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Es herrschen friedliche Zeiten im Vampirclan Atra Rosa. Zu friedlich, wenn es nach Drewfire geht. Für sie als Bluthäscherin ist das Clanleben, ohne das ein oder andere Scharmützel dann und wann, einfach schrecklich langweilig. Schließlich ist Ärger ihr Geschäft. Ihre persönlichen Probleme aus früheren Zeiten hingegen können gern dort bleiben wo sie hingehören: in der Vergangenheit! Doch ihre alte Widersacherin Lilith hat diesbezüglich andere Pläne. Somit beginnt für Drewfire eine Jagd, ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack.
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Seitenzahl: 363
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Intrigen, Verrat, widersässige Abtrünnige oder Lykaner. Alles willkommene Ärgernisse für die Bluthäscherin Drewfire. Eigentlich…
F. Drewes und A. Beauvrye,
beide Jahrgang 1986, leben im schönen Schwarzwald. Bereits in jungen Jahren hatten sie eine Vorliebe für, schon existierende aber auch selbsterdachte, Geschichten über Vampire, Hexen, Drachen und Co. Mehr über die Autorinnen und ihr Herzensprojekt, den Vampir-Clan Atra Rosa, findet ihr auf deren Websitewww.atra-rosa.de
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Glossar
Drewfire wäre beim Verlassen ihres kleinen Fachwerkhauses beinahe dem Luchs auf die Pfoten getreten, der es sich direkt vor dem Eingang gemütlich gemacht hatte. Missmutig streckte er sich und gähnte herzhaft, dachte dabei aber gar nicht daran, zur Seite zu gehen, sondern drehte sich lediglich einmal um die eigene Achse und legte sich wieder hin.
»Kleiner Faulpelz, du magst wohl keinen Schnee«, merkte Drewfire schmunzelnd an und stieg über ihn hinweg, um die Tür wieder zuziehen zu können. Wenn die Raubkatze weiterhin so häufig zu ihr kam, würde sie ihrer besten Freundin Angel doch noch zustimmen und dem Tier einen Namen geben.
Plötzlich schreckte der Knall eines Gewehrschusses die beiden auf. Der Luchs zuckte mit den Ohren und presste sich geduckt und mit gesträubtem Fell hinter ihr an das Holz der Tür. Drewfire zog die Augenbrauen zusammen. Da lebte man weitab von jeglichem parasitärem Menschenbefall und hatte dennoch keine Ruhe vor ihnen. Andererseits …
»Das haben wir gleich«, flüsterte sie der Raubkatze beruhigend zu, ehe sie ihren Fokus mit einem berechnenden Lächeln auf die Geräuschquelle verlagerte. Es hatten sich lange keine Jäger mehr in diesen Teil des Waldes verirrt, und wenn sich diese schon nicht an ihre eigenen Regeln hielten, die das Wildern hier untersagten, dann endeten sie eben als Abendessen. Drewfire hatte ohnehin nicht vor, früher als unbedingt nötig im Schlachthof aufzukreuzen.
Der frische Schnee knirschte unter ihren Füßen, aber es war auch gar nicht nötig, leise zu sein, da ihre Schritte von dem Flattern und Schreien der aufgeschreckten Vögel übertönt wurde. Zumindest galt das für sie. Der Jäger nahm, ihrer Erfahrung nach, einen Großteil davon vermutlich überhaupt nicht wahr.
Es dauerte nicht lange, bis sie den Menschen ausgemacht hatte. Ein Mann, dick eingepackt und in den Händen den Krachmacher. Die Verärgerung, die sie in seiner Aura spürte, und die Tatsache, dass sie kein Blut riechen konnte, ließ sie annehmen, dass er sein Ziel verfehlt hatte. Er hockte am Boden und untersuchte einige frische Spuren, und obwohl Drewfire sich nicht die geringste Mühe gab, leise zu sein, bemerkte er sie erst, als sie schon fast hinter ihm stand. Erschrocken fuhr der Mann herum und richtete den Lauf auf sie.
»Schleichen Sie sich doch nicht so an!«, schimpfte er, während er sie durch seine Sehhilfe für Nachtblinde musterte. Einen Moment blieb sein Blick an ihren Beinen hängen, die nur teilweise vom dunklen Stoff ihres hochgeschlitzten Rocks bedeckt waren, ehe er weiter nach oben wanderte, über ihr körperbetontes Oberteil, hin zu dem Harnisch, den sie über der rechten Schulter trug. Dabei wirkte er höchst irritiert. Vermutlich deshalb, weil ein Mensch in dieser Aufmachung längst Erfrierungen davongetragen hätte oder weil er nicht damit gerechnet hatte, jemandem um diese späte Zeit im Wald zu begegnen, spekulierte Drewfire. Wahrscheinlich beides.
»Hast du dich sattgesehen?«, fragte sie, schob ihm sein Nachtsichtgerät auf die Stirn und deutete dann auf die Feuerbüchse, welche er nach wie vor auf sie gerichtet hatte. »Pass auf, wo du mit dem Ding hinzielst, du verletzt noch jemanden«, mahnte sie, griff nach dem Lauf und nahm ihm die Waffe ab. Den Widerstand, den er dabei leistete, bemerkte sie kaum und seinen verbalen Protest ignorierte sie schlicht. »Ich bevorzuge ja eine anständige Klinge, aber mit dir als leichte Beute spielt das ohnehin keine Rolle.«
Trotz ihrer Worte schien der Jäger nicht zu begreifen, dass er sich in Gefahr befand. Erst, als sie mit einem drohenden Lächeln das Schießeisen auf ihn richtete, erfüllte Angst seine Aura. Geduldig beobachtete sie, wie er sich aufrappelte und panisch durch den Schnee stolperte, bis der nächste Baum ihn unsanft stoppte. Keine besonders spannende Jagd. Dennoch lächelte Drewfire zufrieden. Panik brachte eine wunderbar schmackhafte Note ins Blut. Nur ihre eigenen Schritte und die ihrer taumelnden Beute waren zu hören, als sie zu dem Mann aufschloss und ihn umfasste. Während er sich an ihr festhielt und versuchte seine Orientierung zurückzugewinnen, versenkte sie ihre Zähne in seinem Hals.
Nachdem sie sich satt getrunken hatte, zerbrach sie das Gewehr und warf es neben dem Toten auf den Boden. Den Rest überließ sie den Wildschweinen. Sie band sich die langen, hellblonden Haare mit einer Lederschnur zurück und machte sich dann auf den Weg in den Schlachthof.
Besonders eilig hatte sie es nach wie vor nicht, also flog sie gemächlich am Waldrand entlang und hing ihren Gedanken nach. In den letzten Jahren war das Clanleben recht eintönig geworden. Keine abtrünnigen Vampire, die versuchten sich gegen den Clan aufzulehnen, keine stinkenden Lykaner1, die gegen den Friedenspakt verstoßen hatten und somit gejagt werden durften, nichts. Sicher, so friedliche Zeiten waren begrüßenswert, aber für Bluthäscher wie sie und Ryan war es ohne das ein oder andere gelegentliche Scharmützel doch recht langweilig.
