Kribbeln in Annis Magen verstärkte sich, und ihr wurde übel. Abgesehen von ihren Eltern, engen Freunden und einer Professorin, die ihren ersten Schreibversuchen den Stempel überaus vielversprechend verpasst hatte, hatte sie sich bisher nie mit ihren Texten an die Öffentlichkeit gewagt. Natürlich war es ihr Wunsch, auf Lesereise zu gehen, gerade plante sie neben Gedichten und Kurzgeschichten ihren ersten Roman. Doch keiner dieser Träume von einer echten Leserschaft hatte sich bis dato erfüllt. Und nun, wo es losgehen sollte, flatterten ihr die Nerven.

Dabei trug sie sich schon eine ganze Weile mit dem Gedanken, einen richtigen Literaturzirkel zu gründen. Regelmäßige Treffen, Vorstellen und Diskutieren eigener Texte, aber auch Gespräche über ganz alltägliche Schwierigkeiten und Sorgen. Sie hatte den Traum von einer kleinen Gruppe Menschen, zu denen in jedem Fall auch Chrissi, Bene und Fexe gehören sollten, die sich austauschten und gemeinsam Texte schrieben, die am Ende bedeutend sein würden. Texte, die den Menschen Hoffnung gaben und vielleicht sogar den Weg in eine freie Zukunft ebneten. »Zwischen den Zeilen« – so würde Anni den Literaturkreis nennen, denn genau das war in der Welt der geschriebenen Worte wichtig: zwischen den Zeilen zu lesen.

»Könnte sich hier vielleicht mal irgendjemand freuen?«, fauchte Fexe in die Stille hinein. »Wir reden seit Monaten genau davon, und jetzt hockt ihr hier, und einer wie der andere schweigt, als wärt ihr stumme Fische. Wie wäre es mit danke oder unglaublich oder Fexe, du bist ein Held?«

»Also den Helden finde ich ja etwas zu hoch gegriffen«, sagte Chrissi. »Aber ein Dankeschön hast du sicher verdient.«

»Ich freu mich riesig«, sagte Anni. »Aber um ehrlich zu sein: Nervös bin ich auch. Geht ja schon mal damit los, dass ich überlegen muss, welchen Text ich vortragen will.«

»Nicht nur das«, ergänzte Bene. »Unsere Darbietungen müssen auch noch zusammenpassen, wenn der Abend unter einem Motto stehen soll.«

»Und es darf nicht zu offensichtlich politisch sein«, warf Anni ein. »Falls die Programmzettel in falsche Hände geraten, wäre es gut, wenn die Brisanz unserer Texte nicht schon durchs Motto auffiele.«

Fexe lehnte sich zurück, griff nach einer weiteren Karo und zündete sie an. »Wie gut, dass ihr mitdenkt. Dann kann ich ja ganz unbesorgt sein«, sagte er mit gewohnt überheblichem Unterton. »Macht ihr mal eure Hausaufgaben und sucht eure Texte raus. Vielleicht jeder zwei? Danach bliebe dann noch Zeit für eine Diskussionsrunde mit den Zuhörern. Wir treffen uns nächste Woche, gleiche Zeit, gleicher Ort, zur Besprechung von Motto und Auftrittsreihenfolge.«

Anni verkniff sich den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag. Immerhin hatten sie durch Fexe eine allererste Chance, sich vor einem Publikum zu präsentieren. Die arrogante Selbstherrlichkeit, die er so oft zur Schau stellte, übersah sie in diesem Fall nur zu gern. Außerdem kannte sie ihn gut genug. Sie wusste um seine Schwäche und befand, dass seine hilfsbereiten Seiten die Arroganz überwogen.

Zwanzig Minuten später verabschiedete sich Fexe.

»Du musst schon wieder los?« Bene griff noch einmal nach Fexes Zigarettenschachtel. »Bleib doch noch ein bisschen. Ich setz Kaffee auf. Vielleicht finden wir ja auch heute schon den passenden Aufhänger für unseren Leseabend.«

Doch Fexe schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Ich hab zu tun.«

»Ich rauch noch eine und bin dann auch weg. Ich will mir Lottes Eck gleich mal ansehen, damit ich eine Vorstellung von der Größe kriege«, sagte Anni.

»Warum das denn?«, fragte Chrissi. »Ist doch wurscht, ob du vor fünf oder vor fünfzig Leuten liest.«

Anni verzog die Lippen und schüttelte dann den Kopf. »Für dich mag das ja stimmen. Aber bei meinem Lampenfieber weiß ich lieber vorher, worauf ich mich einstellen muss. Hast du schon einen Termin für uns?«, wandte sie sich noch einmal an Fexe.

