14,99 €
Eine #krasseOma geht viral - ein heiterer Roman über weibliche Wut, Engagement, späte Liebe und die befreiende Kraft des Tanzens
Ausgerechnet die missgelaunte Agnes wird von einer munteren Junggesellinnengruppe um gute Wünsche für die Braut gebeten. Ohne Vorwarnung gerät Agnes‘ Statement zu einer flammenden Rede gegen das Heiraten, und unter dem Hashtag #krasseOma geht der Clip viral. Agnes‘ längst erwachsene Tochter kann es nicht fassen, dass sich ihre Mutter in aller Öffentlichkeit so danebenbenimmt. Hört das denn nie auf? Ihr Salsa-Partner Achim, quasi ein Erbe ihrer unlängst verstorbenen Freundin Inge, hingegen ist vor allem irritiert über Agnes‘ negatives Männerbild. Doch ist gerade er der Richtige, um Agnes‘ Sicht auf das Leben und die Liebe zu ändern?
Ein neuer Roman der beliebten Kabarettistin Lioba Albus
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 464
Veröffentlichungsjahr: 2024
Ausgerechnet die missgelaunte Agnes wird von einer munteren Junggesellinnengruppe um gute Wünsche für die Braut gebeten. Ohne Vorwarnung gerät Agnes’ Statement zu einer flammenden Rede gegen das Heiraten, und unter dem Hashtag #krasseOma geht der Clip viral. Agnes’ längst erwachsene Tochter kann es nicht fassen, dass sich ihre Mutter in aller Öffentlichkeit so danebenbenimmt. Hört das denn nie auf? Ihr Salsa-Partner Achim, quasi ein Erbe ihrer unlängst verstorbenen Freundin Inge, hingegen ist vor allem irritiert über Agnes’ negatives Männerbild. Doch ist gerade er der Richtige, um Agnes’ Sicht auf das Leben und die Liebe zu ändern?
Lioba Albus wurde 1958 in Attendorn im Sauerland geboren, lebt in Dortmund und ist Mutter von drei erwachsenen Töchtern. Als gelernte Schauspielerin zog es sie vor dreißig Jahren auf Deutschlands Kabarettbühnen. Außerdem ist sie häufig zu Gast in diversen Radio- und Fernsehshows wie z.B. der Ladies Night (ARD). Freunde, die es gut mit ihr meinen, finden, sie spricht ein bisschen zu viel. Darum schreibt sie jetzt. Wer will, kann das lesen. Hoffentlich wollen viele – sonst fängt sie wieder an zu sprechen.
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und
Data-Mining bleiben vorbehalten.
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock.com: jongcreative |
MatisseStudio | NadzeyaShanchuk
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-6110-9
luebbe.de
lesejury.de
Tanzen ist träumen mit den Beinen.
Fred Astaire
Dieses Buch widme ich meinem Tanzlehrer Mostafa, der mir mit Engelsgeduld das Salsa-Tanzen beigebracht hat. Mit seiner Begeisterung für diesen fröhlichen Tanz hat er mich und all seine anderen Schüler:innen angesteckt. Salsa ist ein wunderbarer Beweis, wie bereichernd kulturelle Vielfalt ist. Wie bei einer guten Salsa (Sauce) machen die vielen Zutaten die besondere Würze.
An einem vorfrühlingshaften Tag im Februar mäanderte ein Maulwurf lächelnd und halb blind durch die Fußgängerzone der Dortmunder Innenstadt. Da Valentinstag war, waren die Läden mit Herzchen in unterschiedlicher Form und Üppigkeit dekoriert. Die süßliche Werbung, die den Passanten ungefragt an allen Ecken in den Blick geschoben wurde, brüllte jedem, der sich zu nah an sie heranwagte, einen unüberhörbaren Befehl entgegen: Liebe! Lass dich lieben! Zeige deine Liebe, und gib vor allem jede Menge Geld dafür aus!
Der Maulwurf hieß Agnes Michels, war einundsechzig Jahre alt und kam gerade vom Augenarzt, der ihr Tropfen in die Augen gegeben hatte, die ihre Pupillen für die Untersuchung weiteten, dafür aber die Sehkraft deutlich reduzierten. Allein darum blieb Agnes der Anblick der penetranten Herzchen-Werbung nun erspart. Ebenso ein genauerer Blick in die ungelüfteten Gesichter um sie herum, die sich wintermüde der Sonne entgegenreckten wie neugierige Krokusse. Andernfalls hätte sie gesehen, dass die Sonne den Menschen dermaßen gnadenlos ins Gesicht scheinwerferte, dass selbst attraktivere Exemplare aussahen wie die seltsamen Albinokrebse in der berühmten Manrique-Höhle auf Lanzarote.
»Mist!«, stieß Agnes unwillig aus, als sie eine Sitzbank touchierte. In der Augenarztpraxis hatte man ihr vorab eingeschärft, sich zu diesem Termin unbedingt begleiten zu lassen. Doch es war ihr peinlich gewesen zuzugeben, dass es in ihrem Leben niemanden gab, den sie darum hätte bitten können, und so hatte sie beim Verlassen der Praxis ihr Handy herausgeholt und ein Telefonat vorgetäuscht. Unter dem strengen Blick der Arzthelferinnen hatte sie dem nicht vorhandenen Gesprächspartner beschrieben, wo sie abgeholt werden wollte. Erst danach wirkte die Rezeptionistin ausreichend beruhigt, um ihr freundlich noch einen guten Tag zu wünschen.
Nun also musste Agnes das Beste aus der Misere machen. Lächeln war normalerweise nicht unbedingt ihre Kernkompetenz, aber da sie neben der Bank auch schon einige Passanten versehentlich angerempelt hatte, hielt sie es für nötig, um Auseinandersetzungen vorzubeugen. Dass sie mit diesem dümmlich freundlichen Gesichtsausdruck eine völlig falsche Botschaft sendete, merkte sie erst, als sie, ohne es zu wollen, in eine rosa Wolke taumelte. Diese Wolke roch nach Alkohol und süßlichem Jungmädchenparfüm. Ein Junggesellinnenabschied, wie man ihr sofort ungefragt zuzwitscherte. Um sie herum kicherte und gackerte es, und die weiblichen Hormone flogen Agnes regelrecht um die Ohren.
»’tschuldigung, aber Sie sehen so glücklich aus«, sprach eine helle Stimme mit leicht verwaschener Aussprache Agnes an. »Deshalb wollten wir Sie direkt mal ansprechen. Also … Wir sind der Junggesellinnenabschied von Sandy. Und wir sammeln für unsere Freundin gute Wüsche.«
»Viel Glück«, murmelte Agnes und hätte sich liebend gern schleunigst verdrückt, aber da hatte sie die Rechnung ohne die rosa Wolke gemacht.
Eine junge Männerstimme ergänzte: »Sie sind bestimmt genau die Richtige für eine total positive Message. Ich mache ein Filmchen für Sandy und Emre. Wenn Sie uns eine positive Botschaft in mein Smartphone sprechen, bekommen Sie auch ’ne mega nice Belohnung.«
Agnes war irritiert. Junggesellinnenabschiede waren doch reine Frauensache, oder? Wie kam da diese Jungmännchenstimme in die Gruppe? »Und Sie sind dann wohl die einzige Junggesellin, die einen Stimmbruch hatte?«, brummte sie unfreundlich.
Die rosa Wolke kicherte. »Sie sind ja süß! Sofort richtig erkannt. Das hier ist Dennis, Sandys Sandkastenfreund, von uns manchmal gern auch Denise genannt. Der darf natürlich nicht fehlen.«
»Da hat Sandy aber Glück!« Mit dieser ironischen Bemerkung wollte Agnes sich aus der Wolke herausdrängen.
Dennis-Denise blieb allerdings hartnäckig: »Wir stellen uns das vor wie im Märchen: lauter gute Feen, die Sandy und Emre tolle Wünsche mit in die Ehe geben. Sie haben so eine mega sweete Ausstrahlung. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich das hier mit meinem Smartphone aufnehme, oder? Sie hätten sich doch sicherlich auch sehr gefreut, wenn Ihnen zu Ihrer Hochzeit damals wildfremde Menschen lauter Schönes gewünscht hätten?«
Der Sandkasten-Dennis war Agnes inzwischen so nah auf die Pelle gerückt, dass sie sein penetrantes Rasierwasser roch. Unscharf erkannte sie ein blasses Gesicht, das nicht so aussah, als bedürfte es irgendeiner Rasur. Sein Smartphone hielt er so nah vor ihr Gesicht, dass sie es beinahe spüren konnte.
