Betreutes Flirten für Spätberufene - Lioba Albus - E-Book

Betreutes Flirten für Spätberufene E-Book

Lioba Albus

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Beschreibung

Älter und Single? Willkommen im Hotel zur späten Liebe!

Ida Tündermann ist unzufrieden. Ihr 61-jähriger Körper, ihr Hotel, ihre Ehe und das sauerländische Dorf, in dem sie lebt, haben eins gemeinsam: Die besten Zeiten sind vorbei. Noch will Ida allerdings nicht aufgeben. Weder ihren Ehemann, mit dem sie seit Jahren nur noch das Nötigste spricht, noch ihr Hotel, das wie eine verschmähte Geliebte mehr und mehr an Glanz verliert. Hier ist sie geboren, hier wird sie irgendwann sterben, und bis dahin ist ihre Grappa-Clique ihre rettende Insel. Dachte sie. Denn völlig unerwartet taucht ihre Großnichte Lilli auf. Die ist Weltmeisterin im Pläneschmieden und hat eine Idee: Ida soll das Hotel in eine Hochburg für betreutes Flirten für reifere Semester umwandeln ...

Von alter und junger Liebe, Menschlichem und allzu Menschlichem - der neue Roman der beliebten Kabarettistin

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Seitenzahl: 472

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumMottoWidmung1 – Dicke Kater und halbe Hähnchen2 – Bunte Vögel3 – Schlechte Verbindung4 – Hahnengesang5 – Geistesblitze und Wetterleuchten6 – Senfpraline und Windbeutel7 – Kommen und Gehen8 – Von Mäusen und Männchen9 – Besame mucho10 – Junge Herzen, alte Schmerzen11 – Kapellen und Ruinen12 – Ausgebucht13 – Young at Heart14 – Lady Bump15 – Altlasten16 – Annäherungen17 – Vergangenes und nicht Vergangenes18 – Kettenreaktionen19 – Ohrgeräusche20 – Der Vulkanausbruch21 – Von Wunden und WundernZwei Jahre späterDank

Über das Buch

Älter und Single? Willkommen im Hotel zur späten Liebe!

Ida Tündermann ist unzufrieden. Ihr 61-jähriger Körper, ihr Hotel, ihre Ehe und das sauerländische Dorf, in dem sie lebt, haben eins gemeinsam: Die besten Zeiten sind vorbei. Noch will Ida allerdings nicht aufgeben. Weder ihren Ehemann, mit dem sie seit Jahren nur noch das Nötigste spricht, noch ihr Hotel, das wie eine verschmähte Geliebte mehr und mehr an Glanz verliert. Hier ist sie geboren, hier wird sie irgendwann sterben, und bis dahin ist ihre Grappa-Clique ihre rettende Insel. Dachte sie. Denn völlig unerwartet taucht ihre Großnichte Lilli auf. Die ist Weltmeisterin im Pläneschmieden und hat eine Idee: Ida soll das Hotel in eine Hochburg für betreutes Flirten für reifere Semester umwandeln …

Von alter und junger Liebe, Menschlichem und allzu Menschlichem – der neue Roman der beliebten Kabarettistin

Über die Autorin

Lioba Albus wurde 1958 in Attendorn im Sauerland geboren, lebt in Dortmund und ist Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Als gelernte Schauspielerin zog es sie vor dreißig Jahren auf Deutschlands Kabarettbühnen. Außerdem ist sie häufig zu Gast in diversen Radio- und Fernsehshows, z.B. bei LADIES NIGHT (ARD). Viele ihrer Freunde meinen, sie spricht ein bisschen zu viel. Darum schreibt sie jetzt.

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Originalausgabe

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung

von Motiven von © shutterstock: Anastasia Nix | Kseniia Fast |

Morphart Creation | Nik Merkulov

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4805-6

luebbe.de

lesejury.de

 

There is a crack in everything,

that’s how the light gets in.

Leonard Cohen

 

Dieses Buch widme ich meinem Vater Heinrich Albus. In seiner Schneiderwerkstatt hockte ich oft als kleines Mädchen auf dem Boden, sortierte Knöpfe und lauschte mit großen Ohren den Geschichten, die all die Menschen in seine Werkstatt trugen, um sich trösten, beraten oder auch schon mal ermahnen zu lassen. Dabei rauchte er Zigarre, nähte und hörte zu. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass ein Schneider von der Rangordnung nicht über dem König rangiert. Mein Vater ist schon lange tot, aber je älter ich werde, desto mehr merke ich, wie viel von diesen Geschichten, Redewendungen und Sprichwörtern in mir weiterleben. Danke, Papa!

1

Dicke Kater und halbe Hähnchen

Am Morgen des 8. Juni erwachte Ida Tündermann durch zwei Geräusche. Ein Geräusch, das fehlte, und ein Geräusch, das störte. Das Geräusch, das fehlte, war das Schnarchen ihres Mannes Theo, der von allen nur Tünn genannt wurde. Tünn schlief normalerweise im Nebenzimmer, doch Ida ließ die Tür zu seinem Schlafraum immer angelehnt. Sie hätte es nie zugegeben, aber das Schnarchen beruhigte sie. Dass es nun fehlte, obwohl es noch so früh am Morgen war, beunruhigte sie daher.

Das andere Geräusch, das Geräusch, das nicht da sein sollte, war das verstümmelte Krähen des Nachbarhahns. Der Hahn hieß Elvis, und jeder im Dorf wusste genau, warum. Elvis gehörte Idas Freundin und Nachbarin Zapfi, und dass sie dieses armselige Hähnchen, das kein gescheites Krähen zustande brachte, ausgerechnet nach ihrem Ex-Mann benannt hatte, war natürlich ein Racheakt. Das aber wurde von niemandem je wirklich ausgesprochen. Elvis, also der Hahn und nicht sein Namenspate, war eine echte Nervensäge. Er krähte immer nur halb, also »Kikerik«. Das beendende »Kiiiii« sparte er sich. Und das war der Grund, warum Ida, seit Elvis bei Zapfi wohnte, bei geschlossenem Fenster schlief.

Ida war eigentlich nicht geräuschempfindlich, aber dieses nicht zu Ende gebrachte Krähen machte sie fertig. Fix und fertig. Sie hatte eine tief sitzende Abneigung gegen alles Unvollendete. Dass sie an diesem Morgen Elvis in voller Lautstärke hörte, konnte also nur bedeuten, dass sie vor dem Schlafengehen das Fenster nicht geschlossen hatte. Und das wiederum konnte nur bedeuten, dass sie sich gestern doch mehr Grappa gegönnt hatte, als sie vertrug. Der vorherige Abend war ein Dienstag gewesen, und dienstags traf sie sich mit ihrer Grappa-Clique zum Canasta. Ihre Grappa-Clique bestand aus ihren Freundinnen Zapfi, Änne und Gönül. Sie spielten zusammen Karten und hechelten dabei zugleich alle neuen oder mehrfach wiedergekäuten Neuigkeiten aus dem Dorfleben durch. Sie berieten sich auch gegenseitig in Lebensfragen und hatten in der Regel jede Menge Spaß miteinander. Gewinnen oder Verlieren war weniger wichtig, zumal Zapfi gern mogelte und es zu kompliziert war, ihr das Handwerk zu legen.

Ida quälte sich aus dem Bett, öffnete das Fenster nun ganz und rief wutentbrannt in den Nachbarhof hinunter: »Nun bring es doch endlich einmal zu Ende, du elendes Möchtegernhähnchen!«

Trotz des strömenden Regens stand Zapfi im Hof. Mit ihrem überdimensionierten Regenmantel, den Gummistiefeln und ihrem lila Regenhut ähnelte sie einer Vogelscheuche.

Ida schüttelte amüsiert den Kopf. So etwas war Zapfi völlig egal. Offensichtlich fütterte sie gerade die Hühner. Jetzt legte ihre Freundin den Kopf in den Nacken, lachte ungeniert und rief zurück: »Ihr solltet beim Sex das Fenster zulassen. Der arme Tünn. Jetzt weiß das ganze Dorf, dass er ’ne Ladehemmung hat!«

Sie gackerte haltlos über ihren eigenen Witz. Als Idas engste Freundin wusste sie natürlich, dass zwischen Ida und Tünn »der Strom abgestellt war«, wie sie es gern ausdrückte.

Ida hatte so früh am Morgen keine Lust auf Zapfis skurrilen Humor. Innerlich kochend knallte sie das Fenster zu und stapfte Richtung Bad. Schlaftrunken musterte sie ihr Spiegelbild. Es war ihm deutlich anzusehen, dass sie sich gestern Abend hatte gehen lassen. Dunkle Ringe unter den Augen hoben ihre ohnehin oft geschwollenen Tränensäcke noch hervor. Ihr grauschwarzes Haar war stumpf und stand in alle Richtungen ab. Ihr Mund fühlte sich ausgetrocknet an, ihre Lippen waren rissig.

Noch immer wütend schrubbte sie ihre Zähne. Als sich das Dämmerlicht im Bad um eine weitere Nuance verdunkelte, war ihr klar, dass auch ihr Mann vergessen hatte, ein Fenster zu schließen, denn in dem schmalen Badezimmerfenster saß Casanova, Zapfis dicker Kater. Er hatte aus unerfindlichen Gründen einen Narren an Ida gefressen und versuchte allzu oft, sich in ihr Haus zu schleichen. Jetzt saß er im geöffneten Fenster und schnurrte laut wie ein Außenbordmotor.

