Altweiberherbst - Roswitha Gruler - E-Book

Altweiberherbst E-Book

Roswitha Gruler

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Beschreibung

Eine zu Herzen gehende Geschichte zweier Frauen, beide Anfang sechzig, die durch eine enge Freundschaft verbunden sind. Während die Hausfrau Theresa nach dem Tod von ihrem Mann in ein tiefes Loch fällt, verliert Magda kurz vor der Pensionierung ihre Arbeitsstelle und wird von ihrem Freund verlassen. Die beiden Frauen erstellen eine gemeinsame Wunsch-to-do-Liste und arbeiten sie voller Tatendrang und mit neuem Lebensmut ab. Dabei stellen sie fest, dass das Leben trotz einiger Hindernisse noch viele Überraschungen für sie bereithält.

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Seitenzahl: 166

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Altweiberherbst

Roswitha Gruler

Roman

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten.

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Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbildes ist nur mit Zustimmung der Coverillustratorin möglich.

www.net-verlag.de

Erste Auflage 2013

© net-Verlag, 39517Cobbel

© Coverbild: Jenny Schneider

Covergestaltung: net-Verlag

Lektorat: Miriam Steinröhder

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 978-3-944284-

Für alle Freunde dieser Welt

Freundschaft

Die Bäume wiegen sich leicht im Wind,

welch eine harmonische Einheit sie doch sind.

Gemeinsam trotzen sie allen Gefahren,

versuchen, sich vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Die Äste berühren und streicheln einander,

welch ein schönes und friedliches Miteinander.

Wie viel würde ein einzelner Baum aushalten,

schutzlos ausgeliefert den Naturgewalten?

Er würde zwar trotzen, aber doch verkümmern,

irgendwann würde ihn ein Blitz zertrümmern.

Wem kann er seine ganzen Sorgen erzählen?

Er muss gerade stehen und sich alleine quälen.

Wie schön ist es doch, sich fallen zu lassen,

sich freundschaftlich an den Händen zu fassen,

gemeinsam an einem Strang zu ziehen,

sich der tödlichen Einsamkeit zu entziehen.

Lasst uns wie die Bäume im Wald leben,

jeder hat jedem etwas zu geben.

Roswitha Gruler

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Freundschaft

– 1 –

– 2 –

– 3 –

– 4 –

– 5 –

– 6 –

– 7 –

– 8 –

– 9 –

– 10 –

– 11 –

– 12 –

– 13 –

– 14 –

– 15 –

– 16 –

– 17 –

– 18 –

– 19 –

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Buchempfehlungen

– 1 –

Theresa Meindl machte keine Anstalten, aus dem Auto zu steigen. Sie konnte nicht. Heute wurde ihr Mann Otto beerdigt, und sie musste dabei sein. Jeder würde sie beobachten, und jede Gefühlsregung würde später kommentiert werden.

Sie kannte dieses Gerede bereits von anderen Beerdigungen:

»Sie hat ja gar nicht geweint. Wahrscheinlich ist sie froh, dass er unter der Erde ist!«

»Sieh dir nur diese scheinheiligen Tränen an! Für mich sehen die nicht echt aus…«

Und so weiter.

Theresa hasste solche Auftritte. Sie war es nicht gewohnt, im Vordergrund zu stehen.

Nun musste sie sich von dem Mann verabschieden, mit dem sie fast vierzig Jahre verheiratet gewesen war. Was sollte jetzt aus ihr werden? Sie war völlig ratlos. Plötzlich hatte sie jede Menge Zeit, über sich nachzudenken, und das gefiel ihr überhaupt nicht.

Theresa hatte mit Otto eine glückliche Ehe geführt, auch wenn sie ihn die letzten zehn Jahre hatte pflegen müssen. Aber sie hatte es gerne getan, weil sie ihn liebte. Nun ließ er sie alleine in dem viel zu großen Haus zurück. Ihre Tochter Corinna hatte schon lange ihr eigenes Leben und wohnte mit ihrer Familie im entfernten Luzern, sodass sie sich nicht allzu oft sahen.

»Kommst du?«

Ihre Freundin Magda, mit der sie zum Friedhof gefahren war, holte Theresa aus ihren Gedanken zurück. Magda war bereits ausgestiegen und öffnete ihr die Beifahrertür.