Ein stechender Schmerz in ihrer linken Schulter riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Reflexartig fuhr sie herum, doch noch ehe sie reagieren konnte, traf die Klinge schon ein zweites Mal und brachte sie zum Absturz. Erst als ihr Angreifer erneut auf sie zustürzte, erkannte Drewfire eine lange Narbe, die sich über dessen linkes Auge zog.
»Lilith!«
Diesmal wich sie dem Angriff aus, schlug ihrer Gegnerin die Waffe aus der Hand und griff selbst danach. Lilith stieß einen Fluch aus und steuerte auf den Wald zu.
»Warte nur, Drewfire! Das war erst der Anfang, wir sehen uns bald wieder!«, rief sie, während sie bereits zwischen den Bäumen verschwand.
»Exsecrata merda*!«Drewfire rappelte sich auf und setzte ihr nach. Bereits nach kurzer Zeit verlor sich jedoch ihre Spur. Dafür spürte sie mit einem Mal, wie ihre verletzte Schulter von einem intensiven Brennen erfasst wurde. Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste Drewfire die Hand auf die Stichverletzung, steckte die Waffe ein und sah sich ein letztes Mal um. »Komm nur wieder! Dann steche ich dir das andere Auge auch noch aus!«
Wütend machte sie kehrt. Eine Blutwaffe. Welchem Idioten Lilith diese wohl abgenommen hatte? Aber das war vorerst Nebensache. Ebenso wie die Verletzungen, diese würden bald heilen, da hatte sie schon weitaus Schlimmeres erlebt. Viel mehr beschäftigte Drewfire die Tatsache, dass Lilith sich ihr völlig unbemerkt genähert hatte. Das war eigentlich schlicht unmöglich. Eiligen Schrittes legte sie den restlichen Weg zum Schlachthof zurück.
Angel atmete die kalte Abendluft ein. Obwohl sie heute schon recht früh am Schlachthof war, tummelten sich bereits zahlreiche Gäste vor dem alten Backsteingebäude. Während sie über den festgetretenen und rutschigen Schnee auf den Eingang zuging, beachtete sie die Umstehenden kaum. Es waren ohnehin meistens dieselben Gesichter. An der Tür nickte sie dem Wachmann, der ihr selbige aufhielt, freundlich zu, ehe sie eintrat.
Ein Luftzug wehte ihr die schulterlangen, haselnussbraunen Haare ins Gesicht und sie war froh, sich heute für eine dunkle Jeans und gegen einen Rock entschieden zu haben. Während sie sich auf die Bar zubewegte, welche das Zentrum im vorderen Bereich des großen, langgezogenen Raumes bildete, sah sie sich suchend um. Die Tanzfläche in der Mitte war noch leer. Die meisten Anwesenden hielten sich an der Bar auf oder saßen an einer der Sitzgruppen, die einen Großteil des Raumes säumten. Angel warf einen prüfenden Blick nach oben zur Galerie, die sich über den Tanzbereich erstreckte, aber an ihrem Stammplatz war noch keiner ihrer Freunde auszumachen.
An der Theke wurde sie salopp vom Barkeeper gegrüßt und hielt kurz darauf einen Kelch mit Blut in der Hand. Während sie auf die Treppe nach oben zuging, wanderte ihr Blick ans Ende des Raumes. Der Audienzbereich war bis auf eine Ehrenwache verwaist. Mitten auf der Treppe hielt Angel inne und musterte den Mann in der dunkelgrauen Uniform genauer. Aufrecht stand er an seinem Platz und behielt die Leute im Auge. Sie wurde neugierig, denn weder hatte sie von einer Ernennung gehört, noch kam ihr sein Gesicht bekannt vor. Also musste er zuvor in Draculas Schloss oder bei einem der Ratsmitglieder gedient haben. Die Lichter, die sich im Takt der Musik bewegten, strahlten in seine Richtung und ließen sein schulterlanges, braunes Haar an einigen Stellen rötlich schimmern. Zumindest wirkte es so; ob sie wirklich rot waren oder ob es am Licht der Strahler lag, konnte sie aus der Entfernung nicht sagen. Ihr Blick schweifte noch einmal über die Untenstehenden. Sie stutzte kurz, als sie einen anderen Mann bemerkte, der zu ihr hochsah und sich dann in Richtung der Ehrenwache bewegte. Er trug ein gewöhnliches Outfit aus Hemd und dunkler Jeans, die fast so schwarz wie seine kurzen Haare war.
Verlegen beeilte sich Angel, zu ihrem Stammplatz zu gelangen, und hoffte dabei, dass sie durch das Geländer hindurch nicht so gut zu sehen war. Da sie allerdings selbst eine gute Sicht hatte, war das eher unwahrscheinlich. Verträumt beobachtete sie die Wache weiter, welche mittlerweile mit dem schwarzhaarigen Mann sprach. Die breiten Schultern, die leicht von den Haarspitzen umspielt wurden. Die Gewissenhaftigkeit, mit der der Unbekannte alles im Blick behielt, obwohl er sich gerade mit jemandem unterhielt. Sein Gegenüber schien sich nicht daran zu stören, den größten Teil ihrer Konversation zu leisten. Gern würde sie selbst da unten stehen und mit ihm sprechen, auch wenn sie in solchen Momenten selten die richtigen Worte fand. Wie es sich wohl anfühlte, diesen gestutzten Vollbart auf der Haut zu spüren? Sie versuchte es sich vorzustellen. Ein sanftes Kratzen und dennoch dieses Kitzeln …
Angel zuckte zusammen und blickte zur Seite. Dort stand Ryan, dicht neben ihr. Seine Hand ruhte auf der Lehne des schwarzen Ledersessels, in dem sie saß, und gerade kratzte er sich nachdenklich am Kinn. »Eine Ehrenwache, interessant.«
Ertappt schob sie ihn von sich weg, was er mit einem amüsierten Lachen geschehen ließ. Dann setzte er sich, überschlug lässig die Beine und musterte sie, als wartete er nur darauf, dass sie wie selbstverständlich eine Erklärung ablieferte. Als sie das nicht tat, sah er noch einmal nach unten und grinste. »Wir können ja Damian bitten, ihn für dich abzustellen. Als persönliche Leibgarde?« Dabei wackelte er mit den Augenbrauen.
»Ha, ha.«
Angel verschränkte die Arme und versank tiefer in ihrem Sitz. Ryans braune Augen funkelten sie spöttisch an, aber sie hatte keine Lust, sich weiter von ihm aufziehen zu lassen. Ein anderes Thema musste her.