Aus den Augenwinkeln nahm Ida in der Badewanne unter dem Fenster eine Bewegung wahr. Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, um besser zu sehen, und sah, dass Casanova ihr eine Liebesgabe in die Wanne gelegt hatte. Schon wieder! Verängstigt und blutend huschte eine Maus auf dem Wannenboden hin und her und versuchte vergeblich, sich an der glatten Wand nach oben zu retten.

In diesem Moment war es um Idas Fassung geschehen. Na warte, Zapfi, schwor sie sich. Du mit deinen verdammten Mistviechern! Und natürlich: Na warte, Tünn!, denn er hatte das Fenster offensichtlich offen stehen lassen, obwohl sie ihn schon tausendmal gebeten hatte, das Fenster nur zu kippen. Genau aus dem Grund, der nun eingetreten war: weil dieser hässliche dicke Kater es einfach nicht lassen konnte, ihr halb zerbissene Liebesgaben anzuschleppen.

»Tüüüüüünn!« Ihre Stimme klang auch in ihren eigenen Ohren schrill und unangenehm. Hoffentlich hatte er noch nicht das Haus verlassen und konnte das Ergebnis seiner Fahrlässigkeit selbst entsorgen.

Nach einer Weile stand er in der Badezimmertür und sah sie schweigend an.

Ida fühlte sich von ihm gemustert, was sie noch wütender machte. »Du hast wieder das Fenster aufstehen lassen!«, keifte sie. »Ich habe dich schon so oft gebeten, daran zu denken. Jetzt haben wir wieder eine halb tote Maus in der Wanne. Du weißt, wie sehr mich das ekelt.«

Bewegungslos lehnte Tünn im Türrahmen und sah sie an. Er war sehr groß und hager, und wenn er jemanden ansah, wirkte ein Blick aus seinen grauen Augen oft im wahrsten Wortsinn von oben herab. Auch jetzt hatte er eine seiner Augenbrauen leicht nach oben gezogen. »Du hast halt seltsame Freundinnen mit noch seltsameren Tieren. Wir können wegen Zapfi nicht immer alle Fenster geschlossen halten. Sonst schimmelt uns das Haus unterm Hintern weg. Lüften ist wichtig, vor allem in so alten Häusern. Geh raus, dann entferne ich das Viech und mache das Fenster zu.«

Seine Stimme war leise und unaufgeregt. So, wie er insgesamt meistens unaufgeregt war – eine Eigenschaft, die sie in früheren Tagen an ihm sehr gemocht und bewundert hatte. Sie hatte diese Gelassenheit und Unerschütterlichkeit gepaart mit seinem hintergründigen, leisen Humor geliebt. Aber diese Zeiten waren vorbei. Vor sechs Jahren hatte sie ihre Gefühle für ihn im hintersten Winkel ihrer Seele verstaut, und sie war entschlossen, sie dort zu lassen. Ein einziger Tag hatte ausgereicht, um zwischen ihr und Tünn alles zu ändern. So sehr zu ändern, dass sie seither nur noch das Allernötigste miteinander sprachen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihm jemals würde verzeihen können, worüber sie noch nicht einmal mit ihrer besten Freundin Zapfi sprach.

Ida spülte die Zahnbürste aus, stellte sie in ihr Zahnputzglas und verließ erhobenen Hauptes das Bad.

In der Küche sah sie, dass Tünn schon Kaffee gekocht und den Frühstückstisch gedeckt hatte. Für sich selbst. Ein Gedeck für Ida fehlte. Ein Blick auf die laut tickende Küchenuhr erklärte es ihr: Es war erst halb sechs, und das war normalerweise nicht ihre Zeit. Es roch nach Leberwurst und Kaffee, was in Verbindung mit dem Muff des alten Hauses dazu führte, dass sich Idas Magen hob. Die Küche passt zu mir, wie das ganze Haus. Wir sind alle in die Jahre gekommen.

Seufzend nahm sie eine Tasse aus dem Schrank und die Kanne aus der Kaffeemaschine. Mit der Tasse voll schwarzem Kaffee setzte sie sich auf die Küchenbank und starrte missmutig auf das halb beendete Frühstück ihres Mannes. Mit einer Hand fegte sie Krümel von der rissigen Resopal-Tischplatte. Sie fielen auf den Boden. Auch egal. Wenn ihr Mann die Küche benutzt hatte, war es ohnehin meistens besser, anschließend zu putzen.

Tünn brauchte wenig Schlaf und fuhr häufig schon vor seinem Dienst in der Steuerkanzlei zu guten oder weniger guten Bekannten, um ihnen bei der Steuererklärung zu helfen. So war er: durch und durch hilfsbereit, und auch das hatte sie an ihm früher sehr gemocht.

Der Kaffee war etwas zu stark und schmeckte bitter. Ida stützte den Kopf auf. Der kurzweilige Abend, den sie gestern mit ihren Canasta-Schwestern so genossen hatte, rächte sich nun. Sie war müde und hatte einen Brummschädel. Tünns Leberwurstbrot lag angebissen auf seinem Teller.

Wenig später kam Tünn zurück, setzte sich, biss kräftig von seinem Brot ab und sagte: »Kannst jetzt wieder ins Bad. Die Maus ist entsorgt, und dieser elende Kater hat sich auch verzogen.«

Eigentlich hätte Ida sich bedanken müssen, aber dazu hatte sie keine Lust. Es musste reichen, dass sie als Zeichen ihrer Dankbarkeit die Kaffeekanne hochhielt und mit Blick auf seine Tasse fragte: »Noch einen Schluck heißen obendrauf?«

Tünn legte die Hand über seine Tasse und schüttelte den Kopf. Angesichts seiner Schweigsamkeit wirkten alle Geräusche in der Küche doppelt laut. Die Küchenuhr tickte, der Wasserhahn tropfte unrhythmisch, Tünn kaute vernehmlich und schnaufte dabei durch seine dauerverstopfte Nase, und von draußen drang noch immer das missglückte, aber dafür umso eifrigere Krähen von Elvis, untermalt vom Rauschen des unablässig strömenden Regens. Obwohl es um diese Zeit längst hätte hell sein müssen, sorgte das triste Wetter für Dämmerlicht, auch in der Küche. Auch das trug nicht gerade zu guter Laune bei.

Tünn durchbrach als Erster das Schweigen: »Dass der Hahn nicht krähen kann, ist ja schon schlimm genug. Aber dass er den ganzen Morgen einfach weiterübt … Das passt mal wieder zur Zapfi. Die schafft sich nur Tiere an, die in irgendeiner Weise einen Dachschaden haben. Wie der Herr, so das Gescherr.«

Auch wenn sie sich gerade selbst über die unangenehmen Gewohnheiten der Tiere geärgert hatte, passte es Ida nicht, dass ihr Mann ihre Freundin attackierte. »Du hättest ja nicht das Badfenster sperrangelweit aufstehen lassen müssen. Casanova hat nun mal eine Schwäche für mich. Da kann Zapfi nichts für.«

»Ich habe auch eine Schwäche für dich. Aber ich werfe dir keine halb toten Tiere vor die Füße.«

Ida spürte, dass sie flammend rot wurde. Eine Liebeserklärung, selbst eine sehr verdrehte wie diese, hatte sie aus seinem Mund seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehört. Wie auch, wenn sie kaum miteinander sprachen?

Eine Schwäche für mich … Sie schaute an sich hinunter. So, wie sie am Küchentisch saß, das Gesicht genauso zerknittert wie ihr Nachthemd, konnte sie sich nicht vorstellen, dass man für sie eine Schwäche haben könnte. Und weil sie sich in den letzten Jahren einen ruppigen Umgangston angewöhnt hatte, setzte sie auch gleich unfreundlich nach: »Mit Schwächen kennst du dich ja aus.« Beide wussten genau, worauf sie damit anspielte.

Als hätte sie mit diesem unversöhnlichen Satz auch gleich die Temperatur in der Küche um ein paar Grad gesenkt, fröstelte sie auf einmal in ihrem Nachthemd.

Tünn runzelte die Stirn. »Du jedenfalls hast gestern Abend eine deutliche Schwäche für Alkohol gezeigt. Und wenn ich den schlechten Witz richtig verstanden habe, den deine Zapfi vorhin durch das ganze Dorf gekreischt hat, hattet ihr alle miteinander wohl auch wieder eine Schwäche dafür, euch über die Schwächen anderer lustig zu machen. Hast du vor deinen Freundinnen wieder schön über deinen Versagerehemann gehetzt?«

Ida war es unangenehm, dass Tünn glaubte, sie würde mit ihren Freundinnen über ihre Eheprobleme sprechen. Das war nämlich ganz und gar nicht der Fall. Tatsächlich hatte sie seit sechs Jahren gegenüber niemandem auch nur ein Wort darüber verlauten lassen, was der Grund für die Eiszeit zwischen ihr und Tünn war.

