Die Seifenmanufaktur – Die Essenz des Glücks - Farina Eden - E-Book
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Die Seifenmanufaktur – Die Essenz des Glücks E-Book

Farina Eden

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Beschreibung

Von der Kraft, für seine Träume zu kämpfen Die 20-jährige Emma weiß nichts von ihrem Vater Anton, der eine Seifenmanufaktur besitzt und heimlich ihre Ausbildung finanziert. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, geraten Emma und ihre Mutter aufgrund ihrer jüdischen Abstammung in Gefahr. Unerwartete Hilfe bekommen sie von Antons Ehefrau Helen. Unter falschem Namen wird Emma in der Seifenmanufaktur angestellt. Doch ausgerechnet ihr Halbbruder Christian entwickelt sich zum glühenden Anhänger der NSDAP. Das Glück der Familie droht zu zerbrechen … Atmosphärisch und berührend – Das große Finale der mitreißenden Saga um die wechselvolle Geschichte einer Seifensiederei im 19. und 20. Jahrhundert! Band 1: Die Seifenmanufaktur – Die Rezeptur der Träume Band 2: Die Seifenmanufaktur – Der Duft des Neubeginns Band 3: Die Seifenmanufaktur – Die Essenz des Glücks

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Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Außenlektorat: textkontur – Sandra Lode

Covergestaltung: Teresa Mutzenbach

Covermotiv: Trevillion Images (Joanna Czogala; Drunaa); Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Emma

Kapitel 2

Paul

Kapitel 3

Helen

Kapitel 4

Emma

Kapitel 5

Eva

Kapitel 6

Paul

Kapitel 7

Helen

Kapitel 8

Emma

Kapitel 9

Eva

Kapitel 10

Paul

Kapitel 11

Helen

Kapitel 12

Charlotte

Kapitel 13

Eva

Kapitel 14

Paul

Kapitel 15

Helen

Kapitel 16

Charlotte

Kapitel 17

Eva

Kapitel 18

Paul

Kapitel 19

Helen

Kapitel 20

Charlotte

Kapitel 21

Eva

Kapitel 22

Paul

Kapitel 23

Helen

Kapitel 24

Charlotte

Kapitel 25

Charlotte

Kapitel 26

Helen

Kapitel 27

Eva

Kapitel 28

Paul

Kapitel 29

Charlotte

Kapitel 30

Helen

Kapitel 31

Eva

Kapitel 32

Paul

Kapitel 33

Charlotte

Kapitel 34

Helen

Kapitel 35

Paul

Kapitel 36

Charlotte

Kapitel 37

Eva

Kapitel 38

Helen

Epilog

Nachwort

Die Seifenfabrik

Die Stadt Rothenburg ob der Tauber

Kriegsgeschehen in Rothenburg ob der Tauber

Danksagung

Quellen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Kapitel 1

Freitag, 2. Juni 1933

Emma

Emma fuhr mit dem Finger über die Zeilen und suchte mit klopfendem Herzen nach ihrem Namen. Das Murren hinter sich überhörte sie. Sie hatte sich durch die aufgeregten Frauen hindurchgeschoben, endlich einen Platz vor der Anschlagtafel ergattert und würde nun sicher nicht beiseitetreten, nur weil sie anderen die Sicht nahm.

Es sah nicht so aus, als wären die Prüflinge alphabetisch sortiert worden. Und falls doch? Sie schluckte, denn daran, dass sie durchgefallen sein könnte, wollte sie einfach nicht denken.

»Da!«, rief sie. Ohne an die drängelnden Frauen neben und hinter sich zu denken, sprang sie in die Höhe und riss beide Arme nach oben.

Emma Ehrlich. Bestanden.

»Jetzt sieh zu, dass du Platz machst.«

»Und schon bin ich weg«, gab Emma fröhlich zurück. Sie hatte es geschafft. Dass sie überhaupt daran gezweifelt hatte! Schon die Jahre an der höheren Mädchenschule hatten ihr gezeigt, dass sie sich weniger für Hauswirtschaft oder Handarbeit, sondern vielmehr für die Mathematik begeisterte. Es war ein logischer Schritt gewesen, die städtische Schule für Frauenberufe in Fürth zu besuchen, um sich dort zur Buchhalterin ausbilden zu lassen.

Und nun war sie Buchhalterin. Zwar wusste sie noch nicht im Detail, wie sie sich in den einzelnen Fachbereichen, etwa Rechnungswesen oder Buchführung, geschlagen hatte, doch das war zweitrangig. Sie hatte in den vergangenen Monaten alles gelernt, was sie benötigen würde, um in einem der großen umliegenden Betriebe arbeiten zu können. Sie beherrschte Stenografie ebenso wie den Umgang mit der Schreibmaschine. Als vor drei Jahren eine ganz neuartige Buchungsmaschine auf den Markt gekommen war, hatte Emma keine Sekunde gezögert und sich auch mit diesem Gerät vertraut gemacht. Sie war eine der Schnellsten ihres Jahrganges, wenn es darum ging, Buchungsblätter auszufüllen oder ganze Jahresbilanzen zu kontrollieren. Eine glänzende Zukunft lag vor ihr, dessen war sie sich sicher.

Mit beschwingten Schritten lief Emma die breite Treppe hinunter, die aus dem Gebäude führte. Sie konnte es kaum erwarten, das Gesicht ihrer Mutter am Wochenende zu sehen. Sie hatten vereinbart, dass sie zu den Pfingstfestspielen nach Rothenburg zurückkehren und einige Tage dort verbringen würde. Danach wollte sie damit beginnen, sich in Fabriken und Betrieben in und um Fürth und Nürnberg vorzustellen.

»Emma!«

Klara riss sie aus ihren Gedanken. Suchend sah sie sich um, und als sie die Freundin entdeckte, konnte sie nicht mehr an sich halten. »Ich habe bestanden!«, brüllte sie quer über die Straße.

Klara schüttelte lachend den Kopf, wartete mit ihrer Antwort jedoch, bis sie voreinanderstanden. »Hast du etwa daran gezweifelt?«, fragte sie und hakte sich bei Emma unter.

»Einen kurzen Moment«, gab Emma zu. »Die Sekunden, in denen ich meinen Namen gesucht habe, erschienen mir wie eine Ewigkeit.«

»Also haben deine Selbstzweifel nichts mit Können oder Nichtkönnen zu tun, sondern einzig mit deiner Ungeduld.«

Emma warf den Kopf in den Nacken, hielt sich ihren roten Glockenhut und lachte herzlich. Wie so häufig hatte Klara ihren Charakter mit wenigen Worten treffend beschrieben.

»Das müssen wir feiern«, entschied Klara. Sie hatte ihre Ausbildung zur Krankenschwester bereits vor über einem Jahr beendet und inzwischen eine Anstellung im israelitischen Hospital Fürth angenommen.

»Ich weiß nicht«, gab Emma zögerlich zurück. »Meine Tasche ist noch nicht gepackt, und mein Zug nach Hause geht morgen schon sehr früh.«

»Und?« Klara zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Was brauchst du schon groß für die wenigen Tage bei deiner Mutter? Und das Schlafdefizit kannst du im Zug ausgleichen.«

Da Emma nicht sofort zustimmte, blieb Klara stehen und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Stell dich nicht so an! Diesen neuen Lebensabschnitt wirst du doch wohl nicht mit dem griesgrämigen Fräulein Pfisterer beginnen wollen.«

Emma spitzte die Lippen und ließ die Luft entweichen, als hätte sie gerade die schwerste Entscheidung ihres jungen Lebens zu treffen. Die Aussicht auf einen langen Abend mit endlosen Schimpftiraden ihrer Vermieterin war alles andere als verlockend.

