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Lioba Albus

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Beschreibung

Frech, emanzipiert, direkt - das Romandebüt der beliebten Kabarettistin Lioba Albus!


Mila ist 59 und zufrieden mit ihrem Leben. Ihr Freundeskreis ist groß, ihre Arbeit als Chefin einer kleinen Agentur erfüllend, und die Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Das Alter? Weder ein Thema noch ein Problem. Doch auf einmal stehen Sohn und Tochter wieder auf der Schwelle und fordern Asyl, und die Männer aus ihren wilden Jahren verlangen Aufmerksamkeit und Antworten auf alte Fragen. Mila ist überfordert. Wie wird sie die Bagage nur wieder los? Und gibt es vielleicht am Ende doch den einen, mit dem zusammen das Leben noch ein bisschen federleichter ist?



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Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumMottoWidmungFebruarMärzAprilMaiJuniJuliAugustSeptemberOktoberNovember – NachsitzenDank

Über das Buch

Frech, emanzipiert, direkt – das Romandebüt der beliebten Kabarettistin Lioba Albus! Mila ist 59 und zufrieden mit ihrem Leben. Ihr Freundeskreis ist groß, ihre Arbeit als Chefin einer kleinen Agentur erfüllend, und die Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Das Alter? Weder ein Thema noch ein Problem. Doch auf einmal stehen Sohn und Tochter wieder auf der Schwelle und fordern Asyl, und die Männer aus ihren wilden Jahren verlangen Aufmerksamkeit und Antworten auf alte Fragen. Mila ist überfordert. Wie wird sie die Bagage nur wieder los? Und gibt es vielleicht am Ende doch den einen, mit dem zusammen das Leben noch ein bisschen federleichter ist?

Über die Autorin

Lioba Albus wurde 1958 in Attendorn im Sauerland geboren, lebt in Dortmund und ist Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Als gelernte Schauspielerin zog es sie vor dreißig Jahren auf Deutschlands Kabarettbühnen. Außerdem ist sie häufig zu Gast in diversen Radio- und Fernsehshows wie z.B. der Ladies Night (ARD). Freunde, die es gut mit ihr meinen, finden, sie spricht ein bisschen zu viel. Darum schreibt sie jetzt. Wer will, kann das lesen. Hoffentlich wollen viele – sonst fängt sie wieder an zu sprechen.

Lioba Albus

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2021/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

  

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text-und Data-Mining bleiben vorbehalten.

  

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Einbandmotive: © shutterstock.com: Kolesnikov Vladimir | NataLT | Nik Merkulov

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0965-1

luebbe.de

lesejury.de

 

Man hört nicht auf zu lachen, wenn man alt wird,

aber man wird alt, wenn man aufhört zu lachen.

                                                              Jean Nohain

 

Für meine Töchter Laura, Janna und Greta,

die mich so gut erzogen haben.

FEBRUAR

Ein Tag, der mit dem Duft von frisch gebackenem Zitronenkuchen beginnt, dem liegt die Welt zu Füßen. Dachte ich. Ich denke viel. Macht ja jeder. Ich vertue mich aber ab und zu beim Denken – das werdet ihr noch merken.

Auf dem Weg nach unten durchs Treppenhaus sog ich den köstlichen Duft gierig ein. So früh am Morgen backen, das macht nur eine: meine mütterliche Freundin und Nachbarin Traudel. Traudel ist ein Schatz – immer schon gewesen.

Ich schlurfte nach unten und holte meine Tageszeitung aus dem Briefkasten. Ja, ja, ich weiß: Zeitung analog lesen ist so was von retro. Das braucht ihr mir nicht unter die Nase reiben, das machen meine beiden erwachsenen Kinder schon genug. Aber ich bin ein haptischer Mensch. Ich halte Zeitungen und Bücher gerne ganz altmodisch in der Hand.

Ich fischte meine Zeitung aus dem Briefkastenschlitz und kroch auf dem Rückweg nach oben fast mit meiner Nase unter dem Türspalt zu Traudels und Antes Wohnung hindurch. Das roch aber auch zu verlockend!

Kaum hatte ich mir in meiner eigenen Wohnung einen starken Kaffee aufgebrüht, klingelte es an der Wohnungstür. Nanu, wer konnte das um diese Uhrzeit schon sein?

Vor mir stand Traudel. Leicht erhitzt, Frisur völlig zerzaust hielt sie mir den Zitronenkuchen entgegen. Den ganzen! Habe ich schon erwähnt, dass dieser Tag das Potenzial zu einem Granatentag hatte? Der Speichel tropfte mir vor lauter Vorfreude quasi aus dem Mund.

»Für dich«, sagte sie, »als Dankeschön, weil du auf unsere Wohnung aufpasst!«

Ach ja, das hatte ich ja völlig vergessen – oder verdrängt, je nachdem. Heute wollten Traudel und Ante, ihr Mann, für etliche Wochen nach Gran Canaria abreisen. Das machen sie jedes Jahr im Winter. Die alten Knochen ein bisschen vor dem deutschen Winter retten – so nennen sie das. Beide sind nicht mehr die Jüngsten. Traudel ist zweiundachtzig und Ante sechsundsiebzig. Traudel hat früher häufig meine Kinder gehütet, als die noch klein waren. Und mich getröstet und aufgerichtet, wenn mir mein eigenes Leben mal wieder um die Ohren geflogen war. Im Grunde war sie meine Ersatzmutter und für die Kinder so eine Art Wahl-Oma. Zu meiner eigenen Mutter hatte ich zeit ihres Lebens ein kompliziertes Verhältnis. Traudel war das Gegenteil meiner Mutter: Sie drängte mir keine Ratschläge auf, war einfühlsam und empathisch. Meine Mutter dagegen war bis zu ihrem Tod vor dreizehn Jahren immer eher abwertend und manipulativ.

Aber darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Schließlich wurde mir gerade ein frisch gebackener Zitronenkuchen unter die Nase gehalten.

Ich nahm Traudel den Kuchen aus der Hand, stellte ihn auf der Flurkommode ab und fiel ihr spontan um den Hals. »Ich werde euch so vermissen! Kommt gesund wieder. Und Antes Dschungel werde ich hüten wie meinen Augapfel!«

Letzteres war wichtig. Ante ist ein sehr stiller Mensch, er spricht nur das Allernötigste. Dafür ist er ein regelrechter Pflanzenflüsterer. Er hat nicht nur den grünen Daumen, der ganze Mann ist quasi grün. Es gibt keine Pflanze, und sei sie noch so vernachlässigt, die unter seinen Händen nicht wieder zu sattgrünem Leben erblüht. Mir seine Schätze für sechs Wochen zur Pflege zu überlassen fiel ihm nie leicht. Und mich machte diese Verantwortung immer etwas nervös. Genauso wie Traudels Abwesenheit. Aber das würde ich nie öffentlich zugeben. Ich bin schließlich neunundfünfzig Jahre alt und sollte inzwischen eigentlich selbst für andere eine Zuflucht bei Lebensturbulenzen sein. Bin ich aber nicht. Irgendetwas in mir bleibt beharrlich unsicher.

Als Traudel sich wieder verabschiedet und ich meine Wohnungstür hinter ihr geschlossen hatte, beschloss ich, meine Pläne für ein gesundes, vitaminreiches Frühstück über den Haufen zu werfen. Ich hatte eine Planänderung verdient. Bis tief in die Nacht hatte ich über meiner Steuererklärung gesessen. Anfangs war ich noch ganz tapfer mit Tee und leiser Musik in dieses unangenehme Kapitel meines Selbstständigen-Daseins gestartet, dann aber war ich zu Gin übergegangen. Meine Steuererklärung war auch jetzt noch nicht fertig, was euch nicht überraschen wird. Dafür war ich übernächtigt und hatte leichte Kopfschmerzen.

Dagegen ist ein Stück – na gut, drei Stücke – Zitronenkuchen eine gute Therapie. Natürlich in Kombination mit starkem Kaffee. Zitronen enthalten ja viel Vitamin C. Und Vitamin C und Koffein – das ist ja so etwas Ähnliches wie eine natürliche Schmerztablette. Dachte ich. Und es wirkte.

Kaum hatte ich den noch warmen Kuchen verdrückt und den Kaffee getrunken, fühlte ich mich ausgesprochen behaglich. Wäre ich eine Katze, ich hätte geschnurrt. Ein weiteres Indiz dafür, dass dieser Tag mein Freund werden würde.