»Hab ich nicht erwähnt? 28. Mai, ein Samstag.« Er hob die Hand, schickte Anni und Chrissi ein Luftküsschen und nickte Bene zu. »Bis dann.«

Fexe verschwand, während Anni noch an der geschnorrten Zigarette zog. »Ich muss den Mist wirklich lassen«, murmelte sie dabei.

»Warum hab ich bei ihm immer das Gefühl, wir wären seine Untergebenen?«, fragte Chrissi, nachdem Fexe außer Hörweite war.

»Weil er uns genau dieses Gefühl geben will«, sagte Bene ernst. »Wir lieben ihn trotzdem, diesen Geheimniskrämer.«

Geheimniskrämer, dachte Anni. Das passte zu Fexe, denn so ganz durchschaute sie ihn noch immer nicht, obwohl sie inzwischen an die fünf Jahre befreundet waren.

»Dein Geheimniskrämer bringt mich auf eine Idee«, überlegte Anni laut. »Was haltet ihr von Stille Post?«

Chrissis fragender Blick ließ Anni auflachen, denn sie wusste sofort, dass ihre Freundin gerade nicht an das Motto für die Lesung dachte, sondern an das Kinderspiel. »Für die Lesung, Chrissi«, half sie ihr deshalb auf die Sprünge.

»Ach so!«

Bene, der auf dem Sofa etwas näher an sie herangerutscht war, rammte ihr den Ellbogen in die Seite. »Du nu wieder«, sagte er fast schon liebevoll.

»Gefällt mir richtig gut«, sagte Chrissi, ohne weiter auf das Missverständnis einzugehen.

»Mir auch.« Bene nickte anerkennend. »Stille Post. Eine Botschaft, die von Person zu Person weitergetragen wird und die jeder so verstehen kann, wie er will. Genau das, was wir brauchen.«

Mit breitem Lächeln und vor Aufregung flauem Gefühl im Magen drückte Anni die Zigarette aus und verabschiedete sich von Chrissi und Bene. Die Blicke, die die beiden dabei tauschten, ließen kaum Zweifel darüber, dass sie es nicht erwarten konnten, allein zu sein.

Mit etwas Glück würde Anni die Wette gegen Fexe gewinnen.

Anni war so in Gedanken, dass sie ein Stockwerk tiefer mit Benes Bruder Basti zusammenstieß.

»Hoppla«, sagte sie fröhlich, doch Bastis Reaktion war alles andere als freundlich.

»Verdammte Scheiße, pass doch auf!«, fluchte er, und als Anni die unzähligen Blätter die Treppenstufen hinuntersegeln sah, begriff sie auch, warum er so genervt war.

»Das tut mir so leid«, sagte sie und machte sich sofort daran, die Blätter aufzuheben. Sie sah Basti entschuldigend an. Dabei fiel ihr Blick auf seine Hand. Anders als die leeren Blätter, die im ganzen Treppenhaus verstreut lagen, hatte er noch eine Art Deckblatt in der Hand, auf der Anni das Wort »Abriss« entziffern konnte.

»Was willst du denn mit all dem Papier?« Sie war ehrlich erstaunt, denn Papier war schwer zu bekommen. »Willst du Flugblätter von Hochhäusern werfen?«, fragte sie lachend.

Basti verzog keine Miene. Er sah auf seine Hand, rollte das Blatt mit dem Wort »Abriss« hastig zusammen und sagte: »Lass mich machen, den Rest schaffe ich schon.«

Da er noch immer verärgert klang, entschuldigte Anni sich ein weiteres Mal. »Das war wirklich keine Absicht. Ich war einfach nur in Gedanken.« Einen Moment überlegte sie, ob sie Basti von der bevorstehenden Lesung erzählen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Eigentlich mochte sie Benes jüngeren Bruder. Die Unfreundlichkeit, die er heute an den Tag legte, war ungewöhnlich und Grund genug, ihm nicht noch weiter entgegenzukommen.