Elfriede Pfisterer, Hauswirtin der Pension Pfisterer, war eine überaus anstrengende Frau. Ihre Launen wechselten stündlich. Mal gab sie sich aufgeschlossen und wollte von den Frauen, die sie beherbergte, alle möglichen privaten Dinge erfahren, um ihnen dann mütterliche Ratschläge zu erteilen. Im nächsten Moment konnte es jedoch sein, dass sie ihre ausnahmslos weiblichen Mieterinnen für vermeintlich schlechtes Benehmen tadelte, sie beschimpfte oder sogar mit Rauswurf drohte, wenn sich diese nicht den Hausregeln unterordneten, die sich jedoch ebenso schnell änderten wie ihre schwankenden Stimmungen.

Emma hatte inzwischen den Eindruck, dass sich das konfuse Wesen der Hauswirtin auch auf ihre Finanzen auswirkte. Obwohl alle acht Frauen die Zimmer pünktlich zahlten, häuften sich Momente, in denen Fräulein Pfisterer die eine oder andere beiseitenahm, um sie anzupumpen. In unzusammenhängendem Gestammel erzählte sie dann von Kosten für kranke Verwandte, dringend notwendigen Reparaturen oder einer großzügigen Spende, die sie geleistet und die ihr ein Loch in ihre Haushaltskasse gerissen hätten.

Bei der Vorstellung, ausgerechnet diesen Tag mit dem Hausdrachen ausklingen lassen zu müssen, schüttelte Emma sich. »Du hast recht. Sie würde mir jede Freude verderben. Natürlich begleite ich dich.«

»Na also!«

Plaudernd und scherzend liefen sie das kurze Stück bis in die Alexanderstraße, in der die Pension lag. Klara hatte die Unterhaltung bei der Garderobe für den heutigen Abend begonnen und war inzwischen bei ihrer Lieblingsgeschichte angelangt: »Wenn ich daran denke, wie du damals bei uns eingezogen bist …« Theatralisch riss sie ihre Augen auf und rollte sie dann zum Himmel. »Ein echtes Mauerblümchen und ein …«

»… und ein hoffnungsloser Fall, um den du dich erst einmal kümmern musstest«, beendete Emma den Satz mit einem ebenso theatralischen Gähnen.

Anfangs hatte sie sich noch darüber geärgert, dass Klara stets so tat, als wäre sie ohne die Frauen in der Pension nicht überlebensfähig gewesen, denn natürlich entsprach das nicht der Wahrheit. Sie mochte vor drei Jahren vielleicht etwas unbeholfen gewesen sein, gut möglich, aber ganz sicher kein hoffnungsloser Fall. In Sachen Stil und Anmut hatte sie einiges von Klara und den anderen Frauen lernen können. Abgesehen davon war sie aber durchaus in der Lage, ihre Frau zu stehen.

Ihr war auch nie wirklich eine Wahl geblieben. Schon im Alter von zwölf Jahren hatte sie ihre Heimat Rothenburg ob der Tauber verlassen, um das städtische Mädchenlyzeum in Nürnberg zu besuchen. Noch heute erinnerte sie sich an die unzähligen Tränen, mit denen sie ihre Mutter hatte umstimmen wollen. Die Vorstellung, weit weg von ihr in einem Pensionat leben zu müssen, hatte sie mehr geängstigt als alles, was sie in ihrem bis dahin kurzen Leben erlebt hatte. Doch schon nach wenigen Wochen hatte sie Anschluss gefunden und sich eingelebt. Die Argumentation ihrer Mutter, dass sie dort eine bessere Ausbildung erhielte und zu einem toleranteren Menschen erzogen würde als in der Enge ihrer Heimatstadt, erschloss sich ihr zwar bis heute nicht so ganz, doch inzwischen ahnte sie, dass ihr Selbstbewusstsein und ihre Offenheit wohl vor allem daher rührten, dass sie schon früh lernen musste, sich selbst zu helfen.

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

Emma zuckte zusammen. Klara sah sie abwartend an, doch sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie wohl gefragt haben könnte. »Entschuldige bitte«, sagte sie deshalb.

»Ich hatte vorgeschlagen, dass du heute Abend dein weinrotes Kostüm anziehst. Der schmal geschnittene Rock und die farblich dazu passende taillierte Jacke betonen deine beneidenswert schlanke Figur. Die niedlichen Puffärmel an der hellgrauen Bluse geben dir gleichzeitig etwas kindlich Verspieltes. Dazu der Glockenhut, und die Männer werden die Augen nicht von dir lassen können.«

»Oh, Klara. Als ob das so wichtig wäre.«

Emma öffnete das hüfthohe Gartentor und ließ der Freundin den Vortritt. Ein schmaler Weg, der von Woche zu Woche weiter zuwucherte, führte durch einen ebenso verwilderten Garten zu ihrer Pension.

»Dann wäre das ja geklärt.« Völlig selbstverständlich hatte Klara ihr Schweigen als Zustimmung gewertet, und auch diesmal gab sich Emma geschlagen. Sie scheute sich zwar nicht vor einer Auseinandersetzung, doch in diesem Fall waren sie schlicht und einfach einer Meinung. Sie selbst gefiel sich sehr gut in dem dunkelroten Kostüm, das inzwischen ihr liebstes war.

»Ich habe noch eine Überraschung für dich.«

In der Tür wandte Emma sich noch einmal um. »Lass das doch. Du weißt, dass ich Überraschungen nicht mag.«

»Ja. Und das ist mir egal. Bleib genau da stehen und rühr dich nicht. Ich bin sofort zurück.«

Klara verschwand in ihrem Zimmer am Ende des Flurs und kam kurz darauf mit einem kleinen Päckchen in der Hand zurück. Emma öffnete es und schlug überrascht die Hand vor den Mund. »Du bist doch … Das kann ich nicht annehmen.«

»Du musst! Alles andere würde mich zutiefst beleidigen. Außerdem kannst du nicht ständig meinen benutzen.«

Emma nahm die Kappe des Lippenstifts ab und drehte ihn heraus. Schon auf den ersten Blick erkannte sie, dass die Farbe perfekt auf Kostüm und Glockenhut abgestimmt war.

»Ich werde mich revanchieren, sobald ich mein erstes eigenes Geld verdiene.«

»Gut zu wissen, dann werde ich ab sofort eine Wunschliste schreiben«, erwiderte Klara lachend. »In einer Stunde?«

»In Ordnung.« Emma nickte, umarmte sie und bedankte sich nochmals überschwänglich für das teure Geschenk.

»Nun hör schon auf. Du weißt doch, dass meine Eltern den besten Kosmetiksalon der Stadt führen.« Sie drehte sich hektisch um, doch Emma bemerkte das glückliche Lächeln, das ihren Mund umspielte.