Dachte ich. Nein, ihr braucht mich nicht dran zu erinnern! Ich habe ab und zu Pech beim Denken, ich weiß das.

Ich saß gerade auf dem Klo – mit Zeitung. Ich hoffe, ihr könnt aushalten, dass ich solche Sachen erwähne. Ich bin nicht so fein. Und ich spreche über Dinge wie Klo und Verdauung, damit müsst ihr euch abfinden.

Ich saß also gerade auf dem Klo und las in der Zeitung über eine Demo der Fridays-for-Future-Bewegung, als es wieder an der Wohnungstür klingelte.

Da ich davon ausging, dass es sich um diese Zeit eigentlich nur noch einmal um Traudel handeln könnte, die bestimmt vergessen hatte, mir noch etwas zu sagen, raffte ich meine Jogginghose nur notdürftig hoch und öffnete in diesem leicht derangierten Zustand die Tür.

Genau ab diesem Zeitpunkt drehte sich der bis dahin so vielversprechende Tag in die komplett andere Richtung und zeigte mir seinen Stinkefinger.

Im Türrahmen stand mein Sohn. Leo, sechsundzwanzig, freakig, hübsch, intelligent und leider völlig chaotisch. Jede Mutter freut sich natürlich total, wenn ihr erwachsener Sohn sie mit einem spontanen Besuch überrascht. So gehört sich das. Mütter sind immer erfreut, ihre eigene Brut zu sehen.

Denkt ihr. So, und damit ist bewiesen, dass auch ihr manchmal Pech beim Denken habt.

Meine Freude hielt sich in Grenzen. Erstens werde ich grundsätzlich nicht gerne überrascht, außer mit Zitronenkuchen, zweitens ist mein Sohn kein Typ für frühmorgendliche Spontanbesuche bei Mama. Also war Gefahr im Verzug. Das sah ich, und das roch ich. Mein Sohn war in einem ziemlich abgerissenen Zustand, verströmte einen recht strengen Geruch, und neben ihm saß ein riesiges Hunde-Etwas im verunglückten Dalmatinerlook. Leos Augen waren rot gerändert. Entweder hatte er geweint oder gekifft. Oder beides. Wahrscheinlich Letzteres.

In mir ging alles auf Abwehr, und darum entfleuchte mir auch nur ein entgeistertes »Oh!«.

»Können wir reinkommen?« Seine Stimme war heiser und kratzig. Er hatte also zu viel geraucht oder geschrien. Oder beides. Wahrscheinlich Letzteres.

Ich wiederhole mich, ich weiß. Aber ich war auch innerlich regelrecht erstarrt. Meine Kopfschmerzen meldeten sich zurück, ich bekam Sodbrennen. Ein vitaminreiches Frühstück wäre vielleicht doch die bessere Option gewesen.

»Kommt rein.« Ich gab den Weg frei, und Leo und sein Hundemonster trotteten zielstrebig in Richtung Küche.

Leo ließ sich theatralisch auf einen Stuhl fallen und sagte tonlos: »Ich bin ruiniert! Völlig ruiniert!«

»Aha.« Mehr konnte ich zu dieser Eröffnung nicht sagen. Ich hätte aufgelöst und in Sorge sein müssen – tatsächlich war ich auch in Sorge. Aber in Sorge um mich und meine Ruhe. Leo ist öfter mal völlig ruiniert. Er hat sozusagen eine Lizenz zum Scheitern. Diese Tatsache macht mir viel mehr zu schaffen als seine individuellen Zusammenbrüche. Ich habe wenig Lust, mir jedes Mal Sorgen um ihn und sein Seelenheil zu machen. Bringt ja auch nichts.

»Mama, ich muss ’ne Zeit lang hier wohnen! Thea hat mich rausgeschmissen. Uns rausgeschmissen«, sagte er mit Blick auf den Riesenhund. »Ich bin völlig pleite. Ich muss mein Zimmer bei dir wiederhaben!«

Ich wollte erwidern, dass er bereits seit vier Jahren kein Zimmer mehr bei mir hatte. Sein ehemaliges Kinderzimmer war inzwischen mein Yogaraum. Ich wollte ihn auch daran erinnern, dass er seit acht Jahren volljährig war und ich ihm vor nicht einmal sechs Monaten eine stattliche Summe Geld geliehen hatte, weil er gemeinsam mit seinem Freund Xavier einen Take-away-Laden für Veggieburger eröffnen wollte. Eine todsichere Angelegenheit, eine absolute Goldgrube und voll im Trend. So hatte er mir das schmackhaft gemacht. Und ich doofes Muttertier hatte ihm geglaubt. Genau darauf wollte ich jetzt zu sprechen kommen.

Ich kam aber nicht dazu, denn das übergroße Hundeetwas fing an, sich zu übergeben. Wieder und wieder. Und mein Sohn schaute eher interessiert als alarmiert zu.

»Da siehst du, wie es uns geht, Mama! Vieh ist hypersensibel. Der hat den Stress heute Nacht zwischen Thea und mir nicht verpackt. Wenn der gestresst ist, dann kotzt der!«

Ich hätte jetzt auch ganz gut etwas Mageninhalt opfern können, die Küche roch nicht schön.

»Leo!« Meine Stimme klang schrill und hysterisch, das hörte ich selbst. »Mach sofort die Kotze weg! Was ist das überhaupt für ein Monster? Und wer, bitte, ist Thea?«

Mein Sohn quälte sich in Zeitlupe aus dem Stuhl, sah sich in meiner Küche um, griff nach dem Spüllappen und wischte völlig effektlos in der Hundekotze herum.

»Doch nicht mit meinem Spüllappen!«

Ich merkte, wie eine lähmende Müdigkeit über mich hereinbrach. All die anstrengenden Jahre als alleinerziehende, dauerüberforderte Mutter taten sich innerlich vor mir auf. Bitte, bitte! Lass diesen Kelch an mir vorübergehen!

Gleichzeitig griff ich, einer alten Muttergewohnheit folgend, nach dem Spüllappen und zog ihn Leo aus der Hand. Nahm danach die Rolle mit den Einmalwischtüchern, entfernte den gröbsten Dreck, um, ebenso selbstverständlich, den Putzeimer volllaufen zu lassen und den Boden zu wischen. Danach öffnete ich das Fenster, um den Gestank abziehen zu lassen.

Es kam ein unangenehm feuchtkalter Luftzug zum Fenster herein. Ich fröstelte in meinem Jogginganzug. Trotzdem stellte ich, auch da wieder ganz im typischen Muttermodus, dem Hund eine Schale mit Wasser hin. Kotzen macht durstig. Das wusste ich.

Ich goss mir einen weiteren Kaffee ein. Viel schlimmer konnte mein Sodbrennen eh nicht werden.

»Kriege ich auch einen?« Leo sah mich weidwund und verletzt an.

»Kaffee ist alle!« Das sollte ihm klarmachen, dass ich nicht bereit war, das mütterliche Versorgungsprogramm neu zu starten. Ich war stolz auf mich.

Leo schluckte. »Du bist genervt, stimmt’s?«

»Neiiin, wie könnte ich! Mein Sohn kreuzt zu nachtschlafender Zeit bei mir auf, hat ein monströses Hundeetwas im Schlepptau, das mir liebevoll die Küche vollkotzt, und genau der Sohn, der mir vorher, en passant, mitgeteilt hat, dass er meine vierzigtausend Euro versenkt hat, möchte einen Kaffee in sein Schnäbelchen geschüttet bekommen und übers Köpfchen gestreichelt werden. Wie könnte ich da sauer sein! Ich bin nicht sauer, ich bin stinkwütend! Und jetzt erklär mir gefälligst, was dein seltsamer Auftritt hier zu bedeuten hat.«

»Ehrlich, Mama! Chill mal! Und vor allem kreisch hier nicht so rum, sonst kotzt Vieh gleich noch mal!«

»Ich nehme an, mit Vieh ist der Hund gemeint. Hat dieses Riesentier auch einen Namen, und warum hast du den überhaupt im Schlepptau?« Mein Kaffee war mir plötzlich zu bitter. Ich stellte ihn vor Leo hin. »Da, kannste haben!«

Er schnappte sich meinen Kaffeebecher und trank einen Schluck. »Wie gesagt, das ist Vieh!« Er deutete auf den Hund. »Vieh ist seine Name. Ich habe ihn mitgenommen, weil ich ihn auf keinen Fall bei diesem Rabenaas von Thea lassen konnte. Thea ist ’ne echte Bitch!«

»Aha, und was genau hast oder hattest du mit dieser Bitch zu tun?«

Ich merkte, dass ich das alles eigentlich nicht wissen wollte. Leos Frauengeschichten sind unübersichtlich und unerfreulich. Alle enden, bevor sie überhaupt richtig angefangen haben. Diese Art von Gespräch wollte ich eigentlich gar nicht mehr mit meinem Sohn führen.