Seine dreiste Penetranz und der Umstand, dass dieses Wickelkind es gewagt hatte, sie mit seinen schmalzigen Vorstellungen an ihre eigene Hochzeit zu erinnern, legte bei ihr einen Schalter um. Agnes spürte regelrecht, wie ihre durch das künstliche Lächeln verkrampften Muskeln sich lösten, und ehe sie sichs versah, fand die Galle, die ihr durch diese grauenhafte Situation hochgekocht war, ungewollt ihren Weg. »Soso!«, zischte sie. »Ihr wollt also wissen, was ich eurer Sandy als guten Wunsch mit auf den Weg gebe?«
»Ja, oh wie süß, ja bitte!«, zwitscherte es um sie herum.
»Na, dann passt mal gut auf, ihr angetrunkenen Östrogenbomben.« Agnes Stimme wurde dunkel und grollend. »Ich wünsche eurer mir völlig fremden Sandy, dass sie es sich noch mal anders überlegt und ihrem Emre kurz vor Toresschluss den Laufpass gibt. Ihr verträumten jungen Hühner in euren kitschigen rosa T-Shirts wisst es wahrscheinlich noch nicht, aber ich sage es euch jetzt mal ganz ungeschminkt: Diese ganzen Emres oder Andys oder Robbys oder wie eure Jungs heutzutage alle so heißen, die bleiben nicht so nett und attraktiv und verliebt, wie ihr euch das vorstellt. Kaum habt ihr den Ring am Finger, wird aus dem süßen Emre ganz schnell ein schlecht gelaunter, langweiliger, unaufmerksamer Sesselpupser in Jogginghose, der sich in eurem Beisein ungeniert zwischen den Beinen kratzt. Und wenn ihr ihm ein, zwei Kinder geboren habt, euer strammes Fell dadurch ausgelatscht ist und aus euren Brüsten leere Milchschläuche geworden sind, dann gibt euer Emre sich nur noch im Beisein fremder Frauen Mühe. Fremder Frauen, übrigens, die nicht so bekloppt waren wie ihr. Frauen, die sich keinen Mann dauerhaft ans Bein gebunden haben, die keine kleinen, ständig verrotzten Monster zum Zahnarzt, zum Kinderarzt und zur Kita schleifen müssen. Frauen, die Zeit und Geld haben, um sich Haare und Fingernägel machen zu lassen, zur Kosmetikerin zu gehen und ihren sauer verdienten Minijoblohn nicht für Kindergartentäschchen, Tonie-Boxen oder überteuerte Schultaschen ausgeben müssen.
Und dann flüchten eure Emres oder Andys oder Robbys in die Arme jüngerer Frauen und starten den ganzen Familienquatsch noch mal von vorn. Und ihr bleibt als völlig übermüdete Alleinerziehende zurück. Tragt Plastikpullover und Stretchjeans vom Billigladen und wartet, bis eure Kinder endlich erwachsen genug sind, dass ihr wieder auf die Pirsch gehen könnt, um euch den nächsten kreuzlahmen Hirschen zu schießen.
Oder ihr habt das Pech, dass eure gelangweilten Männer bei euch bleiben. Dann dürft ihr ihnen beim Zerfall zugucken. Irgendwann liegt dann ein laut schnarchendes Dickerchen mit Nasenhaaren und Rückenschmerzen neben euch im Bett. Und eure Kinder machen Schulabschluss und Ausbildung und fangen denselben Quatsch wieder von vorne an. Möbelkredite, Arbeitslosengeld, Zahnersatz, Hüft-OP und verzogene Enkelkinder. Immer so weiter und immer so weiter. Weil euch nie jemand mal ganz ehrlich gesagt hat, dass das alles eine riesige Lüge ist. Dass es ewige Liebe und Happy Family nicht gibt. Und darum, liebe Sandy …«
Agnes holte tief Luft und beugte sich für den Rest ihrer Ansprache mit zusammengekniffenen Augen noch weiter vor: »Hau ab! Lass deinen guten Emre sitzen, und MACH WAS AUS DEINEM LEBEN! Aber ich weiß schon: Ihr glaubt mir ohnehin kein Wort. Also: Hals und Beinbruch, dumme kleine Sandy. Versuch einfach, was alle Frauen vergeblich versuchen: dir deinen Mann zu erziehen. Und scheitere, und werde unglücklich. Aber sag nicht, es hätte dich keiner gewarnt!«
Wahllos stieß Agnes die rosafarbenen Körper um sich herum zur Seite. Weg! Sie wollte nur noch weg von diesen Traumtänzerinnen! Sie hörte noch ein entgeistertes »Krass!«. Dann war sie der Meute entkommen.
Agnes spürte, dass sie zitterte und dabei gleichzeitig stark schwitzte. Dennoch lief sie weiter. Sie bereute schon jetzt, dass ihr diese giftige Lava so unkontrolliert aus dem Mund geschossen war. Was konnten diese arglosen Küken denn für ihre Naivität und ihre unrealistischen Träume?
Was kann die gesamte Menschheit schon dafür, dass wir alle immer und immer wieder auf den Mythos der ewigen Liebe und der ewigen Treue hereinfallen?, dachte sie erschöpft. Würden wir uns die Zeit auf diesem Planeten nicht mit solchen Zuckerbäckerfantasien schönfärben, wäre die Menschheit wahrscheinlich längst ausgestorben.
Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte. Aber ein Planet ohne uns Menschen wäre wohl ohnehin besser dran, schoss es ihr durch den Kopf.
Rumms! Schon wieder war sie nahezu ungebremst in eine andere Person hineingerannt. Doch noch bevor sie sich entschuldigen konnte, nahm jemand sie am Ellbogen und fragte mit einer angenehm sanften Männerstimme: »Geht es Ihnen nicht gut?«
Auch das noch!, dachte Agnes. Jetzt hält man mich schon für eine hilflose Oma, der man über die Straße helfen muss. Laut sagte sie so selbstbewusst, wie es ihr möglich war: »Danke, ganz herzlichen Dank! Mir geht es prima. Mich hat nur mein Augenarzt vorübergehend leicht blind gemacht. Aber das geht bald vorbei, hat er gemeint. Ich wollte Sie nicht …« Weiter kam sie nicht.
»Ach, das ist doch kein Problem!«, unterbrach sie die freundliche Männerstimme. »Das kenne ich. Ich habe vor einiger Zeit meine erste Brille mit Gleitsichtgläsern bekommen. Bis ich mich daran gewöhnt hatte, war ich ähnlich blind unterwegs wie Sie.«
»Danke, Sie sind sehr freundlich«, sagte Agnes und machte ihren Ellbogen mit einem leichten Ruck frei. »Dann taste ich mich jetzt mal vorsichtig weiter nach Hause. Wundern Sie sich trotzdem nicht, wenn weitere Opfer meinen Weg pflastern. Aber immerhin sind Sie wenigstens nicht umgefallen.« Sie wandte sich ab, um weiterzugehen.
Der Mann ließ sie allerdings noch immer nicht gehen, sondern ergriff erneut ihren Ellbogen. »Warum gönnen Sie sich nicht einfach einen kleinen Kaffee und warten, bis Sie wieder richtig sehen können? Direkt hier um die Ecke ist das Café Kniep, das kennen Sie bestimmt. Die haben den besten Käsekuchen der Stadt. Soll ich Sie da hinbringen?«
Mein Gott, der ist in seiner Nettigkeit ja fast genauso penetrant wie die rosa Wolke von vorhin!, dachte Agnes nun doch ziemlich genervt. Die Idee, in einem Café zu warten, bis ihre Sehkraft zurückkehrte, war allerdings bestimmt nicht die schlechteste.
»Wissen Sie was?« Noch einmal bediente sich Agnes ihres künstlichen Lächelns. »Das ist tatsächlich eine ganz zauberhafte Idee! Begleiten müssen Sie mich aber nicht. Zum Café Kniep sind es ja wirklich keine hundert Schritte, die schaffe ich schon allein.« Sie hoffte, den Mann und seine Nettigkeit damit endgültig abgeschüttelt zu haben. Er aber blieb unerschütterlich.
»Ins Kniep führt eine kleine Treppe, und die wollen Sie ja bestimmt nicht hinaufstürzen«, argumentierte er und lenkte sie bereits sanft in die Richtung des Cafés. »Ich liefere Sie dort also besser persönlich ab.« Als er ihr Zögern bemerkte, ergänzte er: »Sagen Sie Ja. Sie tun mir damit einen Gefallen. Ich bin nämlich verabredet, und weil ich mich so auf dieses Date gefreut hatte, bin ich viel zu früh. Wie peinlich ist das denn bitte?«
Noch so ein verirrter Narr!, dachte Agnes, ergab sich aber und sagte: »Bei so einem charmanten Romeo wie Ihnen wird sich Ihre Verabredung doch freuen, wenn Sie zu früh auftauchen. Das zeigt doch nur, wie interessiert Sie sind.«
Schon kletterte sie mit seiner Hilfe die Stufen zum Café hinauf. Er öffnete ihr die Tür und beugte sich zum Abschied zu ihr herunter. »Hoffentlich haben Sie recht«, sagte er. »Aber vielleicht haben Sie mir ja Glück gebracht. Drücken Sie mir auf jeden Fall die Daumen!« Und damit war er auch schon durch die Tür auf die Straße verschwunden.