Der Brief auf dem Boden fiel Emma erst auf, nachdem sie ihre Hutnadeln herausgezogen und ihr Lieblingsstück auf der Kommode abgelegt hatte. Die Herbergsmutter hatte sich angewöhnt, Post durch die Türschlitze zu schieben, natürlich nicht, ohne vorher einen genauen Blick auf den Absender zu werfen. Emma grinste beim Gedanken daran, welche List die Frauen im Haus inzwischen anwandten, um den Stänkereien des Hausdrachens zu entgehen: Diejenigen, die mit einem Verehrer oder gar Liebhaber verkehrten, hatten diesen längst dazu angehalten, Briefe und Geschenke unter falschem Namen zu schicken. Es war Emma unbegreiflich, dass dem neugierigen Fräulein Pfisterer nicht auffiel, in welch ungewöhnlichem Maße Mütter, Tanten oder Brüder Briefe und Blumen an die glücklich kichernden Frauen schickten.

Der Briefumschlag, den Emma jetzt vom Boden auflas, trug allerdings unverkennbar die Handschrift ihrer Mutter. Sie riss ihn auf und setzte sich an den schmalen Schreibtisch, den sie nebst Stuhl unter das Fenster gestellt hatte und der noch immer mit Büchern und eng beschriebenen Blättern übersät war, die sie zur Prüfungsvorbereitung benötigt hatte.

Sie wischte die Papiere mit dem Unterarm beiseite und knipste die Lampe an. Schon der erste Satz ließ sie innehalten. Sie starrte auf die Zeilen, und ihr Puls beschleunigte sich.

Bitte komm über die Pfingsttage nicht nach Rothenburg.

Emma schluckte. Es war nicht so, als hinge ihr ganzes Glück davon ab, dass sie morgen in diesen Zug stieg. Ihre Mutter an einem anderen Wochenende zu besuchen, wäre ihr genauso recht, zumal sie heute Abend ausgehen würde. Trotzdem wusste sie, dass etwas passiert sein musste, denn nachdem ihre Mutter genau dieses Wochenende sorgfältig ausgesucht und ihr sogar das Zugticket im Voraus gekauft und geschickt hatte, war es mehr als eigenartig, dass sie sie nun darum bat, in Fürth zu bleiben.

Emma griff nach der Kanne, die auf dem Fenstersims stand und die sie, wie alle anderen Frauen im Haus auch, morgens mit Tee auffüllte, den sie über den Tag verteilt trank. Sie leerte einen vollen Becher in wenigen Zügen, ehe sie sich mit klopfendem Herzen den Brief ihrer Mutter vornahm.

Rothenburg o. d. Tauber am 29. Mai 1933

Meine liebste Emma,

bitte komm über die Pfingsttage nicht nach Rothenburg. Sosehr ich mich auch auf unser Wiedersehen gefreut habe, ich bitte dich inständig darum, vorerst in Fürth zu bleiben. Da ich dich telefonisch nicht erreichen konnte, schreibe ich dir diese Zeilen und hoffe, dass dich mein Brief noch rechtzeitig erreicht.

Nichts liegt mir ferner, als dich zu erschrecken oder gar zu verärgern, doch bedauerlicherweise überschlagen sich derzeit die Ereignisse, und ich schlafe ruhiger, wenn ich dich in deiner Pension in Sicherheit weiß.

Ich erkenne den Ort, der so lange meine Heimat war, nicht mehr wieder. Natürlich wurden wir auch in der Vergangenheit schon von einigen Tauberstädtern mit verächtlichem Blick gemustert. Doch nie zuvor traten die Anfeindungen so offen zutage wie jetzt.

Bei unserem letzten fernmündlichen Gespräch habe ich dir von der Begeisterung der Rothenburger für den neuen Reichskanzler und seiner Partei berichtet. Junge wie Alte, Buben wie Mädel schwärmen für die Ideen des Herrn Hitler. Und so, wie sie für ihn in Liebe zu entflammen scheinen, so entflammt im Gegenzug dazu auch ihre Wut auf Menschen wie uns. Um dir den Ernst der Lage bewusst zu machen, sage ich es rundheraus: Wir Juden sind hier in Rothenburg nicht mehr gern gesehen.

Ganz gleich ob Kaufmann oder Schreiner, Dienstknecht oder Versicherungsangestellter – brave jüdische Bürger werden in Schutzhaft genommen, dafür sorgen Sonderkommissar Kitzinger und seine Männer.

Kannst du dir vorstellen, dass ich anfangs glaubte, dass diese Art der Haft möglicherweise ja wirklich besser wäre als das, was die Menschen sonst zu erwarten hätten? Es klang zunächst so, als sollte die Haft sie vor dem Zorn der Bürger bewahren. (Wobei mir nie so recht einleuchten wollte, was diesen Zorn verursacht haben mochte.)

Wie war ich doch naiv, liebe Emma. Es ist offensichtlich niemandem daran gelegen, einen Jud zu schützen. Vielmehr sollen wir Angst kriegen vor den Männern der Sturmabteilung. Das vermaledeite Gesetz zur Abwehr staatsgefährdender Gewaltakte hat diesen Schergen Tür und Tor geöffnet, um mit schlimmster Brutalität gegen unsereins vorzugehen.

Ich wollte es nicht wahrhaben, doch was der guten Familie Mann im März angetan wurde, öffnete mir die Augen. Ich hätte dir bereits am Fernsprechapparat davon berichtet, doch das Grauen saß zu tief, und ich musste meine Gedanken erst ordnen.

Die Gebrüder Mann, die seit Jahrzehnten die Vieh- und Pferdehandlung unterhielten, wurden des Nachts aus ihrem Haus gezerrt und verhaftet. Vier Wochen lang saßen die Söhne in Haft, während die Männer der SA das Haus belagerten. Die gute Frau Mann hielt Angst und Sorge schließlich nicht mehr aus und nahm sich das Leben. Ihr Gatte erlitt darauf einen Zusammenbruch und wurde in die Ansbacher Nervenheilanstalt eingeliefert.

Mir zittern noch immer Hände und Leib, wenn ich an dieses grausige Unglück denke, das über der Familie hereinbrach.

Sie nennen es Arisierung. Ich nenne es Raub. Und Mord. Grundstücksmakler Eberlein, ein treuer Gefolgsmann und ein Mitglied der örtlichen NSDAP, leitete den Verkauf des gesamten Besitzes der Familie Mann an Herrn Leonhard Assel in die Wege. Du kannst es nicht wissen, zu lange lebst du schon nicht mehr hier, doch Herr Assel war der wohl größte Konkurrent der Gebrüder Mann. Er betrieb den Obst-, Gemüse-, Pferde- und Viehhandel in der Hafengasse. Jetzt ist er wohl fein raus: Der unliebsame Widersacher ist aus dem Weg, und als wäre das nicht schon Schmach genug, bezieht er nun auch noch das Wohnhaus der Familie Mann und nennt auch Scheune, Stallungen, Garten und Hofraum derselben sein Eigen.

Liebste Emma, ich schreibe dir diese Zeilen, um deinen Blick zu schärfen. Ich bitte dich: Sei achtsam! Die Stimmung gegen uns wird nicht täglich, sondern stündlich feindlicher.

Bisher bin ich unbehelligt geblieben, was vermutlich nur daran liegt, dass unsere Besitztümer gänzlich unbedeutend sind. Ein kleiner Krämerladen mit einer noch kleineren Wohnung darüber scheint für die hohen Herren der Partei nicht erstrebenswert zu sein. Nun, ich muss wohl sagen: noch nicht.

Sicher verstehst du nun meine dringende Bitte, nicht nach Rothenburg zurückzukehren. Mir ist wohler, wenn ich dich an einem Ort weiß, der größer ist als dieser und an dem du nicht sogleich als Tochter einer Jüdin erkannt wirst.