Während er mir erläuterte, was an dieser angeblichen »Bitch« wirklich gar nicht ging, warum er ihr den Hund quasi entzogen hatte und wie es zu dem ungeheuerlichen Umstand gekommen war, dass er im gleichen Atemzug mit Thea auch noch seinen besten Freund Xavier und seinen Anteil an dem gemeinsamen Burgerladen mit den von mir geliehenen vierzigtausend Euro verloren hatte, rauschte es in meinen Ohren. Fasziniert starrte ich auf ein Spuckebläschen, das sich im Eifer des Gefechts auf seiner Unterlippe gebildet hatte, und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich seinen Anblick in diesem Moment ein wenig ekelhaft fand.

Ja, ich weiß, das darf eine Mutter nicht denken, und natürlich liebe ich meinen Sohn! Aber Liebe, Herrgott noch mal, Liebe kann sich manchmal unglaublich gut hinter all dem Gerümpel verstecken, das sich in einer langjährigen Mutter-Kind-Beziehung angehäuft hat.

Irgendwann war ich nur noch müde. Obwohl der Tag erst gerade angefangen hatte. Müde, müde, müde!

Und müde Menschen machen Fehler. Ich wusste genau, dass es ein Fehler war, und trotzdem hörte ich mich seufzen: »Also gut, Leo. Ein paar Tage, und nicht länger. In meinem Yogazimmer liegt eine Matte auf dem Boden, da kannst du schlafen. Und dieses Vieh von mir aus auch. Bettzeug gebe ich dir. Es wird bitte nichts umgestellt und nichts dreckig oder kaputt gemacht. Ich muss gleich arbeiten, und später treffe ich mich mit meinen Mädels zum Saunaabend. Du gehst regelmäßig mit dem Hund raus und besorgst Futter für ihn – und für dich kauf ein, was du gern magst. Ich lege dir nachher etwas Geld auf den Kühlschrank. Wenn du nicht aufs Klo musst, möchte ich jetzt bitte in Ruhe duschen.«

Etliche Liter Heißwasser und einige innere Flüche später verließ ich das Bad und verzog mich in mein Arbeitszimmer.

So viel zum Thema: Es versprach ein schöner Tag zu werden …

* * *

Wer sich wirklich dafür interessiert, wie Frauen aussehen, wenn sie nicht gestylt sind und den Bauch nicht einziehen, sollte einmal eine Frauensauna besuchen.

Schon seit Jahren gehe ich regelmäßig jeden Montag mit meinen Freundinnen Gundi und Judith in die Sauna. In die Frauensauna, denn nur das bedeutet echte Entspannung. Meine Meinung.

Wenn Frauen unter sich sind, sich auf feuchten Handtüchern räkeln, dann sind die unterschiedlichsten Schamfrisuren bis hin zum Kahlschlag zu sehen, Bäuche dürfen sich endlich den Platz nehmen, der ihnen gerecht wird, und die Gesichtsausdrücke sind ausnahmsweise nicht kontrolliert, sondern einfach nur entspannt. Es gibt allerdings eine Ausnahme: meine Freundin Judith.

Judith ist so eitel, dass sie selbst in der Frauensauna noch versucht, grazil auf ihrem geschmackvollen Saunatuch zu hocken, mit eingezogenem Bauch, geradem Rücken und erhobenem Kinn. Die Sorge, einmal nicht gut auszusehen, ist ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie selbst dann, wenn sie sich gerade heftig ereifert, noch um Perfektion bemüht ist.

»Der will allen Ernstes wieder bei dir wohnen?«, empörte sie sich jetzt. »Und hat dir sogar noch so einen sabbernden, kotzenden Köter aufs Auge gedrückt? Mann, Mila! Du bist wirklich zu gut für diese Welt! Soll ich ihn mir mal vorknöpfen?«

Obwohl Judith als gebürtige Engländerin schon mehr als dreißig Jahre in Deutschland lebt und sie fast akzentfrei Deutsch spricht, hat sie noch immer diesen charmanten britischen Singsang in ihrer Satzmelodie. Bei der Vorstellung, wie sie sich britisch-höflich vor meinem Sohn aufbaut und ihn herunterputzt, musste ich grinsen.

Gundi wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Mach dir keine Mühe, Judy! In Wirklichkeit genießt unsere liebe Emilia die Abhängigkeit ihres Sohnes. Und jetzt hat sie sogar noch zusätzlich einen Hund, den sie betüddeln kann! Man sagt ja nicht umsonst: ›Das letzte Kind hat Fell.‹ Wart’s ab, das dauert keine Woche, dann schläft der Hund in Milas Bett. Und wenn ihr Sohnemann noch ein Weilchen bleibt, schießt ihr vielleicht sogar wieder die Milch ein.«

Ich richtete mich ruckartig auf meinem Handtuch auf. »Das ist nicht witzig, Gundi! Deine Bemerkung ist sogar regelrecht geschmacklos! Nicht jede hat so einen ausgeprägten Nestbautrieb wie du. Natürlich lass ich mir das nicht lange gefallen. Ihr werdet schon sehen: Leo und seinen Köter werde ich schneller rausschmeißen, als ihr denkt. Das Glucken-Gen ist an mir im Eiltempo vorbeigerutscht!«

»Wer’s glaubt.« Gundi grinste noch süffisanter. »Ich mein’s ja auch gar nicht böse. Nur, wenn du meinen Rat hören willst, Mila, dann sorg mal dafür, dass deine Kinder sich endlich richtig abnabeln. Sonst machen die dich nie zur Oma. Und du ahnst ja gar nicht, was dir da entgeht! Stellt euch vor, der kleine Malte hat gestern zum ersten Mal –«

»NEIN!«, riefen Judith und ich wie aus einem Mund. Wir wussten: Wenn Gundi erst einmal anfing, uns von ihren ach so unendlich niedlichen Enkelkindern vorzuschwärmen, war kein anderes Gespräch mehr möglich. Gundis zuckersüße Omabegeisterung war ein ganz wichtiger Grund dafür, dass ich so froh war, dass meine Kinder keine Anstalten machten, mich zur Großmutter zu machen. Bei Leo wiegte ich mich schon allein deshalb in Sicherheit, weil er eine große Abneigung gegen Verantwortung hat, und bei Matti gab es eine biologische Bremse. Ihr Vater, Drafi, leidet seit vielen Jahren unter einer Krankheit, die sich Sharp-Syndrom nennt. Dieses Syndrom, das auch Mischkollagenose genannt wird, kann unterschiedlich heftig verlaufen. Bei vielen sind die Beschwerden mit starken Rheumaschüben vergleichbar. Diese Krankheit ist erblich, weshalb zumindest einige Tests erforderlich wären, sollte Matti sich irgendwann doch noch zur Mutterschaft berufen fühlen. Bis dahin aber lag ein Dasein als glücklich dauergrinsende Oma für mich in weiter Ferne.

Es geht mir nicht darum, dass ich mich davor fürchtete, alt zu werden und dass dieses Alter durch den Omastatus deutlich zementiert würde. Nein, Altwerden ist ein Teil des Lebens, und damit bin ich völlig im Reinen – glaube ich … Ja, lacht ruhig! Jeder Mensch macht sich Gedanken, wie er oder sie damit zurechtkommen wird, irgendwann alt und, möglicherweise, hilflos zu sein. Aber ich habe mich auf einige Facetten des Altseins immer regelrecht gefreut: Die Kinder wären auf ihren eigenen Umlaufbahnen, man muss nicht mehr so funktionieren, darf unfreundlich und schrullig werden. Vor allem aber wird von keiner alten Frau mehr erwartet, gut auszusehen. Oder habt ihr schon mal davon gehört, dass es neben einer MILF (Mother I’d like to fuck – ist dieser Ausdruck nicht ein herber Schlag in die feministische Magengrube?) neuerdings auch die GILF (Grandmother I’d like to – ihr wisst schon) erwartet wird? Also bitte! Deshalb Mädels: Ran ans fröhliche Faltenwerfen!