»Ja, ich komme. Auch wenn ich jetzt lieber woanders wäre…« Schwerfällig stieg Theresa aus dem Auto, ordnete nochmals ihre schwarze Kleidung und holte vom Rücksitz ihre Handtasche und einen kleinen Blumenstrauß, bestehend aus roten Rosen. Aus der Handtasche nahm sie eine dunkle Sonnenbrille, die sie gleich aufsetzte. »Ich bin so weit.«

Magda schloss die Autotür, und dann gingen sie nebeneinander her zum Haupteingang.

»Deine Tochter ist schon da. Siehst du, da vorne steht ihr Auto! Sie wartet sicher schon drinnen.«

Magda versuchte, Theresa etwas abzulenken, aber diese ging nur wie ein Roboter neben ihr her. Vor dem Eingang blieben sie kurz stehen, damit sie sich nochmals sammeln konnten.

Theresa war jedes Mal beeindruckt, wenn sie diesen Friedhof betrat. Er zählte zu den schönsten weit und breit. Vor allem das imposante, schmiedeeiserne Tor sah sehr majestätisch aus. Links und rechts vom Tor standen zwei historische Gebäude, in denen sich die Friedhofsverwaltung und die öffentlichen Toiletten befanden. Geradeaus führte der Weg direkt zur alten Friedhofskapelle, und von dort kam man entweder zu den Gräbern, zur Gärtnerei oder zu anderen Einrichtungen auf dem Friedhof.

Theresa kannte sich auf dem Friedhof bestens aus. Sie war oft mit Otto hier gewesen – entweder bei anderen Beerdigungen oder einfach nur so zum Verweilen. Der Friedhof lag nämlich auf einer Anhöhe, direkt am Waldrand, und bot so einen wundervollen Blick auf den Stadtteil, in dem sie wohnten.

Ein Kiesweg führte an der Kapelle vorbei bis zur Einsegnungshalle. Ein wunderschöner, alter Baumbestand sorgte für ein parkähnliches Ambiente. Vereinzelt standen Bänke an der Seite, die die Besucher zum Ausruhen oder auf ein Schwätzchen mit anderen einluden. Viele verweilten dort einfach nur in der Betrachtung der Gräber.

An diesem Tag nutzten einige Besucher das strahlend blaue, schöne Wetter aus, um die Gräber herzurichten oder die Pflanzen zu gießen.

Magda und Theresa kamen zur Einsegnungshalle, wo Corinna bereits mit ihrer Familie wartete. Da sonst noch keine Trauergäste anwesend waren, begrüßte Theresa ihre Tochter und deren zwei Kinder mit einer innigen Umarmung und gab ihrem Schwiegersohn Peter herzlich die Hand.

Die Einsegnungshalle war sehr schön hergerichtet. Zwei prachtvolle Trauerkränze mit bedruckten Schleifen zogen die Blicke automatisch an. Eine der beiden Kranzschleifen trug die Worte In inniger Liebe. Theresa, und die andere war beschriftet mit In Liebe und Dankbarkeit. Corinna mit Familie. Der eine Kranz bestand aus leuchtend pinkfarbenen Gerbera mit weißen Rosen und der andere aus gelb-roten Sommerblumen. Daneben standen mehrere blühende Blumenschalen mit einem letzten Gruß von Bekannten und vom Arbeitgeber. In der Mitte befand sich auf einer Staffelei ein vergrößertes Foto von Otto Meindl, und davor stand wie nackt die blau glänzende Urne. Darin befanden sich nun die Überreste von ihrem Otto. Kaum zu glauben! Theresas Blick wurde von diesem kleinen Gefäß angezogen. Sie war nicht mehr imstande zu reden.

Magda und Corinna führten sie zu den beiden Stuhlreihen und setzten sich in die erste Reihe. Die beiden Kinder und der Schwiegersohn nahmen in der zweiten Reihe Platz.

So nach und nach trafen die ersten Trauergäste ein. Betroffene Stimmung machte sich breit. Ein gemeinsames Schweigen der Anwesenden, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, kündigte die bevorstehende Zeremonie an. Nur das fröhliche Vogelgezwitscher von den nahe gelegenen Bäumen und das leichte Wasserplätschern von einem Brunnen hauchte der kleinen Menschenmenge Leben ein. Die Natur lebte weiter und ließ sich nicht vom Tod anderer Lebewesen stören.