Sei gewiss: Ich selbst bin stets auf der Hut. Es wird sicherer sein, wenn ich dich in Fürth besuche und wir dort Zeit miteinander verbringen.

Eine lieb gewonnene Gepflogenheit sollte man nicht aufgeben, darum werde ich dich wieder anrufen, am Sonntag um die Mittagszeit. Sicher kannst du es einrichten, erreichbar zu sein, denn ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, mit welch hervorragenden Zensuren du deine Prüfungen absolviert hast.

In Liebe,

deine Mutter Eva

Kapitel 2

Freitag, 2. Juni 1933

Paul

Der Hut passte perfekt zu ihrem Lippenstift. Das war das Erste, was Paul an der hübschen Frau bemerkte, die eben in Begleitung einer Freundin den Biergarten betrat.

»Da ist sie ja. Das ist meine Klara«, murmelte Michael, und ein verzücktes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Paul hingegen ließ enttäuscht die Schultern hängen, erkannte dann aber, dass die Augen des Freundes nicht an der Frau mit dem roten Hut hafteten, sondern an ihrer Freundin.

»Hier sind wir«, rief Michael und winkte die Frauen an den Tisch.

»Danke fürs Platzfreihalten, Herr Doktor.« Klara schenkte Michael einen verführerischen Augenaufschlag und schüttelte ihre blonden Haare auf.

»Emma, das ist Doktor Michael Nachmann, Chirurg in dem Krankenhaus, in dem ich arbeite. Und das ist meine liebe Freundin Emma Ehrlich.«

Sie reichten sich die Hände, und es kostete Paul einige Mühe, seinen Blick von Emma abzuwenden. »Ich bin Paul. Sehr erfreut.«

»Wir haben Grund zu feiern.« Völlig ungeniert zog Klara ihren Stuhl ein wenig näher an den von Michael heran und legte ihren Arm auf seine Schulter.

»Ach ja?«, fragte Michael.

»Seit heute bin ich staatlich geprüfte Buchhalterin«, erklärte Emma nicht ohne Stolz, während sie ihren Hut abnahm und vor sich auf den Tisch legte.

Paul murmelte »Gratulation« und nutzte die Gelegenheit, um sie erneut zu betrachten. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm einfiel, an wen ihn die junge Frau erinnerte. Die dunklen Haare, die vom Mittelscheitel ab in weichen Wellen bis kurz über die Schultern fielen, dazu die wässrig blauen Augen und die sündhaft roten Lippen. Emma hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Hedy Lamarr, der Schauspielerin, die seit Beginn des Jahres mit dem skandalösen Film Ekstase in aller Munde war.

Eine Weile lang gaben Michael und Klara Geschichten aus dem Krankenhaus zum Besten, während Paul und Emma sich eher zurückhielten. Doch jeder stille Blick, den sie tauschten, bestärkte ihn in dem Wunsch, mit ihr allein zu sein. Er hätte sich ertappt fühlen sollen, da sie sein Starren ganz offensichtlich bemerkte und mit einem Lächeln quittierte, bei dem sich ihre Nase kräuselte. Andererseits war ihm durchaus bewusst, dass sie ihn mindestens ebenso oft ansah.

Nach der vierten Karaffe Wein, die sie gemeinsam geleert hatten, wurden die Gespräche zwischen dem Freund und der Krankenschwester, die ohne jeden Zweifel mehr füreinander empfanden, vertraulicher.

»Wir könnten einen Spaziergang machen«, schlug Emma vor. Sie deutete mit dem Kopf auf ihre Freundin und rollte dann mit den Augen. Offenbar fühlte sie sich genauso fehl am Platze wie er.

»Gern«, gab Paul zurück und schalt sich innerlich sofort selbst für diese knappe Antwort. Er hätte »nichts lieber als das« oder doch wenigstens »liebend gern« sagen sollen. So dachte die hübsche Buchhalterin möglicherweise, dass er nur aus Höflichkeit zusagte.

Emma schien nichts bemerkt zu haben. Sie erhob sich und griff übermütig nach ihrem Hut und Pauls Hand. »Wir wollen etwas frische Luft schnappen.«

Klara sah sie schräg an und grinste. »Natürlich. Eine gute Idee. Hier draußen im Biergarten ist es ja auch wirklich stickig heute Abend.«

Die Frauen lachten herzlich. Die Männer fielen ein, dann verabschiedeten sie sich voneinander.

»Dann bist du also auch Arzt?«, wollte Emma wissen, nachdem sie den Grünen Baum verlassen hatten.

»Arzt?«, fragte er zurück. »Wie kommst du denn darauf?«

»Nun, du bist mit Michael befreundet, da dachte ich …«

»O nein.« Paul hielt Emma den Arm entgegen, und sie hakte sich ohne jede Scheu unter. »Wir waren Nachbarsjungen und haben trotz einiger Jahre Altersunterschied stundenlang miteinander in der Straße gespielt. Doch seine Leidenschaft, andere zu heilen, habe ich nie geteilt.«

»Was tust du dann?«

Paul schluckte und verzog die Lippen. »Ich bedaure es sehr, aber das heute ist mein letzter Abend in Fürth. Schon morgen Mittag reise ich ab. Ich stehe vor einer ganz neuen Aufgabe. Ich werde Teilhaber in einer mittelständischen Fabrik.«

Er hätte gern mehr erzählt. Doch seine beruflichen Pläne schienen im Vergleich zu Michaels Leben am Krankenhaus eher unbedeutend. Außerdem wollte er die Gelegenheit nutzen, um möglichst viel über Emma zu erfahren. Ihm blieb nur dieser eine Abend, und er wollte alles daransetzen, damit sie sich danach nicht aus den Augen verloren. Vielleicht ging es ihr ähnlich, und sie würde ihm gestatten, ihr zu schreiben?

»Und du?«, fragte er deshalb. »Was wirst du jetzt, da die Prüfungen hinter dir liegen, tun?«

Emma tänzelte einen Schritt voraus, drehte sich wieder zu ihm um und lief rückwärts weiter, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. »Ich weiß noch nicht recht. Ich suche mir eine Stelle in einem Büro und hoffe, dass ich dort dann auch das tun kann, was ich gelernt habe. Denn das ist so viel mehr als nur Briefe tippen.«

Mit strahlenden Augen erzählte sie von ihrer Ausbildung. Da sie weiter rückwärtslief, sah sie die Laterne nicht kommen.

»Vorsicht!«

Paul griff nach ihrem Arm und zog sie abrupt an sich. Als Emma erschrocken die Augen aufriss, erklärte er: »Ich sage es ungern, denn dein Anblick ist ganz zauberhaft. Aber vielleicht solltest du besser nach vorn schauen, solange wir laufen.«

Er deutete hinter sie auf die Laterne, gegen die sie fast geprallt wäre, doch Emma dachte nicht daran, sich umzusehen. Sie befreite sich auch nicht aus seinem Griff, sondern blieb dicht vor ihm stehen, legte den Kopf leicht in den Nacken und sah ihn konzentriert an. »Gib es zu: Du wolltest mir nur näher kommen.«

Pauls Puls schoss in die Höhe. Konnte es sein, dass sie ihn für zudringlich hielt? »Ich würde doch nie …« Er brach ab, denn ihm fiel auf, dass er gerade dabei war, sich für seine Rücksichtnahme zu entschuldigen.

Erst als Emma einen Schmollmund zog und leise »Schade« murmelte, ging ihm auf, dass sie ihn tatsächlich neckte.