Leider hatten sich alle, wirklich alle Frauen aus meinem nahen oder ferneren Umfeld, die in der letzten Zeit Großmutter geworden waren, zu langweiligen Babyanbeterinnen entwickelt. »Hey«, möchte ich immer rufen, »Mädels, wir haben doch nicht damals unsere BHs verbrannt, haben gegen den Paragrafen 218 und für Frauenrechte demonstriert, um uns jetzt von kleinen, halslosen, brabbelnden Kaisern und Kaiserinnen in vollgepinkelte Nichtschwimmerbecken verbannen zu lassen, damit wir die niedlichen Kleinen beim Babyschwimmen anfeuern!«

Viele Frauen geben im Alter so sehr auf, was sie in jungen Jahren vehement eingefordert haben: ihr Recht auf Unangepasstheit und Sperrigkeit, ihr Recht auf eigenen Freiraum und Unabhängigkeit. Gundi zum Beispiel hatte kaum noch Zeit, sich mit uns zu treffen. Dienstags sind Malte und Fiona ganztags bei ihr, weil die Mutter, Gundis Tochter Katja, sich von ihrem anstrengenden Leben als Mutter ausruhen möchte. Mittwochs und donnerstags muss sie Fiona vom Kindergarten abholen, weil Katja mit Malte beim Babyschwimmen und in der Krabbelgruppe ist. Irgendwas ist einfach immer, und Judith und ich müssen oft einen regelrechten Antrag stellen, um bei Gundi einen Termin zu bekommen. Ein Glück, dass wenigstens unser Saunatag montags gesichert ist!

Ich wollte gerade ansetzen, Gundi einen Vortrag über familiäre Vereinnahmung zu halten, als eine fremde Frau die Sauna betrat. Wir waren also nicht mehr unter uns. Und da Sprechen in der Sauna eigentlich nicht erlaubt ist, schnappten wir uns auf mein Zeichen hin unsere Handtücher und verließen die Sauna.

Gut gelaunt und porentief rein saßen wir eine Stunde später im angrenzenden Bistro und labten uns an Süßkartoffelpommes und Grillgemüse – in Judiths Fall nur an Letzterem. Sie achtet, wie gesagt, sehr auf ihre Linie. Unsere vorangegangene Streiterei war längst vergeben und vergessen. Wir kennen uns schließlich alle schon sehr lange und wissen genau, was wir aneinander haben oder eben auch nicht haben. Mit Judith hatte ich schon in den Achtzigerjahren gemeinsam in der sagenumwobenen Szenekneipe Traumschiff gekellnert. Das Traumschiff gehörte damals Drafi, meinem Ex und Vater meiner Tochter Matti. Seither sind Judith und ich ein eingeschworenes Team. Judith ist lustig, verrückt, hat diesen köstlichen britischen Humor, und sie ist bedingungslos solidarisch.

Gundi kenne ich sogar noch länger. Wir sind seinerzeit gemeinsam zur Schule gegangen, haben gleichzeitig Abitur gemacht. Auch wenn sich unsere Wege danach etwas auseinanderentwickelt haben, haben wir nie den Kontakt verloren. Gundi hat nach dem Abitur im elterlichen Unternehmen eine Ausbildung zur Raumausstatterin angefangen und direkt nach der Ausbildung Thomas geheiratet. Thomas ist Unternehmensberater, stinkreich und, wie ich finde, grottenlangweilig. Aber Gundi lässt auf ihren »Tommy« nichts kommen. Auch wenn sie von Beruf inzwischen vor allem Gattin ist – von ihren sporadischen Gastauftritten im Familienunternehmen mal abgesehen –, hat mir ihre Freundschaft immer sehr viel bedeutet. Abgesehen von ihrem Omafimmel ist sie eine gute Zuhörerin, und vor ihrer Erhöhung in den heiligen Stand der Großmutterschaft war sie auch immer sehr unternehmungslustig.

Judith stocherte lustlos in ihrem Grillgemüse und nahm den Faden von vorhin noch einmal auf: »Also, jetzt mal im Ernst, Mila! Wie hat sich Leo das eigentlich vorgestellt? Will er bis an sein Lebensende unter deinen Rockzipfel kriechen, wenn sein Leben mal etwas unbequem wird? Und wieso ist er eigentlich pleite? Er hat sich doch diese Riesensumme bei dir geliehen. Ist sein neuer Burgerladen etwa schon wieder bankrott?«

Judith selbst hat keine Kinder. Darum waren mir ihre eher nüchternen Betrachtungen meiner mütterlichen Dilemmas immer besonders wichtig. Außerdem ist sie Leos Patentante und hat schon allein daher ein Recht zu erfahren, was vorgefallen ist.

Dennoch fiel es mir nicht leicht zu erzählen, was mir Leo ausgesprochen zögerlich und offensichtlich ungern gestanden hatte.

Er hatte wohl den Fehler gemacht, sich nicht ausgiebig genug im Netz schlauzumachen, ob der Name Veggerino, den er und sein Freund Xavier ihrem kleinen Imbiss für vegane Burger und anderes modernes Superfood gegeben hatten, nicht schon von einem anderen Unternehmen benutzt wurde. Und kaum war das Geschäft richtig in Schwung gekommen, war ihnen eine Abmahnung mit Androhung einer satten Geldstrafe ins Haus geflattert. Eine Food-Lieferkette aus dem Rheinland hatte diesen Namen längst für sich angemeldet, und ein Rechtsstreit wäre nach Einschätzung eines befreundeten Anwalts sinnlos gewesen. Also musste das Werbematerial eingestampft, die Homepage geändert und ein neuer Name gefunden werden. All das hatte die Freundschaft zwischen Leo und Xavier natürlich belastet. Gleichzeitig hatte sich dann aber auch noch Xaviers Freundin Thea nach einem furchtbaren Streit bei Leo ausgeheult, und Leo hatte sie auf die Weise getröstet, die er nun mal am besten beherrscht: Er hatte sie mehrfach und diensteifrig beschlafen, was unerhörterweise bei seiner Lebensabschnittsgefährtin Dina nicht so richtig gut ankam. Dina hatte Leo rausgeschmissen, und er hatte sich zu Thea geflüchtet. Das wiederum fand Xavier, nachdem er davon erfahren hatte, nicht wirklich amüsant. Kurzum: Es war zu einem Riesenkrach gekommen, und Xavier hatte die Chance genutzt, den Teilhabervertrag, den er Leo angeboten hatte, in tausend Stücke zu reißen. Die vierzigtausend Euro, die indirekt von mir und direkt von Leo im Unternehmen steckten, wollte Xavier erst zurückzahlen, wenn der Laden wieder schwarze Zahlen schrieb, was nach dem Namensänderungsdebakel noch dauern konnte.

Bis zu diesem Punkt hatten sich meine Freundinnen die Geschichte staunend, aber schweigend angehört. Jetzt ergriff Gundi das Wort: »Also, ich fasse mal kurz zusammen: Leo baut Scheiße in der Firma seines Freundes, die er zwar mitfinanziert, bei der er aber noch keine rechtswirksame Teilhaberschaft hat. Gleichzeitig betrügt er seine Freundin mit der Partnerin seines besten Freundes. Klingt gut! Warum aber hat diese Schlampe Thea – entschuldigt, aber das muss ja eine sein, sonst hätte sie sich nicht auf diese Weise von Leo trösten lassen –, also warum hat diese Schlampe ihn jetzt auch noch vor die Tür gesetzt, und wie kommt dieser riesige Köter ins Spiel?«

Gundi hat oft eine drastische Art, die Dinge beim Namen zu nennen – aber sie hatte ja recht.