Theresa nahm dies zwar alles wahr, konnte diese Erkenntnisse jedoch nicht direkt zuordnen. Ihr Blick war immer noch gefangen von der Urne und von dem großen Foto von Otto.

Ein leises Bimmeln ließ die Trauergäste aufhorchen. Der Pfarrer und zwei Ministranten kamen zur Einsegnungshalle. Der Pfarrer nickte kurz den Trauergästen und der Trauerfamilie zu und begab sich hinter das Rednerpult, um seine Predigt zu halten. Theresa bekam in ihrer Versunkenheit nur noch die letzten Worte des Pfarrers mit.

»… Otto Meindl hat ein gutes Leben geführt. Er war ein gottesfürchtiger Diener. Dafür wird Gott ihn mit offenen Armen empfangen und ihn in sein Himmelreich aufnehmen. Wir werden seine Asche der Erde übergeben und für ihn beten. Amen.« Der Pfarrer nickte Corinna zu und ging zur Seite.

Corinna begab sich zögernd an das Rednerpult und faltete zwei Blätter auseinander. Sie schaute kurz zu den Trauergästen und begann, zuerst zaghaft, mit ihrer Rede: »Mein Vater Otto Meindl wurde 1942 in Frauenfeld als Sohn eines Gastwirts geboren. Er hatte einen zehn Jahre älteren Bruder, den er aber bereits früh durch einen Unfall verlor. Da mein Vater ein guter Schüler war, machte er das Abitur und studierte Betriebswirtschaft. Er bekam nach dem Studium eine Arbeitsstelle bei der Firma Schnitteler. Dort arbeitete er sich hoch vom Buchhalter bis in die Geschäftsleitungsebene, wo er bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden tätig war. Im Jahre 1969 lernte er bei einem Stadtfest in Winterthur meine Mutter Theresa kennen. Sie verliebten sich auf den ersten Blick, heirateten, und drei Jahre später kam ich als einziges Kind auf die Welt. Auch wenn mein Vater beruflich sehr eingebunden war, widmete er seine begrenzte Freizeit immer seiner Familie. Ich hatte den besten Papi auf der ganzen Welt. Er war zwar streng, aber immer liebevoll und gerecht. Mit sechzig bekam mein Vater seine schwere, unheilbare Krankheit, von der er erst jetzt – zehn Jahre später – erlöst wurde. Ich werde ihn sehr vermissen und bedanke mich bei ihm für alles. Am meisten danke ich aber dem lieben Gott, dass mein Vater die Welt durch seine Anwesenheit verschönern durfte.« Corinna blickte nun auf die Urne. »Mach’s gut, Papi! Ich liebe dich und werde dich in meinem Herzen tragen. Mach dir keine Sorgen um Mama! Ich werde mich um sie kümmern.« Schluchzend verließ Corinna das Rednerpult und setzte sich wieder in die erste Stuhlreihe neben ihre Mutter.

Theresa nahm ihre Hand tröstend in die ihre und reichte ihr ein Taschentuch.

Der Bestatter, der unauffällig bei den Trauergästen stand, holte die Urne und ging in würdevoller Haltung hinter dem Pfarrer und den Ministranten her, die sich auf den Weg zum Grab gemacht hatten. Danach folgten die Trauerfamilie sowie die Trauergäste.

Ein mit einem schwarzen Trauerflor verziertes Holzkreuz und ein mit Rasenteppich verkleidetes Erdloch wiesen auf die Grabstelle hin. Sogar die herausgeschaufelte Erde war mit einem grünen Teppich bedeckt. Vermutlich sollte damit der Anblick des frischen Grabes ansehnlicher gemacht werden.

Die Urnengräber lagen recht nah beieinander, sodass die Trauergäste dicht gedrängt zwischen den kleinen Gräbern und auf den schmalen Wegen standen, sehr darauf bedacht, in keine Ruhestätte zu treten. Die Angehörigen standen direkt hinter dem Grab, und der Pfarrer platzierte sich mit seinen beiden Ministranten direkt davor.

Als alle Anwesenden einigermaßen ruhig standen, holte der Pfarrer einen Weihwasserwedel hervor und sprach: »Ich segne dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Gott sei deiner Seele gnädig! Ruhe sanft in Frieden!« Der Pfarrer schwang den Wedel über die Urne und über das Grab.