»Vielleicht denkst du das nächste Mal einfach daran, dass hier neben Bene auch noch andere Leute wohnen. Damit, dass dir einer von unserer Familie im Hausflur begegnet, kannst du jederzeit rechnen. Immerhin leben wir hier!«

Der letzte Satz setzte seinem unfreundlichen Verhalten endgültig die Krone auf und klang derart unhöflich, dass Anni der Kragen platzte. »Geht’s noch, Basti?«, fauchte sie. »Ich hab mich entschuldigt. Es ist nichts weiter passiert, abgesehen davon, dass die Blätter aufzusammeln sind, wobei ich dir gerade helfen wollte.«

Basti atmete hörbar ein und aus und schloss einige Sekunden die Augen. Deutlich freundlicher sagte er: »Hast ja recht. Ich war nur überrascht, denn ich hab auch nicht mit dir gerechnet. Entschuldige, dass ich dich so angegiftet hab.«

Annis Wut verrauchte sofort. »Entschuldigung akzeptiert.« Sie lächelte versöhnlich. »Ich nehme mal an, dass du mir meine Frage nach Flugblättern nicht beantworten willst?«

»Richtig. Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du hierüber kein Wort verlieren würdest. Auch nicht meinem Bruder oder deinen verdrehten Künstlerfreunden gegenüber.«

Anni hätte ihm am liebsten erklärt, dass seine Bitte um Verschwiegenheit ihre Neugier nur noch weiter verstärkte, doch Bastis ernste Miene führte dazu, dass sie sich jeden weiteren Kommentar verkniff. Stattdessen nickte sie und deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Geste an, die danach aussah, als würde sie ihre Lippen mit einem Schlüssel verschließen.

»Danke«, sagte Basti. Dann bückte er sich und machte sich daran, das restliche Papier auf seinem Weg in Richtung Keller aufzuheben.

Auf dem Weg zu Lottes Eck gingen Anni die vielen weißen Blätter nicht aus dem Kopf. Ihr Kontakt zu Benes kleinem Bruder hatte sich bisher auf Begrüßungen und ein wenig Geplänkel beschränkt. Sie war immer davon überzeugt gewesen, dass Bene der Denker und Grübler von beiden war. Genau genommen wusste sie nichts über Basti, doch seine erschrockene Reaktion, die vielen Blätter und das Wort »Abriss« brachten sie auf den Gedanken, dass er möglicherweise sogar aktiver war, als sein Bruder und sie es bisher gewesen waren.

Bastis Bitte, das Gesehene für sich zu behalten, wollte sie trotzdem erfüllen, denn sie ahnte, dass sie mit ihrer flapsigen Flugblatt-Bemerkung nicht allzu weit entfernt von der Wahrheit gewesen war. Sollte er die Blätter wirklich für den Druck kritischer Texte benötigen, war jeder Mitwisser einer zu viel. Sie selbst konnte schweigen, und das würde sie auch, obwohl sie ihren Freunden blind vertraute und davon überzeugt war, dass weder Chrissi noch Bene oder Fexe je zur Gefahr für Basti werden würden.

Kapitel 4

Husum

Donnerstag, 28. April 1988

Zu Husums Bedauern hatte ihn Meißner auch diesmal in sein Büro bestellt. Der Wunsch, mit dunklem Mantel und Hut in einer verrauchten Spelunke zu sitzen, um pikante Details auszutauschen, würde sich also wieder nicht erfüllen.

Doch was machte das schon? Das heutige Treffen mit seinem Vorgesetzten würde trotz des unspektakulären Ortes besonders werden, denn nach Wochen voller Belanglosigkeiten hatte er endlich etwas wirklich Wichtiges zu berichten.

»Husum«, begrüßte Meißner ihn knapp, als er dessen Büro betrat. Er sah auf und hob dann überrascht die Augenbrauen. »Neu?«, fragte er und deutete auf Hut und Mantel.

»Ach, das«, gab Husum betont gelassen zurück. Er zog den wadenlangen grauen Mantel aus, hängte ihn an den Haken und legte den Hut auf den Aktenschrank daneben. Er würde Meißner gegenüber nie zugeben, dass er sich zur Feier seiner ersten echten Meldung sogar neu eingekleidet hatte. Ein grauer langer Mantel, ein dazu passender Hut. Genau so sahen Spione schließlich nicht nur in seiner Fantasie aus, sondern auch in den unzähligen Agentenfilmen, die es inzwischen gab.

Meißners spöttisches Lächeln irritierte Husum, deswegen schob er »aus dem Schrank meines Vaters« hinterher.

»Lebt der nicht im Altenheim?«

Husum nickte. Natürlich, dachte er still bei sich. Die Staatssicherheit machte ihre Hausaufgaben gründlich und war bestens im Bilde über seine Familienverhältnisse. »Seit Monaten schon, ja. Ich bin nur bisher nicht dazu gekommen, seine persönlichen Sachen auszusortieren. Mantel und Hut waren zu neu, um sie zu entsorgen, und mein Vater braucht sie nicht mehr, setzt er doch kaum noch einen Fuß vor die Tür.«

»Verstehe«, sagte Meißner.