»Der Hund, ja, also, der Hund …« Ich merkte, dass mir die Fortsetzung dieser Geschichte stellvertretend für meinen Sohn ausgesprochen peinlich war. »Also der Hund, ja, den hat Leo mitgenommen weil … äh … Also, diese Thea ist wohl schwanger und hat Angst vor Toxoplasmose.«

»Was Quatsch ist, weil das von Katzen übertragen wird. Blöd ist die Schlampe also auch noch!« Gundi verstand es, tief in Wunden zu wühlen. »Aber sie hat deinen Sohn doch bestimmt nicht rausgeschmissen, weil sie Angst hat, dass auch Leo sie mit Toxoplasmose –«

»Hör auf!«, fiel Judith ihr ins Wort. »Mach dich nicht darüber lustig! Du siehst doch, wie beschissen es Mila mit alldem geht!«

Gundi Gnadenlos redete ungerührt weiter: »Ich mache mich nicht über irgendwas lustig. Ich bin nur interessiert. Leos Art, die Dame zu trösten, muss ja wohl ganz gut angekommen sein, sonst hätte sie sich nicht darauf eingelassen.« Sie drehte sich zu mir. »Es muss also einen Grund geben, dass sie deinen Dreamlover-Sohn trotzdem vor die Tür gesetzt hat, Mila!«

So nüchtern auf den Punkt gebracht klang die Geschichte wirklich abstrus und peinlich. Ich bekam schwitzige Hände und merkte, dass es mir besonders schwerfiel, den letzten Teil der Geschichte auch noch preiszugeben. »Er hat sich mit seiner Ex wieder versöhnt, das war der Grund!«, sagte ich leise. Wie leise genau, erkannte ich daran, dass meine Freundinnen regelrecht in mich hineinkrochen, um mich besser zu verstehen.

»Das war aber doch sein gutes Recht. Also, sich mit dieser Dina wieder zu vertragen«, meinte Gundi. »In dem Alter sitzen die Hormone halt besonders locker. Da kann es schon mal zu Wildereien im Nachbarsforst kommen.« Ihr machte die Geschichte offensichtlich großen Spaß.

Ich seufzte. »Er hat sich dooferweise ausgerechnet in Theas Bett mit Dina versöhnt. Und dummerweise zu einem Zeitpunkt, als Thea gerade vom Gynäkologen wiederkam …«

»… um dem werdenden Vater stolz den Mutterpass unter die Nase zu reiben. Und der beglückt währenddessen schon wieder eine andere mit seinem fruchtbaren Sperma! Ich fange an, diese Thea zu verstehen …« Gundi grinste breit. »Und du, Mila, wirst jetzt also Oma! Bravo! Das ist der beste Teil der Geschichte! Da können wir ja bald um die Wette Kinderwagen –«

»Stopp, nein!«, insistierte ich. »Das Kind ist ja nicht von Leo. Der Vater ist Xavier, und das wusste Leo natürlich.«

»Natürlich!« Judith wurde nun auch sarkastisch. »Und weil er sich auf Dauer nicht die Wohnung mit einem plärrenden Baby und einer genervten jungen Mutter teilen will, hat er versucht, sich schnell das warme Plätzchen im Leben dieser Dina zurückzuerobern – das muss man schon verstehen!« Sie lächelte süffisant. »Aber warum hat diese Dina ihn nicht zurückgenommen?«

»Weil sie dachte, dass Theas Kind von Leo ist … Also, diese Thea hat im fraglichen Moment allerdings auch wenig dazu beigetragen, diesen Irrtum aufzuklären.«

»Dein Junge muss ja eine Granate im Bett sein!«

Gundi!

»Hör auf!« Ich wedelte abwehrend mit den Händen. »Ich will mir all das gar nicht vorstellen! Wenn es nicht so grauenhaft wäre …«

»… könnte man sich königlich amüsieren! Tue ich übrigens gerade. Halt mich nicht für herzlos, Milchen, aber deine Leo-Geschichten haben immer einen immensen Unterhaltungswert!«

»Geht so.« Es behagte mir gar nicht, dass Leo so viel Anlass zu Witz und Häme bot. »Jedenfalls hat er sich daraufhin den ganzen Abend und die ganze Nacht mit Thea gezofft, und schließlich hat sie gedroht, die Polizei zu rufen, wenn er nicht innerhalb einer Stunde sein Bündel gepackt hat. Dann hat sie sich heulend unter die Dusche verzogen, und in der Zeit hat Leo sich seine Sachen und den Hund geschnappt und ist dann … Ja, das wisst ihr ja nun.«

Gundi lehnte sich triumphierend zurück. »Alles Schlampen – außer Mutti! Es gibt doch T-Shirts mit diesem Spruch drauf, oder? Da weiß ich doch schon ein schönes Geburtstagsgeschenk für deinen kleinen Nesthocker!«

»Wag es!« Ich fühlte mich plötzlich gerädert. »Ich bin satt und brauche frische Luft!« Ich wedelte mit dem Portemonnaie, um den Kellner zum Tisch zu locken, bezahlte und beeilte mich, das stickige Bistro zu verlassen.

* * *

Draußen war es kalt, es wehte ein scharfer Ostwind. Judith hakte sich bei mir unter, und gemeinsam winkten wir Gundi, die in ihren Sharan gestiegen war, um nach Hause zu fahren. Judith sah mich prüfend von der Seite an.

»Was?«, fragte ich.

»Bist du sauer auf Gundi?«

Wir gingen im straffen Tempo durch den kalten Abend. Es war noch nicht spät, aber die Straßen waren wie leer gefegt. Wer konnte, blieb bei dieser Kälte im Warmen.

»Ich bin natürlich nicht sauer auf Gundi«, beantwortete ich schließlich Judiths Frage. »Sie hat nun mal eine etwas andere Lebenssituation als wir beide. Sie ist durch ihren Tommy finanziell abgesichert, arbeitet eher auf Jodeldiplom-Ebene in der Firma ihrer Familie und geht in ihrer neuen Großmutterwürde komplett verloren. Das kennen wir doch schon. In gewisser Weise hat sie ja auch recht: Ich lasse mir natürlich zu viel von Leo gefallen. Bei Matti ist das was anderes, die lebt ihr Leben. Obwohl ich zugebe, dass ich mir auch um sie manchmal Sorgen mache.«

»Ist sie immer noch mit ihrem Vielweiberhelden zusammen?« Judith kannte selbstverständlich auch die Liebesgeschichte meiner Tochter und war, genau wie ich, darüber sehr irritiert.

Seit inzwischen sechs Jahren war Matti nun mit ihrem Georg zusammen. Georg war nett, von Beruf Zahnarzt, gepflegt und hatte ausgesprochen angenehme Umgangsformen – allerdings eine etwas andere Herangehensweise an Liebesbeziehungen, wenn man diesen Begriff dafür überhaupt strapazieren darf. Georg lebt und vertritt eine Lebensform, die sich Polyamorie nennt. Platt ausgedrückt: viele mit vielen ohne Besitzansprüche und Eifersucht.

Ich machte mir deswegen schreckliche Sorgen. Georg war dreiundvierzig Jahre alt, und natürlich konnte er leben, wie er wollte. Aber dass ausgerechnet meine hübsche, lebenstüchtige Matti sich mit so einem einließ! Also, versteht mich nicht falsch, ich verurteile andere Lebenskonzepte möglichst nicht, auch wenn ich sie nicht verstehe. Doch im Fall meiner Tochter war mein Mutterinstinkt meiner Toleranz im Weg. Ich fand Georgs Einstellung verantwortungslos und egoistisch. Er konnte sich doch vorstellen, dass eine junge Frau wie Matti sich von einer Beziehung irgendwann auch Verbindlichkeit und vielleicht Nestwärme versprach. Nicht so einen Bienerich, der fröhlich summend von Blüte zu Blüte summt und sich am Nektar unterschiedlichster Blumen erfreut. Okay, ja, der Vergleich hinkt vielleicht, und ich weiß auch nicht, ob es Bieneriche gibt, aber ihr versteht schon, was ich meine, oder?

Ich merkte, dass ich schon wieder wütend wurde, denn inzwischen ging ich so schnell, dass Judith kaum hinterherkam.

»Hast du denn Matti mal gefragt, ob dieser Georg nicht einfach ein schlimmer Finger ist, der sich einen Harem hält, um sich auf Kosten dieser Frauen ein schickes Leben zu machen?« Judith war leicht außer Atem.

Ich zwang mich, langsamer zu gehen. »Du müsstest mal hören, wie Matti auf die Barrikaden geht, wenn ich dieses Thema anschneide! Dann faucht sie mich an wie eine aggressive Gans, die Eindringlinge verscheuchen möchte. Sie ist überzeugt, dass ich aus Frustration über meine eigenen verbockten Männergeschichten kein Verständnis für diese Art der Beziehungsführung hätte. Ich sei zu verbohrt, um diese Art von Freiheit zu verstehen. Als wenn das alles so furchtbar neu und modern wäre! Nur weil das Ganze einen neuen Namen hat, ist das doch nichts Neues. Früher nannte man das Polygamie!«

»Ist Polygamie nicht eigentlich eher etwas Einseitiges, wo sich ein Mensch mehrere Partner leistet? Bei der Polyamorie geht es doch eher darum, dass alle Beteiligten mehrere Partnerschaften haben können, oder nicht?«, wandte Judith ein.