Agnes stand noch etwas benommen im Eingangsbereich des Cafés. Eine Bedienung, die offensichtlich mitbekommen hatte, dass sie gebracht worden war, ergriff ebenso selbstverständlich ihren Ellbogen wie der junge Mann vorhin und geleitete sie zu einem freien Tisch.
»So ein netter Bengel, ihr Enkel!«, schwärmte sie. »Und hübsch isser auch noch. Da is’ de Omma aber bestimmt stolz auf ihm, oder?«
Oh Gott!, dachte Agnes. Schon wieder bin ich die nette, aber hilflose Oma! Oder Omma, wie die freundliche Bedienung im herbsten Ruhrpottslang gesagt hatte.
Erschöpft ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. »Das war nicht mein Enkel«, stellte sie richtig.
»Ach was! Da haben Se sich also ’n jungen Galan aufgetan, Sie Schwerenöterin?« Die Bedienung lachte scheppernd. »Dat sei Ihnen von Herzen gegönnt. Tut uns alten Schlachtschiffen doch au ma ganz gut, wenn so junges Gemüse uns anflirtet. Auch wenn et in Wirklichkeit eher Mitleid als Interesse is’. Aber in unseren Alter nimmt man, wat man kriegen kann. Und dat auch noch an Valentinstach.«
Agnes gab den Versuch auf, die Begegnung mit dem jungen Mann ins richtige Licht zu rücken. Sie wäre ohnehin nicht zu Wort gekommen.
»Wat kann ich Ihnen denn bringen? Unsere Valentinstörtchen sind mit Marzipan. Is’ der totale Renner heute. Und wo Se schon ma so in Schwung sind –«
»Bloß keinen Süßkram!«, fiel Agnes ihr ins Wort. »Ich will lediglich einen Kaffee. Keinen Cappuccino, keine Latte Macchiato und nichts von diesem ganzen Modezeugs. Ein schwarzer Kaffee mit einem Döschen Milch. Und mit diesem ganzen Wind um den Valentinstag …« Agnes winkte ab. »Mit diesem Amikrempel kann man mich ohnehin scheuchen.«
»Ha, endlich ma eine, die Tacheles redet!« Die Bedienung stützte sich auf den Tisch und beugte sich vertraulich vor. Offenbar hatte sie Zeit – und das, obwohl das Café gut gefüllt war. »Wenn mir mein Richard plötzlich an Valentinstach ’n Strauß im Gesicht drücken würde, dann würde ich nur fragen: ›Wie heißt se, und wie viel jünger als ich isse?‹ Kaffee kommt sofort. Schwatt und ohne Tralafitti, genau wie gewünscht.« Damit verzog sie sich lachend in Richtung der Kuchentheke.
Na, heute ist wohl der Tag der ungewollten Freundschaften, dachte Agnes, während sie sich ihren dicken Kunstfellmantel auszog.
Als die Bedienung ihr ihren Kaffee brachte, rief ein betagter Herr vom Nachbartisch zu ihr herüber: »Frollein Hilde, ich möchte dann mal zahlen.«
Frollein – das dufte doch nicht wahr sein! Agnes zog die Augenbrauen hoch. Doch das Frollein Hilde, das der Stimme nach bestimmt einiges über fünfzig war, lachte nur gut gelaunt und scheppernd und sagte an Agnes gewandt: »Dat ›Frollein‹, dat is’ mein Trinkgeld. Dat schmeichelt so ’ne alte Schabracke wie mir doch.« Damit ging sie an den Nachbartisch. »Woll, Herr Küppers. Dat ich für Se ’n Frollein bin, dat zeigt nur, wie gut ich mich gehalten hab. Oder wie schlecht Se inzwischen kucken können.« Und damit warf sie wieder den Kopf in den Nacken und kassierte lachend, was Herr Küppers ihr schuldete.
Immerhin herrscht hier gute Laune, dachte Agnes und kniff die Augen in der Hoffnung zu, damit ihren noch immer leicht vernebelten Blick zu schärfen. Nein, hier war wahrscheinlich kein einziger Gast, ob männlich oder weiblich, unter sechzig. Hier war sie auf jeden Fall sicher vor irgendwelchen frisch geschlüpften Hormonbomben.
Der Kaffee war heiß, stark und angenehm belebend, und Agnes begann sich zu entspannen. Als wenig später ihre Sehkraft mehr und mehr zurückkehrte, winkte sie dem »Frollein« Hilde, um zu bezahlen. Sie gab ein gutes Trinkgeld, und Hilde bedankte sich herzlich.
»Kommen Se bald wieder«, lud sie Agnes ein, bevor sie sich abwandte, weil sie von einem anderen Tisch gerufen wurde. »Und wenn Se wollen, bringen Se Ihren jungen Galan von eben ruhich widder mit. Der würde hier den Altersdurchschnitt rasant senken.« Wieder folgte ihrem eigenen Witz ein begeistertes Lachen.
Warum nicht?, dachte Agnes. Ein uriges Café mit so einer herzerfrischenden Bedienung konnte ihrer Stimmung vielleicht tatsächlich ein bisschen auf die Sprünge helfen. Ich sollte ohnehin wieder etwas mehr unter Leute gehen.
Sie seufzte leise. In den letzten drei Monaten hatte sie ihre Wohnung nur verlassen, um das Allernötigste zu erledigen. Auch wenn sie wegen Inges langer Krankheit vorbereitet gewesen war, hatte es sie emotional völlig umgehauen, als Inge Anfang November tatsächlich gestorben war. Immerhin hatten Inge und sie mehr als zehn Jahre lang zusammengewohnt und viele Höhen und Tiefen miteinander durchlebt. Manche hatten sogar geglaubt, sie und Inge seien ein Paar. Sie hatten sich jedoch nie die Mühe gemacht, den wahren Kern ihrer engen Verbindung aufzuklären.
Letztlich hatte es viel mit Zufall zu tun: Agnes und Inge waren vor Jahrzehnten Schulfreundinnen gewesen und hatten sich lange aus den Augen verloren gehabt, als sie einander vor einigen Jahren zufällig auf dem Düsseldorfer Flughafen wiedergetroffen hatten. Agnes war an diesem Tag tränenblind mit ihrem Koffer in Richtung der Taxen gestolpert und hatte Inge versehentlich heftig angerempelt. Eigentlich hatte Agnes nach ein paar Worten der Entschuldigung schnell weitergewollt, denn sie war gerade mit wundem Herzen aus Tunesien zurückgekehrt, wo sie den schlimmsten Albtraum ihres Lebens erlebt hatte. Sie wollte nichts weiter, als sich krank vor Scham und Kummer in ein Mauseloch verkriechen und in Ruhe ihre Wunden lecken. Aber Inge hatte sich offensichtlich seit ihrer Jugend nicht geändert.
Schon damals war sie eine resolute, hilfsbereite und lebensbejahende Schülerin gewesen. Sie war eher klein, stämmig und viel zu intelligent, um bei den Jungs aus ihrer Jahrgangsstufe einen Lauf zu haben, was Inge nicht im Geringsten zu stören schien. Sie riss laut und selbstbewusst über alles und jeden ihre Witze, und wenn sie auf den verklemmten Klassenfeten von keinem der Jungen aufgefordert wurde, wagte sie sich allein auf die Tanzfläche.
So war Agnes nie gewesen. Sie war ruhig und zurückhaltend und versuchte bei ihren Mitschülerinnen durch Nettigkeit zu punkten. Obwohl sie nicht so eine Überfliegerin war wie Inge, waren ihre Noten überdurchschnittlich gut. Folglich ließ sie die anderen bei sich abschreiben, verlieh großzügig die modischen Klamotten, mit denen ihre Tante Anne sie überschüttete, und war ansonsten brav und angepasst.
Nach dem Abitur hatten sich Inges und Agnes’ Wege getrennt. Agnes war zum Studieren an die Uni Münster gegangen und hatte sich später in Dortmund ein neues, eigenes Leben aufgebaut. Zu Klassentreffen war sie nie erschienen.
Als sie nun an jenem Tag am Flughafen unvermittelt in Inge taumelte, hätte Agnes ihre einstige Schulfreundin kaum wiedererkannt. Zwar war sie noch immer klein und rundlich, doch sie hatte ihre schwarzen Haare modisch geschnitten und wirkte teuer und edel gekleidet.