»Neuer Schmuck?«, fragte sie und deutete auf die silbernen Perlen, welche in die einzelnen Rastazöpfe an den Seiten eingeflochten waren, die er nach hinten gebunden hatte. Der Rest seiner langen, schwarzen Haare war offen, sah allerdings so aus, als läge die letzte Bekanntschaft mit einer Bürste schon eine Weile zurück.
»Netter Versuch. Lenk nicht ab«, erwiderte er, legte den Arm um sie und beugte sich zu ihrem Ohr. »Wenn es dir hilft, spiele ich mit Freuden den Galan* für dich. Dann werden wir ja sehen, ob er dich mir neidet.«
Ryan war einfach furchtbar, wenn er flirtete, und dabei war es völlig egal, dass er es nicht ernst meinte.
»Klar, weil jemand, der an jedem Finger eine haben kann, sicher auf jemanden wie mich wartet. Es ist auch unglaublich sexy nur angestarrt und angeschwiegen zu werden.« Resigniert schob Angel den Bluthäscher von sich.
»Es gibt sehr schöne und bewährte Gesprächsanfänge: ›Schöne Nacht‹, ›Hallo‹ oder ganz beliebt bei den Jungspunden: ›Hey‹«, dabei ließ Ryan seine Stimme lasziv klingen und beugte sich wieder provokativ zu ihrem Ohr, »gefolgt von einem ›wie geht es dir?‹. Wenn du es nicht tust, wirst du dich stets fragen: ›Was wäre, wenn …‹«
Ehe Angel darauf eingehen konnte, hörte sie die vertraute Stimme Drewfires hinter sich.
»Was wäre, wenn was?«
Lässig lehnte die Blondine an einem der Pfeiler und legte mit einem amüsierten Gesichtsausdruck den Kopf schief.
Angel schlug Ryans Hand weg, als dieser versuchte ihr über den Kopf zu streicheln, während er Drewfire antwortete. »Wir haben nur gerade festgestellt, dass es Angel nach diesem feschen Burschen da unten verlangt.« Er deutete hinter sich, ohne den Blick von Drewfire abzuwenden.
»Soso«, murmelte diese. Ihre Augen folgten dem Fingerzeig. »Worüber sollte ich mir wohl mehr Sorgen machen? Dass es Angel nach Damian verlangt oder dass Ryan ihn als feschen Burschen tituliert?«
Angel hatte bis eben das Gesicht in den Händen vergraben und sah Drewfire nun entsetzt an, ehe sie sich zeitgleich mit Ryan umwandte und feststellen musste, dass von der Ehrenwache nichts mehr zu sehen war. Nur Draculas Sohn stand dort unten. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie hätte wirklich versuchen sollen ihn anzusprechen. Auch wenn sie sich wenig davon versprach, suchten Angels Augen die Menge ab.
»Gerade stand da noch jemand anderes. Ich würde Damian nie als ›feschen Burschen‹ bezeichnen!«, hörte sie Ryan sagen, wandte sich darauf schmunzelnd wieder ihren Freunden zu und sah, wie er Drewfire bei seiner Bemerkung gegen die Schulter knuffte.
»Schon gut«, presste diese hervor und versuchte offenbar mit ihrem typischen kühlen Lächeln zu kaschieren, dass sie Schmerzen hatte.
»Was ist passiert?«, fragte Ryan und musterte sie genauer. Doch Drewfire winkte nur ab, deutete stattdessen nach unten und ging dann voraus zu den Besprechungsräumen hinter dem Audienzbereich. Die Ablöse der unbekannten Wache nickte den dreien zu und wies ihnen einen leeren Raum zu. Dort ließ sich Drewfire auf einen der Stühle fallen.
»Also?«, fragte Ryan mit Nachdruck, kaum dass er die Tür geschlossen hatte.
»Lilith ist passiert«, war die schlichte Antwort.
»Lilith!«, wiederholte Ryan mit ebenso hasserfüllter Stimme wie Drewfire.
Angel blickte zwischen den beiden hin und her und wartete darauf, dass ihre Freundin weiterredete. Mit einem Seufzen gab sie es letzten Endes auf und hakte weiter nach. »Sie ist wieder da? Und weiter?« Es war manchmal wirklich anstrengend, etwas von Drewfire zu erfahren.
»Nichts weiter. Sie hat mich angegriffen und ist dann hasenfüßig geflüchtet«, berichtete diese knapp, zog einen Dolch aus ihrem Gürtel und warf ihn auf den Tisch. »Ich gehe allerdings davon aus, es war nicht das letzte Mal, dass ich ihr begegnet bin.«
Angel rollte nur mit den Augen.
»Die wird schon wieder aus ihrem Loch kriechen. Lass mich mal deine Schulter sehen«, forderte Ryan und machte sich darauf an den Riemen ihres Schulterschutzes zu schaffen.
»Nur ein Kratzer, nicht der Rede wert«, erwiderte Drewfire, doch er hatte bereits das Stück Leder gelöst und legte nun die Schulter frei.
»Bei dir ist alles ›nur ein Kratzer‹. Also, sehen wir mal«, beharrte er. »Sieht nach einem etwas größeren ›Kratzer‹ aus«, stellte er dann trocken fest.
»Ich muss dich korrigieren, zwei«, ergänzte Angel und deutete auf die Stichwunde auf der Rückseite.
Kopfschüttelnd ließ Ryan den Harnisch vor Drewfires Nase baumeln. »Meine Liebe, so etwas sollte man anlegen, bevor man verletzt wird.«
»Ist ja schon gut! Es ist dennoch halb so schlimm«, betonte die Belehrte abermals.
»Deswegen ist es ja auch bereits verheilt. Du bist so unglaublich verbohrt!«, ärgerte sich Angel. So wie es aussah, hatten die Wunden gerade mal so aufgehört zu bluten. Äußerst ungewöhnlich und beunruhigend. Sie konnte sich ihr halb so schlimm sonst wohin schieben. »Ich hol dir was zu trinken.« Als sie die Tür hinter sich zuzog, hörte sie Ryan noch fragen: »Wie hat Lilith das geschafft?«
Zum Glück war im Schlachthof selbst eher wenig los, sodass Angel es recht schnell bis zur Bar schaffte und nicht allzu lange warten musste. Auch wenn Drewfire ihre Prinzipien hatte, darauf konnte Angel gerade keine Rücksicht nehmen. Ihre Freundin musste dringend heilen.
Zurück im Besprechungszimmer sah sie, dass Ryan Drewfires Kinn umfasst hatte und beide sich in die Augen starrten. Was wohl bedeutete, dass er nicht erfahren hatte, was er wissen wollte.
»Bin zurück«, verkündete sie.
Drewfire lächelte ihr dankend zu. Auf dem Tisch stellte Angel den mitgebrachten Kelch ab und zog den Korken aus der Flasche. Sofort war der ganze Raum mit dem Duft des jungen Blutes erfüllt. Auch Ryan hatte sich ihr zugewandt und riss nun entsetzt die Augen auf. »Ist das etwa Kinderblut? Du weißt, dass sie das nicht trinkt.«
»Ich kenne ihre Prinzipien, aber es ist wichtiger, dass sie heilt und nicht …«
»Es ist mir völlig gleich, was du von meinen Prinzipien hältst. Schaff es weg!«, herrschte Drewfire sie an und packte die Hand, mit der sie gerade versuchte, den Kelch zu befüllen.