»Das ist ja genau der springende Punkt!« Ich war stehen geblieben und schaute Judith direkt ins Gesicht. »Matti hat meines Wissens nur diesen Georg. Sie sagt mir das zwar nicht, aber nie ist von jemand anderem die Rede! Und dann ist es in ihrem Fall doch nichts anderes als Polygamie!«

»Hey, Mila! Jetzt reg dich nicht auf! Das bringt doch nichts. Matti ist erwachsen und klug noch dazu. Warte ab. Irgendwann läuft ihr ein Typ über den Weg, der mit ihr ganz und gar und bedingungslos zusammen sein will, und schwupps hat Georgs Harem eine Frau weniger.«

Ich musste gegen meinen Willen lachen. So ist Judith. Sie kann mich in jeder noch so trübseligen Stimmung zum Lachen bringen.

Wir waren an der Wegkreuzung angekommen, an der sie zu ihrer Wohnung abbiegen muss.

»Noch Lust auf ein schönes Gläschen Wein bei mir? Garantiert kinderfreie Zone!« Sie zupfte an meinem Parka.

»Ich habe mir gestern Nacht schon zu viel Gin gegönnt – ich weiß nicht.« Ich sah sie unschlüssig an.

»Dann musst du den Alkoholpegel ein bisschen auffüllen, sonst hast du heute Nacht Entzugserscheinungen«, gluckste sie.

Ich war immer schon leicht zu überreden, jedenfalls wenn es um guten Wein und Zeit mit Judith ging, und so nickte ich und bog mit ihr zusammen ab.

Als wir in Judiths Wohnung angekommen waren, begann ich mich sofort zu entspannen. Judiths Einrichtungsstil ist das komplette Gegenteil dessen, was man von ihr erwarten würde. So verrückt und unkonventionell sie insgesamt durchs Leben geht, so brav und bieder hat sie sich eingerichtet. Überall liegen Deckchen und Spitzenuntersetzer auf altmodischen Sesseln und Kommoden, im Regal stehen niedliche Kätzchen und Hündchen aus Porzellan. Eigentlich das übelste Vorzeigebeispiel für Kitsch. Gundi, die ja als gelernte Raumausstatterin vom Fach ist, stöhnt regelmäßig, sobald sie einen Fuß in Judiths Reich setzt, was allerdings selten genug vorkommt. Ich hingegen fühle mich in Judiths seltsamem Zuckerbäckerstil überraschend wohl und behaglich.

Kaum hatte ich es mir auf ihrer vorsintflutlichen Ottomane gemütlich gemacht, entkorkte Judith einen herrlich samtigen kalifornischen Sauvignon.

»Lass uns wenigstens reichlich Wasser dazu trinken, sonst bin ich nach der Sauna sofort sturzbetrunken«, sagte ich.

»Und wenn schon! Notfalls schläfst du hier. In meinem jungfräulichen Kingsize-Bett ist reichlich Platz für besoffene Freundinnen – wenn mich sonst schon keiner darin besucht.«

Obwohl Judith, was Männer betrifft, nie ein Kind von Traurigkeit war, hatte sie vor einiger Zeit beschlossen, nun zu alt für diesen unsteten Lebenswandel zu sein. Seither war sie eifrig auf der Suche nach einer starken Schulter, an der sie in ihr Rentenalter hineinträumen kann. Wie dieser Mann sein sollte, wusste sie genau: körperlich noch fit (gerne jünger), intelligent, humorvoll, gebildet, bindungsfreudig, aber ungebunden, gut aussehend, aber bescheiden … Kurzum: genau von der Sorte Mann, die es ganz sicher nicht gab oder, falls doch, seit Jahren ein belegtes Brötchen wäre. Dennoch gab Judith die Hoffnung nicht auf, sich den alles entscheidenden Zwölfender noch zu schießen. Um für die magische Begegnung gewappnet zu sein, investierte sie in Botox, und, schlimmer noch, neuerdings erwog sie sogar, sich den Bauch absaugen und straffen zu lassen.

Bei mir stieß sie damit auf absolutes Unverständnis. Immer wieder versuchte ich, sie davon zu überzeugen, dass die Herren Körpersäfteverteiler, die noch stramm im Fell stehen, sich selbstverständlich ihrerseits nach einer knackigen jungen Frau umsehen würden. Das Beuteschema vieler in die Jahre gekommener Romeos ist nun einmal eine mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahre jüngere Frau. Nicht etwa, weil die Herren das frische Fleisch so gut bewirtschaftet bekommen – meiner Meinung nach geht es ihnen eher um das überwiegend weniger benutzte Hirn, das eine jüngere Frau zur Verfügung hat. Darum warnte ich Judith immer wieder: »Wenn du dir nicht gleichzeitig noch ein bisschen Hirn absaugen lässt, sind deine körperlichen Renovierungsarbeiten zwecklos.«

Doch Judith ließ sich nicht von ihrer Strategie abbringen. Ihr Jagdrevier waren nicht nur Single-Internetportale, sondern auch Speed-Dating-Treffs. Im Grunde war ich noch nicht einmal so böse, dass sie diesbezüglich so abenteuerlustig war, denn die Geschichten, die sie nach den Dates zu erzählen hatte, waren köstlich.

Auch am Wochenende hatte sie sich wieder einmal ins Gewühl gestürzt und ein echtes Schnäppchen von der Grabbeltheke der Partnervermittlung gedatet. »Dieses Mal habe ich mich an einem gewissen ›Kuschelbären mit leichten Abnutzungserscheinungen‹ versucht«, berichtete sie gerade. »Ganz ehrlich, Mila, wenn das leichte Abnutzungserscheinungen waren, dann bin ich quasi gerade aus dem Brutkasten gefallen. Aber er fand sich selbst offensichtlich so rassig, dass ihm meine Meinung zu seiner Erscheinung nicht wichtig war. Eigentlich war ihm meine Meinung grundsätzlich nicht wichtig, weil er großzügig mit seinem profunden Wissen zu jedem Thema um sich warf.« Judith rollte theatralisch mit den Augen und gönnte sich einen großen Schluck Rotwein.

Eineinhalb Weinflaschen später rollte ich mich quietschend vor Lachen auf Judiths Ottomane. »Nein!«, prustete ich. »Stützstrümpfe hatte der an? Und das hat er dir auch noch anvertraut, bevor es zwischen euch zu Nahkampfhandlungen kam?« Mir liefen die Tränen, ich hatte Bauchschmerzen vor Lachen.

»Hör auf zu lachen«, nuschelte sie. »Am besten, wir sssiehen uns jetzt unsere eigenen Schtüssschtrü … du weiss schon, aus und gehen ins Bett!«

Wir waren wirklich reichlich angeschickert.

»Nein, ich gehe jetzt nach Hause, schon vergessen? Ich hab zurzeit Leo –«

»Du glaubss, der kann nich’ alleine ohne Mama …«

»Darum geht’s doch nicht. Aber der macht sich Sorgen, wenn ich nicht nach Hause komme.«

Diese Sorge hätte ich mir zumindest sparen können. Als ich nach Hause kam, begrüßte mich Leos Riesenköter aufgeregt schon an der Wohnungstür. Er jaulte und rannte verzweifelt hin und her. Das sah gewaltig nach überfüllter Blase aus. Höchste Zeit, dass Leo mit ihm Gassi ging! Doch als ich in mein Yogazimmer, Leos derzeitige Bleibe, kam, lag mein Sohn laut schnarchend auf dem Bauch auf der Yogamatte. Er war kaum wach zu bekommen.

»Leo!« Ich rüttelte an seiner Schulter. »Wach werden, Leo! Der Hund muss dringend raus, und ich habe keine Lust, dass der mir jetzt auch noch die Wohnung vollpinkelt!«

Leo grunzte und drehte sich in Zeitlupe um. »Mann, Scheiße! Du hast mich geweckt.« Seine Stimme war ein einziger Vorwurf »Dabei habe ich so lange gebraucht, um einzuschlafen! Mich hat’s voll erwischt, ich bin krank!«

Was das Folgende betrifft, so muss ich zu meiner Entlastung sagen, dass ich betrunken war. Sonst wäre ich auf seine Leidenstour nicht hereingefallen. Aber mit benebeltem Hirn springt die mütterliche Alarmanlage schon mal etwas leichter an.