Inge hingegen hatte Agnes gleich wiedererkannt und sie aufgehalten, als Agnes nach einer raschen Entschuldigung schleunigst davonhuschen wollte. »Agnes, die Bohnenstange! Unsere Klassenschönheit«, hatte sie gesagt und gefragt: »Was machst du denn hier am Flughafen. Und wie siehst du überhaupt aus?«
»Ich … äh, entschuldige. Ich habe dich gar nicht erkannt, Inge«, hatte Agnes gestottert. »Ich … komme gerade aus Tunesien und mir … äh … Mir geht es nicht so gut.«
»Das sieht man.« Inges entwaffnende Ehrlichkeit war dieselbe wie früher. »Du siehst beschissen aus. Was ist denn los?«
»Lange Geschichte und keine besonders schöne«, hatte Agnes gemurmelt. »Ich wollte mir gerade ein Taxi … also, ich muss zum Hauptbahnhof.«
Und so war es gekommen, dass Inge sich ihrer erbarmt und sie mit zu sich nach Dortmund genommen hatte. Sie hatte vor einem halben Jahr plötzlich und unerwartet ihren Mann verloren, war einsam und litt unter der viel zu großen Wohnung. Agnes hingegen war finanziell, emotional und gesellschaftlich völlig ruiniert, hatte weder Wohnung noch Freunde und war dankbar, dass Inge ihr vorübergehend Asyl gewährte. Aus diesem Vorübergehend waren schließlich zwölf Jahre geworden. Zwölf Jahre, in denen Inge ihr behutsam aus dem tiefen Loch herausgeholfen hatte, in das sie gestürzt war. Jahre, in denen die beiden Frauen sich gemeinsam ein neues Leben aufgebaut hatten, in dem irgendwann auch wieder Platz für Lachen, Genuss, Freude und von Zeit zu Zeit auch einen schönen Urlaub gewesen war.
Und jetzt war Inge tot, und Agnes hockte allein in der viel zu großen Wohnung, die Inge ihr, um Erbschaftsprobleme zu vermeiden, schon vor ihrem Tod mitsamt dem Rest des Sechsparteienhauses geschenkt hatte. Und die Wohnung war nicht nur zu groß, sondern voller Möbelstücke, Vasen und Kissen, die Inges Handschrift trugen. Agnes hatte seit dem Tod ihrer Freundin nichts verändert; noch nicht einmal das Pflegebett, in dem Inge gestorben war, hatte sie abholen lassen.
Gehen Sie zur Badstraße. Gehen Sie nicht über Los, und ziehen Sie keine 2000 Mark ein! So hatte es früher auf einer Monopolykarte gestanden, und genauso fühlte Agnes sich. Alles wieder auf Anfang. Einsam, traurig, orientierungslos. Genau wie vor zwölf Jahren. Nur dass sie jetzt ein großes Haus und ein gut gefülltes Bankkonto besaß.
Passend zu ihrer düsteren Stimmung hatte sich die Sonne inzwischen hinter einer dunklen Wolkenwand verschanzt. Ein frischer Ostwind war aufgekommen, und Inge ging schneller, um nicht in einen Schauer zu geraten. Dass sie sich in den letzten Monaten kaum noch bewegt hatte, merkte sie sofort. Sie war atemlos.
Als sie endlich in ihre Straße einbog, fiel ihr nun klarerer Blick auf zwei Schulmädchen, die vor ihr auf dem Bürgersteig liefen. Sie kicherten und quietschten und gingen im Gleichtakt. »Und eins. Und zwei. Und drei. Und vier. Ein Hut, ein Stock, ein Damenunterrock. Und vorwärts, rückwärts, seitwärts ran.«
Dass es diesen alten Vers überhaupt noch gab! Die Mädchen rempelten sich beim Gehen an, versuchten sich gegenseitig aus dem Takt zu bringen, und schienen sich dabei köstlich zu amüsieren. Das eine war recht pummelig, hatte eine viel zu enge Schlaghose mit Blümchen und einen neonfarbenen gelben Anorak an. Sie erinnerte Agnes an eine besonders schrill gefärbte Raupe, die sich in schillernden Farben verpuppt hatte. Das andere Mädchen war klein und zierlich. Es trug einen dicken Mantel, Strumpfhose, Turnschuhe und ein Kopftuch.
Kinderfreundschaften!, dachte Agnes mit sanfter Wehmut. Wie lange es nun her war, dass ihre eigenen Kinder ständig neue Freunde mit nach Hause gebracht hatten!
Sie hatte sich immer darüber gefreut. Je mehr Kinder lärmend und plappernd an ihrem Esstisch saßen, desto fröhlicher war auch sie gewesen. Sie hatte sich eigentlich mehr eigene Kinder gewünscht, aber nach der Geburt ihres Sohns Simon, die kompliziert war und mit einem Kaiserschnitt beendet werden musste, hatte sie der Mut für weitere Kinder verlassen. Evita, ihre Ältere, war, seit sie lesen konnte, ein kleiner Bücherwurm; Simon hingegen war lebhaft und ein Clown. Er war es daher auch, der die vielen Schulkameraden und -kameradinnen mit nach Hause geschleppt hatte. Die vier Jahre ältere Evita hatte immer nur eine Freundin gehabt. Da die ebenfalls eine Bücherfresserin gewesen war, hatten Agnes und ihr damaliger Mann Florian die beiden Mädchen immer heimlich das »literarische Duett« genannt.
Agnes seufzte. Sie selbst war eher ein ernstes Kind gewesen, auch weil ihr sieben Jahre jüngerer Bruder Michael körperlich schwersteingeschränkt zur Welt kam und deshalb ein absolutes Sorgenkind war. Als dann auch noch ihr Papa Hals über Kopf die Familie verlassen hatte, hatte ihre Mutter sich mehr denn je auf Agnes gestützt, und aus Scham über die bedrückende Atmosphäre in ihrer Familie hatte Agnes es vermieden, Freundinnen mit nach Hause zu bringen.
Ihre eigenen Kinder durften dafür ihre Kindergeburtstage so groß feiern, wie sie nur wollten, und auch Übernachtungsgäste waren Agnes immer hochwillkommen gewesen. Florian, der ähnlich kinderlieb war wie sie, hatte sie darin immer bestärkt. Eines der wenigen Dinge, wo sie an einem Strang gezogen hatten.
»Und vorwärts, rückwärts, seitwärts ran!« Die beiden Mädchen vor ihr wurden zunehmend ausgelassener und rempelten einander beim Gehen immer heftiger an. Gerade als Agnes die beiden überholen wollte, geriet das Rempeln ein wenig außer Kontrolle, und das Zartere der beiden Mädchen fiel seitlich in eine Pfütze. Ausgerechnet! Die Kleine quiekte entsetzt auf und blieb auf dem Boden hocken.
Schnell eilte Agnes zu der Kleinen, um ihr zu helfen. Die aber schob ihre ausgestreckte Hand heftig zur Seite, rappelte sich allein wieder auf und sagte mit dunkler Stimme: »Ich darf nicht mit fremden Leuten mitgehen.«
»Ich wollte dir auch nur aufhelfen und dich auf keinen Fall mitnehmen«, entgegnete Agnes erstaunt.
Die beiden Mädchen hakten einander wieder unter und kicherten, und Agnes beeilte sich, die beiden zu überholen. Dennoch hörte sie, wie eines der beiden sagte: »Alte Frauen sind immer Kinderklauer. Und die sah aus wie ’ne Hexe!«
Dann kicherten die Mädchen noch mehr, und Agnes beschleunigte ihren Schritt, um den beiden seltsamen Freundinnen zu entkommen.
Erschöpft schloss Agnes die Haustür auf. Ihr war nach einem heißen Bad, nach Abendbrot vor dem Fernseher, nach etwas, was die Welt aussperren konnte. Umso entgeisterter war sie, als sie die schwere Haustür aufschob und ihr der Geruch von Kohl und Katzenklo entgegenschlug. Sie wusste genau, welchem Mieter sie diese unangenehme Duftmischung zu verdanken hatte. Und tatsächlich: Kaum hatte sie den Lichtschalter betätigt und das Licht flammte auf, flog die Tür zur rechten Parterrewohnung auf, und Herr Bartschneider stand vor ihr. Das Duftgemisch wurde noch penetranter.