»Was soll denn das, du tust mir weh!«, beschwerte sich Angel und zog ihren Arm zurück, wobei sie etwas von dem Blut verschüttete. Genervt griff sie nach dem Korken. »Wie kann man nur so unglaublich stur…Au! Hey!«
Grob hatte Drewfire ihr die Flasche aus der Hand gerissen, und im nächsten Augenblick packte Ryan Angel auch schon am Kragen und zog sie hinter sich.
Was sollte das nun wieder?
»An deiner Stelle würde ich ihr jetzt nicht zu nahe kommen«, mahnte er. Gierig stürzte Drewfire den Inhalt hinunter, ohne auch nur einmal abzusetzen. Als auch der letzte erreichbare Tropfen getrunken war, warf sie die Flasche wütend auf den Boden und fixierte zunächst Ryan und dann Angel, die beide zwischen ihr und dem Ausgang standen. Erschrocken stellte Angel fest, dass Drewfires blaue Augen sich nahezu gänzlich schwarz verfärbt hatten, ehe sich deren Aufmerksamkeit auf den Blutdolch verlagerte, welcher noch immer auf dem Tisch lag.
»Beruhige dich. Es ist nichts mehr da«, versuchte Angel ihre Freundin zu beschwichtigen. Ryan nutzte die kurze Ablenkung und bekam Drewfire von hinten zu fassen. Unterdessen nahm Angel den Dolch an sich und verbarg die Klinge mit ihrem Arm, um nicht bedrohlich zu wirken, dennoch bereit zur Verteidigung, falls es notwendig wurde.
»Verdammt, Drewfire! Konzentriere dich! Hör auf damit!«, versuchte Ryan zu ihr durchzudringen, während er alle Mühe zu haben schien, sie festzuhalten. Nach und nach begann die Bluthäscherin sich schließlich zu beruhigen, und auch das Dunkle in ihrem Blick wurde weniger.
»Geht es wieder?«, fragte er erleichtert, jedoch ohne seinen Griff zu lockern.
»Mir geht es hervorragend! Verdammt nochmal, lass mich los!«, fuhr Drewfire ihn an und kämpfte sich frei. Mit einem letzten wütenden Blick zu Angel ergriff sie ihren Schulterharnisch, verließ den Raum und warf die Tür hinter sich zu. Fassungslos sah Angel ihrer besten Freundin nach.
Ryan strich seine Sachen glatt und blickte zu den Scherben am Boden. »Du wusstest doch, dass sie kein Kinderblut trinkt.« Sein Versuch, tadelnd zu klingen, misslang kläglich. Es hörte sich eher resigniert an.
Zornig funkelte Angel ihn an. »Sie war verletzt, durch einen Blutdolch! Außerdem ging ich nicht davon aus, dass sie deswegen versuchen würde mich umzubringen!«
Mit jedem Wort war sie lauter geworden. Ryan hatte offensichtlich gewusst, dass hinter Drewfires Weigerung, Kinderblut zu trinken, mehr steckte als die bloße Ablehnung einer viel zu leichten, wehrlosen Beute.
»Wer hat versucht dich umzubringen?«
Draculas Stimme ließ sie beide erstarren. Keiner von ihnen hatte gemerkt, dass er den Raum betreten hatte, und seine blutroten Augen taxierten sie nun abwartend. Wie viel hatte er von all dem hier mitbekommen? Sie brauchten einen Moment, um sich zu fassen. Ryan fand als Erster seine Stimme wieder. »Keiner hat versucht sie umzubringen.«
Angel schielte gereizt zu ihm hinüber. Da sie ihre Freundin aber nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, schwieg sie.
»Also, nicht direkt«, ergänzte er und klang dabei weit weniger überzeugt als beim ersten Satz. Wie beruhigend …
»Ich bin ganz Ohr«, sprach Dracula, von einer auffordernden Handbewegung begleitet.
Ryan stockte kurz, bevor er erneut ansetzte: »Nun, wie es scheint, ist Lilith wieder aufgetaucht und hat Drewfire mit einer Blutwaffe angegriffen und verletzt.« Er deutete in Angels Richtung, die nach wie vor die Klinge in den Händen hielt. »Angel wollte ihr etwas zur Stärkung besorgen und…nun ja …«
Ryans Blick wanderte zurück zu den Scherben auf dem Boden. Der Duft des Blutes lag noch immer in der Luft und Dracula nickte wissend.
»Wenn ich gewusst hätte, dass sie so austicken würde, hätte ich das sicher nicht gemacht!«, wetterte Angel los und fuchtelte dabei mit dem Dolch vor Ryans Gesicht herum, bis das Clanoberhaupt danach griff. »Den nehme ich. Vielleicht lässt sich herausfinden, woher er stammt. Was ist mit Lilith?«
»Das wissen wir nicht, Herr. Drewfire sagte, sie sei direkt nach dem Angriff wieder verschwunden«, erklärte Ryan.
»Nun gut. Wir werden sehen, was über den Dolch in Erfahrung zu bringen ist. Ihr könnt gehen, ich werde jemanden schicken, der hier für Ordnung sorgt.«
Sie verneigten sich vor ihm und gingen. Kaum dass sie den Schlachthof hinter sich gelassen hatten, baute sich Angel vor Ryan auf. »Du hast es gewusst, hab ich nicht recht?«
»Ja.«
»Ja? Ja? Ist das alles? Warum hast du mir das nie erzählt? Findest du nicht, es wäre – ich weiß auch nicht – sinnvoll, praktisch, notwendig, dass ich sowas weiß? Als Freundin?«, brüllte Angel weiter.
»Hör mir mal zu Angel, ich habe Drewfire mein Wort gegeben, mit niemandem darüber zu sprechen. Mit niemandem. Und auf mein Wort ist Verlass. Du kannst dir sicher sein, dass es ihr auch nicht passte, als ich Kenntnis darüber erlangt habe. Aber es ist gut, dass du es wenigstens jetzt weißt«, versuchte Ryan sie zu beruhigen.
»Ja. Super. Sie wollte mit einer Blutwaffe auf mich losgehen, aber hey, immerhin weiß ich jetzt Bescheid! Alles cool!«, erwiderte Angel patzig.