»Wir reden nicht über Männer, falls es dich interessiert«, patzte sie darum zurück. »Wir haben es nämlich gern lustig und nicht langweilig. Also bilde dir nichts ein. Wir finden Männer nur halb so spannend, wie ihr Männer das gern hättet.«

Gerade als sie sich erheben wollte, um unter die Dusche zu verschwinden, klopfte es an der Küchentür. Ida und Tünn sahen sich überrascht an. Zwar war bei ihnen die Hintertür nie verschlossen, aber sie konnten sich nicht vorstellen, wer die Dreistigkeit besaß, morgens um diese Zeit einfach so ins Haus zu stolzieren.

Es war Zapfi. Ihren überdimensionierten Regenmantel hatte sie inzwischen aufgeknöpft, sodass das Nachthemd, das sie darunter trug, hervorlugte. Ohne sich um die erstaunten Gesichter in der Küche zu kümmern, kam sie herein, zog den Regenmantel aus und tropfte dabei den Küchenboden nass. Achtlos warf sie den Mantel über eine Stuhllehne und ließ sich auf den Sitz fallen. »Jetzt guckt nicht so empört! War nicht zu überhören, dass ihr wach seid. Mein Kaffeepulver ist alle, und man wird doch wohl mal in der Nachbarschaft …«

Bevor sie mehr sagen konnte, nahm Tünn den Rest seines Leberwurstbrotes, griff nach seiner Jacke und wandte sich zur Tür. »Ich räume dann mal das Feld. Zwei kaum ausgenüchterte Schnapsleichen im Nachthemd, eine zerbissene, halb tote Maus im Badezimmer – mein Bedarf an unkonventionellen Freundschaftsdiensten ist für heute Morgen gedeckt.« Er drehte sich noch einmal um: »Ach, und Ida: Hör doch bitte mal den Anrufbeantworter ab. Ich glaube, unsere Feriengäste für die nächsten zwei Wochen haben storniert. Schönen Tag, die Damen.«

Zunächst kommentierte keine der beiden Frauen Tünns Abgang. Schließlich durchbrach Zapfi das bedrückte Schweigen. »Stimmt das, Ida? Wieder keine Voranmeldung für die Sommerferien? Wie lange wollt ihr das noch durchhalten?«

Ida seufzte. »Nimm dir Kaffee, wenn du eh schon hier bist, und dann beantworte mir eine Frage: Warum sollte jemand Lust haben, hier Urlaub zu machen? Wenn es nicht gerade in Strömen gießt, hat man einen herrlichen Blick auf einen pockennarbigen Berg, der mal so etwas wie ein Wald war. Was Sturm, Dürre und Borkenkäfer noch nicht geschafft haben, erledigt wahrscheinlich die nächste Flutkatastrophe. Früher sind ja Freizeitreiter, Wanderer und Skilangläufer gekommen, aber die Zeiten sind doch längst vorbei.«

Ida seufzte erneut, und als sie sah, dass Zapfi vor lauter Schreck unbeweglich auf ihrem Stuhl verharrte, nahm sie eine weitere Kaffeetasse aus dem Küchenschrank, schenkte sie randvoll und schob sie ihrer Freundin rüber. »Das Einzige, was in der Region noch funktioniert, sind diese großkotzig umgebauten Wellnesstempel«, fuhr sie fort. »Selbst wenn wir Geld für Investitionen dieser Größenordnung hätten, hätte ich keine Lust auf das Klientel, das man damit anzieht. Ich hatte immer Spaß an wandernden, reitenden und Ruhe suchenden Familien und Pärchen. Außerdem, guck mich doch an: Ich bin eine alte Schachtel. Sehe ich aus, als könnte ich Werbung für ein raffiniertes Wellnesskonzept machen?«

Trotz des ernsten Themas mussten beide kichern. Eitelkeit war ihnen absolut fremd, und das sah man ihnen an. Ida hatte ihre schwarzgrauen Haare von der Dorffriseurin in eine zwar unkomplizierte, aber wenig vorteilhafte Dauerwelle legen lassen, während Zapfi mit ihren Haaren etwas mehr Glück hatte. Die waren noch immer üppig, lockig und lang, und Zapfi hatte das natürliche Rot mit Henna verstärkt. Trotzdem trug sie das Haar fast immer am Hinterkopf zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst. Dafür hatte sie strahlend blaue Augen, die üblicherweise fröhlich, zeitweise regelrecht verwegen funkelten. Idas Augen hingegen waren dunkelbraun, und ihre Augenbrauen hätten durchaus etwas Bändigung vertragen. So nämlich hatte Idas Gesichtsausdruck stets etwas Wütendes, selbst wenn sie gerade guter Laune war.

Als Hotelbesitzerin hatte Ida sich immer als die mütterliche Seele des Hauses gesehen, und bei der Vorstellung, dass plötzlich aufgetakelte, vom Leben auf der Überholspur gestresste, langbeinige Wellnessgöttinnen oder gesundheitsbewusste, ihre Work-Life-Balance optimierende Yuppies beim Frühstück nach Sellerie-Smoothies verlangen könnten, überkam sie regelrecht Panik.

»Frau Tündermann«, äffte sie deswegen mit arrogantem Sopran, »Ihre Gastronomie bedarf einer dringenden Anpassung an moderne Standards, und Sie selbst … Nun, Sie sind körperlich ähnlich renovierungsbedürftig wie Ihr Haus. Leider sehen mein Mann und ich uns gezwungen, sofort wieder abzureisen. Hier bekommt man ja eher Depressionen als Erholung!«

Zapfi wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Vielleicht solltest du ein völlig neues Konzept anbieten. Zum Beispiel Beautymasken mit Hühnermist. Ich könnte da aushelfen.«

»Oder Ganzkörpermassage mit zerbissenen Mäusekadavern? Auch damit versorgst du uns ja reichlich.«

»Oh nein! Sag nicht, Casi hat dir wieder –«

»Doch!«, fiel Ida ihrer Freundin ins Wort. »Dein dämliches Hähnchen bringt noch immer kein mannhaftes Krähen zustande und raubt mir damit den Verstand, dein hormonverwirrter Kater legt mir sein Herz und zerbissene Mäuse zu Füßen. Und mein Mann murmelt sich heute beim Frühstück in den Bart, er habe eine Schwäche für mich. Eine Schwäche, Zapfi! Was, bitte, soll ich damit anfangen? Mit einer Schwäche für mich?«

»Wäre dein Mann gebürtiger Sauerländer, wäre das die heißblütigste Liebeserklärung, die du von ihm erwarten könntest. Ob ein Münsterländer wie er grundsätzlich anders gestrickt ist, kann ich nicht sagen. Damit kenne ich mich nicht aus. Außerdem lebt Tünn jetzt schon so lange bei uns im Ort – da hat die subtile Form von Leidenschaft der Sauerländer bestimmt auf ihn abgefärbt. Nicht umsonst sagt man, dass sauerländische Männer selbst beim Sex niemals aus sich herausgehen würden. Wenn ein Sauerländer zum Höhepunkt kommt, sagt er höchstens: ›Oh Chott, oh Chott!‹«

Ida schüttelte abwehrend den Kopf. Über Sex wollte sie heute Morgen weder reden noch nachdenken.

Das störte die Zapfi wenig. Außerdem hatte Tünn wegen seiner Hilfsbereitschaft bei ihr grundsätzlich einen Stein im Brett. Darum setzte sie nach: »Nein, im Ernst, Ida: Es ist doch süß, dass er dir schon früh am Morgen solche Komplimente macht.«

»Ich brauche keinen Mann, der eine ›Schwäche‹ für mich hat.« Ida hörte selbst, dass ihre Stimme unwirsch und mürrisch klang. »Ich brauche einen Mann, auf den ich mich verlassen kann, der mit mir durch dick und dünn geht, und vor allem einen, der … Ach, ist auch egal! Tünn ist, wie er ist, und immerhin holt er mir freiwillig die Liebesbotschaften deines bekloppten Katers aus dem Bad, bevor mir schlecht wird.«

Weil Zapfi sie nachdenklich anschaute, schlug Ida schnell die Kurve zu einem leichteren Thema. »Ich könnte Seminare für Männer mit zerrütteter Männlichkeit anbieten. Und du lässt Elvis auf seine armselige Art für sie krähen – als abschreckendes Beispiel dafür, wie kläglich nicht gelebte Männlichkeit wirkt.«

Zapfi nahm einen kräftigen Schluck Kaffee, ließ sich auf Idas scherzhaften Unterton aber nicht ein: »Wenn ihr so weitermacht, ist dein Hotel bald pleite, Ida. Und was macht ihr dann? Von Tünns Einkommen leben? Reicht das für euch und dieses riesige Haus?«

Ida wusste sehr gut, dass Zapfi mehr als recht hatte. Die glorreichen Zeiten des Naherholungstourismus waren längst vorbei. Schon bevor die Klimakatastrophe ihnen im Sauerland die drei Seuchen Dürre, Borkenkäfer und Unwetter beschert hatte, war es schwierig gewesen, genug Gäste in ihr Hotel zu locken. Sie hatte es mit Ponyreiten und Kutschfahrten versucht, um für Familien attraktiv zu sein. Sie hatte im Winter sogar über die Weihnachtsfeiertage geöffnet und romantische Weihnachtstage für Skilangläufer angeboten. Aber damals war sie noch jünger gewesen und hatte Freude daran gehabt, den Herausforderungen zu trotzen. Nächtelang hatte sie gemeinsam mit Tünn in der Küche gesessen und die verrücktesten Ideen entwickelt. Zu Ostern hatten sie ein großes traditionelles Osterfeuer mit sauerländischen Bräuchen wie Semmelsegnen und Handfackelschwenken veranstaltet. Sie hatte einen Koch gehabt, der sich sowohl auf die deftigen westfälischen Spezialitäten verstand als auch internationale Gerichte zubereiten konnte. Es hatte im Herbst Gäste gegeben, die sich das traditionelle Gänsereiten oder das Winddrachenfest nicht entgehen ließen. Und sie selbst war herumgewirbelt und hatte mitangepackt, wo immer ihre Hilfe benötigt wurde.