»Schade?«

Sie hatte sich noch immer keinen Zentimeter bewegt. Paul sah die dunkelblauen Sprenkel in ihren hellen Augen und die perfekt gezupften Bögen ihrer Augenbrauen darüber. Auf der linken Wange zeichnete sich ein winziges Grübchen ab, denn sie konnte ihr Lächeln kaum noch verstecken. Und doch hielt sie seinem Blick stand, und er wusste plötzlich, dass es ihr genauso ging wie ihm: Auch sie konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Auch sie schien jedes Detail seines Gesichts in sich aufnehmen zu wollen, aus Angst, dass diese besondere Verbundenheit zwischen ihnen schon bald der Vergangenheit angehören würde.

»Nur damit ich nichts vergesse. Uns bleibt doch nur das Heute«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten.

Paul griff nach ihrer Hand, zog sie an seine Lippen und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken. Sein Herz hatte den Rhythmus verloren und schien ihren eben noch tänzelnden Schritten hinterherzustolpern. Er verstand selbst nicht recht, was mit ihm geschah. Er hatte bisher nie an große Gefühle auf den ersten Blick geglaubt. Seine Eltern hatten ihn gelehrt, dass die größte Liebe aus tiefer Zuneigung erwuchs und nicht aus wilden Schmetterlingen, die ebenso schnell verschwinden konnten, wie sie auftauchten. Er wusste nichts von Emma – abgesehen davon, dass sie Buchhalterin und wunderschön war. Und doch hatte sie ihn verzaubert, hatte all die Schmetterlinge zum Fliegen gebracht, und nun wusste er nicht, wie er sein wildes Herz wieder unter Kontrolle bringen sollte. Aber wollte er das überhaupt?

Als sie weiterliefen, hielt er ihre Hand, und sie ließ es zu. In diesem Moment bedauerte Paul, dass er den unzähligen Bitten seines Freundes, ihn in den Grünen Baum zu begleiten, nicht schon vorher nachgegeben hatte. Möglicherweise hätten sie sich dann früher getroffen, er hätte sie ausführen und näher kennenlernen können. Womöglich hätten sie eine Chance gehabt. Doch so?

Das laute Kreischen der Straßenbahn, die vor ihnen in die Kurve ging, riss ihn aus seinen trüben Gedanken, und ihm kam eine Idee. Er warf einen schnellen Blick auf ihre Schuhe und hoffte, dass diese seiner spontanen Eingebung standhalten würden.

»Wie schnell bist du mit den Absätzen?«, fragte er frech.

Emma zuckte mit den Schultern und sah ihn abwartend an.

»Die Straßenbahn«, erklärte er. »Weniger gefährlich für Frauen, die so fasziniert von ihren männlichen Begleitern sind, dass sie gegen Laternen laufen. Du könntest mich im Sitzen anstarren.«

Emmas linke Augenbraue schnellte in die Höhe. »Ach dafür sind diese quietschenden Ungetüme gedacht. Und ich habe immer geglaubt, sie wären ein schlichtes Beförderungsmittel.«

Paul legte ihr mit gespielter Ernsthaftigkeit den Arm um die Schultern. »Ganz falsch, liebste Emma.« Mit der Kuppe seines Zeigefingers stupste er gegen ihre Nasenspitze. »Wie gemacht für dich. Du musst nicht auf die Umgebung achten und kannst mich sitzenderweise ganz ungeniert anschmachten.«

Emma reagierte nicht auf seine Provokation. Stattdessen rammte sie ihm den Ellbogen in die Seite, sah ihn aus funkelnden Augen an und rannte plötzlich los. »Komm schon«, rief sie. »Testen wir meine Schuhe!«

Emma war erstaunlich flink, und nach dem Wein, den er im Biergarten getrunken hatte, musste er sich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Auf den Waggonstufen drehte sie sich lachend zu ihm um und schien nicht einmal aus der Puste zu sein. »Wo bleibst du denn?«

»Muss an deinen Schuhen liegen«, gab er atemlos zurück. »Der höhere Absatz macht dich schneller.« Grinsend löste er zwei Fahrscheine beim Schaffner und folgte Emma, die bis ans Ende des Waggons lief und sich den Fensterplatz in der letzten Reihe aussuchte. Er setzte sich neben sie, und obwohl sie angestrengt zum Fenster hinaussah, bemerkte er das Grübchen, das sich wieder auf ihrer linken Wange bildete. Inzwischen wusste er, dass dies ein untrügliches Zeichen dafür war, dass sie sich das Lachen verkniff.

Da sie noch immer aus dem Fenster starrte, beugte Paul sich zu ihr hinüber. »Was gibt es da draußen denn so Interessantes zu sehen?«

Sie sagte kein Wort, drehte sich zu ihm um, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn. Fast befürchtete er, selbst im Sitzen das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Mund war weich und warm und schmeckte süßlich und nach Kirsche, was sicher an dem Lippenstift lag. Immer wieder packte sie sanft zu und ließ ihm zwischen den zaghaften Berührungen gerade genug Zeit, um Luft zu holen.

Vorsichtig schob er seine Hand unter ihr Haar und ließ die Fingerspitzen über ihren Nacken gleiten. Emma schloss genüsslich die Augen und schmiegte sich in seine Hand. Die Menschen in der Straßenbahn waren in weite Ferne gerückt. Es gab nur noch ihn und diese ungestüme junge Frau.

Als sie die Augen wenig später öffnete, breitete er seine Arme aus. Emma drehte sich wieder zum Fenster, lehnte sich dann gegen seinen Oberkörper und ließ zu, dass er sie fest umschlungen hielt. Dass ausgerechnet in diesem Moment die Sommersonne zwischen Häusern und Straßen versank und sich die Abenddämmerung über die Stadt legte, war fast schon unerträglich kitschig.

»Wohin fahren wir überhaupt?«

Paul lachte kurz auf. Darüber hatte er sich keinerlei Gedanken gemacht. »Ich weiß nicht. Ich wollte nur aufhören zu laufen, um dich ganz dicht bei mir zu haben und ansehen zu können.«

Emma griff nach seinen Händen, die vor ihrem Bauch lagen, und hielt sie fest. Dann drehte sie den Kopf nach hinten und hielt ihm ihre Lippen entgegen. Paul küsste sie wieder und wieder. In dieser Sekunde hätte er unendlich glücklich sein müssen, doch eine seltsame Schwermut nahm ihn in Besitz.

Längst befürchtete er, dass der Zauber dieses Abends nicht von Dauer sein würde – ganz so, wie die Nacht dem Tag wich, würde auch die zärtliche Intimität zwischen ihnen vergehen. Spätestens seine morgige Abreise würde beenden, was sich hier unaufhaltsam anbahnte. Er hatte weder eine Frau wie Emma noch seine Gefühlsstürme kommen sehen. Eine solche Begegnung war einzigartig, weil sie einzigartig war. Was immer Paul zuvor für Zuneigung oder gar Liebe gehalten hatte, war nichts weiter als ein Trugbild gewesen. Es schien fast so, als würde das Wissen um die Endlichkeit dieser Begegnung die Intensität ihrer Gefühle potenzieren. Und obwohl er sie noch in seinen Armen hielt, wusste er bereits jetzt, dass ihn die Sehnsucht nach Emma schon morgen Abend lähmen würde.

»Ich darf dich nicht wieder verlieren«, flüsterte er. Sie sagte kein Wort, und er war nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte oder zu sehr in ihre eigenen Gedanken versunken war.