»Die Königin ist zurück!«, deklamierte Herr Bartschneider, verbeugte sich und zog einen imaginären Hut. »Ich begrüße mit Freuden die wunderschöne Besitzerin meines Herzens. Bewegen Sie sich nicht vom Fleck, Königin Agnes die Erste und Einzige! Ich habe eine Überraschung für Sie vorbereitet.« Er wandte sich ab und ging in seine Wohnung. »Nur einen Moment!«
Agnes seufzte. Schon seit Jahren spielte der alte Herr Bartschneider dieses seltsame Spielchen mit ihr. Er machte ihr mit Gedichten und altmodischen Komplimenten den Hof, die sogar in einer kitschigen Sonntagabendschmonzette als übertrieben empfunden worden wären. Dabei war der Mann längst in einem Alter, in dem man sich eher um eine patente Pflegerin als um eine Herzdame bemühen sollte. Hochgewachsen und klapperdürr, wie er war, trug er stets einen viel zu weiten Anzug, der so schmuddelig war, dass Agnes an ihm den Speiseplan der letzten Tage, wenn nicht gar Wochen ablesen konnte. Die wenigen verbliebenen grauen Haare auf seinem Kopf sahen aus, als hätte er versucht, sie mit einer Nagelbürste und Wasser in einen frisurähnlichen Zustand zu bringen. Dabei hatte er jedoch offensichtlich einzelne Haarinselgrüppchen übersehen, denn sie standen wie erfrorenes Pampasgras in alle Richtungen ab. Sein Zahnersatz, der vor vielen Jahren noch gepasst haben mochte, wirkte in dem geschrumpften Altmännergesicht viel zu groß, was sein Lächeln grotesk und mitleiderregend machte. Doch nichts davon war geeignet, ihn davon abzuhalten, den smarten Womanizer zu spielen.
Während Agnes unschlüssig im Flur stand, hörte sie Herrn Bartschneider im Inneren seiner Wohnung mit einer seiner Katzen schimpfen: »Nein, Sartre, du bleibst schön da! Die wunderschöne Königstigerin da draußen ist meine Herzdame. Kümmere du dich gefälligst um deine Beauvoir!«
Als hätte der Kater Herrn Bartschneider verstanden, miaute er laut und klagend. Kurz darauf übertönte ein anderes Geräusch das Maunzen, ein kraftvoller Tenor, der mit klarer Stimme sang: »Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir!«
Im selben Moment trat Herr Bartschneider mit einem verwelkten Tulpenstrauß aus der Wohnung und fiel mit brüchiger, zittriger Stimme in den Gesang ein: »… in den stillen Hain hernieder, Liebchen, komm zu mir.«
»Sehr schön, Herr Bartschneider«, sagte Agnes laut, um die Musik aus der Wohnung zu übertönen und der peinlichen Vorstellung ein Ende zu machen. »Ich bin allerdings gerade zu müde für ein Konzert.«
»Wunderschöne Agnes!« Auch Herr Bartschneider sprach lauter als gewöhnlich. »Ich bin der Willibald, und das weißt du längst. Erst kommt der Willi und dann das Bald. Darum gebe ich auch die Hoffnung nicht auf. Dieses wunderschöne Schubertlied, das singt der Dietrich Fischer-Dieskau für uns, ein Meister seines Fachs. Keiner kann dem Lied so viel kraftvolle und doch zarte Sehnsucht verleihen wie er. Und für dich, du schöne Blüte im Blumengarten unseres Schöpfers, ist das Beste gerade gut genug. Um meinem Werben Nachdruck zu verleihen«, er drückte der genervten Agnes die zerrupften Tulpen in die Hand, »überreiche ich dir ein kleines, bescheidenes Gebinde zum Valentinstag. Auch habe ich mir erlaubt, eine süße Überraschung vor deine Wohnungstür zu legen.«
»Lass auch dir die Brust bewegen, Liebchen, höre mich. Bebend harr ich dir entgegen. Komm beglücke mich«, sang Fischer-Dieskau aus der Wohnung.
»Ich beglücke jetzt erst mal mich selbst«, sagte Agnes schroff. »Herr Bartschneider – oder Willibald, wie auch immer. Ich will keine Blumen und keine süßen Überraschungen. Ich halte nichts vom Valentinstag, und ich brauche niemanden, der mir schmachtende Lieder singt. Ich bin müde und auf dem Weg in die Badewanne. Wenn ich jetzt also bitte einfach …«
Ohne dass sie weitersprechen musste, trat der alte Mann zur Seite und verneigte sich ein weiteres Mal. Ehe er sich zu weiteren Liebesschwüren hinreißen lassen konnte, eilte Agnes mit dem Blumenstrauß, der ebenso hinfällig wirkte wie sein Schenker, die Treppe hinauf. Herrn Bartschneiders Angebot, ihr zu Hilfe zu kommen, sollte ihr jemand fehlen, der ihr den Rücken einseift, ignorierte sie tunlichst.
Unwillig hob Agnes die kleine Schachtel mit Schokoladenherzen auf, die vor ihrer Wohnungstür lag. So unsicher, wie er zu Fuß war, musste Willibald Bartschneider ewig gebraucht haben, um sich zu ihrer Wohnung hochzuhangeln.
So viel Mühe für ein albernes Spielchen!, dachte Agnes, sperrte hastig ihre Tür auf und verschwand schleunigst in ihren eigenen vier Wänden.
Uff, endlich allein! Sie kickte ihre Schuhe von den Füßen, hängte ihren Mantel auf, warf die unsäglichen Tulpen in den Müll und ging ins Badezimmer, um sich heißes Wasser einlaufen zu lassen. Dabei fiel ihr Blick auf den Badezimmerspiegel. Sie konnte inzwischen wieder völlig klar sehen, und der Anblick, den ihr der Spiegel zurückwarf, erschreckte sie. Kein Wunder, dass die Mädchen sie als Hexe tituliert hatten! Ihre blonden Haare waren von grauen Strähnen durchzogen. Was einmal ein flotter Haarschnitt gewesen war, sah inzwischen eher aus wie ein verwahrlostes Vogelnest. Ihre Haare waren fettig und standen in alle Richtungen vom Kopf ab, ihr Gesicht hatte rote Flecken, die Haut war schlaff und blass. Ihre blauen Augen wirkten wässrig und traurig.
Ich lasse mich gehen, dachte Agnes und musste schlucken. Das hätte Inge überhaupt nicht gefallen. Ihre Freundin hatte zwar in der Wohnung oft für Chaos gesorgt, aber Sauberkeit war ihr immer wichtig gewesen. Auch sie selbst war stets picobello gekleidet und wie aus dem Ei gepellt gewesen. Und das hatte auf Agnes abgefärbt. Zwar war Agnes nie eitel gewesen, aber im Zusammenleben mit Inge hatte sie dennoch mehr und mehr einen Blick dafür entwickelt, was ihr stand und welcher Kleidungsstil ihr entsprach. Da sie groß und schlank war, trug sie gern klare Schnitte und dezente Farben. Im Gegensatz zu ihr war Inge immer bunt und folkloristisch gekleidet gewesen und mit ihren dunklen Haaren, den fast schwarzen Augen und der drallen, kernigen Figur hätte man sie gut für eine Latina halten können. Bunt, folkloristisch und zusammengewürfelt hatte sie auch ihre Wohnung eingerichtet. Was auch immer gemütlich wirkte, farbenfroh war oder ungewöhnlich, wurde von Inge gekauft, egal ob es zur restlichen Wohnungseinrichtung passte. Von ihren Reisen hatte Inge immer wieder bunte Kissen oder folkloristische Kunstgegenstände mitgebracht, und so wirkte die Wohnung wie das fröhliche Sammelsurium eines Eine-Welt-Ladens. Solange Inge die Räume mit ihrer Vitalität und ihrem lauten Lachen belebte, hatte Agnes all das nie gestört. Jetzt, nach Inges Tod, fühlte sich Agnes in dem bunten Chaos oft wie ein zurückgelassenes, störendes Element. Die Kraft dafür, die Wohnungseinrichtung mehr ihrem eigenen Geschmack anzupassen, hatte ihr bisher allerdings gefehlt.
Agnes seufzte. Seit Inge nicht mehr lebte, war ihr erst so richtig klar geworden, wie allein sie war.
Ihre Kinder hatten sich von ihr abgewandt, als sie Florian verlassen hatte, um mit Walid in Tunesien ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Nicht nur ihre Kinder, die damals beide längst studierten, sondern auch ihre Freundinnen und Bekannte waren geschockt gewesen, dass Agnes so Hals über Kopf in ein völlig unbekanntes Leben starten wollte. Alle hatten ihr geraten, die Geschichte mit Walid langsam anzugehen und ein paar Jahre abzuwarten, ob dieser Mann wirklich ihre große Liebe oder nur eine urlaubsverklärte Romanze war. Doch Agnes hatte nicht auf sie gehört, und als sie dann auch noch sämtliches Geld, das sie nach der Trennung von Florian als Ausgleich für das gemeinsam finanzierte Haus bekommen hatte, nach Tunesien transferierte, um Walid den Traum von einem eigenen Hotel zu ermöglichen, hatten ihre deutschen Freunde sie als völlig verrückt abgestempelt. Alle hatten sich kopfschüttelnd von ihr abgewandt und den Kontakt abgebrochen.