Lange hatte ihre Mutter sie am Tresen des zugehörigen Gasthofs unterstützt; Margot hatte ein sicheres Händchen für den Umgang mit Gästen gehabt und auf ihre flirtige Art manch männlichem Gast den Kopf verdreht. Das war zwar gut fürs Geschäft, dennoch war Ida Margots Verhalten seit jeher etwas peinlich gewesen. Davon abgesehen war ihre Mutter an Geschäftstüchtigkeit nicht zu überbieten gewesen. So hatte sie auch dafür gesorgt, dass aus der vermufften, wenig florierenden Dorfkneipe das Hotel entstand, das unter ihrer Hand mehr und mehr erblühte.

Ida sah auf ihre Hände. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich ihrer umtriebigen Mutter stets unterlegen gefühlt. Auch weil die den Männern so spielend leicht den Kopf verdreht hatte, während Ida eher schüchtern war. Ein weiterer Punkt in ihrem Leben, an den sie absolut nicht denken wollte. Ihre Mutter und die Männer – ein abgründiges Thema!

Ida räumte das Geschirr von Tünns Frühstück ins Spülbecken, wischte mit einem Lappen über den Küchentisch, schnitt ein paar Scheiben Graubrot ab, bestrich sie dick mit Butter und Pflaumenmus, schob das Brett mit den Broten in die Mitte und forderte Zapfi mit einer Kopfbewegung auf, sich zu nehmen. Dann biss sie kräftig von ihrem Brot ab und sagte forscher, als ihr eigentlich zumute war: »Ich überlege schon lange zu verkaufen. Tourismus lohnt sich hier einfach nicht mehr, und was anderes kann ich nicht. Du als Hebamme hast es gut; Kinder werden immer geboren. Aber ich könnte höchstens in einem Supermarkt hinter der Käsetheke stehen. Nein, wahrscheinlich müssen wir es so machen wie die anderen. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.«

Ebenfalls kauend erwiderte die Zapfi: »Das Problem ist nur, dass dir den Schuppen hier keiner für einigermaßen akzeptables Geld abkauft. Weil die Landflucht die Immobilienpreise kaputt macht. Außerdem kannst du mich hier nicht alleinlassen. Vielleicht kannst du umschulen. In der Altenpflege werden immer Leute gesucht.«

»Oh ja, die werden sich auf mich stürzen!« Ida verzog spöttisch das Gesicht. »Eine Sechzigjährige, die noch mal ganz von vorn anfangen will. Perfekte Kandidatin für Berufsförderung. Nein, lass mal. Ich hab keine Lust, mir den Tag noch mehr durch verregnete Gedanken zu versauen. Erzähl mir mal lieber, warum dein Hahn sich weder an Zeiten noch an Regeln hält. Und erklär mir mal, was gestern Abend mit Göni los war und warum wir uns nächste Woche nicht bei ihr treffen können. Kann es sein, dass es auch in einer Traumehe wie ihrer mal ein Tiefdruckgebiet gibt?«

Es war eine unausgesprochene Regel zwischen den vier Frauen des Grappa-Clubs, an den Dienstagabenden möglichst Spaß zu haben. Über ernste Themen redeten sie daher eher selten, und wenn es Probleme zu besprechen gab, besprachen sie die eher zu zweit. Am engsten befreundet, und das schon seit der Grundschule, waren Ida und Zapfi. Damals hatten die Erwachsenen sie als »die Schwestern Schrecklich« bezeichnet, weil sie gemeinsam jede Menge Flausen im Kopf gehabt hatten. Die Anstifterin war immer Zapfi gewesen, die eigentlich Elke Zapf hieß. Ihr Papa war als Bauarbeiter irgendwann aus Bayern ins Sauerland gekommen, hatte sich dort Hals über Kopf in die Dorfschönheit Gerhild Schmackenberg verliebt, und seine lustige und trinkfeste Art hatte bei Zapfis Mutter sofort ein heftiges Feuerchen der Gegenliebe entfacht. Früher hatte Zapfi ab und zu ihre Ferien bei ihren bayerischen Großeltern in Ismaning verbringen müssen, und sie war stets mit einem großen Repertoire an bairischen Schimpfwörtern aus den Ferien zurückgekehrt, mit denen sie auf dem Schulhof für Staunen und Respekt gesorgt hatte.

Zapfi wiederum war recht eng mit Göni befreundet, der Jüngsten in ihrem kartenspielenden Kleeblatt. Ihr war es zu verdanken, dass sie sich als Clique zusammengefunden hatten. Gönül war vor Jahren vor ihrem Macho-Ehemann aus der Türkei nach Deutschland geflüchtet und hatte als Putzhilfe in Idas Hotel angefangen. Da Gönül anfangs kaum Deutsch konnte, waren Ida und Zapfi auf die Idee gekommen, Gönül ein wenig unter die Arme zu greifen, indem sie ihr spielerisch Deutsch und die deutsche Lebensart näherbrachten. Gönül war lebenslustig, voller Energie und hatte einen hintergründigen Humor, und so war aus dem ursprünglichen Hilfsprojekt schnell eine echte Freundschaft gewachsen. Inzwischen war sie längst von ihrem türkischen Ehemann geschieden und mit dem Dorfbäcker Wolfgang Kniep verheiratet. Der hatte sein Glück kaum fassen können, als er seinerzeit in der örtlichen Schützenhalle beim Tanz in den Mai bei der bildschönen Frau landen konnte. Bei den anderen Frauen im Dorf war ihm das schwergefallen, denn Wolfgang war ein bisschen schusselig und maulfaul; außerdem hatte er nach dem Tod seiner Frau zwei Söhne allein großzuziehen gehabt. Darum konnte er eine anpackende und gleichzeitig lebensfrohe Frau wie Göni wirklich gut brauchen. Dass Göni, die mit Wolfgang selbst noch zwei Töchter bekam, sich weigerte, in der Bäckerei mitzuarbeiten, tat Wolfgangs Liebe keinen Abbruch. Inzwischen hatte sie sich mit mobiler Fußpflege selbstständig gemacht, und das Geschäft lief hervorragend.

»Ich habe keine Ahnung, warum Göni gestern Abend so still war«, unterbrach Zapfi Idas schweifende Gedanken. »Wenn sie Probleme hätte, wüsste ich das. Vielleicht war sie einfach erschöpft. Seit sie das Altenheim in Grevenbrück als Kunden hat, ist sie ständig am Limit. Vielleicht kannst du ja bei ihr einsteigen?«

Ida schleuderte ihre Pantoffeln von den Füßen, legte einen Fuß auf den Tisch und fragte lachend: »Sehen meine Füße aus, als hätte ich Ahnung von Pediküre? Guck dir meine knubbelige Hornhautzüchtung doch bitte mal an! Das sind keine Füße, das sind Mauken.«

»Du sollst ja auch nicht deine eigenen Füße behandeln, sondern die der anderen. Vielleicht als Gönüls Assistentin.« Grinsend winkte Zapfi ab. »War ja nur so ’ne Idee. Du darfst nicht ewig in diesem Riesenkasten hocken und auf Gäste warten. Davon wirst du mir nur trübsinnig.«

»Hör auf, Zapfi. Du bist ja wie das Arbeitsamt! Versuchst, mich mit Jobs zu verkuppeln wie ’ne alte Dorfkupplerin.«

»Ich dachte, bei Kuppelei geht es immer um Männer.« Zapfi biss noch einmal von ihrem Brot ab. »Und wenn ich das vorhin richtig gesehen habe, hast du ein solches Exemplar bereits.«

»›Exemplar‹ ist nett ausgedrückt.« Jetzt musste auch Ida grinsen. »Was ist denn eigentlich mit dir? Du erzählst gar nichts mehr von deinem smarten Herrn Doktor.«

Zapfi hatte vor einigen Jahren eine Affäre mit einem Gynäkologen am Kreiskrankenhaus begonnen. Der war nicht nur verheiratet, sondern auch noch ziemlich religiös, weshalb seine Leidenschaft für Zapfi ihn in mehrerlei Hinsicht in Konflikte gestürzt hatte. Dennoch schnurrte er wie ein liebeskranker alter Kater um sie herum.