Die Trauergäste bekreuzigten sich mit gesenkten Gesichtern. Der Pfarrer wiederholte die Prozedur mit Weihrauch, und nach der Segnung nickte er den Angehörigen zu und machte sich mit den Ministranten auf den Weg zum Friedhofsausgang.

Nun kam Bewegung in die Trauergäste. Einer nach dem anderen begab sich zum Grab, tauchte den Wedel in den Weihwasserbehälter und schwang ihn vorsichtig über die Urne, damit das Wasser nicht so weit spritzte. Die Leute gingen mit gesenkten Köpfen an der Trauerfamilie vorbei, um jeglichen Blickkontakt zu vermeiden.

Theresa, die hoch erhobenen Hauptes dastand, erkannte einige ehemalige Arbeitskollegen und Nachbarn unter den Trauergästen. Sie war wegen ihrer Anteilnahme sehr gerührt und würde sich später beim Umtrunk bei ihr zu Hause bei ihnen für ihr Kommen bedanken.

Als nur noch die Familie am Grab übrig war, verabschiedete sich Corinna von ihrem Vater. Sie weinte nun heftig und legte ein kleines Blumensträußchen an die Grabstelle. Ihr Mann legte ihr den Arm um die Schulter und ging langsam mit ihr zum Ausgang. Die beiden Kinder folgten ihnen unauffällig.

Magda nahm Theresa an der Hand und ging mit ihr zum Weihwasser. »Geht es?«, fragte sie besorgt.

Theresa nickte, bückte sich und ließ ihren Rosenstrauß in das Grab fallen. Noch immer konnte sie nicht weinen. Es war, als wäre der Hahn zugedreht, und sie konnte ihn nicht öffnen. Sie drehte sich langsam zu Magda um und sagte mit einer unendlich tiefen Trauer: »Ach, Magda, was soll nun aus mir werden? Corinna wohnt weit weg bei ihrer eigenen Familie, und ich bleibe wie ein altes Möbelstück in dem großen Haus zurück.«

Magda nahm Theresa in den Arm. »Du hast ja noch mich. Ich lasse dich nicht alleine. Ich muss nur jetzt leider für drei Wochen verreisen. Du weißt, wir haben hintereinander zwei große Messen. Mein Chef hat mich da einfach eingeteilt. Aber sobald ich zurück bin, komme ich dich besuchen, und dann machen wir Pläne.« Magda hakte sich bei Theresa unter und zog sie weg vom Grab. »Wir sollten deine Gäste nicht warten lassen. Komm, bringen wir es hinter uns! Ich persönlich finde, dass es nichts Perverseres gibt als einen Leichenschmaus.«

Theresa drückte Magda dankend die Hand und folgte ihr willig zum Ausgang. Sie blieb noch einmal kurz stehen und drehte sich zum Grab um. Wie friedlich doch alles dalag! Unwillkürlich fragte sie sich, wann ihre Zeit wohl kommen würde. Was hatte sie denn noch vom Leben zu erwarten? Mit einundsechzig galt man als alte Frau, für die es entsprechende Einrichtungen gab. Gehörte sie auch schon dazu? Eigentlich fühlte sie sich noch recht fit. Aber sie war es nicht gewohnt, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Zum Glück hatte sie noch Magda. Sie warf ihr einen dankbaren Blick zu und verließ mit ihr den Friedhof.

– 2 –

In der Einfahrt vor Theresas Haus standen schon viele Autos, als Magda ihren roten Golf vor die Garage stellte. Als die beiden Frauen ausstiegen, hörten sie ein reges Stimmengemurmel von den Gästen, die sich hinter dem Haus auf der Gartenterrasse zu einem Umtrunk versammelt hatten.

Theresa straffte ihre Schultern und atmete tief durch, bevor sie die Haustüre aufschloss. Ihr war es lieber, den Garten vom Haus her zu betreten, anstatt um das Haus herum zu gehen. Magda folgte ihr wie ein Schatten, immer bereit, sie im Notfall zu stützen. Doch Theresa hatte eine eiserne Disziplin. Sie würde sich nicht gehen lassen. Nicht vor all den Leuten. Sie würde durchhalten – koste es, was es wolle.