Dass all die Menschen mit ihren Warnungen recht behalten hatten, war für Agnes eine zusätzliche Erniedrigung gewesen. Wie wenig ungewöhnlich ihre Geschichte war, hatte sie erst lange nach ihrer Flucht aus Tunesien erfahren. Als sie sich, von Inge ermutigt, mit gebrochenem Herzen einer Selbsthilfegruppe angeschlossen und versucht hatte, mit der Hilfe eines erfahrenen Anwalts wenigstens ihr Geld zurückzubekommen, hatte sie den Begriff Bezness zum ersten Mal gehört. Bezness – das war eine Mischung aus den Worten Beziehung und Business und bezeichnete das Geschäft, das Männer aus ärmeren Ländern bisweilen mit den Gefühlen von Frauen betreiben – von Frauen, die sich wie sie auf einmal in einem Traum von tausendundeiner Nacht wähnen, mit romantischen Versprechungen verführt werden, von denen sie bis dahin noch nicht einmal zu träumen gewagt hätten, und die dann irgendwann bereit sind, für diese Männer alles aufzugeben.
Ihr Geld hatte Agnes bis heute nicht wiederbekommen. Da konnte ihr kein noch so guter Anwalt helfen. Doch immerhin hatte er sie, genau wie Inge, darin bestärkt, sich bei Gleichgesinnten Hilfe, Trost und neues Selbstbewusstsein zu holen.
Agnes schauderte noch immer, wenn sie an diese Zeit zurückdachte. Auch als sie später erfuhr, dass Frauen aus allen Bildungsschichten und Berufsgruppen auf die üble Masche hereinfielen, hatte sie ewig gebraucht, um ihren Selbsthass und die Scham zu überwinden und aus ihrem emotionalen Schneckenhaus hervorzukriechen. Eine Beziehung hatte sie seitdem nicht mehr gewollt, was Inge, die nach dem Tod ihres Mannes Heribert ebenfalls keinen Bedarf für eine neue Bindung verspürte, verstanden und nie infrage gestellt hatte.
Agnes zog sich langsam aus und warf ihre verschwitzten Sachen sofort in die Waschmaschine, die neben der Badewanne stand. Nach ihrem Bad würde sie eine Maschine Wäsche anstellen, die Wohnung gründlich sauber machen und aufräumen und sich vielleicht etwas anderes zum Abendbrot zubereiten als das obligatorische Tomate-Käse-Sandwich aus dem Sandwichautomaten, das sie seit Wochen jeden Abend aß. Sie durfte sich wirklich nicht so gehen lassen!
Agnes war gerade aus der Badewanne gestiegen, als es an der Wohnungstür klingelte. Da sie davon ausging, dass der seltsame Herr Bartschneider sie ein weiteres Mal mit seinen Liebesschwüren behelligen wollte, öffnete sie nicht. Doch das Klingeln wurde immer aufdringlicher, und so schlüpfte sie schließlich doch in ihren weinroten Hausanzug aus Nicky-Stoff, wickelte sich ein Handtuch um die nassen Haare und öffnete vorsichtig.
»Ich dachte schon, du bist jetzt auch tot. Warum rührst du dich denn nicht, wenn man bei dir klingelt?« Vor der Tür stand Achim und sah Agnes unfreundlich an. »Warum machst du denn verdammt noch mal nicht auf?«
»Waren wir verabredet?«, fragte Agnes ehrlich erstaunt. Achim war ein enger Freund von Inge gewesen, und nur aus diesem Grund kannte Agnes ihn. Von sich aus hätte sie niemals die Nähe zu einem Menschen wie Achim gesucht. Er war klein, ein wenig gedrungen, hatte auffällig krumme O-Beine, dunkles Haar, das von silbergrauen Strähnen durchzogen war und das er stets mit viel Gel nach hinten gekämmt trug. Seine Augen waren dunkelgrau und wirkten fast immer ein wenig ärgerlich, was an seinen buschigen dunklen Augenbrauen liegen mochte. Er trug gern eine Herrentasche, was Agnes völlig aus der Zeit gefallen zu sein schien. Außerdem roch er immer stark nach einem süßlichen Herrenduft, den Agnes unangenehm fand.
Dass Inge so eng mit Achim befreundet war, hatte sie nie verstanden. Auf sie selbst wirkte er eher wie ein Fürst der Unterwelt denn wie ein angenehmer Mensch. Aber da Achim länger zu Inges Welt gehörte als sie selbst, hatte Agnes diese Freundschaft nie infrage gestellt, sondern sich einfach von ihm ferngehalten. Sie wusste daher lange Zeit nicht viel über ihn, nur, dass er früher als Jockey gearbeitet hatte und inzwischen eine florierende Entrümpelungsfirma betrieb.
Einen völlig anderen Achim hatte Agnes erst kennengelernt, als Inge im Sterben lag. Achim wich nicht von Inges Seite und setzte Tod und Teufel in Bewegung, damit Inge ihre letzten Tage zu Hause verbringen konnte. Er besorgte ein Pflegebett und engagierte eine Palliativpflegerin, die sie unterstützte, und saß während der letzten Tage und Nächte wie Agnes an Inges Bett. Sie beide hatten rechts und links an Inges Seite ausgeharrt, Inges Hände gehalten und versucht, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Achims unerschütterliche Loyalität während dieser Zeit hatte ihn in Agnes’ Achtung steigen lassen.
Trotzdem passte es ihr überhaupt nicht, dass er jetzt völlig unangemeldet vor ihrer Tür stand.
»Darf man vielleicht reinkommen, oder soll ich unsere Pizzen allein im Treppenhaus mampfen?«, polterte er unwirsch.
»Unsere Pizzen?« Agnes verstand nun gar nichts mehr.
Achim schob Agnes wortlos zur Seite und ging mit seinen Pizzakartons zur Küche. »Ich habe mir erlaubt, dir was Gescheites zu essen mitzubringen«, brummelte er, während Agnes ihm folgte. »Ich möchte wetten, du hast heute wieder nicht vernünftig gegessen. Und da wir uns morgen nahekommen werden, ist es wohl besser, wir stinken beide nach Knoblauch.« Er legte die Pizzakartons auf den Küchentisch, nahm zwei Teller aus dem Schrank, legte Messer und Gabel daneben und fragte: »Kriegt man denn hier vielleicht einen erträglichen Rotwein zum Essen?«
Bevor Agnes antworten konnte, ging er ins Wohnzimmer, holte zwei Rotweinkelche aus dem Vestibül, griff in das Weinregal, das direkt danebenstand, drehte einige Flaschen so, dass er die Etiketten lesen konnte, und entschied sich schließlich für einen kräftigen Primitivo. Agnes sah ihm stumm zu, denn angesichts dieser dreisten Selbstverständlichkeit fühlte sie sich machtlos.
Er kehrte zurück in die Küche, entkorkte die Flasche und füllte die Gläser. »Was ist? Du siehst aus, als hätte ich dir die Weinflasche über den Kopf gezogen. Guck nicht so verdattert! Wir können ja wohl einmal zusammen etwas essen, wenn wir morgen schon zusammen tanzen müssen.«
Ach ja, dieser blöde Salsa-Anfängerkurs! Agnes verdrehte die Augen. Den hatte sie total vergessen. Oder eher verdrängt. Er gehörte zu den seltsamen Dingen, die Achim und sie ihrer sterbenden Freundin hatten versprechen müssen: dass sie gemeinsam einen Salsa-Kurs belegen und anschließend miteinander tanzen gehen würden. Dabei war die Salsa eigentlich Inges und Achims Ding gewesen. Mindestens einmal die Woche, oft auch am Wochenende, hatte Inge sich rausgeputzt und war mit Achim tanzen gegangen. Sie liebte die Musik und den Tanz. Oft war sie erst spät in der Nacht angeheitert und gut gelaunt zurückgekommen. Als sie gerade erst bei Inge eingezogen war, hatte Agnes geglaubt, Achim sei Inges Partner, doch als sie sich irgendwann getraut hatte zu fragen, hatte Inge schallend gelacht und gesagt: »Ich und Achim ein Paar? Eher würde ich den bekloppten Professor aus dem Erdgeschoss heiraten als so einen ungehobelten Straßenköter wie Achim.«
Inge hatte Herrn Bartschneider immer den »Professor« genannt, ohne zu wissen, welchen Beruf ihr Mieter früher einmal ausgeübt hatte. Denn der machte aus seinem Leben vor der Rente gern ein Geheimnis. Schon das hatte Agnes irritiert. Dass Inge außerdem so abwertend über Achim sprach, obwohl sie so eng mit ihm befreundet war, hatte sie aber noch mehr gewundert.