»Aus! Pfui! Sitz! Anderes Thema! Vermintes Terrain!«, kommandierte Zapfi. »Du erzählst mir nicht, warum du immer so garstig zu Tünn bist, und ich will nicht über Alois und seine Wunderhändchen reden.« Sie nahm sich die letzte Scheibe Pflaumenmusbrot, fuhr mit dem Finger durch das Mus, leckte ihn sich genüsslich ab und fuhr dann fort: »Der Herr Doktor ist alt, und ich bin es auch. Darum ist das Thema Erotik ohnehin bald vom Tisch.«

»Quatsch!«, ereiferte sich Ida. »Nicht umsonst heißt es: ›Alte Scheunen brennen gut.‹ Und bei dir kann ich mir so gar nicht vorstellen, dass du irgendwann keinen Spaß mehr an Männern und ihren Vorzügen hast.«

Zapfi lachte. »Die Vorzüge, wie du dich so poetisch ausdrückst, werden ja auch immer älter. Und was nützt mir ’ne brennende Scheune, wenn die keiner mehr löschen kann? Weißt du was, Ida?« Mit einem großen Bissen verschwand der Rest des Brotes in Zapfis breitem Mund. Sie kaute kräftig und spülte den Bissen mit einem Riesenschluck Kaffee hinunter. »Warum verkaufst du den Kasten hier nicht, trennst dich endlich von Tünn und ziehst zu mir? Das sieht doch ’n Blinder mit Krückstock, dass der Ofen bei euch aus ist. Wo wir schon beim Thema brennende Scheunen sind.«

Der leicht dahingeworfene Satz ihrer Freundin versetzte Ida einen heftigen Stich. Sie wollte nicht, dass zwischen ihr und Tünn der Ofen aus war. Sie wollte nur nicht diejenige sein, die das Feuer neu entfachen musste. Das war seine Aufgabe, nach dem, was er sich ihr gegenüber geleistet hatte.

Sie griff sich ans Herz und antwortete schroffer, als sie eigentlich wollte: »Was weißt du schon über unseren Ofen und über kalte Glut? Du hast es doch nie lange bei einem Mann ausgehalten. Ich bin vielleicht ’ne konservative, dumme Pute. Aber Treue ist mir heilig.« Als sie merkte, dass sie die Zapfi damit verletzt hatte, setzte sie eilig nach: »Dein Angebot ist wirklich lieb, Zapfi. Aber ich bin kein Typ für ’ne Frauen-WG. Frag doch mal Änne, die scheint der Liebe ebenfalls abgeschworen zu haben. Vielleicht will die zu dir ziehen, wenn sie endlich in Pension geht.«

Änne war Lehrerin an der Grundschule des Nachbarortes. Erst vor drei Jahren hatte sie die verbotene Beziehung zu einem katholischen Priester und Leiter des örtlichen Kirchenchores beendet. Lange hatte sie gehofft, dass irgendwann das Zölibat aufgehoben oder Karl, ihre heimliche Liebe, sich endlich zu ihr bekennen würde. Vor drei Jahren aber hatte sie sich mit Idas Unterstützung endlich dazu durchgerungen, die nervenzerreibende und entwürdigende Geschichte zu beenden. Seither schmachteten sie und Karl sich aus der Ferne an, und gefühlsmäßig, da war sich Ida sicher, war auch diese Verbindung noch nicht beendet.

Zapfi wischte sich die klebrigen Finger an ihrem Nachthemd ab und stand auf. »Ich bin zwar nicht so dicke mit Änne wie du, aber dass die niemals endgültig vom Schoß der katholischen Kirche runterhüpft, merke ich auch so. Ich habe dir das auch nicht angeboten, weil ich mich einsam fühle. Ich habe meine Viecher, und wenn mich nicht alles täuscht, erwartet Marylin recht bald Nachwuchs, und dann habe ich wieder alle Hände voll damit zu tun, um für die Welpen eine nette Familie zu finden.«

Marylin war Zapfis bildhübsche Border-Collie-Hündin. Irgendwie brachte Zapfi es nicht fertig, sie sterilisieren zu lassen, und weil Marylin genauso wild und freiheitsliebend war wie ihre Besitzerin, tat sie sich immer wieder heimlich mit den Rüden der Nachbarschaft zusammen. Die Welpen, die dabei entstanden, waren nicht immer sehr schön, aber auf jeden Fall immer interessant.

»Lass sie halt sterilisieren!«, rief Ida der Zapfi hinterher, die gerade im Begriff war, aus der Tür zu verschwinden.

Im Rausgehen drehte sie sich noch einmal um. »Wenigstens eine in unserem Kreis darf sich doch wohl ab und zu einen stattlichen Rüden gönnen, der ihren Scheunenbrand löscht, oder nicht? Ich muss jetzt los, Ida, Hausbesuche. Denk mal über mein Angebot nach.«

Damit klappte die Küchentür zu und kurz darauf auch die Hintertür.

Ida saß noch eine Weile unentschlossen auf ihrem Stuhl. Alle haben was Wichtiges zu tun, schoss ihr durch den Kopf. Nur ich schaffe mich irgendwie gerade selbst ab. Die Zapfi hat recht. Mein Ofen ist aus.

Sie stand ächzend auf und beschloss, das bisschen Tagewerk, das sie erwartete, direkt anzugehen. Sie musste den Anrufbeantworter abhören und, falls die einzigen Gäste für die nächsten Wochen ihre Buchung wirklich storniert hatten, bei Wolfgang die Brötchenbestellung anpassen.

Irgendwas muss passieren, und ich habe keine Idee, was. Ich wünschte, das Schicksal würde mir einen kleinen Hinweis ins Haus schneien lassen.

Wie sagt man so schön? Achte auf deine Wünsche, sie könnten in Erfüllung gehen. Dass diese alte Weisheit sich in Idas Fall so schnell bewahrheiten sollte, hätte sie allerdings nicht für möglich gehalten.

2

Bunte Vögel

Ida drehte das Wasser ab und gab reichlich Duschgel in ihre Hand, eines mit dem vielversprechenden Namen Ocean Breeze. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie eine Ozeanbrise in Wirklichkeit roch, denn sie war noch nie am Meer gewesen, weder an einem Ozean noch am Atlantik, noch nicht einmal an Nord- oder Ostsee. Ihr heimliches Fernweh stillte sie mit albernen Duschgels wie diesem oder Deodorants mit ebenso vielversprechenden Namen.

Sie rümpfte die Nase. Wahrscheinlich roch es am Ozean nicht einmal annähernd, wie es dieses Duschgel vorgab. Schließlich hatte sie auch noch nie einen grünen Apfel gefunden, der so roch wie das gleichnamige Shampoo, das sie in jungen Jahren bevorzugt hatte.

Vielleicht sollte ich diesen alten Kasten wirklich verkaufen und mich damit endlich von dieser elendigen Fußfessel befreien, sinnierte Ida. Wenn Tünn sie dann tatsächlich nicht mehr wollte, würde sie schon irgendeine Lösung finden, die sie wenigstens vor der größten Altersarmut bewahrte.

Mit entschlossenen Bewegungen seifte Ida sich ein und genoss den frischen Geruch des Duschgels und die damit verbundene Träumerei, irgendwann wirklich am Strand eines Meeres zu stehen und die frische Meeresbrise echt und unverfälscht auf ihrer Haut und in ihren Haaren zu spüren. Natürlich würde sie sich zuerst einer Hüft-OP unterziehen müssen. So sehr, wie sie inzwischen humpelte, würde sonst jede Reise zu einer Tortur. Doch auch eine Operation mit anschließender Reha kam für sie nicht infrage, solange sie an dieses Hotel gefesselt war. An diesem Punkt drehten sich ihre Gedanken im Kreis. Konnte sie es in ihrem Alter wirklich wagen, einfach alles hinter sich zu lassen?

Sie spülte sich den Schaum vom Körper und stieg aus der Dusche. Das Glas im Spiegel war beschlagen, und das war ihr ganz recht. Sie war weder scharf darauf, den vergangenen Charme des Siebzigerjahre-Bads mit den lächerlichen rosa Kacheln und den stumpf gewordenen Armaturen zu sehen, noch wollte sie dem zunehmenden Verfall ihres sechzigjährigen Körpers genau ins Auge blicken. Ida war nie gertenschlank gewesen. Sie war nicht besonders groß, und schon als junge Frau hatte sie unter ihrem ausladenden Hintern gelitten. Inzwischen waren etliche Pfunde hinzugekommen, und die Haut war trotzdem welk und faltig. Dabei zog Zapfi sie immer auf und sagte: »Sei bloß froh, dass du ein bisschen mehr auf den Rippen hast. Da kann deine Haut nicht so zusammenschrumpeln wie bei einem trockenen Apfel. Leider ist an dem Spruch, dass wir Frauen im Alter entweder magere Ziege oder üppige Kuh werden, tatsächlich etwas dran. Ich wäre lieber die Kuh, so wie du!«

Ida schnaubte. Die Zapfi hatte gut reden. Die war ihr Leben lang dünn und zäh gewesen und auch jetzt noch sportlich und agil. Mindestens zweimal in der Woche ging sie im straffen Tempo gemeinsam mit Göni walken. Ida machte sich darüber immer lustig. »Ihr tragt eure übertrieben bunten Ganzkörperpräservative doch nur, damit man euch von den verdorrten Fichten im Berg unterscheiden kann!«, lästerte sie.