Die beiden Frauen stellten ihre Handtaschen ab und begaben sich anschließend auf die Terrasse. Das Wetter könnte nicht schöner sein. Strahlend blauer Himmel und äußerst angenehme Temperaturen verliehen der schwarz gekleideten Trauergesellschaft ein seltsam angenehmes Ambiente. Es hatte beinahe etwas Unwirkliches. Gerade eben war noch die Beerdigung gewesen, und kurze Zeit später fand man sich schon wieder zu einem Fest zusammen. Theresa wurde dadurch mit aller Brutalität klargemacht, dass das Leben weiterging.

Als die beiden Frauen die Terrasse betraten, drehten sich die Gäste zwar nach ihnen um, aber sie setzten ihre Gespräche fort. Sämtliche Trauergäste wurden zu einem Stehumtrunk eingeladen. Für die Bewirtung war ein örtlicher Partyservice beauftragt worden, der auf solche Anlässe spezialisiert war. Theresa fand, dass auch alles recht professionell aussah. Ungefähr zehn Stehtische mit langen, weißen Tischdecken und grün-weißem Tischschmuck standen verteilt auf der Terrasse und auf dem Rasen. Seitlich war ein kleines Buffet aufgebaut, wo man Getränke und kleine Häppchen fand. Zusätzlich kümmerten sich aber noch zwei Bedienungen darum, dass die Gläser oder Kaffeetassen nachgefüllt wurden, und um das schmutzige Geschirr.

Magda wandte sich an Theresa: »Ich frage mal beim Partyservice nach, ob alles in Ordnung ist, und du mischst dich unter die Gäste. Einverstanden?«

Theresa nickte gedankenverloren. Diesen Part würde sie auch noch überstehen. Sie musste nur fest genug daran glauben.

Sie ging zu einem der Stehtische, an dem die Arbeitskollegen und der Geschäftsführer von Ottos ehemaliger Firma standen.

»Hallo! Wie geht es Ihnen? Es hat mich sehr gefreut, dass Sie zur Beerdigung gekommen sind.« Theresa wurde sofort in ein Gespräch verstrickt.

Magda stellte ihr unauffällig eine Tasse Kaffee hin, sodass sie ab und zu daran nippen konnte.

Kurze Zeit später verließ Theresa den Tisch und ging zum nächsten. Dort waren hauptsächlich die Nachbarn versammelt. Sie begrüßte die Leute und bedankte sich auch bei ihnen für ihr Kommen.

So ging es reihum weiter.

Irgendwann hatte Theresa ein Glas Sekt-Orange in der Hand und stand ihrer Tochter gegenüber.

Corinna sah sie besorgt an. »Du siehst nicht so gut aus, Mama. Willst du dich nicht mal hinsetzen? Ich nehme dir gerne etwas von deinen Pflichten ab.«

Theresa schüttelte den Kopf. »Nein, ich schaffe das schon. Ist aber nett, dass du fragst. Wo sind deine Kinder und dein Mann?«

Corinna schaute sich kurz um. »Die sind am Teich. Sie wollten nachschauen, ob noch irgendwelche Fische darin schwimmen. Peter ist mitgegangen, damit sie auch artig bleiben.«

Theresa schaute zum Teich und entdeckte ihre beiden Enkelkinder und ihren Schwiegersohn. Die Kinder ließen kleine Steinchen auf dem Wasser hüpfen und schienen so gut beschäftigt zu sein.

»Willst du nicht für eine Weile zu uns nach Luzern kommen, Mama?«, fragte Corinna vorsichtig. »Dann wärst du nicht so alleine und hättest etwas Gesellschaft.«

Theresa dachte über den Vorschlag nach und schüttelte wieder den Kopf. »Das ist lieb von dir. Aber ich würde gerne etwas alleine sein und mich ein wenig in meiner Trauer vergraben. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, mir bewusst werden zu lassen, dass dein Vater nicht mehr da ist. Vielleicht brauche ich jetzt etwas Abgeschiedenheit.«

Corinna nickte verständnisvoll. »Alles klar. Aber du kannst jederzeit anrufen, wenn dich irgendetwas bedrückt oder wenn ich kommen soll. Einverstanden?«

Theresa nickte und küsste sie auf beide Wangen. »Ihr wollt doch sicher bald aufbrechen, oder? Denk an den Berufsverkehr! Sonst steht ihr wieder im Stau.«