»Sie hatte den Dolch nicht einmal in der Hand. Wer weiß, was sie tatsächlich …«
Angel verschränkte daraufhin die Arme und hob die Augenbrauen. Ryan räusperte sich, ehe er weitersprach. »Auf jeden Fall ist nichts passiert, das ist die Hauptsache. Du kennst sie doch inzwischen lange genug, um zu wissen, wie sie mit ihren Schwächen umgeht, oder nicht?«
Frustriert stieß Angel den Atem aus und nickte. Jetzt, nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht hatte, ging es ihr besser. Natürlich wusste sie, dass Ryan keine Schuld daran trug. »Du hast ja recht.«
Sie wollte erst noch etwas sagen, da klopfte er ihr freundschaftlich auf die Schulter, betrat den Schlachthof wieder und steuerte die Galerie an. »Lass uns erstmal etwas trinken, bis sie sich beruhigt hat«, schlug er vor.
»Du willst wirklich so viel trinken?«
Sie grinsten breit, ehe sie sich in der Menge umschauten. Drewfire war zu ihrer Erleichterung nirgends zu sehen.
1Mit einem * gekennzeichnete Begriffe werden im Glossar am Ende erklärt
Wieder und wieder hatte Drewfire den Wald durchstreift, immer ausgehend von der Stelle, an der Lilith sie überrascht hatte. Der Erfolgwar jedoch ausgeblieben. Es gab nicht den kleinsten Hinweis darauf, wie Lilith es geschafft hatte, sie unbemerkt anzugreifen. Aber irgendetwas musste es geben.
Aufgewühlt ging Drewfire in ihrem Wohnzimmer auf und ab. Die einzige Erklärung, die sich ihr immer wieder aufdrängte, war, dass ihre Fähigkeiten versagt hatten. Das jedoch war nicht im Geringsten plausibel. Sie konnte jedes Lebewesen, sei es noch so klein, in ihrer Umgebung wahrnehmen. Immer. Es musste also eine andere Erklärung geben, nur welche? Energisch schüttelte sie den Kopf, denn es war sinnlos, weiter darüber nachzudenken. Sie musste herausfinden, wo Lilith sich versteckt hielt, dann würde sich alles klären – zumindest, wenn diese feige Schlange ihre nächste Begegnung lange genug überlebte.
Drewfire griff nach ihrem Dolch und dem dicken Sonnenmantel für den Notfall, dann machte sie sich auf den Weg. »Pass mir gut auf alles auf, mein Freund«, flüsterte sie dem Luchs zu, der ihr beim Verlassen des Hauses um die Beine strich. »Amicus wäre doch ein schöner Name für dich«, überlegte sie dabei laut, als sie plötzlich spürte, wie Angel sich ihrem Haus näherte. Noch war sie nur am Rande ihrer Wahrnehmung. Wegen des Vorfalls im Schlachthof verspürte Drewfire allerdings keinen großen Drang nach einer Unterredung, und so verschwand sie hinter den Felsen, ehe Angel sie bemerkte.
Ryan hatte einen Arm auf die Balustrade der Galerie gestützt und betrachtete das Treiben im Raum unter sich, während er auf Angel wartete. Diese war schon mehrfach zu Drewfires Haus gegangen, um mit ihrer Freundin zu sprechen. Irgendwann hatte er es aufgegeben, ihr die Versuche ausreden zu wollen. Sie würden Drewfire nicht finden, wenn dieser Sturkopf es nicht wollte, weshalb er es selbst erst gar nicht versuchte. Für Angel als jüngstes Gruppenmitglied hingegen war es typisch, dass sie solche Spannungen zwischen ihnen nicht ertrug. Streit konnte man das nicht nennen. Drewfire war nicht sie selbst gewesen und allem voran eher verärgert darüber, die Kontrolle verloren zu haben, da war Ryan sicher.
Ihm war lediglich unwohl dabei, dass sie sich allein auf die Suche nach dieser Schlange machte. Ganz abgesehen davon, dass er Lilith am liebsten selbst sein Schwert in die Brust rammen würde, ließ ihn die Frage nicht los, wie sie es geschafft hatte, Drewfire anzugreifen. Die Tatsache, dass Angel hereinkam, unterbrach seinen Gedankengang. Schon von weitem konnte Ryan ihr ansehen, dass sie wieder erfolglos geblieben war. Wortlos reichte er ihr einen Kelch, den er bereits in weiser Voraussicht für sie geholt hatte, und sparte sich einen Kommentar. Angel setzte sich ihm gegenüber und seufzte. »So lange war sie schon ewig nicht mehr verschwunden.«
»Es sind doch erst gut zwei Wochen, da haben wir schon Schlimmeres erlebt. Sie taucht schon wieder auf«, entgegnete Ryan. »Und dann wünschen wir uns wahrscheinlich, dass sie nochmal für eine Woche verschwindet«, fügte er schmunzelnd hinzu, um sein Gegenüber etwas aufzuheitern.
»Ryan!« Angel wollte wohl entsetzt wirken, musste aber lachen, was ihr jegliche Überzeugung nahm.
Gerade trat ihr Schwarm seinen Dienst an und positionierte sich beim Thron. Offenbar verbrachte er seine Zeit nur zum Arbeiten im Schlachthof, eine Tatsache, die Angel immer wieder als Ausrede nutzte, um ihn nicht anzusprechen. Ryans Argumentation, dass eine Ehrenwache hier im Schlachthof ja nicht wirklich viel zu tun hatte, sondern mehr ein Prestige war, bestritt sie empört. Dennoch stupste er sie mit dem Fuß an und nickte in Richtung der Wache.
Kaum dass sie ihn erspäht hatte, wirkte Angel–wie schon die letzten Male – völlig abwesend, doch immerhin war sie der Ehrenwache inzwischen ebenfalls aufgefallen. Als Ryan nämlich einmal den Arm um sie gelegt und angeboten hatte, ihn eifersüchtig zu machen, hatte der Unbekannte sie sehr genau im Blick gehabt, und auch in den letzten Nächten hatte er auffällig oft zu ihnen nach oben gesehen.
»Frag doch Damian, wer er ist«, schlug er nach einer Weile vor und Angels überraschtes Blinzeln verriet, dass er scheinbar recht genau ihre Gedanken erraten hatte.
»Das ist mir egal. Wir sollten erstmal Drewfire finden«, murmelte sie.
Ryan rollte nur genervt die Augen, als Angel sich so hinsetzte, dass sie ihren Schwarm nicht mehr beobachten konnte, um das Gesagte zu untermauern. Netter Versuch. Wie lange sie das wohl durchhielt? Provokativ richtete Ryan sich auf, als hätte er etwas entdeckt. Angel bemühte sich redlich, unbeteiligt und desinteressiert zu wirken.
»Gut, dass du kein Interesse an ihm hast, er hat scheinbar schon eine Freundin.«
»Was?«
Sofort wirbelte Angel herum. Niemand war bei ihm. Die Blicke der beiden trafen sich und belustigt stellte Ryan fest, dass die Wache sich genauso schnell von ihr abwandte wie sie sich von ihm.
»Ich hasse dich, Ryan!«, murrte Angel und funkelte ihn böse an.