Husum presste die Lippen aufeinander. Der selbstgefällige Tonfall des Offiziers gefiel ihm nicht, und ihn beschlich das Gefühl, dass der sich insgeheim über ihn lustig machte.

»Was haben Sie heute für mich?«, wollte Meißner wissen.

Der Moment war da! Husum konnte endlich zeigen, dass er das in ihn gesetzte Vertrauen verdient hatte.

»Es wird ein Zusammentreffen geben.« Er sagte nur diesen einen Satz, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Offizier zog die Augenbrauen in die Höhe. Er wirkte verärgert, und Husum erkannte, dass es wohl besser war, sein Gegenüber nicht warten zu lassen. Deswegen griff er in seine Tasche, zog ein sorgsam gefaltetes Blatt Papier hervor und reichte es Meißner.

»Was ist das?«

»Namen. Dazu Zeit und Ort einer Zusammenkunft.«

»Details!«

Husum schluckte. Genau hier und jetzt, in dieser muffigen Amtsstube, wurde ihm plötzlich klar, dass es kein kleines Abenteuer war, auf das er sich eingelassen hatte. Er konnte es sich mitnichten erlauben, Meißner zum Narren zu halten oder ihn um Informationen betteln zu lassen. Was bei seinen Freunden immer noch hervorragend funktionierte – den großen Knall mit Spannung und Theatralik vorzubereiten, um hinterher besonders gelobt, gemocht und gebraucht zu werden –, würde bei diesem Offizier nicht gelingen.

Für einen kurzen Moment flatterten Husums Nerven. In seiner Gier nach Aufmerksamkeit hatte er sich womöglich auf etwas eingelassen, das er viel weniger kontrollieren konnte, als er es sich eingeredet hatte. Es war ein Spiel, das begriff er erst jetzt, das er auch jederzeit verlieren konnte.

Husum schüttelte sich kaum merklich und mahnte sich zur Ruhe. Er hatte Informationen, die würde er weitergeben. Sollte er feststellen, dass ihm dafür nicht die Anerkennung entgegengebracht wurde, die er sich erhoffte, würde er eben nur noch Nebensächliches abliefern. Dieser Meißner mochte ein gewiefter Offizier sein. Das änderte aber nichts daran, dass er Lob, irgendwann womöglich auch Auszeichnungen für seine Leistungen erwartete. Zugegeben, bisher waren die Informationen dürftig gewesen. Aber heute lieferte Husum Fakten, die zu Verhaftungen führen konnten. Dafür verlangte er Wertschätzung.

»Für die Vollständigkeit der Namensliste kann ich nicht garantieren«, erklärte Husum.

»Da das Treffen nicht als offizielle literarische Lesung gemeldet ist, muss ich davon ausgehen, dass keiner der Texte der Abnahmekommission vorgelegt wurde, richtig?«

»Richtig. Ich konnte bisher auch noch nicht in Erfahrung bringen, welchen Inhalts die Werke sind.«

Husum presste die Lippen zusammen. Es ärgerte ihn, dass er seine Unwissenheit an dieser Stelle eingestehen musste. Es hätte seinem Ansehen sicher gutgetan, wenn er auch hier Details hätte liefern können.

»Verstehe«, antwortete Meißner. »Seien Sie unbesorgt. Ihre Details reichen aus, um weitere Schritte einzuleiten.« Dann lächelte er plötzlich und nickte ihm freundlich zu. »Na also, Husum. Ich wusste doch, warum ich auf Sie gesetzt habe!«

»Danke, ich tue mein Bestes«, sagte Husum knapp.

»Das tun Sie, jawohl. Selbstverständlich erwarte ich Sie bei dieser Zusammenkunft«, fuhr Meißner fort. »Ich werde ebenfalls zugegen sein, und Sie lassen sich nicht anmerken, dass wir uns kennen. Wir werden uns, für alle Anwesenden sichtbar, einander vorstellen, sodass in Zukunft niemand Verdacht schöpft, wenn wir zusammen gesehen werden.«

»Selbstverständlich«, gab Husum sich pflichtbewusst. Dann überreichte er seinem Offizier weitere handschriftliche Notizen. »Hier habe ich zusammengetragen, was ich über die Veranstalterin der Zusammenkunft in Erfahrung bringen konnte.«

Meißner warf einen kurzen Blick auf das Papier und schob es dann in die Akte vor sich. »Danke. Ich nehme es später in Augenschein.«

»Vielleicht wäre es besser in meinem Beisein? Nur für den Fall, dass sich Rückfragen ergeben.«

»Das wird nicht nötig sein. Ich bin davon überzeugt, dass Sie mit der gebotenen Sorgfalt gearbeitet haben.«

Husum atmete tief ein und aus, und obwohl er sich fest vorgenommen hatte, keine Emotionen zu zeigen, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der Moment war da. Es gab einen ersten echten Auftrag. Er hatte Meißners Vertrauen gewonnen und würde nun Teil einer realen Überwachungsaktion sein. Er stand zwar erst am Anfang dieser aufregenden Reise, doch er war genau da, wo er immer sein wollte.