Krank ist krank, dachte ich mir, der arme Junge hat ja auch viel mitgemacht in der letzten Zeit!

Ich seufzte. »Leine?«

»Tür!« Für mehr, geschweige denn ein Dankeschön war er wohl zu angeschlagen.

Ich nahm die Leine. Vieh – wie blöde ist es denn bitte, ein Tier so respektlos zu benennen! – umtanzte mich laut winselnd, und kaum waren wir vor der Tür, raste er wie ein geölter Blitz in Richtung des nächsten Busches. Leider hing ich an der Leine, war wackelig auf den Beinen und Vieh offensichtlich stark. Ich landete also unsanft auf den Knien und konnte vom Boden aus zusehen, wie der Hund das Bein hob. Gefühlte zehn Minuten lang plätscherte es laut und vernehmlich. Wie sollte ich nur wieder hochkommen, ohne die Leine aus der Hand zu verlieren?

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Ich hatte den Mann nicht kommen sehen und erschrak. Zum Glück schaffte ich es irgendwie, mich aus der entwürdigenden Position aufzurappeln.

»Nein, danke, alles gut!«, versuchte ich, so würdevoll wie möglich zu sagen.

Im selben Moment hatte Vieh seine Blase entleert und zog mich in rasendem Tempo weiter. Ich hörte den Mann noch irgendwas von unverantwortlichen Hundehaltern murmeln, und schon prallte ich unsanft gegen einen Laternenpfahl.

Wenn ein Hund angeleint ist, denkt er nicht unbedingt für den Menschen am anderen Ende der Leine mit. Vieh zog deshalb weiter heftig an der Leine, während ich am Laternenpfahl festhing. Der Hund war offensichtlich null erzogen, und ich hatte keine Idee, wie ich dieses Riesenmonster davon überzeugen sollte, sich in Richtung meiner Haustür zu bewegen. Schließlich probierte ich es mit dem ältesten aller Tricks und zwitscherte lockend: »Hmm, wie lecker! Ja, was hat das Frauchen denn? Ja, leckerleckerlecker!«

Ich kam mir selbst ausgesprochen dämlich dabei vor, aber man höre und staune: Es funktionierte. Sofort umtanzte Vieh mich begeistert, schnüffelte interessiert an den Taschen meines Parkas und ging auf diesem Weg quasi freiwillig bei Fuß.

Als ich verschwitzt und erschöpft in der Wohnung ankam, saß Leo am Küchentisch, hämmerte auf sein Smartphone ein und rauchte einen Joint.

»Sag mal, geht’s noch!«, herrschte ich ihn an. »Ich denke, du bist krank! Da kannst du doch nicht rauchen!«

»Du hast mich vorhin voll aus dem Tiefschlaf gerissen. Jetzt kann ich nicht mehr einschlafen. Nach dem ganzen Stress in den letzten Tagen, da brauch ich das, um runterzukommen!«

Ich merkte, dass ich zu betrunken und schwindelig war, um jetzt, mitten in der Nacht, diese Diskussion mit meinem Sohn zu führen.

»Morgen, das sag ich dir!«, murmelte ich und verzog mich in mein Schlafzimmer.

Als ich nachts erwachte, war mein Mund komplett ausgetrocknet, und mein Schädel dröhnte. Da ich dringend pinkeln musste, quälte ich mich aus dem Bett und taumelte schlaftrunken ins Bad, hoffend, dass im Badezimmerschränkchen noch Aspirin oder Ibuprofen aufzutreiben war. Ohne das Licht anzuknipsen, ließ ich mich aufs Klo plumpsen. Als sich meine Schleuse gerade geöffnet hatte, entwischte mir ein krimireifer Schrei.

Im Halbdunkel konnte ich erkennen, dass ich nicht allein im Bad war. Die Dusche rauschte, was mir in meinem umnebelten Zustand bisher nicht aufgefallen war. Mein Sohn stand unter der Dusche und war, das konnte ich trotz beschlagener Duschkabine erkennen, nicht allein. Vor ihm kniete jemand.

Bei meinem Schrei schoss dieses Wesen in die Höhe.

Die Tür der Duschkabine wurde aufgestoßen, und ich ahnte mehr, als dass ich es erkennen konnte, dass mein Sohn mich empört und dieses andere Wesen mich verstört anstarrte. Ich pinkelte weiter – was, bitte, hätte ich sonst auch machen sollen? Wenn die Schleuse einmal geöffnet ist …

»Rauuuuus!«, brüllte ich gleichzeitig, so laut ich konnte. In meinem Zustand hörte es sich allerdings eher an, als gäbe ein Kalb auf der Schlachtbank gerade ein letztes heiseres Krächzen von sich.

Ich bin übrigens Vegetarierin, falls es euch interessiert. Genau aus dem Grund: weil ich dieses entsetzte Schreien der Tiere, kurz bevor sie geschlachtet werden, in meiner Jugend nur zu oft hatte hören müssen. In unserer Nachbarschaft hatte es eine Metzgerei gegeben, und damals schlachteten die Metzger noch selbst. Aber das jetzt nur am Rande.

Mein Sohn entstieg der Dusche und warf dem unbekannten Wesen, das sich bei näherem Betrachten als extrem attraktive dunkelhäutige Schönheit entpuppte, ein Badehandtuch zu. Beide huschten im Eiltempo aus dem Bad.

Ich brauchte eine Weile, um das eben Gesehene – ich betone: unfreiwillig Gesehene – zu verarbeiten.

Keine Mutter wünscht sich, ihren Sohn dabei zu überraschen, wie er sich unter der Dusche von einer schönen jungen Frau einen blasen lässt. Ich war also entsprechend schockiert. Mein Kopf hämmerte und schien nahezu zu platzen. Mein Mund war trocken, die Zunge fühlte sich an wie ein ausgetrockneter Topfschwamm. Mit zitternden Händen durchwühlte ich mein Badezimmerschränkchen nach einer Kopfschmerztablette, drückte die Tablette aus dem Blister, würgte sie hinunter und trank so viel Wasser aus dem Wasserhahn, wie ich nur konnte.

Danach stampfte ich wütend zum Yogazimmer, um mir meinen Sohn vorzuknöpfen. Vor der Zimmertür blieb ich stehen. Die junge Frau war mir offensichtlich zuvorgekommen und war gerade damit beschäftigt, meinen Sohn herunterzuputzen.

»Du hast mir doch gesagt, du wohnst hier allein.«

Mir blieb vor Empörung die Luft weg.

»Das hast du falsch verstanden.« Leos Stimme klang kleinlaut. »Ich habe gesagt ich bin hier allein, und das war ich ja auch. Konnte ich ahnen, dass meine Mutter …«

»Deine Mutter?« Die Stimme der jungen Frau überschlug sich vor Entsetzen. »Soll das heißen, deine Mutter hat uns gerade dabei erwischt … Oh Gott!«

Ohne anzuklopfen, riss ich die Tür auf. Beide saßen auf meiner Yogamatte, mein Sohn nackt, die junge Frau in mein Badehandtuch gewickelt. Beide rauchten. Und das, obwohl bei mir in der Wohnung striktes Rauchverbot herrscht.

»Hier wird nicht geraucht, Zigaretten aus!«, kommandierte ich. »Und ja, ich bin Leos Mutter! Und ja, ich wohne hier, und nein, Leo wohnt hier nicht! Er ist zu Besuch! Ich nehme an, du bist Thea und der Hund, der auch nur zu Besuch hier ist, ist deiner?«

Als ich ihn erwähnte, klopfte Vieh müde mit dem Schwanz. Er war der Einzige, der zu Freundlichkeit aufgelegt war.

»Thea? Wer oder was bitte ist Thea!« Die junge Frau sah noch irritierter aus.