Er lachte. »Nicht doch, Engelchen. Wir wissen beide, dass das nicht der Wahrheit entspricht.«
Daraufhin schwiegen sie eine Weile, bis Angel ihren lächerlichen Protest schließlich aufgab und ihre gesamte Aufmerksamkeit wieder ihrem Traummann galt. Es war wirklich nicht mehr mit anzusehen. Ryan ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und erkannte von weitem den Freund der Wache, der ähnlich genervt aussah wie er selbst. Es war schön, dass Angel jemanden entdeckt hatte, den sie näher kennenlernen wollte. Doch von selbst würde das nicht geschehen. Es muss endlich was passieren, das hält ja keiner aus!, dachte sich Ryan und stand auf.
»Bin gleich wieder da«, sagte er und bekam nur ein knappes Nicken zur Antwort. Zielstrebig steuerte er auf den Fremden zu. Als er an ihm vorbeiging, bedeutete er dem Mann, ihm zu folgen, und begab sich an den hintersten Teil der Bar.
»Was gibt’s…Ryan, richtig?«
Ryan nickte. »Und du bist?«
Er erntete einen misstrauischen Blick, ehe sein Gegenüber antwortete: »Marius. Also, warum schleppst du mich hier in die hinterste Ecke?«
Ryan sah noch einmal prüfend zur Galerie, ehe er zu erklären begann. »Kann es sein, dass dein Freund dahinten in der letzten Zeit auch ein wenig…nun ja, nennen wir es, entrückt* wirkt?«
Marius schnaubte frustriert. »Ein wenig ist gut. Er ist nicht mehr ansprechbar, wenn deine kleine Freundin den Raum betritt«, entgegnete er.
»Dachte ich mir. Warum spricht er sie nicht an?«
»Wenn man ihm Glauben schenken mag, weil er ›zu viel zu tun‹ hat.« Auch ohne nachzufragen, war offensichtlich, dass Marius seinem Freund das keineswegs abkaufte. »Außerdem scheint er zu denken, dass es sowieso aussichtslos ist, weil ihr ständig zusammen hier rumhängt.«
Ryan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Er glaubt doch nicht etwa, wir wären liiert?«, stellte er amüsiert fest. Da war es ihm ja überzeugend gelungen, Angels Liebhaber zu spielen. »Na schön, ich weiß nicht, wie du das siehst, aber mir für meinen Teil geht dieses Verhalten unwahrscheinlich auf die Nerven. Es wird Zeit, dass die beiden miteinander reden.«
Marius nickte zustimmend. »Und wie gedenkst du das zu bewerkstelligen?«
Nachdem sie sich ein paar Minuten ausgetauscht hatten, nutzte Ryan den Umstand, dass Angel in diesem Moment nicht zu sehen war, und ging auf die Ehrenwache zu. Lässig lehnte er sich neben dem Mann an die Wand.
»Hey, ich weiß ganz zufällig, dass die hübsche Braunhaarige, die im Übrigen zu hundert Prozent nicht meine Partnerin ist, morgen Nacht ein wenig einsam sein wird. Vielleicht fällt dir ja jemand ein, der ihr etwas Gesellschaft leisten könnte?«, sagte er ganz selbstverständlich, dann stieß er sich wieder von der Wand ab, ohne den Wachposten auch nur einmal richtig angesehen zu haben. Auf halbem Weg hielt er nochmal kurz inne. »Ach ja, sie tanzt sehr gerne. Nur so nebenbei.«
Dann verschwand Ryan in der Menge.
Eine Woche lang hatte Drewfire Nacht für Nacht die ihr bekannten Verstecke der Abtrünnigen abgesucht. Wenn Lilith von jemandem Hilfe erwarten konnte, dann von jenen, die sich gegen Dracula und den Clan stellten. Der Erfolg war allerdings ausgeblieben. Sie hatte nichts außer ein paar eingebildeter Halbstarker und verlassener Lager gefunden.
Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, Black Dragon auf Lilith anzusetzen. Er verstand sein Handwerk als Spion und war zudem einer der Wenigen, dem sie ausreichend Vertrauen entgegenbringen konnte, um ihn in eine derart persönliche Angelegenheit zu involvieren.
Nachdem sie Black im Herrenhaus Beauvrye nicht angetroffen hatte, stand sie nun vor dem Haus seiner schlimmeren Hälfte, wie sie seine Spionagepartnerin gern bezeichnete.
»Drewfire, was verschafft mir die Ehre?«, fragte Yasmin überrascht, als sie ihr die Tür öffnete.
Für einen flüchtigen Augenblick war Drewfire von dem ungewohnten Outfit irritiert. Augenscheinlich bestand dies nur aus einem überdimensionierten Pullover, den sie wie ein unförmiges Kleid trug. Yasmin lehnte sich lässig in den Türrahmen und bedauerlicherweise konnte man ihrem Gesichtsausdruck sofort ansehen, dass ihr diese kurze Verwunderung nicht entgangen war. »Wenn ich geahnt hätte, dass du mich besuchen kommst, hätte ich mir etwas anderes angezogen«, sagte sie und lächelte kokett. Das fing ja gut an.
»Ich muss mit Black Dragon sprechen.«
»Wie kommst du darauf, dass er hier ist?«
Drewfire setzte ein dominantes Lächeln auf. Auf dieses Spielchen würde sie sich keinesfalls einlassen. Dennoch kostete es sie einiges an Mühe, nicht allzu genervt zu wirken, als sie antwortete. »Das muss ich dir nicht wirklich erklären, oder?«
Yasmin lachte. »Schon gut, komm rein.«
Im Wohnraum klaubte Black Dragon einige Unterlagen zusammen, die quer über den Tisch verstreut lagen, und verstaute sie dann in einem Schrank, ehe er sich ihnen zuwandte. »Also, was gibt es?«
»Ich habe einen Auftrag für dich«, begann Drewfire.
Black Dragon schmunzelte. »Du meinst, du brauchst meine Hilfe.«
Drewfire zog eine Augenbraue nach oben, ging aber sonst nicht weiter darauf ein, sondern fuhr mit ernster Miene fort: »Es gilt, jemanden ausfindig zu machen. Kann ich dabei auf dich zählen oder muss ich mir einen anderen suchen?«
»Nicht nötig. Um wen geht es?«, erkundigte sich der Spion weiter, noch immer schmunzelnd.
»Lilith«, antwortete sie knapp.
»Lilith? Die wurde doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen«, mischte Yasmin sich überrascht ein.
»Ich habe sie gesehen. Vor knapp zwei Wochen«, erwiderte Drewfire und ballte die Faust. Die Spione tauschten einen kurzen Blick.
»Okay. Wo und wobei?«
»Bei mir am Waldrand, als ich auf dem Weg in den Schlachthof war.« Drewfire berichtete detailliert, was sie selbst bereits unternommen hatte. Was den Angriff anging, beschränkte sie sich auf das Wesentliche. Dass Lilith sie überrascht hatte, brauchte keiner der beiden zu wissen.