Kapitel 5

Mirko

Donnerstag, 28. April 1988

Nachdem Husum die Amtsstube verlassen hatte, riss Mirko als Erstes das Fenster auf. Das billige Aftershave, das sein IM offenbar in Unmengen aufgetragen hatte, hing in der Luft und bereitete ihm Kopfschmerzen.

Er gestand sich ein, dass er seinen neuen IM nicht mochte. Er war übereifrig und machte keinen Hehl daraus, dass es ihm einzig um Ruhm und Anerkennung ging.

»Und dieser lächerliche Aufzug«, murmelte Mirko vor sich hin – genau in dem Augenblick, als seine Sekretärin zur Tür hereinsah.

»Ja, oder?«, fragte sie sofort. »Was zum Kuckuck sollte dieser alberne Hut?«

Mirko zuckte mit den Schultern und grinste.

»Ich weiß«, beantwortete Karina Koslowski ihre Frage gleich selbst. »Er ist vermutlich schizophren, und sobald er Hut und Mantel trägt, hält er sich für …«

»… James Bond«, ergänzte Mirko. »Aber wir sollten unsere Zeit nicht mit gehässigen Lästereien verplempern. IM Husum leistet wertvolle Dienste. Zum ersten Mal hat er Fakten geliefert, die tatsächlich wichtig sein dürften.«

»Na, wenn das nicht großartig ist!« Karina Koslowski faltete ihre Hände wie zum Gebet und schüttelte sie theatralisch.

»Was wollten Sie denn?«, lenkte Mirko vom Thema ab, obwohl er zugeben musste, dass ihn das ironische Geplänkel seiner Sekretärin amüsierte.

»Mittagspause, wenn’s genehm ist, Chef.«

Miko warf einen Blick auf seine Armbanduhr und nickte. »Allerhöchste Zeit, Sie haben völlig recht.«

Er erhob sich zwar, doch ihre Frage danach, ob er wohl endlich einmal mit ihr in der Kantine essen würde, verneinte er auch jetzt.

»Danke, aber nein danke. Ich habe …«

»… Leberwurststulle dabei. Und den guten Röstkaffee, den ich mit niemandem teile – auch nicht mit meiner lieben Frau Koslowski. Ich weiß schon.«

Mirko schluckte und spürte, wie ihm die Hitze in die Wangen kroch. Er hatte seine Sekretärin ganz eindeutig unterschätzt. Sie hatte also längst durchschaut, warum er ihren Kaffee immer wieder abgelehnt hatte. Einen Moment lang dachte er daran, sich für seinen Geiz zu entschuldigen. Doch als könnte sie seine Gedanken erraten, winkte sie lächelnd ab.

»Schon gut«, half sie ihm aus der unangenehmen Stille. »Mein Muckefuck ist mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich ihn gegen nichts auf der Welt eintauschen würde.«

Mirko lachte glucksend, denn die weit aufgerissenen Augen seiner Sekretärin und die traurig nach unten gezogenen Mundwinkel straften ihre Worte Lügen.

»Verzeihung«, sagte er deswegen.

Karina Koslowski verschwand ohne ein weiteres Wort in die Mittagspause, und Mirko nahm sich vor, ihr bei seinem nächsten Einkauf im Intershop ein eigenes Päckchen Kaffee mitzubringen. Es würde ihn ein kleines Vermögen kosten, aber ihm war bewusst, dass die Koslowski jeden Pfennig davon wert war.

Seine eigene Mittagspause verbrachte er wie meist in der Amtsstube. Er packte Brot, Apfel und Thermoskanne aus, begann zu essen und überflog gleichzeitig den Bericht, den Husum ihm überlassen hatte.

Nachdem er gegessen hatte, wischte er die Brotkrümel von der Tischplatte, schob die Thermoskanne zur Seite und zog die Schreibmaschine heran. Aus den Fakten, die Husum ihm geliefert hatte, formulierte er einen ausführlichen Bericht.

Bericht

Berlin, den 28.4.1988

Am 28.4.1988 wurde die Abteilung HA XX – Staat, Kirche, Untergrund, Parteien – Dienststelle Magdalenenstraße – durch IM Husum darüber informiert, dass ein konspiratives Treffen von revolutionären Kräften bevorsteht, die sich der intellektuellen Kunstszene Berlins zuordnen lassen.