In Wahrheit beneidete sie die beiden. Sie wäre auch gern sportlich gewesen, und vielleicht hätte sie sich den beiden sogar angeschlossen, hätte ihre blöde Hüfte ihr keinen Strich durch die Rechnung gemacht. Früher war sie wenigstens einmal in der Woche nachmittags zum Frauenturnen in den Gemeindesaal gegangen, aber auch das war ihr inzwischen zu schmerzhaft.

Heute ist wohl Selbstmitleidstag, dachte Ida und rubbelte ihren Körper kräftig mit dem rauen Frotteehandtuch ab. Für die Hotelgäste hielt sie die Handtücher natürlich mit Weichspüler weich und flauschig, für sich selbst aber bevorzugte sie den Massageeffekt eines harten Handtuchs.

Nachdem sie sich abgetrocknet und eingecremt hatte, öffnete sie das schmale Fenster im Bad, hoffend, dass Casanova nicht wieder die Chance nutzen würde, um sie mit Liebesopfern zu behelligen.

Sie blickte in die tropfnassen Zweige des alten Birnbaums, der schon seit ihrer Kindheit vor dem Badezimmerfenster stand. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war nach wie vor grau und verhangen.

Ida beschloss, den trüben Tag zu nutzen, um im Gästetrakt Zimmer für Zimmer gründlich zu putzen. Auch wenn keine Gäste zu erwarten waren, musste dort regelmäßig sauber gemacht und gelüftet werden. Früher hatte sie dafür Personal gehabt, aber das lohnte sich inzwischen nur noch, wenn das Haus gut ausgelastet war. Ohnehin machte ihr das Putzen nicht viel aus. Für gewöhnlich machte sich dabei laute Musik an und ging systematisch, Zimmer für Zimmer vor. Erst das Bad, dann der Schlafraum. Alle vier Wochen putzte sie die Fenster. Dabei half ihr Meike, eine Siebzehnjährige aus dem Dorf, die sich Cent für Cent zusammensparte, um den Führerschein machen zu können. Meike war witzig und unkompliziert und half ihr auch bei Problemen mit dem Internet und dem Computer.

»Halloooooo! Kann vielleicht mal jemand kommen? Was ist das hier, ’ne Dorfdisco oder ein Hotel?« Eine Frauenstimme brüllte laut und wütend durch den Flur und riss Ida aus ihrer Arbeit.

Sie erschrak. Sie hatte gerade in Zimmer neun Staub gewischt und aus voller Kehle den ABBA-Song mitgesungen, den sie dabei hörte. Young and sweet, only seventeen … oh yeah. You can dance, you can jive …

Sollten sich doch spontan Gäste eingestellt haben, und sie hatte sich jetzt mit dieser albernen Gesangseinlage komplett lächerlich gemacht? »Komme sofort!«, rief sie.

Eilig überprüfte sie ihr Aussehen im Ganzkörperspiegel des Hotelzimmers. Obwohl sie erst vor Kurzem geduscht hatte, war sie schon wieder erhitzt und leicht derangiert. Sie versuchte, sich mit den Fingern ihre Dauerwelle ein wenig zurechtzuzupfen, wischte sich an ihrem einfachen weiten Sommerkleid die Hände ab und bemühte sich, so würdig wie möglich zur Rezeption zu schreiten. Ihre Hüfte schritt nicht ganz so würdig mit.

Im Vorraum des Hotels, der gleichzeitig als Rezeption diente, prallte sie zurück. Vor ihr stand ein komplett durchweichtes Etwas mit Anorak, zerrissenen Jeans und klobigen Boots an den Füßen. Die Schultern des hellblauen Anoraks waren dunkelblau vor Nässe, ebenso die große Kapuze. Der riesige Rucksack, den dieses Etwas zu seinen Füßen stehen hatte, war ebenfalls klatschnass.

Ida bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Eigentlich waren sie nicht auf Rucksacktouristen ausgerichtet, aber das Hohelied eines jeden Hoteliers war es, nie eine Reaktion auf das Erscheinungsbild eines Gastes zu zeigen. Als das regendurchweichte Etwas die Kapuze des Anoraks herunternahm, rutsche Ida dennoch ein ganz und gar unprofessionelles »Oh!« heraus.

Dieses Etwas hatte einen völlig bunten Kopf. Anders konnte man es kaum ausdrücken: Der Pony war meerwassergrün. Oder verblichen blau. Die restliche Frisur bestand aus dicken Dreadlocks in Regenbogenfarben, und in die einzelnen Dreads waren bunt gemusterte Perlen und ein Tuch eingearbeitet. Ida sah genauer hin. Dieses Etwas schien eine junge Frau zu sein, der unruhigen Haut nach zu urteilen, noch nicht ganz aus der Pubertät heraus. Die Pickel und Mitesser waren ungeschickt mit einer dicken Schicht Puder überdeckt, ein Nasenflügel war von einem Piercing verunstaltet, das aussah, als habe die junge Frau einen Popel an der Nase hängen.

Offenbar hatte Ida ihre Gesichtszüge nicht ganz unter Kontrolle gehabt, denn die junge Frau blaffte aggressiv: »Was? Fertig geglotzt?«

»Entschuldigung.« Ida pfiff sich sofort zurück. »Ich bin nur überrascht, weil ich nicht mit neuen Gästen gerechnet habe. Tut mir leid. Haben Sie gebucht, oder brauchen Sie spontan ein Zimmer?«

»Äh, hallo? Meine Oma hat mich angekündigt? Ich bin’s, Lilli?«

Diese Eigenart, Empörung auszudrücken, indem an jeden Satz ein gesprochenes Fragezeichen gesetzt wurde, kannte Ida von Meike. Sie blieb freundlich und antwortete: »Freut mich, Lilli. Herzlich willkommen im Hotel zur Traube! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise.«

»Sieht das nach einer angenehmen Anreise aus?« Lilli deutete auf ihre durchnässten Schultern. »Hätte ich gewusst, wie beschissen die öffentlichen Verkehrsmittel hier in diesem Pisskaff sind, hätte ich meinen Pa bequatscht, mich mit dem Auto zu bringen. Hab ich aber gelassen. Wegen der Ökobilanz. Aber dass das hier so übel ist …« Sie ließ den Rest des Satzes im Raum stehen.

Ida spürte, dass es mit diesem Gast nicht leicht werden würde. Etwas weniger gelassen als vorhin sagte sie deshalb: »Wenn Sie sich angekündigt hätten, hätten wir Sie natürlich auch vom nächsten Bahnhof abgeholt. Nun, jetzt sind Sie ja hier, und ich nehme an, Sie brauchen ein Zimmer, oder?«

»Im Kuhstall wollte ich nicht pennen.«

Ida überging den unhöflichen Einwurf und fragte weiter: »Für wie lange benötigen Sie das Zimmer?«

»Ja, keine Ahnung.« Die buntköpfige Lilli machte eine Geste der Ratlosigkeit. »Ich bin hierhin ja quasi strafversetzt. Je nachdem, wie lange meine Oldies das durchhalten. Zwei, drei Monate?«

In Idas Kopf ratterte es. Strafversetzt! Hatte dieser pubertäre Buntkopfsittich sich vielleicht vertan und suchte eigentlich nach einer Einrichtung für sozial abgehängte Jugendliche? Allerdings kannte sie keine derartige Einrichtung in der Nähe. Sie lächelte weiter tapfer freundlich vor sich hin und sagte: »Für mehr als ein paar Tage ist ein Hotel ja eigentlich eher ungewöhnlich. Es sei denn, man heißt Udo Lindenberg und lebt im Hotel Atlantik.«

Der Buntkopfsittich wirkte zunächst verdattert, fing sich aber schnell wieder: »Haha, du bist ja fast witzig! Hotel Atlantik und Udo Lindenberg. Du meinst diesen Luxusschuppen in Hamburg, oder? Da ist dieser Laden hier aber Lichtjahre von entfernt. Der ist ja schon leicht weird, und wenn mich nicht alles täuscht, hörst du auch eher ABBA als Udo. Nach Hamburg hätten meine Oldies mich außerdem mit Sicherheit nicht geschickt. Dass ich hier bin, ist eine Strafe, kapierst du?«

Ida musste recht pikiert geschaut haben, denn Lilli fuhr fort: »Sorry, war nicht böse gemeint. Dir bedeutet die Bude hier ja wahrscheinlich was, sonst hättest du dich kaum dein Leben lang hier in der Pampa vergraben. Jedenfalls meint Oma das. Von der stammt übrigens auch die beknackte Idee, mich hier hinzuschicken.«

Nun war Ida völlig verwirrt. Wieso glaubte die Oma dieser patzigen Göre, irgendetwas über ihr Leben zu wissen? Und jagte ihre Enkelin hierher, um sie für irgendetwas zu bestrafen.