»Wie viele Stationen sind es von Fürth bis Nürnberg?«, fragte Emma plötzlich.

»Keine Ahnung, ich hab sie nie gezählt.«

»Ich will einen Kuss an jeder Haltestelle. Hin und zurück. Dann steige ich aus und gehe nach Hause. Allein.« Sie wand sich aus seinen Armen und sah ihn fest an. »Michael ist dein bester Freund. Und mir steht niemand so nah wie Klara. Wenn du morgen erwachst und immer noch so empfindest, weißt du, wie du mich findest. Es liegt bei dir, ob wir uns wieder verlieren.«

Kapitel 3

Freitag, 2. Juni 1933

Helen

Helen konnte kaum mit ansehen, wie sich ihre langjährige Haushälterin abmühte. Obwohl Marie einige Jahre jünger war als sie selbst, war sie inzwischen aufgrund einer schnell voranschreitenden Arthrose sehr schlecht zu Fuß. Sie hatte nie geheiratet. Nachdem ihr Verlobter nicht aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt war, hatte sich Fräulein Kläger damit abgefunden, ihr eigenes Leben dem Wohle der Familie Schmieger unterzuordnen. Ganz selbstverständlich hatte sie sich in Haus, Garten und Küche unverzichtbar gemacht und sich in früheren Zeiten auch liebevoll um ihren Sohn Christian gekümmert.

Von dem innigen Verhältnis zwischen ihm und Marie war heute nicht mehr viel übrig. Mit seinen sechzehn Jahren war er nun ein junger Mann, und zu Helens Bedauern lagen seine Interessen derzeit vor allem bei der neu gegründeten Hitlerjugend, der er voller Begeisterung beigetreten war. Er interessierte sich weder für die elterliche Seifenfabrik noch für das Hotel Traube, das noch immer in Familienbesitz war.

Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Helen noch eine Weile versucht, dem Hotel und dem Geschäft ihres Mannes gleichermaßen gerecht zu werden, musste aber schnell feststellen, dass diese Mammutaufgabe nicht zu bewältigen war.

Nachdem ihre Cousine Lisbeth zu Beginn des Jahres 1924 von ihren unzähligen abenteuerlichen Reisen um die Welt nach Rothenburg zurückgekehrt war, hatte Helen ihr die Leitung des Hotels übertragen. Lissi hatte diese Herausforderung nur zu gern angenommen, denn der Tod ihrer langjährigen Vertrauten Elise im Frühjahr 1924 hatte ihr schwer zugesetzt. Die Führung des Hotels war genau die Art von Ablenkung, die sie davor bewahrte, in noch tiefere Depressionen zu fallen. Die Traube war in Familienbesitz geblieben, doch die Tatsache, dass weder das Hotel noch die Seifenmanufaktur Christians Interesse weckte, beunruhigte Helen bereits seit einer geraumen Weile.

Mit einem Seufzer schob sie die sorgenvollen Gedanken an die Zukunft beiseite. »Lass mich dir zur Hand gehen«, bat sie die Haushälterin und griff nach der schweren Suppenschüssel, die diese mit zittrigen Händen aufzutragen gedachte.

Marie widersprach nicht. Obwohl sie kaum ein Wort darüber verloren, herrschte eine Art unausgesprochene Übereinkunft zwischen den Frauen: So, wie sich Marie jahrelang um Helen und ihre Familie gekümmert hatte, so würde sie sich nun umgekehrt auch um die schnell schwächer werdende Bedienstete kümmern. »Das Zittern deiner Hände wird schlimmer«, bemerkte Helen fast beiläufig im Hinausgehen. »Ich werde bei unserem Doktor einen Termin für dich vereinbaren.«

»Seit wann trägst du das Essen auf?«, moserte Christian, der bereits neben seinem Vater im Speisezimmer Platz genommen hatte.

Schwungvoller als beabsichtigt, stellte Helen die Schüssel ab. »Wie bitte?«, fragte sie gefährlich leise und sah ihren Sohn mit zusammengekniffenen Lippen an. Sie wandte sich um und atmete erleichtert aus. Marie war noch in der Küche und hatte den unverschämten Satz ihres Sohnes nicht gehört.

»Ich meine ja nur. Dafür haben wir Marie, oder nicht?«

»Und ich meine, noch nie zuvor eine derartig unflätige Bemerkung aus deinem Mund gehört zu haben, junger Mann. Du sprichst von der Frau, die dir jahrelang jeden Wunsch von den Augen abgelesen, deine aufgeschlagenen Knie verarztet und dich mit allerlei Leckereien verwöhnt hat.«

»Nun lass gut sein, Helen«, bat Anton, der wie so häufig nur darum bemüht war, die Wogen zwischen Mutter und Sohn zu glätten. So manches Mal hatte Helen sich gefügt, doch heute dachte sie nicht daran.

»Ich werde es nicht gut sein lassen.« Sie sah zwischen ihnen hin und her. »Du kannst von Glück reden, dass Marie dich nicht gehört hat. Andernfalls würde dir jetzt eine empfindliche Strafe blühen.«

Christians Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Schon als kleiner Bub hatte er diesen Gesichtsausdruck gehabt, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, aber zu großer Respekt ihn an Widerworten gehindert hatte.

Helen setzte sich zu ihren Männern an den Tisch, und als Marie den Hauptgang auftrug, der glücklicherweise nicht aus Suppe bestand, die sie verschütten würde, sah sie Christian auffordernd an.

»Danke, Marie«, brummte er kaum verständlich.

Nachdem die Haushälterin wieder in der Küche verschwunden war, aßen sie eine Weile schweigend.

»Ich bin sehr gespannt auf unseren neuen Gesellschafter«, begann Helen, als hätte es nie einen Disput mit ihrem Sohn gegeben.

»Darf ich aufstehen?«, fragte Christian, der sein Essen wie so häufig viel zu schnell hinuntergeschlungen hatte. Um zu verhindern, dass sie ein weiteres Mal an diesem Abend aneinandergerieten, nickte sie ihm zu. Christian rief im Hinausgehen noch etwas von einer Zusammenkunft, zu der er gehen wollte, und verschwand.

»Gespannt ist vermutlich das falsche Wort«, griff Anton den Gesprächsfaden wieder auf. »Dankbar wäre wohl richtiger. Nach allem, was wir in den vergangenen fünfzehn Jahren überstehen mussten, war diese erneute Finanzspritze unsere letzte Rettung.«

Helen nickte und schob die Gemüsereste auf ihrem Teller hin und her. Er hatte recht. Die letzten Jahre hatten Spuren hinterlassen. Da war zum einen die Hotelrenovierung gewesen, die sie Unsummen gekostet hatte. Ein Kurzschluss und ein anschließender Kabelbrand hatten den Dachstuhl der Traube völlig zerstört. Wiederaufbau und Renovierung hatten ihre letzten Rücklagen verschlungen, und selbst das war nicht genug gewesen. Es war schlussendlich dem Geld ihrer Cousine Lissi zu verdanken, dass das Hotel gerettet werden konnte.