Die Spione lauschten ihren Ausführungen, ohne sie zu unterbrechen. Nachdenklich strich sich Black Dragon durch seinen Kinnbart. »Sonst gibt es nichts, was helfen könnte?«, hakte er nach.
Sofort sah Drewfire ihn mahnend an. »Wenn es etwas gäbe, hätte ich es gesagt!«
Sie stand auf und war bereits an der Tür, als er ihr nachrief: »Hey, weiß Big Boss eigentlich Bescheid?«
»Natürlich«, erwiderte Drewfire trocken und zog die Tür hinter sich zu. Zumindest ging sie davon aus. Dracula war auf jeden Fall im Schlachthof gewesen, als sie in der Nacht des Angriffs wütend aus selbigem herausgestürmt war. Es war demnach naheliegend, dass er über den Tumult im Besprechungszimmer informiert worden war.
»Zwei Wochen«, murmelte Black Dragon und massierte sich etwas genervt die Nasenwurzel.
Es war nichts Neues, dass Drewfire, vor allem wenn es um Lilith ging, erstmal auf eigene Faust voranstürmte. Das war ihre persönliche Fehde, deren Details weder ihm noch Yasmin bekannt waren. Maximal Ryan zog sie an diesem Punkt ins Vertrauen. Normalerweise war das Black Dragon auch völlig egal. Allerdings hätte es durchaus helfen können, sich dort einmal umzusehen, wo Lilith sie angegriffen hatte. Nicht, dass Drewfire unfähig war, Spuren zu lesen – als Bluthäscherin war es schließlich ihr Job, Abtrünnigen nachzuspüren. In diesem Zusammenhang hatten sie schon öfter zusammengearbeitet. Aber dennoch war sie eben kein Spion.
»Wir sollten uns zuerst nach den Ergebnissen der Analyse des Dolches erkundigen«, schlug er vor.
Zweifelnd kräuselte Yasmin ihre Lippen. »Du glaubst wirklich, dass die zwei das Ding aus der Hand gegeben haben?«
»Ich weiß es sogar. Angel hat mir alles erzählt, als ich letztens zu Hause war.« Allerdings waren sie zu diesem Zeitpunkt nicht mit der Aufgabe betraut gewesen Lilith aufzuspüren, und er hatte keine Lust gehabt sich mit dem Duo anzulegen, weil er sich in etwas einmischte, dass ihn erstens nichts anging und zweitens nur äußerst peripher tangierte. Ihn hatte mehr interessiert, wieso seine kleine Schwester so aufgewühlt gewesen war.
Nachdenklich legte er die Handflächen aufeinander und nahm eine Denkerpose ein.
»Was beschäftigt dich?«, fragte Yasmin neugierig.
Erst jetzt wurde Black wirklich bewusst, dass er ja mehr wusste als sie, also klärte er sie über die unwichtigen Details, wie Drewfire sie lapidar nennen würde, auf. Es war nicht verwunderlich, dass die Bluthäscherin nichts von einer größeren Verletzung erwähnt hatte – behauptete sie doch bei allem, dass es nur ein Kratzer oder schlimmstenfalls eine Fleischwunde sei. Allerdings klang bei Angel eine Schulterverletzung gern mal so, als sei es dem reinen Glück zuzuschreiben, dass der Arm noch dran hing. Die Wahrheit lag in der Regel irgendwo dazwischen.
Viel wichtiger war jetzt, den Informationen nachzugehen, die sie hatten. Lilith war wieder aufgetaucht, vermutlich hatte sie einen Unterschlupf in der Nähe. Bisher hatte sie immer ein paar Unterstützer gefunden. Wenn sie an einen Blutdolch gekommen war, lag die Vermutung nahe, dass sie Abtrünnige damit lockte. Normalerweise hatte niemand außerhalb des Clans so eine Waffe. Das war ein wohlgehütetes Geheimnis der Atra Rosa.
»Wir sollten unsere Kontakte nach ihr befragen und außerdem herausfinden, wie sie an eine Blutwaffe gekommen ist.«
So etwas wurde schnell herumgetratscht. Auch wenn sich die Abtrünnigen allzu gern wie ein Clan präsentierten, waren sie doch nur ein Haufen Einzelgänger, die der Hass auf die Atra Rosa einte. Ansonsten gab es zwar vereinzelte Gruppierungen, doch hielten diese sich nie besonders lange und erreichten vor allem nie eine nennenswerte Größe.
»Meinst du, einer unserer Informanten hat Kontakt zu ihr?«, fragte Yasmin grübelnd. Immer wieder starrte sie auf ihre Finger, als rechnete sie irgendwas zusammen oder zählte etwas. Deswegen ging Black davon aus, dass sie gerade überlegte, bei wem die Chance am größten war.
»Das wäre ein sehr gelegener Zufall. Aber das müssen wir klären. Sicherlich lässt sich jemand finden, der sie für uns ausspionieren kann.«
Ihre Kontaktpersonen hatten Verbindungen zu den verschiedensten Abtrünnigen, waren aber selbst keine. Das machte sie zwar unabhängig von Verpflichtungen gegenüber anderen, sorgte allerdings auch dafür, dass sie bei Problemen auf sich allein gestellt waren. Sie nannten sich selbst Freigeister und gehörten nicht zum Clan.
Yasmins Stimme riss Black Dragon aus seinen Gedanken. »Wir sollten die Tummelplätze und Verstecke der Abtrünnigen abklappern. Ein Besuch im Sunset wäre auch noch eine Option.«
Zustimmend nickte Black Dragon und grinste Yasmin bei ihrem letzten Vorschlag an. »Hast du solche Sehnsucht nach dem Schuppen?«
Als Antwort erhielt er nur ein amüsiertes Kichern, ehe seine Freundin wieder ernst wurde. »Allerdings müssen wir erst ermitteln, ob einer unserer Kontakte Drewfire in die Klauen gestolpert ist, wenn sie schon auf eigene Faust gesucht hat.«
Das war durchaus ein Problem. Sie wussten schon, warum sie Drewfire und Ryan nicht auf mehr Treffpunkte aufmerksam machten als nötig. Selbstverständlich kannte niemand außer Yasmin und ihm ihre Kontakte. Wenn sich ihre Informanten aber unter Abtrünnige mischten, liefen sie auch Gefahr, für genau diese gehalten zu werden; und die Seelenlosen, wie andere Drewfire und Ryan gern nannten, waren nicht gerade dafür bekannt, Abtrünnige laufen zu lassen.