Ort und Zeit des Treffens: Lottes Eck, Silberweidenweg 15, 28. Mai 1988, 19 Uhr.

Der IM berichtete des Weiteren, dass es sich bei der Lokalität um eine Art offene Wohnstube handele. Liselotte Schmölk, Namensgeberin von Lottes Eck und Mieterin der Wohnung im Silberweidenweg, trat bereits mehrfach als Querulantin in Erscheinung. Mit der Zusammenkunft, die sie nun in ihren Räumen ermöglicht, ist sie zukünftig als Gefährderin einzustufen.

Aus ihren bisherigen Akten geht hervor, dass Schmölk ihre berufliche Tätigkeit bereits vor fünf Jahren aufgegeben hat und seither als Rentnerin lebt. Nach Aussagen enger Freunde bezeichnet sie sich selbst als Friedensaktivistin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, oppositionelle Kräfte zu unterstützen und das System von Unterdrückung und Zwang zu revolutionieren.

IM Husum konnte bislang nicht in Erfahrung bringen, ob Schmölk auch selbst feindliche Texte verfasst oder lediglich ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellt.

Aufgrund der politisch-ideologischen Haltung Schmölks ist davon auszugehen, dass auch die bei dem geplanten Treffen anwesenden Kunstschaffenden dringend unter Beobachtung zu stellen sind.

Vom MfS wird empfohlen, seitens zuständiger staatlicher Organe zu prüfen, inwieweit die teilnehmenden Schriftsteller die Verfassungskonformität ihrer Texte einhalten. Eine lückenlose Überwachung der Veranstaltung und ihrer Teilnehmer ist daher geboten.

Sollte sich der Eingangsverdacht feindlicher Schriften bestätigen, muss unverzüglich geprüft werden, inwieweit die Autoren der Texte mit einem Berufsverbot zu belegen sind. Ergeben sich darüber hinaus strafrechtlich relevante Sachverhalte, sind im Folgenden ausführliche Verhöre in die Wege zu leiten.

Einen Moment lang überlegte er, ob es nicht angebracht sein könnte, Lotte Schmölk sofort zu verhören, statt ihr weiterhin Narrenfreiheit zu lassen – immerhin war sie längst kein unbeschriebenes Blatt mehr –, doch Mirko entschied sich dagegen. Mochte ja sein, dass die Schmölk als Klassenfeindin galt, doch sie war auch Rentnerin. Welche Gefahr konnte schon von ihr ausgehen? Sollte ihr die Flucht in den Westen gelingen, war das für den Staat kein Verlust, denn sie arbeitete nicht mehr. Ärgerlich, sicher. Aber nichts, was ihm, seinen Vorgesetzten oder der Dienststelle irgendwelches Kopfzerbrechen bereiten würde. Verhielt sich das MfS dagegen unauffällig, konnte Lottes Eck zu einer echten Goldgrube oder Jauchegrube werden – je nach Betrachtungsweise –, aus der sich, wenn er es denn richtig anstellte, feindliche Subjekte eliminieren ließen.

Mirko hatte seine Entscheidung getroffen. Er würde Lotte Schmölk nicht zum Verhör holen und stattdessen nutzen, dass sie Literaturtalenten eine Bühne bot, die möglicherweise eine weitaus größere Gefahr für die Republik werden konnten.

Er kontrollierte seinen Bericht mehrfach, setzte dann seine Unterschrift darunter und legte ihn seiner Sekretärin zur Weiterleitung an Oberleutnant Schmeurer auf den Schreibtisch.

Bis zur besagten Lesung waren es nur noch vier Wochen. Das leichte Ziehen, das er beim Gedanken daran im Magen verspürte, bewies ihm einmal mehr, dass er eben nicht nur Schreibtischtäter war. Nachdem er die vergangenen Monate damit verbracht hatte, sich in die ihm zugeordneten Fälle einzuarbeiten und weitere IMs zu rekrutieren, war es an der Zeit, endlich wieder selbst aktiv zu werden. Vorher musste er sich jedoch schleunigst eine Tarnidentität zulegen. Den Vornamen würde er beibehalten, als Nachnamen wählte er Hofreiter, doch um in der Kunstszene, die er nun unterwandern wollte, nicht aufzufallen, brauchte er einen passenden Lebenslauf, und sicher war es auch nicht verkehrt, wenn er den einen oder anderen lyrischen Text verfasste, den er gegebenenfalls vortragen konnte, um sich glaubwürdig unter die Autoren zu mischen. Was seinen Beruf anging, entschied er sich für den des Bankangestellten. Unauffällig, ein bisschen spießig, aber doch ganz vernünftig bezahlt. So dürfte niemand in der Kunstszene Verdacht schöpfen, sollte er doch einmal etwas hochwertiger gekleidet sein als der Ostberliner Durchschnittsbürger.