»Ich nehme also an, Lilli, Ihre Oma will Ihnen das Zimmer bei uns für unabsehbare Zeit spendieren?«

Jetzt war es an dem Buntkopfsittich, verwirrt zu gucken. »Spendieren? Sag mal, hast du ’n Knall? Oma ist natürlich davon ausgegangen, dass ich umsonst bei dir wohne! Ich soll mich hier nützlich machen und dir zur Hand gehen, damit ich mir über meine Zukunft klar werde. Ich dachte eher, dass du mich für meine Hilfe ein bisschen bezahlst. Aber ich merke schon, dass das eher eine bekloppte Idee von Oma war.«

»Oma?« Noch wollte sich Ida ihre komplette Verwirrung nicht anmerken lassen, aber sie ahnte bereits, dass diese Lilli-Geschichte für sie in eine ganz ungünstige Richtung lief. Da wollte ihr jemand offensichtlich seine missglückte Enkelin als Aushilfe aufs Auge drücken. Und das alles, ohne sie vorher in diesen abstrusen Plan einzuweihen. »Wie kommt Ihre Oma denn ausgerechnet auf mein Hotel?«, fragte sie. »War sie vielleicht früher hier zu Gast und hat sich erinnert –«

»Sag mal, kann es sein, dass du Omas Brief gar nicht bekommen hast?«, unterbrach Lilli sie empört. »Kommt hier in der Pampa noch nicht mal die Post an? Wird hier noch getrommelt, oder was?« Sie deutete auf ihr Smartphone. »Netz habe ich auch so gut wie keins. Das ist echt das Allerletzte!«

In Ida reifte ein dezent schlechtes Gewissen heran. Sie hatte tatsächlich in den letzten Tagen keine Post geöffnet, denn die enthielt sowieso nur Rechnungen. Und Rechnungen zwangen sie, langsam eine Entscheidung über die Zukunft des Hotels zu fällen. Was auch immer diese Oma ihr also in einem Brief angetragen hatte, sie hatte es nicht gelesen und darum auch nicht reagiert, geschweige denn eine ablehnende Antwort geschrieben.

»Komm erst mal mit in die Küche«, sagte sie und merkte im selben Moment, dass sie versehentlich zum Du übergegangen war. »Vielleicht möchtest du einen Kakao und ein paar Kekse, und dann reden wir in Ruhe.«

Während sie zur Küche vorausging, nahm Lilli ächzend ihren schweren Rucksack auf und blaffte in Idas Rücken: »Kakao! Ich bin doch kein dummes Kind, das mit Kakao getröstet werden kann. Hast du auch ’ne Latte oder ’nen Cappuccino? Ich bin echt am Ende nach der Fahrt.«

Ida verkniff sich eine Antwort. Stattdessen warf sie Casanova einen bösen Blick zu, der mitten auf dem Küchentisch thronte und genüsslich Reste von Pflaumenmus von ihrem Messer leckte. Ida hatte ihr Gedeck stehen lassen, weil sie für gewöhnlich am späten Vormittag noch ein zweites Mal frühstückte.

Gerade als sie Casanova mit einer ärgerlichen Geste vertreiben wollte, quietschte Lilli los: »Du hast ’ne Katze! Wie megasüß ist die denn?«

Während sie zu Casanova trat, um ihn zu kraulen, stellte Ida richtig: »Das ist keine Sie. Dieses Miststück ist ein Er, und der gehört nicht mir, sondern meiner Nachbarin Zapfi. Wenn du den streichelst, werde ich den nie wieder los. Das ist kein echter Kater, sondern ein Hausbesetzer, und den will nicht hierhaben.« Auch wenn ihre Stimme ruppig und wütend klang, brachte Ida es nicht übers Herz, Casanova zu vertreiben. Denn das Pubertätsvögelchen sah auf einmal gar nicht mehr wild und trotzig aus, sondern kindlich und dadurch irgendwie rührend. Casanova war bereits mit einem Satz auf Lillis Schoß gehüpft und schnurrte wieder so laut wie ein Außenbordmotor.

Ida deutete auf die Kaffeekanne, die auf der Warmhalteplatte stand. »Wenn du wirklich Kaffee willst, musst du mit Filterkaffee vorliebnehmen. Cappuccino und Co. gibt es nur drüben im Schankraum, und bis ich die Maschine da angeschmissen habe, ist deine Strafversetzung halb rum. Nimm dir ruhig, Tassen sind im Küchenschrank.«

Sie wollte schon in den Gästetrakt verschwinden, um dort endlich die ABBA-CD auszuschalten, besann sich aber: »Nein, eine Tasse gebe ich dir besser. Die Schranktür klemmt. Das muss man mit Gefühl …« Vorsichtig öffnete sie den Büfettschrank, nahm eine große Tasse heraus, schenkte Kaffee ein und schob ihn auf dem Tisch in Lillis Richtung. Dann nahm sie eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank und stellte sie an den Rand des Tisches. »Hier ist Milch, wenn du welche brauchst. Aber pass auf. Casanova ist ein Dieb. Der haut die Tüte um und schleckt dann die Pfütze vom Boden. Also hab ihn gut im Auge, ich bin gleich zurück. Ich stelle nur kurz die Musik aus.«

In Zimmer neun drückte Ida auf ihrem portablen CD-Spieler die Stopptaste und ließ sich auf das Bett sinken. Sie hatte die CD mitten in Waterloo abgewürgt, und der Song passte gerade perfekt zu ihrer Stimmung. Irgendwie wurde sie den vagen Verdacht nicht los, dass das Auftauchen dieses schrägen Paradiesvögelchens eventuell doch etwas mit ihr und ihrem Leben zu tun hatte, und das überforderte sie.

Ida selbst hatte keine Kinder. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht, oh ja, und nur Zapfi und Tünn wussten, wie sehr. Fünf Fehlgeburten hatte sie in Kauf genommen, weil sie sich ein Leben ohne eigene Kinder nicht vorstellen wollte. Und obgleich Tünn stets versucht hatte, sich nichts anmerken zu lassen, hatte sie trotzdem gemerkt, wie enttäuscht auch er von ihrer Kinderlosigkeit war. Nach der fünften Fehlgeburt hatte ihr Frauenarzt ihr geraten, die Gebärmutter entfernen zu lassen. Sie litt unter schwerer Endometriose, und selbst Zapfi, die eigentlich immer gegen Totaloperationen wetterte, hatte ihr zu diesem Schritt geraten. Der Reaktorunfall in Tschernobyl hatte ihr die Entscheidung schließlich erleichtert. Die Angst davor, in der Folge ein schwerstgehandicaptes Kind zur Welt zu bringen, hatte auch bei gesunden Frauen zu Zurückhaltung bezüglich weiterer Schwangerschaften geführt.

Nach der Hysterektomie war es ihr lange Zeit schlecht gegangen, so schlecht, dass sie die Erinnerung daran am liebsten ganz weit weggeschoben hätte. Gerettet hatte sie letztlich Zapfis Bitte, sie bei der Erziehung ihres Sohnes Frederick zu unterstützen. Ihre Freundin war alleinerziehend und musste, als Freddie in die Schule kam, wieder ganztags arbeiten. Da Hebammen Wechselschichten leisten mussten und Zapfis Mutter mit der Pflege ihres Mannes ausgelastet war, war Ida eingesprungen und hatte den Jungen gemeinschaftlich mit Zapfi großgezogen. Das wiederum war, im Nachhinein betrachtet, wahrscheinlich für sie die beste Therapie gewesen.

Zapfis geliebter Kronprinz war in der Pubertät extrem schwierig geworden, und wenn Ida an das trotzige Mädchen in ihrer Küche dachte, erinnerte dessen verletzt-abweisender Blick sie sehr daran, wie Freddie in dem Alter gewesen war. Warum die Paradiesvogel-Oma ihr auch immer ihre Enkelin geschickt hatte – Ida wusste, dass sie nicht noch einmal für einen Pubertisten oder, in Lillis Fall, eine Pubertistin verantwortlich sein wollte. Seufzend stand sie auf und beschloss, diese Lilli nach einem üppigen zweiten Frühstück zum nächsten Bahnhof zu fahren und das Problem damit schnell wieder loszuwerden.

Als sie die Küche erneut betrat, bot sich ihr allerdings ein Bild, das ihr sofort ans Herz ging. Die kratzbürstige Lilli hatte sich auf der Küchenbank ausgestreckt und ließ zu, dass Casanova sie sanft tretelte. Dabei quietschte sie immer wieder auf, teils weil die spitzen Krallen des eifrigen Katers durchaus schmerzhaft sein konnten, teils weil sie offensichtlich von Casanovas Kunststückchen begeistert war. Dabei sah sie überhaupt nicht mehr bockig und aggressiv aus, sondern jung und liebenswert naiv.