Corinna sah auf ihre Armbanduhr. »Ja, du hast recht. Wenn du mich nicht mehr brauchst, würde ich wirklich gerne gleich abfahren. Ich gehe mal meine Familie einsammeln und komme dann noch mal zum Tschüsssagen.«

Theresa blickte sich um. Die Gäste brachen so langsam auf. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hätte sie diesen Tag hinter sich gebracht. Während Magda dem Partyservice half, das Geschirr einzusammeln, begann Theresa, die ersten Gäste zu verabschieden. Zum Schluss umarmte sie ihre Tochter und deren Familie, und dann waren plötzlich alle fort. Selbst der Partyservice hatte alles in Windeseile abgebaut und eingepackt, und nur wenige Spuren deuteten darauf hin, dass hier gerade eben noch ein Fest stattgefunden hatte.

Magda machte sich auch so langsam fertig zum Gehen. Sie hatte ihre Handtasche geholt und kam auf Theresa zu. »Kann ich dich wirklich alleine lassen?«

»Selbstverständlich. Ich bin froh, wenn ich meine Beine hochlegen kann und nichts mehr reden muss. Wir sehen uns dann, wenn du von deiner Messe zurückkommst. Ich wünsche dir viel Spaß! Und komm gesund wieder!« Theresa umarmte Magda zum Abschied und begab sich dann ins Haus. Sorgfältig verschloss sie von innen die Terrassentür und zog die Gardinen zu. Danach streifte sie ihre Schuhe ab und wanderte langsam von Raum zu Raum.

Jeder Raum und fast jedes Möbelstück verband sie mit einer Erinnerung an Otto. Ehrfürchtig strich sie über seinen Schreibtisch und zog einzelne Bücher aus dem Regal, von denen sie wusste, dass Otto sie besonders gern gelesen hatte.

Als sie alle Räume durchhatte, ging sie zurück ins Wohnzimmer, legte die Lieblings-CD von ihrem Mann ein und drehte die Lautstärke hoch. Sodann setzte sie sich in den großen Ledersessel von Otto, deckte sich mit einer warmen, flauschigen Decke zu und lauschte den schwerfälligen Violinenklängen. Träge und doch eindringlich begann die Violine ihre traurige Melodie, bevor eine zweite einsetzte und zuerst leise mitsummte, um dann später die Führung zu übernehmen. Es war wie ein vorsichtiges Abtasten, um zuerst zueinanderzufinden und sich dann einem offenen Machtkampf hinzugeben, bei dem schlussendlich keiner als Sieger hervorging.

Wie im wirklichen Leben, dachte Theresa, und dann kamen ihr plötzlich die Tränen. Zuerst langsam und dann unaufhörlich wie ein Wasserfall, der nicht mehr versiegen wollte. Sie vergrub sich unter ihrer Decke, weinte hemmungslos und fühlte sich in ihrer Trauer seltsam geborgen.

Die folgenden Tage und Wochen vergingen für Theresa im gleichen Rhythmus. Sie erwachte gerädert im Sessel ihres Mannes, machte sich notdürftig etwas zu essen und wandelte wie ein Zombie durch das große Haus. Ab und zu holte sie die Post aus dem Briefkasten, nur um sie ungelesen auf den Flurschrank zu legen.

Als sie nach zehn Tagen feststellte, dass aber auch gar nichts Essbares mehr im Kühlschrank war, raffte sie sich auf, zog sich etwas über und machte im Supermarkt einen Großeinkauf.

Sie wollte auf keinen Fall unter die Leute gehen. Ihre Trauer und Gedanken hatten einen Kokon um sie gelegt, sodass bei ihr alles nur sehr gedämpft ankam. Selbst die regelmäßigen Telefongespräche mit ihrer Tochter holten sie nicht aus ihrer Lethargie heraus. Theresa erledigte weder die Hausarbeit, noch achtete sie auf ihre körperliche Hygiene. Sie lebte einfach nur in den Tag hinein und wusste selbst nicht, was sie gerade tat. Für sie stand die Zeit still, und sie war darin gefangen. Es war ein schwereloser Zustand, der den Schmerz weitestgehend unterdrückte. Für Theresa war das Leben abgeschlossen, doch sie hatte die Rechnung ohne Magda gemacht.