»Der Achim«, hatte Inge auf Agnes’ verwirrten Gesichtsausdruck hin erklärt, »ist eine Seele von Mensch und der großherzigste Mann, den ich kenne. Das darf nur keiner merken, sonst ist er in seinen Kreisen sofort unten durch. Da spielt er ja immer gern ein bisschen den Räuber Hotzenplotz. Weißt du, ich habe seit Heriberts Tod keine Lust mehr auf einen neuen Mann, und damit ich nicht allein zum Tanzen gehen muss, hab ich den Achim dazu verdonnert. Der hat mir noch einen Gefallen geschuldet und konnte sich deshalb nicht groß widersetzen. Aber auch wenn er es nie zugeben würde, machen ihm das Salsa-Tanzen, die Musik und die Clique drumherum inzwischen richtig Spaß. Trotzdem: Mehr als Freundschaft ist das nicht zwischen uns und wird es auch nie werden.« Sie hatte Agnes angestupst. »Komm doch mal mit. Es wird dir gefallen. Salsa ist nicht nur Tanz, nicht nur Musik – das ist ein Lebensgefühl. Würde dir auch guttun!«
Agnes aber hatte wie stets dankend abgewinkt.
Inzwischen hatte Achim die Pizzen auf zwei Teller gelegt. Agnes musterte sie. Für sie hatte er eine Pizza Funghi besorgt. Dass er sich gemerkt hatte, dass dies ihre Lieblingspizza war, rührte sie.
Achim schnitt seine eigene Pizza – eine mit Salami – bereits in große Stücke, nahm eines davon in die Hand und kaute mit sichtlichem Appetit. Kaum hatte er das erste Stück heruntergeschlungen, nahm er einen kräftigen Schluck Wein. »Jetzt iss«, forderte er sie auf und zeigte auf Agnes’ Teller. »Kalter Käse schmeckt nicht. Ich habe mir fast die Finger verbrannt, um die Dinger so heiß wie möglich hierhin zu kriegen. Jetzt hau gefälligst rein!«
Schon schob er sich ein weiteres Stück Pizza in den Mund, kaute laut und genüsslich und sagte mit vollem Mund: »Wie sieht es hier überhaupt aus? Die Bude ist ja total zugesaut! Machst du eigentlich noch was anderes als Trübsal blasen? Das hätte der Inge aber mächtig gestunken, dass du ihre Villa Kunterbunt so verwahrlosen lässt. Du selbst siehst inzwischen ja auch eher wie ’n Gespenst aus. Kein Wunder, dass der Bekloppte aus Parterre dich so vergöttert. Ihr passt inzwischen ganz gut zueinander: beide mehr tot als lebendig. Ach ja, das hier hat der schräge Miefkopp mir für dich mitgegeben.«
Achim ließ eine CD-Hülle über den Tisch in Agnes’ Richtung schlittern. »Mir hat er übrigens gesagt, ich soll bloß die Finger von dir lassen. Ich wäre sowieso nix weiter als ’ne Stadt in Niedersachsen. Was auch immer er damit gemeint hat.« Mit großen Bissen aß Achim weiter.
Agnes, die inzwischen zaghaft an ihrer Pizza nagte, hob den Blick. »Stimmt aber, was er da sagt.«
»Hä? Was meinst du?«
»Na, die Stadt«, erklärte Agnes. »Du bist wirklich eine Stadt in Niedersachsen.«
Achim wischte mit seiner freien Hand vor seinen Augen hin und her. »Bist du jetzt auch inzwischen plemplem? Ich bin ’ne Stadt? Ja, nä. Is’ klar. Und du ein Dorf oder was?«
»Dein Name! Genauso heißt eine Stadt in Niedersachsen«, antwortete Agnes. »Das wird er gemeint haben. Und dass du die Finger von mir lassen sollst … Pfff!« Mehr fiel Agnes dazu nicht ein.
Achim schüttelte den Kopf. »Na, da kann er eh unbesorgt sein. Ich stehe nicht so auf Windkoteletts. Dich muss man bei Sturm ja festketten, so dünn wie du inzwischen bist. Und deine Haare … Also wenn du morgen wirklich mit mir zu la Estrella willst …«
»Estrella?« Agnes nahm nun ebenfalls einen großen Schluck Wein, auch um Achims Unverschämtheiten bezüglich ihres Äußeren runterzuschlucken.
»So nennen wir unsere Tanzlehrerin. Heißt eigentlich Rosemarie. Die hat so was Strahlendes, wie ein Stern, und alle sind heimlich ein bisschen in sie verliebt, wirste sehen.«
»Also wegen des Tanzkurses morgen …«, setzte Agnes an.
»Nönönönönö! Komm mir jetzt nicht so, Frolleinchen!« Achim sah sie streng an. »Das wird jetzt durchgezogen. Das haben wir Inge versprochen. Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Schon vergessen?«
Er rülpste laut. Von seiner Pizza war inzwischen nichts mehr übrig, und als er sah, dass Agnes nach der Hälfte aufgegeben hatte, zog er ihren Teller zu sich und griff nach einem weiteren Stück. »Ich kann mir auch Schöneres vorstellen, als mit ’nem schlecht gekleideten Zahnstocher wie dir noch mal ’nen Anfängerkurs zu machen, obwohl ich selbst schon seit tausend Jahren Salsa tanze. Aber wenn Inge das wollte, dann ist es für mich heiliges Gesetz. Und für dich auch. Schließlich hast du ihr hier den ganzen Schuppen inklusive Mieteinnahmen zu verdanken. Da wirst du dich doch wohl nicht vor so einem kleinen Wunsch von ihr drücken.«
»Willst du beim Tanzkurs auch so unverschämt zu mir sein? Äußerst verlockend, mit einem Mann zu tanzen, der ungefähr sieben Köpfe kleiner ist als ich und mich gerade als schlecht gekleideten Zahnstocher bezeichnet hat!«
Obwohl Agnes sehr offensichtlich sauer war, lachte Achim laut. »Guck mal an, unser Gespenst lebt noch und kann sogar ein bisschen wütend sein! Huch, jetzt hab ich mich aber erschreckt, wie feste du mit dem kleinen Füßchen aufgestampft hast! Keine Angst, Agnes! Ich will dich nur ein bisschen provozieren. Damit du mal wieder ins Leben zurückkommst. Wenn du Komplimente brauchst, kannst du dich ja an den halb verfallenen Katzenflüsterer aus dem Erdgeschoss halten.«
Agnes zog die CD zu sich, die Willibald Bartschneider Achim mitgegeben hatte. Die Winterreise von Franz Schubert, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Mit krakeliger Schrift hatte Herr Bartschneider einen Zettel in die CD-Hülle geklemmt: Agnes, Du Königin meines hoffenden Herzens! Verschmähte Liebe ist wie ein Eiswind in einer heißen Brust. Hör Dir bitte Stück Nummer drei an, und du weißt, was ich fühle.
Agnes drehte die CD herum. Das dritte Stück hieß Gefrorene Tränen.
Nein, herzlichen Dank. Kein Bedarf!
Nachdem die Flasche Rotwein geleert war, machte Achim sich auf den Heimweg. Beim Abschied gab er ihr noch eine weitere Frechheit mit: »Morgen Abend, Viertel nach sieben. Keine Ausrede. Ich hole dich ab. Und mach was mit deinen Haaren. Die sehen wirklich aus, als hätten sich Fledermäuse darin verflogen. So nehme ich dich nicht mit. Fällt alles auf mich zurück.«
Im nächsten Moment rannte er mit seinen kurzen krummen Beinen die Treppe herunter. Seine Stiefel hörten sich auf den Holzstufen an wie Pistolenschüsse. Und mit diesem Großstadtcowboy sollte sie sich morgen auf dem Tanzparkett lächerlich machen!
Ach, Inge! Du hast ja keine Ahnung, was du da von mir verlangst! Seufzend ging Agnes zu ihrem Kleiderschrank. Es war sicherlich angebracht, sich für die Tanzstunde ein wenig schick zu machen. Ihre Röcke würden ihr im Moment allerdings bestimmt nicht passen. Sie war wirklich viel zu dünn geworden. Ratlos ließ Agnes den Blick über ihre Kleidungsstücke streifen. Was hatte Inge eigentlich immer getragen, wenn sie mit Achim tanzen ging?
Obwohl das noch gar nicht allzu lange her war, hatte Agnes kein klares Bild davon vor Augen. Sie wusste nur noch, dass Inge immer toll ausgesehen hatte und wunderbar aufregend roch, wenn sie mit Achim auf die Piste ging.
Sie ließ sich auf ihr Bett plumpsen und gab das Stichwort »Salsa tanzen« in den Internetbrowser ihres Smartphones ein. Sofort wurde ihr eine lange Liste an Treffern angezeigt, doch von Video zu Video, das sie anklickte und sich ansah, wurde sie mutloser. Heißblütige, blutjunge Frauen in figurbetonten Kleidern oder Röckchen, die kaum den Po bedeckten, schmiegten sich in katzenartiger Eleganz an grinsende schlanke Männer in ebenso engen Hosen. Die Musik kannte Agnes durch Inge, aber sie hatte noch nie darüber nachgedacht, wie man auf die ungeordneten Rhythmen zu tanzen hatte. Die Füße der Tänzerinnen und Tänzer schienen sich kaum zu bewegen, umso mehr dafür die Hüften. Die knackigen Hinterteile ruderten wild umher.