»Pass auf, sonst hast du gleich die ganze Brust zerkratzt«, warnte Ida darum. »Katzenkrallen können zur echten Waffe werden.«

»Aber das ist so süß!« Lilli kicherte. »Warum macht er das? Ist das ein Zeichen, dass er mich mag?«

»Was Casanova da auf dir macht, nennt man Katzen- oder Milchtritt«, erklärte Ida. »Das ist tatsächlich ein Liebesbeweis. So bearbeiten ganz kleine Kätzchen den Bauch ihrer Mutter, um den Milchfluss zu verbessern. Bei Casanova kann man sich darauf allerdings nicht allzu viel einbilden. Der schmeißt sich jedem menschlichen Wesen an den Hals, das ihn nicht abwehrt. Dabei ist es nicht so, dass er von seiner Besitzerin, meiner Freundin Zapfi, nicht ausreichend betüddelt würde. Casanova glaubt wahrscheinlich, er müsse seinem Namen gerecht werden und sich in Liebesangelegenheiten unersättlich zeigen.«

Lilli setzte sich vorsichtig wieder auf, und der Kater ließ sich auf ihrem Schoß nieder und schaute höchst aufmerksam zur Milchtüte. Vorsichtshalber nahm Ida sie vom Tisch und deutete auf die noch immer unberührte Kaffeetasse. »Was ist jetzt, nimmst du Milch im Kaffee? Sonst bringe ich die Milchtüte in Sicherheit.«

Lilli schob ihre Kaffeetasse von sich. »Ich mag eh keinen Filterkaffe. Ich trinke nur Latte oder Cappu, aber danke. Kannst du nicht stattdessen Casanova ein bisschen Milch geben? Bitte!« Sie sah Ida so herzerweichend an, dass die fast weich geworden wäre.

Dennoch schüttelte Ida den Kopf. »Kuhmilch ist für Katzen nicht gesund, Lilli. Außerdem würde mir Zapfi schön den Kopf waschen, wenn ich ihren Kater durchfüttere und er dann zu faul für die Mäusejagd wird. Das ist nämlich sein eigentlicher Job, und da kennt meine Freundin keinen Spaß.«

Kaum hatte Ida das gesagt, öffnete sich die Küchentür, und Zapfi stand, noch immer mit ihrem monströsen Regenmantel bekleidet, mit einer Schüssel Eier im Türrahmen. Den Schlafanzug hatte sie inzwischen gegen Jeans und T-Shirt getauscht, und auch den hässlichen Regenhut hatte sie zu Hause gelassen. »Wobei verstehe ich keinen Spaß?«, fragte sie prompt.

»Darf ich vorstellen? Casanovas reguläre Besitzerin.« Ida zeigte zur Tür. »Die ist genauso dreist wie ihr Kater. Türen und Häuser von anderen Menschen sind für sie nur eine Einladung, ohne zu klopfen einzudringen.« An Zapfi gewandt fuhr sie fort: »Warum bist du denn schon zurück? Wolltest du heute nicht Hausbesuche machen?«

Zapfi kam nun ganz herein und stellte die Schüssel auf den Küchentisch. »Eine meiner Wöchnerinnen hat mir abgesagt. Sie musste heute Nacht mit Fieber ins Krankenhaus. Ich wollte die Pause nutzen, um bei meiner besten Freundin einzubrechen und mich mit einer Schüssel Eier beliebt zu machen. Meine Mädels legen zurzeit wie verrückt. Vielleicht möchtest du mich dafür ja mit deinem legendären Omelett glücklich machen. Aber wie ich sehe, hast du Besuch?« Sie hob fragend die Augenbrauen und sah in Lillis Richtung.

Die beugte sich eifrig vor und fragte: »Omelette? Kann ich das vielleicht auch bekommen? Ich sterbe vor Hunger, und Kaffee auf nüchternen Magen ist echt eklig.«

Ida unterdrückte ein Seufzen. »Lilli, ich will nicht unfreundlich sein, und wenn du Hunger hast, sollst du selbstverständlich auch was zu essen bekommen. Aber vorher sollten wir vielleicht klären, was deine Oma eigentlich von mir erwartet.« An Zapfis interessiertem Blick erkannte sie, dass auch sie gern gewusst hätte, wer dieses bunte Paradiesvögelchen in Idas Küche war.

Lilli zog ihr Smartphone aus der Tasche und murmelte: »Ein Balken. Zum Telefonieren reicht’s vielleicht.« Dann wählte sie eine Nummer und lauschte gebannt dem Freizeichen. Casanova hatte ihren Schoß inzwischen verlassen und war zu Zapfi gewechselt, auf deren Beinen er sich einrollte, sobald die sich auf einem Küchenstuhl niedergelassen hatte.

»Oma?« Lilli pustete sich eifrig den Pony aus dem Gesicht. »Oma, ich bin jetzt in diesem Kuhkaff angekommen. Hier weiß aber offensichtlich niemand … Was? Keine Ahnung … Sie sagt … nein. Warte, ich geb sie dir einfach mal.« Damit drückte sie Ida das Smartphone in die Hand.

So vorsichtig, als handle es sich um eine Handgranate, nahm Ida das Telefon ans Ohr und fragte: »Ja?«

Die Verbindung war nicht besonders gut. Eine ihr fremde Frauenstimme fragte: »Ida?«

Ida merkte, dass sie in ihrer Verwirrung nach einem Stuhl tastete und sich langsam daraufsetzte. Vorsichtig antwortete sie: »Ja, Ida Tündermann. Mit wem spreche ich denn bitte?«

»Ida, hast du meinen Brief denn nicht bekommen?« Die Stimme im Smartphone wirkte leicht ungehalten. »Ich habe dir extra geschrieben. Ich bin’s doch, Franziska, deine Schwester. Ich habe dir geschrieben, dass ich dir meine Enkelin für ein paar Wochen schicke. Als du nicht geantwortet hast, dachte ich, das wäre ein Zeichen …«

Ida war unfähig, dem Wortschwall weiter zu folgen. Franziska. Ihre Schwester. Mit der sie seit mehr als vierzig Jahren nur sehr sporadisch und in den letzten Jahren gar keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Die sich, genau genommen, von ihr abgewandt hatte, ohne dass Ida je wirklich verstanden hatte, warum. Und jetzt nahm diese Schwester offensichtlich über ihre Enkelin den Faden wieder auf, den sie schon vor Jahren …

»Franziska, halt mal an, ich verstehe dich kaum«, unterbrach Ida ihre Gedanken und den Redeschwall ihrer Schwester. Das war nur halb gelogen, die Verbindung war wirklich schlecht. Doch vor allem brauchte sie eine Pause, um die Überraschung sacken zu lassen. »Ziska, ich rufe dich heute Abend vom Festnetz aus an. Dann besprechen wir alles«, sagte sie. »Natürlich kann Lilli erst mal hierbleiben. Wozu das gut sein soll … Gut, alles weitere heute Abend.«

Ida reichte das Telefon an Lilli zurück. Außer dem lauten Schnurren von Casanova war es mucksmäuschenstill.

Ida seufzte. »Also gut, Omelette.«

3

Schlechte Verbindung

Ida starrte irritiert auf das Festnetztelefon in ihrer Hand. Das Telefonat mit Franziska hatte sie nur noch mehr verwirrt, als dass es Klarheit gebracht hätte. Ich dachte, du bist mir noch was schuldig. Du wirst wissen, was ich meine … Was, zum Teufel, wollte ihre Schwester ihr damit sagen? Was sollte sie ihr schuldig sein, wo sie doch seit ewigen Zeiten so gut wie keinen Kontakt hatten?

Franziska hatte sich nach Idas und Tünns Hochzeit vor einundvierzig Jahren mehr oder weniger komplett zurückgezogen. Dabei hatten sie davor durchaus eine herzliche Verbindung zueinander gehabt. Ida hatte ihre ältere Schwester immer bewundert. Mit ihren blonden Locken und den langen Beinen war sie schon optisch das absolute Gegenteil von ihr gewesen. Auch fiel Franziska, von allen nur Ziska genannt, im Gegensatz zu Ida das Lernen leicht. Mit links hatte sie das Abitur bestanden, und mit links hatte sie ihr Psychologiestudium in Münster absolviert. Sie war politisch engagiert und hatte trotz des Altersunterschieds von fünf Jahren immer versucht, ihre kleine Schwester in alles einzubeziehen. Auch Tünn hatte Ida auf einer von Ziskas WG-Feten kennengelernt. Dass sie so schnell danach heiraten mussten, war dem Umstand geschuldet, dass Ida insgesamt eher konservativ und vor allen Dingen religiös war und auf keinen Fall ein uneheliches Kind bekommen wollte.

Kaum zwei Wochen nach der Hochzeitsfeier hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Vielleicht hätten sie und Tünn ja doch nicht so überstürzt heiraten sollen; vielleicht waren die Hochzeitsvorbereitungen und das Fest der frühen Schwangerschaft nicht zuträglich gewesen. Noch während Ida sich mit Selbstvorwürfen quälte, zog sich Ziska mehr und mehr von ihr zurück. Schon zur Hochzeit war sie nicht erschienen. Kleinbürgerliche Feste seien nicht ihr Ding, hatte sie behauptet. Ob ihre Schwester sie damals für ihre konservative Haltung verachtet hatte? Jedenfalls hatte Ziska sich seither aus Idas Leben ferngehalten. Anfangs hatte sie noch mit Ausreden auf Idas immer wieder geäußerte Einladungen reagiert. Erst hatte sie angeblich keine Zeit, weil sie eine Reise nach Brasilien vorbereiten musste, wo sie zusammen mit einer Jugendorganisation Straßenkindern eine neue Perspektive verschaffen wollte. Dann hatte sie tatsächlich zwei Monate in Brasilien verbracht, sich dann aber auch danach nicht mehr bei Ida gemeldet.