Kapitel 6

Anni

Samstag, 28. Mai 1988

Anni blieben noch mehr als fünf Stunden, bevor die Lesung beginnen sollte, doch sie stand bereits frisch gewaschen im Bad. Um ihre nassen Haare hatte sie einen Handtuchturban gewickelt. Sie wischte mit der Hand über den beschlagenen Spiegel und griff dann nach ihrem selbst genähten Schminktäschchen. Ein ungespitzter schwarzer Kajal, ein abgenutzter Lippenstift und Puder, das eigentlich zu dunkel für ihre blasse Haut war, war alles, was sie besaß, denn wie so vieles hier waren auch Kosmetikartikel Mangelware.

Anni cremte zunächst ihre Fingerspitzen ein, tupfte dann mit den noch klebrigen Fingern auf das Puder und klopfte es anschließend auf die Wangenknochen. Sich vollständig abzupudern, würde ihr Gesicht in eine Maske verwandeln, die nicht mehr zu Hals und Armen passte, als Rouge war der Farbton aber ganz akzeptabel.

Den Kajalstift nutzte sie, um ihre Brauen nachzuzeichnen und sich Katzenaugen zu verpassen. Zusammen mit dem knallroten Lippenstift und einem schwarzen, schulterfreien Samtkleid hatte ihr Aufzug etwas von Madonna: geheimnisvoll, verrucht und in jedem Fall so, wie sie von nun an als Künstlerin in der Öffentlichkeit auftreten wollte. Dass sie in Wahrheit weit entfernt vom Selbstbewusstsein eines Popstars war, wusste ja zum Glück niemand, und hinter Lippenstift und Kajal konnte man sich ganz wunderbar verstecken.

Ihre rotblonden Haare rubbelte Anni lediglich trocken. Sie würde sie später mit Zuckerwasser durchkneten und die Locken dann ein wenig auftoupieren.

Sie sah auf ihre Armbanduhr und seufzte. Es waren immer noch viereinhalb Stunden Zeit bis zur Lesung, anderthalb, ehe Chrissi sie abholen wollte, deswegen beschloss sie, sich einfach selbst auf den Weg zu ihrer Freundin zu machen, um die Zeit irgendwie totzuschlagen.

 

Chrissi ließ sie ungewöhnlich lange vor der Tür stehen, und als sie endlich öffnete, war der sonst so sorgfältig frisierte Bob ihrer Freundin völlig zerzaust.

»Sag nicht, du hast um diese Tageszeit geschlafen«, rief Anni fröhlich und schob sich an ihr vorbei.

»Was machst du denn schon hier? Ich wollte doch dich abholen.«

»Ich weiß. Aber ich war zu aufgeregt und viel zu früh fertig. Da wollte ich …« Sie brach ab, denn sie bemerkte in diesem Augenblick, dass Chrissi sich nervös über den Oberarm rieb. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen glänzten.

»Hast du etwa Besuch?«

»Geht dich gar nichts an«, sagte Chrissi, grinste dabei aber übers ganze Gesicht.

Anni machte einen Schritt auf die Freundin zu. »Wer? Sag schon!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Küchentür, und Benes ebenso verstrubbelter Kopf kam zum Vorschein. Er nippte an einem Glas Wasser, und da jede weitere Erklärung überflüssig war, zuckte er lediglich mit den Schultern und grinste Anni schief an.

»Jawoll!«, rief Anni etwas lauter als beabsichtigt. Chrissi und Bene zuckten zusammen und sahen sie fragend an. »Wusste ich’s doch. Ich gewinne!«

»Ich versteh kein Wort. Weißt du, was sie meint, Bene?«

Ehe er antworten konnte, erklärte Anni: »Na, die Funken zwischen euch. Seit Jahren dieses Theater. Ich war sicher, dass ihr bis Ende des Sommers endlich zusammenfindet. Fexe wollte mir nicht glauben, und da haben wir …« Sie brach ab, denn ihr ging in diesem Moment auf, wie unpassend es war, ihren langjährigen Freunden von der Wette zu erzählen.

»Da habt ihr gewettet«, ergänzte Bene.