Und als wäre dieses Unglück nicht schon schlimm genug gewesen, hatte die Wirtschaftskrise auch die Seifenfabrik mit voller Härte getroffen. Hyperinflation und die Tatsache, dass Mitte der Zwanzigerjahre noch immer gute achtzig Prozent der benötigten Fette und Öle aus dem Ausland stammten und damit von der Devisenentwicklung abhängig waren, hatten dazu geführt, dass die Produktionskosten kaum noch kalkulierbar waren. Die zusätzlich auch noch einbrechende Nachfrage nach ihren Erzeugnissen hatte die Abwärtsspirale immer weiter beschleunigt. Sie hatten das schwierige Jahrzehnt nur durch den Zwangsvergleich im September 1930 überstanden, der es ihnen ermöglicht hatte, die alte Schmiegersche Seifenfabrik aufzulösen und die neue Odor Seifenfabrik zu gründen.

Und auch hierbei hatte es der Hilfe von außen bedurft. Anastasia Peters, Helens Jugendfreundin und Inhaberin des Gasthofes Goldener Greifen, war mit einer üppigen Einlage von fünfzigtausend Mark zur stillen Teilhaberin geworden. Natürlich wusste Helen, dass dies nicht nur ihrem guten Herzen geschuldet war, das sie ganz zweifellos besaß. Anastasias Schwager Max, Bruder ihres Gatten Wastl, hatte vor über zwanzig Jahren eine Stelle als Chemiker in der Seifenfabrik angenommen und war inzwischen ihr Siedemeister. Die Tore der Fabrik endgültig schließen zu müssen, hätte auch ihn in die Arbeitslosigkeit getrieben. Anastasias Geld hatte das verhindert und ihnen vor drei Jahren einmal mehr einen Neubeginn ermöglicht.

Und doch sah es nun ganz danach aus, als wären all diese Mühen noch immer nicht genug gewesen, denn der Preiskampf, dem sie durch große Konkurrenten wie Henkel oder Unilever ausgesetzt waren, brachte sie immer wieder in Nöte.

Anton hatte also recht. Die zusätzliche Kapitaleinlage von einhunderttausend Mark, die der neue Gesellschafter Paul Baumann einbrachte, würde ihnen endlich genug Spielraum verschaffen, um Rohstoffe einzukaufen, ihre Produktpalette zu erweitern und so konkurrenzfähig zu bleiben.

Trotzdem behagte Helen diese Abhängigkeit nicht, und sie wandte ein: »Nun, dafür erhält er auch einen Anteil an unserem Lebenswerk. Dankbar können wir sein, ja. Doch wir sollten es damit nicht übertreiben.«

Anton lachte auf und griff über den Tisch und nach ihrer Hand. »Keine Sorge, mein Liebling. Ich spreche von höflicher Dankbarkeit, nicht von der Aufgabe unserer Eigenständigkeit oder gar Hörigkeit einem völlig Fremden gegenüber.«

Er nahm seine Kaffeetasse, und da sie wusste, dass dies in der Regel bedeutete, dass er sich an seinen Schreibtisch zurückzog, hielt sie ihn zurück. »Warte noch.«

Er stellte die Tasse wieder ab und sah sie fragend an.

»Es geht um unseren Sohn. Ich mache mir wirklich Sorgen.«

Anton schloss die Augen einen Moment zu lang, und sie wusste nur zu gut, was diese Miene zu bedeuten hatte: Er hatte nicht die geringste Lust auf eine Unterhaltung dieser Art. Was auch immer Christian tat, unterstützte Anton stets, und sie wusste, warum er sich so verhielt. Die Tatsache, dass er am Leben seiner Tochter keinen Anteil hatte, wenn man von finanzieller Zuwendung einmal absah, führte dazu, dass er seinem Jungen im Umkehrschluss alles durchgehen ließ. Vor Jahren hatte er ein einziges Mal zugegeben, dass er nicht daran dachte, Christian jemals zu verärgern.

Der hatte als Knirps von fünf oder sechs Jahren aus einer unerklärlichen Laune heraus einen Berg mit Kleidern angezündet, den Marie zum Waschen gestapelt hatte. Helen war außer sich und zum ersten Mal drauf und dran gewesen, ihm mit dem Teppichklopfer eine Tracht Prügel zu verabreichen. Anton hatte sie davon abgehalten und ihn in Schutz genommen – er wäre noch klein und wüsste es nicht besser.

Auf ihre Frage, wie er gedenke, ihn erziehen zu wollen, hatte er geantwortet: »Das überlasse ich dir. Ich habe jedes Anrecht auf Teilhabe am Leben meiner Tochter verloren, das wird mir bei Christian nicht auch noch passieren. Ganz gleich, was er je anstellt, ich werde immer an seiner Seite sein.«

Obwohl Anton sich bereits erhob, wagte Helen einen neuen Versuch. »Bitte, Anton, wir müssen dem Jungen aufzeigen, dass die Odor Seifenfabrik seine Zukunft ist. Er soll die Fabrik eines Tages weiterführen, doch er weiß nicht das Geringste darüber. Statt das Handwerk von der Pike auf zu erlernen, treibt er sich draußen herum und übt marschieren. Sein Verhalten Marie gegenüber war unverzeihlich, auch wenn sie ihn nicht gehört hat. Wir müssen das unterbinden, bevor dieser unerklärliche Groll auf Menschen, denen er sich überlegen fühlt, noch schlimmere Ausmaße annimmt.«

Als Anton auch in diesem Moment abwinkte, verlor Helen die Geduld. Sie hatte gehofft, ihm diese Wahrheit ersparen zu können, doch seine Borniertheit ließ ihr keine Wahl.

»Er war dabei!«, rief sie, und von einer Sekunde auf die nächste zitterte sie am ganzen Leib.

»Wovon sprichst du?«

»Vom Überfall auf die Familie Mann.«

Erschrocken riss Anton die Augen auf und schnappte nach Luft. Ihr Ausbruch verfehlte seine Wirkung nicht. Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl zurückfallen und sah sie an.

»Sicher nur ein dummes Gerücht«, murmelte er, doch sein aschfahles Gesicht verriet, dass er ihr glaubte.

»Ich habe ihn mit der Tat prahlen gehört. Zwar hätte er das Haus der Familie nicht betreten, aber er stand dabei, als die Männer der Sturmabteilung dort eindrangen und die Brüder Theodor und Josef unter Schlägen hinauszerrten, um sie in Schutzhaft zu nehmen. Christian hätte den Männern, die er offenbar als Vorbilder ansieht, dabei geholfen, die Brüder die Adam-Hörber-Straße hinaufzutreiben. Und die Tatsache, dass sich Klara Mann kurz darauf das Leben nahm, weil sie die Sorge um Söhne und Ehemann nicht mehr ertrug, erheiterte unseren Sohn zusätzlich. Seine Worte waren so widerwärtig, dass ich nicht einmal mehr daran denken mag, geschweige denn sie laut aussprechen kann.«

Anton schlug die Hände vors Gesicht und schwieg. Helen gab ihm nur wenige Sekunden, um das Gehörte zu verdauen, denn sie war noch lange nicht fertig mit dem, was sie ihm zu sagen hatte.