So was mache ich nicht!, dachte Inge. Da bekommt meine Hüfte ja schon vom Zuschauen ein Schleudertrauma.
Irgendwann stieß sie auf einen Onlinekurs für Anfänger, in dem eine bildhübsche Miranda in geduldigem Ton den Grundschritt erklärte: »Schritt, Schritt, Schritt – Pauuuse. Schritt, Schritt, Schritt – Pauuuuse. Macht ganz kleine Schritte, und achtet immer darauf, dass eure Füße weit genug auseinander stehen, damit der Mann dazwischentreten kann. Schließlich geht es beim Salsa um Nähe. Salsa ist ein körperbetonter Tanz, wo der Körper des Mannes mit dem Körper der Frau kommuniziert. Salsa ist Erotik, Leidenschaft, Lebensfreude …«
Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als mit diesem halbseidenen, krummbeinigen Minimännchen von Achim einen auf Leidenschaft und Erotik zu machen, dachte Agnes grimmig. Mit dem Handy in der Hand ging sie ins Wohnzimmer, und ehe sie sichs versah, hatte sie eine weitere Flasche Primitivo geköpft. Passt wie die Faust aufs Auge, grollte sie. Das war kein Tanzen, das war Sex auf der Tanzfläche!
Agnes brach der Schweiß aus. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, ein Tanzvideo nach dem anderen zu schauen. Irgendwann war der Akku ihres Smartphones entladen und sie selbst völlig erledigt. Von dem ungewohnten Weingenuss war ihr schwindlig und ein wenig schlecht. Sie schaltete ihr Smartphone aus und hängte es zum Laden an das Ladekabel.
In der Küche fiel ihr Blick auf die CD, die Willibald Bartschneider ihr verehrt hatte. Aus purer Neugierde und weil ihr Handy gerade sowieso keinen Mucks mehr tat, legte sie die CD in den CD-Spieler und wählte Track drei.
Gefrorne Tropfen fallen von meinen Wangen ab. Und ist’s mir denn entgangen, dass ich geweinet hab. Ei, Tränen, meine Tränen. Und seid ihr gar so lau, dass ihr erstarrt zu Eise wie kühler Morgentau …
Wie gebannt blieb Agnes stehen. Die Stimme war genauso kraftvoll und klagend wie bei dem Lied, das Herr Bartschneider ihr heute im Flur vorgespielt hatte.
… und dringt doch aus der Quelle der Brust so glühend heiß, als wolltet ihr zerschmelzen des ganzen Winters Eis …
Ohne dass sich Agnes dagegen wehren konnte, flossen ihr Tränen über die Wangen. Erst langsam und zaghaft, dann immer heftiger. Schluchzend startete sie das Stück erneut. Sie konnte einfach nicht aufhören zu weinen.
Nach der x-ten Wiederholung schaltete sie den CD-Player wieder aus und warf sich auf ihr Bett. Genauso hatte sie sich in den letzten Wochen gefühlt: als wären der ganze Kummer über Inges Tod und die damit einhergehende Einsamkeit in ihr zu einem riesigen Gletscher gefroren. Als hätte sie im Eis ihrer verdrängten Gefühle festgesteckt. Und nun, da Schuberts Lied das Eis in ihr zum Schmelzen gebracht hatte, konnte sie einfach nicht mehr aufhören zu weinen.
Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf. In ihren Träumen mischten sich die chaotischen Klänge der Salsa mit den traurigen des Schubert-Lieds. Herr Bartschneider lag in einer Pfütze, und wann immer Agnes ihm aufhelfen wollte, schob sich die rosa Junggesellinenabschiedswolke dazwischen, und die jungen Frauen zischten wütend: »Fass bloß die alte Hexe nicht an, sonst fällst du in einen hundertjährigen Schlaf!«
Mit klopfendem Herzen stieß Agnes die Tür zu Lexis Friseursalon Hairlichkeit auf. Seit zwölf Jahren ließ sie sich auf Inges Empfehlung hin von Lexi die Haare schneiden, wodurch sie einander inzwischen ganz gut kannten. Selbstverständlich hatte sich auch Inge bei Lexi den Kopf zurechtsetzen lassen, wie sie selbst es ausgedrückt hatte. »Agnes, der Kopf muss stehen, der Rest ist egal«, hatte Inge immer wieder gesagt, und genau dafür war Lexi ihrer Meinung nach die erste Wahl.
Und aus diesem Grund hatte Agnes den Salon seit Inges Tod gemieden. Als sie nun eintrat, hoffte sie, Lexi sei nicht im Salon oder zumindest mit einer anderen Kundin beschäftigt, doch es kam genau so, wie sie befürchtet hatte: Sobald Lexi sie sah, entschuldigte sie sich bei der Kundin, der sie gerade die Haare föhnte, stürzte auf Agnes zu, zog sie in ihre Arme und sagte mit leiser Grabesstimme: »Ach, Agnes! Endlich sehe ich dich! Mir tut das alles so unfassbar leid. Mein Beileid, wirklich. Ich wäre auch zur Trauerfeier gekommen, aber …«
»Schon gut, ich weiß ja, was hier immer los ist«, wehrte Agnes ab.
»Nein, nein! Das verstehst du falsch! Ich hätte mir natürlich freigenommen. Schließlich kenne ich Inge seit über zwanzig Jahren. Kannte Inge … Entschuldigung, ich habe mich einfach noch nicht daran gewöhnt, von ihr in der Vergangenheit zu sprechen.« Lexi traten die Tränen in die Augen. »Schon fließt es wieder.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Wie schlimm muss das erst mal für dich sein, wenn ich schon sofort losheule. Ihr seid doch so ultra eng befreundet … wart so ultra eng befreundet. Siehst du, da ist es schon wieder passiert. Ich kann es einfach nicht begreifen, dass Inge … Sie war doch immer so lustig und lebendig!«
Agnes merkte, wie ihr Hals trocken wurde. Sie schob Lexi von sich und öffnete ihren Anorak. »Danke für dein Beileid«, sagte sie steif. »Ich versuche gerade, wieder etwas mehr ins Leben zurückzufinden. Bei den Haaren wollte ich anfangen. Hast du in der nächsten Zeit einen Termin für mich?« Verlegen griff sie in das verwilderte Nest auf ihrem Kopf.
Lexi tat es ihr sofort gleich und zupfte an Agnes’ Haarsträhnen herum. »Mein Gott, Agnes! Das sieht ja furchtbar aus! Da muss aber wirklich dringend … So kann ich dich ja gar nicht wieder vor die Tür schicken. Elif, habe ich heute Mittag einen Termin? Sonst würde ich meine Mittagspause für dich opfern.«
»Das kommt gar nicht infrage«, wollte Agnes abwehren.
Schüchtern trat Lexis Mitarbeiterin neben sie und gab ihr die Hand: »Frau Michels, mein Beileid.« Elif war anzumerken, wie unangenehm ihr die Situation war. An Lexi gewandt fuhr sie fort: »Um eins kommt die Braut zum Probefrisieren, die junge Frau mit den dünnen Haaren … Ich hab den Namen vergessen.«
»Die kann ruhig ’ne Viertelstunde warten«, entschied Lexi. »Kannst ihr ja währenddessen den Nacken massieren. Agnes geht vor.«
Agnes sah verlegen auf ihre Schuhspitzen. »Ich will euch nicht den Terminplan durcheinanderbringen. Jetzt habe ich mich drei Monate nicht hier blicken lassen –«
»Quatsch, keine Widerrede!«, unterbrach Lexi sie. »Dass dir der Sinn nicht nach Schönheit und Haarschnitt stand, ist doch klar. Aber jetzt bist du dran. Wir kümmern uns um dich. Komm um halb eins, dann kann Elif dir schon mal die Augenbrauen und Wimpern machen, und danach schneide ich. Färben müssen wir auch. Du siehst wirklich furchtbar aus. Aber dafür hast du ja uns. Abgemacht? Halb eins.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich wieder ihrer Kundin zu.
Agnes schaute auf ihre Armbanduhr. Halb elf. Sie hatte also noch zwei Stunden Zeit, um sich zu Hause ein Frühstück zu machen und sich ein wenig instand zu setzen. Sie trat auf die Straße, schloss den Reißverschluss ihres Anoraks und setzte sich die Kapuze auf.
Der erste Schritt wäre geschafft, dachte sie und atmete tief durch. Im Vergleich zu gestern war es richtig kühl. Ein kalter Ostwind fegte um die Häuser, und wer zu Fuß unterwegs war, hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen und sich einen dicken Wollschal um Hals und Mund gewickelt.