Chrissi knuffte ihr kräftig gegen den Oberarm. »Sag mal, habt ihr sie noch alle? Ihr wettet um unser Glück? Das ist doch irgendwie ein bisschen makaber, oder nicht? Was war denn der Wetteinsatz?«

»Literatur«, gab Anni knapp zurück. »Der Verlierer schreibt dem Gewinner etwas auf den Leib.«

»Dein jawoll hat also bedeutet, dass du die Wette gewonnen hast, richtig? Warum freut mich das jetzt?«, fragte Bene, immer noch grinsend.

»Weil sie auf uns gewettet hat und nicht gegen uns.« Chrissi gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze.

»Weil Fexe der Verlierer ist?«, fragte Anni feixend.

»Klingt beides gut«, antwortete Bene. »Dann verzieh ich mich mal und lass euch Mädels allein.«

Kurz darauf verschwand er mit den Worten, dass man sich ja dann am Abend bei der Lesung sehen würde.

Anni lief ganz selbstverständlich in die Küche, öffnete den Hängeschrank und nahm Zwiebäcke heraus, die sie mit Butter und Marmelade bestrich. »Wie lange geht das zwischen euch schon?« Sie steckte ihren Kopf durch die Küchendurchreiche und drückte Chrissi einen Zwieback in die Hand.

»Anderthalb Monate.«

»Was? Und ihr sagt uns nichts?«

»Warum sollten wir? Ist doch unser Ding.«

Anni nickte. Chrissi hatte recht. Sie vier waren zwar seit Jahren Freunde, doch natürlich war es ihr gutes Recht, ihre Beziehung nicht gleich an die große Glocke zu hängen.

»Hilfst du mir bei den Haaren?«, lenkte Chrissi vom Thema ab.

»Klar, so kannst du nicht gehen.«

Die Frauen lachten und verbrachten die nächste Stunde damit, Chrissi in eine echte Diva zu verwandeln.

»Die Wasserwellen – dazu noch blond … Das hat ein bisschen was von Marlene Dietrich«, befand Anni.

»Dazu du und dein unverkennbares Madonna-Styling.«

»Marlene und Madonna, neues Dream-Team am Literatur-Himmel Ostberlins«, lachte Anni. Es war kindisch, denn eigentlich waren sie beide längst aus dem Alter heraus, in dem man einem Idol nachjagte. Doch für den Moment ließ diese kleine Albernheit sie zumindest ihr Lampenfieber vergessen.

 

Anni, Chrissi und Bene betraten Lottes Eck fast zeitgleich und wie vereinbart eine Dreiviertelstunde vor Beginn der Lesung. Obwohl Fexe es liebte, im Mittelpunkt zu stehen, hatte er heute gekniffen. Unter dem Vorwand, ihnen die Bühne überlassen zu wollen, hatte er seinen eigenen Auftritt abgesagt. Einen Moment lang war Anni genervt gewesen, doch dann überwog der Gedanke, dass der Freund den Abend immerhin für sie organisiert hatte und ihnen aus dem Publikum heraus beistand. Vielleicht war er einfach noch nicht so weit, sich einem Publikum zu stellen, eine Möglichkeit, die Anni durchaus nachvollziehen konnte.

Sie hatten sich tatsächlich auf das Motto Stille Post geeinigt, und die Gedichte und Kurzgeschichten, die sie am heutigen Abend lesen und vorstellen wollten, drehten sich allesamt um Gedanken, Ideen und Ängste, die die Protagonisten in stillen und einsamen Momenten mit sich herumschleppten.

Anni hatte sich in den vergangenen Tagen dazu entschlossen, keinen ihrer bisherigen Texte vorzustellen, sondern eine neue Kurzgeschichte für den heutigen Anlass zu verfassen. Passend zum Motto war ihr Protagonist ein Postbote, der aus Kummer und Einsamkeit damit begann, Briefe zu öffnen, die er eigentlich austragen sollte. Auf diese Weise erhielt er Einblicke in die Geheimnisse der Menschen, die er, wenn überhaupt, nur flüchtig kannte, und stand am Ende der Geschichte vor der Frage, ob sich sein Leben wohl in ein aufregendes Abenteuer verwandelte, wenn er aus den Geheimnissen der Menschen Profit schlagen und sie entweder erpressen oder an den Staatsapparat verpfeifen würde.

Das offene Ende der Geschichte ließ genug Raum, um danach mit den Zuhörern Repressalien und Zwänge in diesem Land zu diskutieren, über die sich die Briefschreiber beschwerten. Gleichzeitig hatte Anni den Hauptcharakter so widersprüchlich angelegt, dass er auch als jemand gesehen werden konnte, der zu einem treuen Staatsdiener wurde.