Nachdenklich wickelte sich seine beste Freundin – sein partner in crime – eine ihrer rotblonden, lockigen Haarsträhnen um den Finger. »Was ist mit Ryan? Sucht der auch nach Lilith?«
Black Dragon zuckte unsicher mit den Achseln. »Soweit ich weiß, nicht. Vielleicht will Drewfire ihn auch einfach nicht dabeihaben.«
Yasmin presste ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ein Zeichen dafür, dass sie eigentlich etwas sagen wollte, es aber sein ließ. Womöglich erinnerte auch sie sich an die Gerüchte, dass Lilith nicht unschuldig an der Trennung von Ryan und Drewfire war. Was davon tatsächlich stimmte, konnte keiner von ihnen mit Sicherheit sagen. Die Bluthäscher hatten sich nie dazu geäußert und sein kleines Engelchen hatte Black Dragon nicht gefragt. Nicht, dass er es nicht kurz in Erwägung gezogen hätte, doch Angel sollte sich nicht zu der Entscheidung gezwungen fühlen, ob sie lieber seine Frage beantwortete oder das Vertrauen ihrer Freunde verdiente. Neugierde hin oder her, es ging weder Yasmin noch ihn etwas an. Ganz abgesehen davon, dass sie nicht mal mit ihnen befreundet waren. Gut, sie waren vielleicht mehr als Bekannte, aber Freundschaft? Nein, so würde er das nicht nennen.
Nach einigem Ärger bei einer Gruppe Gewandelter, bei denen Angel in ihrer Stellung als Vermittlerin und Lehrerin schlichtend hatte eingreifen müssen, freute sie sich nun darauf, die restlichen Stunden im Schlachthof ausklingen zu lassen. Ryan hatte ihr versichert, dass er Zeit hätte, doch konnte sie ihn nirgends entdecken. Großartig. Auch sonst sah sie niemanden, den sie gut genug kannte, um ihn in ihrer Nähe zu ertragen. Seufzend lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und beobachtete die Menge. Verstohlen lenkte sie dabei ihren Blick in Richtung der Wachen. Aber auch ihr Favorit war nirgendwo auszumachen.
Ihre Gedanken schweiften wieder zu Drewfire ab. Hoffentlich würde Ryan nicht mehr lange auf sich warten lassen – sie brauchte dringend Ablenkung, um diesen Teufelskreis in ihrem Kopf endlich abzustellen.
»Na los jetzt, frag schon, ich weiß, dass du es willst.«
Angel versuchte das Gespräch in ihrer Nähe zu ignorieren.
»Warte, Marius!«
Im nächsten Moment warf sich ein Schatten über sie, was sie aufblicken ließ. Kurz stockte ihr der Atem, als genau der Mann vor ihr stand, von dem sie sich schon die ganze Zeit erhofft hatte, dass er sie ansprechen würde. Leider brachte sie selbst keinen Ton heraus.
»Unbekannte Schönheit, Drake. Drake, unbekannte Schönheit«, stellte der Zweite im Bunde sie einander vor, ehe er in der Menge untertauchte.
Nun wusste Angel zumindest seinen Namen.
Völlig überrumpelt blinzelte sie Drake an, der selbst ein wenig verloren aussah. Zum ersten Mal war sie ihm nahe genug, um seine Augen sehen zu können. Sie waren braun und immer wieder von bernsteinfarbenen Sprenkeln durchzogen. Ein unsicheres Lächeln lag auf seinen Lippen und seltsamerweise beruhigte das Angel.
»Eine schöne Nacht«, murmelte Drake. »Willst du tanzen?«
Ihre Augen weiteten sich überrascht. Dann strahlte sie und stand auf, froh darüber, dass sein Freund – oder wer auch immer der andere gewesen war – ihn hierhergebracht hatte. Nur sollte sie ihm endlich antworten und ihn nicht so dümmlich angrinsen …
Sie griff nach seiner Hand und lief los in Richtung Tanzfläche.
»Mein Name ist übrigens Angel.«
Verträumt flog Angel über die weiten Wiesen und dachte an die vergangenen Nächte zurück. Ihr Herz begann wieder wild zu schlagen, bei der Erinnerung daran, wie Drake und sie bei ihrer ersten Begegnung getanzt hatten. Er war ein guter, rücksichtsvoller Tänzer. Sehr ruhig, aber nicht auf die unangenehme Art. Es war erfrischend, wie gut sie miteinander schweigen konnten. Selbstsicher hatte die Ehrenwache sie über die Tanzfläche geführt, zumindest bis die Musik moderner und schneller geworden war. Sie musste unwillkürlich schmunzeln, als sie daran dachte, wie er sich dann bemüht hatte, ihren Tanzschritten zu folgen, ohne ihr auf die Füße zu treten.
Verträumt drehte sie sich in der Luft, stoppte dann aber abrupt, als sie sich ihres Benehmens bewusstwurde. Zum Glück waren nur einige Vögel Zeugen dieses albernen Verhaltens geworden.
Sie liebte den Ausblick von hier oben, den Schnee, der im Mondlicht unter ihr funkelte. Drake genoss die Natur genauso gern wie sie selbst. Erst vor zwei Nächten hatte er ihr eine schöne Lichtung gezeigt, die er gerne aufsuchte. Schließlich öffnete sich unter ihr der weite Blick auf die Villa, welche auf einem Berghang stand und als Schule für Gewandelte und Jungvampire diente. Das Anwesen bildete einen starken Kontrast zu dem hellen, gefrorenen Boden drum herum. Die Tür knarzte, als Angel in die Eingangshalle trat, und kurz darauf kam auch schon ein bekanntes Gesicht die Treppe heruntergestürmt.
»Hi Angel«, hörte sie Nana rufen. »André meinte, demnächst soll eine neue Schülerin zu uns stoßen.« Ihre strohblonden Haare hatte die junge Reinblüterin zu einem lockeren Dutt nach oben gebunden und ihre braunen Augen sahen sie freudestrahlend an.
Mit einem herzlichen Lächeln nickte Angel ihr zu. »Hallo Nana, dann hast du ja bald einiges zu tun«, erwiderte sie. Nana kümmerte sich mit um die Neuzugänge.
»Alles Gute zum Geburtstag, alte Frau!«, unterbrach sie plötzlich eine Frauenstimme, die Nanas Freundin, einer Gewandelten namens Kaja, gehörte. Angel sah geduldig zu, wie sich die beiden Frauen umarmten.
»Danke. Aber was heißt hier bitte ›alte Frau‹?«, lachte Nana gespielt empört.
Ihre Freundin grinste sie an und zuckte nur mit den Schultern. Dann hob sie eine prall gefüllte Tasche hoch. »Bringen wir das gleich in dein Zimmer?«
»Vergiss den Unterricht nicht«, rief Angel Kaja schmunzelnd nach. Dass sie plötzlich so ignoriert wurde, nahm sie ihnen nicht übel. Nana wurde heute zweihundert Jahre alt und galt somit offiziell nicht mehr als Jungvampir. Das war schon etwas Besonderes, auch für Angel. Nana war zwar nicht ihre leibliche Tochter, aber sie hatte André, der ihr Ziehvater und auch Leiter der Schule war, dabei unterstützt, sie großzuziehen. Sie war schon gespannt, was ihre Ziehtochter zu der Überraschung sagen würde, die sie für sie vorbereitet hatten.