»Aber das alles hat sich vor zweieinhalb Monaten abgespielt. Müssten wir nicht viel früher davon gehört haben, wenn unser Sohn dabei gewesen wäre?«

Helen lachte traurig auf. »Unser Sohn weiß, was wir von Gewalt halten. Er würde derlei Ereignisse und seine Beteiligung daran uns gegenüber nie erwähnen. Dass ich ihn bei seinem Gespräch mit Kreisleiter Mägerlein belauscht habe, hat er nicht bemerkt. Christian hat es ihm vorgestern voller Stolz erzählt und dabei übers ganze Gesicht gestrahlt, als sein früherer Lehrer ihn für seinen Mut auch noch lobte. Was die beiden besprochen haben, war sicher nicht für meine Ohren gedacht. Weder er noch sonst irgendwer würde uns je in die Geschehnisse vom März einweihen. Diejenigen, die davon wissen, schweigen entweder aus Angst oder weil sie glauben, dass es den jüdischen Familien doch nur recht geschieht, wenn sie ihren Besitz verlieren. Und die Manns selbst werden uns gegenüber nichts sagen, weil sie vermutlich denken, dass wir Christians Ansichten teilen oder gar heraufbeschworen haben.«

Anton antwortete noch immer nicht, und Helen verlor die Geduld. Sie erhob sich und lief hektisch neben dem Esstisch auf und ab.

»Vielleicht sollten wir ihn aus Rothenburg fortschicken«, schlug sie vor, doch Anton schüttelte den Kopf.

»Und was sollte das nützen? Wo wir ihn auch hinschicken: Die Anhänger Hitlers sind längst da, denn er ist jetzt unser Reichskanzler.«

»Unser Reichskanzler?«, echote sie mit vor Wut klopfendem Herzen. »Meiner sicher nicht.«

Mit schnellen Schritten kam Anton auf sie zu und griff nach ihren Händen. »Sag so etwas nicht. Vielleicht bewirkt er ja auch Gutes? Wirtschaftlicher Aufschwung, eine Zunahme der Beschäftigung. Wer weiß denn das jetzt schon? Und selbst wenn er nicht halten kann, was er den Wählern verspricht: Wir müssen uns mit jedweder Kritik zurückhalten und ab sofort darauf achten, was wir laut aussprechen. Wir können nicht riskieren, dass es uns am Ende genauso ergeht wie der Familie Mann oder anderen, die im Zuge der Arisierung alles verloren haben.«

Helen sah Anton lange an und schwieg. Seine Sorgen waren berechtigt. Obwohl sie nicht davon ausging, dass es neben ihnen beiden und Eva jemanden gab, der von Emmas Abstammung wusste, mussten sie vorsichtig sein. Die Abscheu gegenüber Juden nahm immer größere Ausmaße an und trat auch immer offener zutage. Wenn herauskäme, dass ausgerechnet Anton Schmieger, angesehener Bürger Rothenburgs und Besitzer der Odor Seifenfabrik, eine uneheliche Tochter mit einer Jüdin hatte, könnte sich der Zorn der Rothenburger auch auf sie übertragen. Sie konnte nur hoffen, dass dieses lang gehütete Geheimnis nicht ausgerechnet in Zeiten wie diesen ans Licht kam.

»Sei unbesorgt«, erklärte Helen. »Meine Ansichten werde ich für mich behalten. Bleibt die Frage, was aus unserem Sohn wird.«

»Er ist ein guter Junge, Helen. Vor allem ist er unser Junge, ganz gleich, welchen Weg er einschlägt.«

Helen schluckte. Es war überflüssig, das Wort unser derart zu betonen. Sie verstand ihren Mann auch so. Anton Schmieger dachte nicht daran, seinem Sohn eine andere Richtung zu weisen. Und so gern Helen sich etwas anderes einreden würde: Sie befürchtete längst, dass Christian mit elterlicher Strenge nicht mehr beizukommen war.

Kapitel 4

Samstag, 3. Juni 1933

Emma

Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt. Ihre Worte hatten ausgesprochen geheimnisvoll gewirkt: Sie würde aussteigen und ohne eine weitere Erklärung oder gar Verabredung nach Hause laufen. Und wenn er es nur versuchte, verlöre er sie sicher nicht aus den Augen.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Schon morgen verließ er Fürth für immer, und sie kannte noch nicht einmal seinen Nachnamen. Sie hatte ihn auch nicht danach gefragt, wo sich die Fabrik befand, deren Gesellschafter er bald sein würde.

Trotz allem lief sie mit erhobenem Kopf weiter, statt sich einfach noch einmal umzudrehen, ihm in die Arme zu fliegen und um ein weiteres Treffen zu bitten. Sie hatten fast vier Stunden miteinander verbracht, und Emma hatte mehr Nähe zugelassen, als sie es je bei einem anderen Mann getan hatte.

Paul war ihrem Wunsch nachgekommen und hatte sie an jeder einzelnen Haltestelle geküsst. Er war zärtlich gewesen und stürmisch, fröhlich und verzweifelt, und sie hatte die gleichen Emotionen durchlebt. Während sie sich mit schweren Schritten von ihm entfernte, dachte sie darüber nach, ob sie eine solche Intensität der Gefühle wohl je wieder erleben würde. Ihre bisherigen Verehrer waren allesamt höflich und zurückhaltend gewesen – und leider auch überaus ermüdend.

Paul und sie hingegen hatten innerhalb von Minuten jede Scheu abgelegt, und sie vermochte nicht zu sagen, wie es dazu gekommen war. Sie wusste nur, dass sie nichts davon bereute, auch wenn dem einen oder anderen Fahrgast anzusehen gewesen war, was er von ihrem Betragen gehalten hatte.

Ich werde ihn nie wiedersehen. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, und sie fröstelte trotz lauer Temperaturen in dieser Sommernacht. Die Angst davor, dass die wenigen Stunden möglicherweise schon alles waren, was ihnen vergönnt blieb, traf sie so sehr, dass sie nicht mehr anders konnte.

Sie drehte sich um. Paul war fort.

Emma schluckte, lief zurück zur nächsten Straßenkreuzung und sah sich suchend um. Als sie ihn entdeckte, presste sie erschrocken die Hand vor den Mund, denn er war gerade im Begriff, in eine weitere Straßenbahn zu steigen.

»Paul!« Immer wieder rief sie seinen Namen und rannte gleichzeitig auf die Haltestelle zu, doch er hörte ihre Rufe nicht mehr. Die Türen schlossen sich in dem Moment, als sie den Waggon erreichte. Mit der flachen Hand schlug sie gegen die Scheibe und sah aus dem Augenwinkel, dass ein Herr, der dort Platz genommen hatte, erschrak.

Entschuldigend hob sie beide Hände, doch der Mann redete mit wütender Miene gegen die Fensterscheibe. Zum Glück, wie Emma feststellte, denn endlich sah auch Paul zu ihr hinüber. Seine Lippen bewegten sich, und sie bildete sich ein, von ihnen »Ich finde dich« ablesen zu können.

Das Bimmeln der Straßenbahn ließ Emma zusammenzucken. Sie musste zur Seite springen, denn natürlich wich der Fahrer nicht einfach für jemanden, der sich so verrückt benahm wie sie, von seinem Fahrplan ab.

Emma hob winkend die Hand und sah die Lichter der letzten Waggons in der Dunkelheit verschwinden. Ihre magische Nacht mit Paul war endgültig vorüber. Alles, was sie nun tun konnte, war, darauf zu hoffen, dass ein Brief sie erreichte oder Michael ihr irgendwann eine Nachricht von ihm überbrachte.

Doch was, wenn er morgen erwachte und die heutige Nacht als übermütigen Traum abtat und beiseiteschob? Oder wenn sie schneller als erwartet eine Anstellung in einer anderen Stadt fand und er sie so nicht mehr erreichen konnte?

Emma seufzte und lief die wenigen Meter zur Pension Pfisterer mit gesenktem Kopf. Wie konnte es sein, dass sich der Verlust von Paul anfühlte, als hätte sie die größte Chance ihres Lebens vertan?

Ende der Leseprobe