»Meine Mum bringt da was durcheinander.« Leo hob beschwichtigend die Hand. An mich gewandt, mit einem wütenden Gesichtsausdruck und überbetont deutlich ergänzte er: »Darf ich vorstellen, das ist meine Mutter Emilia – und das, Mama, ist Aurélie!«

Ich verstand sofort, warum er wollte, dass ich die Verwechslung auf meine Kappe nahm. Das aber machte mich noch wütender. »Ah, ja, natürlich! Wie konnte ich das nur verwechseln? Klar! Du bist Aurélie. Ich bin wirklich sehr alt und durcheinander.« Meine Stimme war schneidend. »Du kannst ja gar nicht Thea sein, denn die ist ja schwanger, und du siehst gar nicht schwanger aus. Und Dina bist du bestimmt auch nicht, weil die ja gerade ’ne Menge Stress macht, und Stress ist ja nicht so Leos Ding! Und Melanie oder Eva oder Gesa oder Pauline oder was weiß ich bist du auch nicht. Ich bin aber auch blöd! Ich kann mir diese ganzen Frauen einfach nicht merken, die mein Sohn im Zwölfstundenrhythmus anschleppt.«

Aurélie war aufgestanden und schlüpfte in fliegender Hast in Höschen, Jeans und T-Shirt. »Keine Angst! Meinen Namen muss sich keiner merken. Ich bin sofort hier weg. Leo, du bist so ein Mörderarschloch! Ruf mich nie wieder an!«

Donnerwetter! Temperament hatte sie, das war unschwer zu erkennen. Die Tür schepperte, so heftig wurde sie zugeschlagen. Vieh sprang auf und fing an zu bellen.

Leo lief ihr nackt bis in den Hausflur hinterher. »Warte doch, Aurélie, warte … Ich kann dir … Es ist alles ganz anders …«

Aurélie war nicht so bekloppt wie viele andere Frauen vor ihr. Ich hörte, wie unten im Flur die Haustür zuschlug.

Das war meine Chance. Ohne eine Sekunde zu zögern, schloss ich die Wohnungstür. Meine Kopfschmerzen ließen schon etwas nach.

Als Leo, der noch immer nackt draußen stand, seine Misere bewusst wurde, hämmerte er an die Tür. »Mama, bist du eigentlich völlig übergeschnappt?« Seine Stimme überschlug sich vor Empörung. »Ich hab nichts an! Ich stehe hier völlig nackt im kalten Hausflur! Im Februar! Willst du, dass ich sterbe, oder was?«

Er klingelte Sturm und hämmerte gleichzeitig an die Wohnungstür. Vieh bellte wie verrückt. Er hielt das wahrscheinlich für ein lustiges Spiel.

Ich war von mir selbst entsetzt, das muss ich zu meiner Entschuldigung zugeben. Andererseits bereitete mir der Umstand, dass mein Sohn gerade nackt im Hausflur stand, eine diebische Freude.

Nach ein paar Minuten siegte mein Mutterinstinkt. Es war wirklich kalt, und Leo war schon immer sehr empfindlich und kränklich. Ich wollte ihm ja nicht wirklich schaden.

Sobald ich die Wohnungstür öffnete, schoss Leo wie ein Pfeil durch den geöffneten Spalt. Er heulte. Nicht ein bisschen, sondern richtig. Außerdem zitterte er vor Kälte.

»Du bist so scheiße, Mama!«, schluchzte er. »Du gönnst mir nicht das kleinste bisschen Spaß. Jede Mutter wäre froh, wenn ihr Sohn jemanden findet, der ihm hilft, ’ne schwere Zeit zu überstehen. Aber du, du führst dich hier auf wie die Sittenpolizei!« Rotz lief aus seiner Nase. Er wischte sich mit dem Unterarm durchs Gesicht. »Nur weil du mit Männern nicht klarkommst und weil du bestimmt schon ewig keinen mehr ins Bett gekriegt hast, bist du eifersüchtig. Eifersüchtig auf das Liebesleben des eigenen Sohns. Das ist so arm!« Er hatte sich regelrecht in Rage gejammert. »Eine durch und durch frustrierte alte Schachtel, das wirst du so langsam! Verkehrsberuhigte Zone. Bekommt dir nicht!«

Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, vielleicht hätte ich ihm in diesem Moment zum ersten Mal in unserem Mutter-Sohn-Leben eine reingehauen. Aber dazu war ich zu kaputt.

»Geh mir aus den Augen!«, war das Einzige, was ich tonlos stammeln konnte.

Als ich wieder in meinem Schlafzimmer war, ließ ich mich aufs Bett fallen und brach in Tränen aus. Leo schluchzte nebenan.

Wir sind ein tolles Team, dachte ich. Wir verstehen es wirklich, uns gegenseitig optimal zu verletzen.

* * *

Als ich am nächsten Morgen nach einem kleinen Katerfrühstück in mein Arbeitszimmer entschwand, war von Leo weder etwas zu hören noch zu sehen.

Ich betreibe eine kleine Firma und vermittle Dienstleistungen – fast – jeglicher Art an Menschen unterschiedlichster Couleur. Ich kann ganz gut mit Zahlen umgehen, auch mit Menschen komme ich gut zurecht. In einigen Dingen bin ich praktisch veranlagt, und wo es bei mir selbst nicht reicht, kenne ich viele Menschen mit entsprechenden Fähigkeiten. Aufgebaut habe ich mir diese Firma vor etlichen Jahren, weil ich die Arbeitszeiten als Kellnerin im Traumschiff nicht mehr ertragen konnte und wollte. Zwar waren meine Kinder, wenn ich abends arbeiten musste, bei Traudel in guten Händen, aber morgens war ich immer müde und gerädert und daher keine besonders fröhliche Mutter. Das wollte ich ändern, als die Kinder in die Schule kamen und ich tagsüber etwas mehr Freiraum zum Arbeiten hatte.

Zuerst habe ich meine eigenen Fähigkeiten angeboten. Ich koche sehr gut, kann große Feste organisieren, Kindergeburtstage oder Hochzeiten planen. Irgendwann waren aber die Anfragen zu komplex, und ich begann, einige »Einsätze« zu delegieren. Durch meine jahrelange Arbeit in Drafis Kneipe kannte ich Gott und die Welt, und so hatte ich im Nu ein ganzes Heer an Honorarkräften in meinem Verteiler, die entweder regelmäßig oder sporadisch für mich arbeiteten. Irgendwann habe ich dieser Firma dann einen Namen gegeben: We4you – wir für dich.

Die Firma läuft insgesamt gut. Ich werde nicht reich, aber ich habe ein gutes Auskommen. Außerdem hat Drafi mir die Wohnung überschrieben, in der ich anfangs mit ihm und Matti und später noch allein mit meinen beiden Kindern wohnte.

Jetzt bekommt nicht gleich einen Herzinfarkt vor Rührung! Das klingt toller und großzügiger, als es in Wirklichkeit war. Denn Drafi hat nie Unterhalt für Matti bezahlt. Das Traumschiff lief irgendwann nicht mehr so toll. Vielleicht war das der Grund. Und ich bin kein Mensch, der mit Rechtsanwälten um die Ecke kommt. Ich habe also höchstens mal gemeckert, aber meine finanziellen Interessen letztlich nie wirklich mit Nachdruck vertreten. Als Drafi vor einigen Jahren das Haus verkaufen wollte, hat er vorher zwei Wohnungen verschenkt: eine an mich und eine an Traudel und Ante, denen er sich ebenso verbunden fühlte wie ich. Den Rest des Hauses hatte ein Investor aus Düsseldorf gekauft, und Drafi war zu seiner Freundin ins Münsterland gezogen. Es ging ihm gesundheitlich nicht besonders, und seine Freundin hat offenbar das Florence-Nightingale-Syndrom. Das klingt gemein, ich weiß. Und doch verstehe ich Frauen nicht, die sich Männer ans Bein binden, die schon beim Kennenlernen ein Wrack sind. Aber natürlich gut für Drafi, keine Frage. Und dass er mir die Wohnung geschenkt hat, fand ich klasse.

Ich bin also finanziell ganz gut gestellt. Unten im Haus, in den Räumen des ehemaligen Traumschiffs, ist jetzt ein piekfeines französisches Restaurant. Der Hausbesitzer hat deshalb ein großes Interesse daran, dass das Haus mit allem Drin und Drum und Dran einen gepflegten und feinen Eindruck macht. Er hatte seinerzeit mächtig in die Sanierung investiert – auch ohne dass Traudel und Ante oder ich uns entsprechend beteiligten. Vielleicht nimmt er sich daher manchmal Sonderrechte heraus, meint, mehr zu sagen zu haben und uns behandeln zu können, als seien wir seine Mieter.