Am dreizehnten Tag - Regina Mengel - E-Book

Am dreizehnten Tag E-Book

Regina Mengel

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Beschreibung

Stell dir vor, du bist etwas ganz Besonderes, und niemand hat es dir gesagt! Seit Susannas dreizehntem Geburtstag überschlagen sich die Ereignisse. Wildfremde Menschen munkeln von einer Bestimmung und streuen Blütenblätter vor Susannas Füße. Ein Päckchen ohne Absender, ein Brief, der in Rätseln spricht, eine geheimnisvolle Flasche und ein Teeladen, der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Doch das ist erst der Anfang. Stell dir vor, das Märchenland aus deinem Buch existiert wahrhaftig, und eine wichtige Aufgabe wartet dort auf dich! Susanna stößt auf eine magische Welt voller Abenteuer und außergewöhnlicher Wesen. Und dann ist da ja auch noch Patrick, der ihr besser gefällt, als sie es sich zunächst eingestehen möchte ...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin:

Impressum:

Widmung

1 – Am Tag zuvor

2 - Ein verrückter Geburtstag

3 - Das Paket

4 - Peinlich, peinlich

5 - Brief ohne Absender

6 - Gestrandet im Nirgendwo

7 - Begegnungen

8 - Kis-Ba-Shahid

9 - Gebt mir Antworten - Bitte

10 - Das Wiedersehen

11 - Fragen über Fragen

12 - Heimreise

13- Schicksal

14 - Die Pforte

15 - Wünsch dir was

16 - Fremde Familie

17 - Bunt, bunter, am buntesten

18 - Die Bestimmung

19 - Am vierzehnten Tag

20 - In den Schatten

21 - Die Bibliotheksoase

22 - Heimkehr mit Hindernissen

23 - Von Wesiren und Steuereintreibern

24 - Endlich erwacht

25 - Neues von Flaschengeistern

26 - Von Tanten und Eremiten

27 - Die Suche beginnt

28 - Ungeahnte Nebenwirkungen

29 - Übelkeit

30 - Bas-Ta-Bata

31 - Rätselraten

32 - Besuch in Lesancé

33 - Lichterloh

34 - Ein übler Plan

35 - Am Tag danach

Am dreizehnten Tag

von

Regina Mengel

Gesamtausgabe

All-Age-Fantasy

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Über die Autorin:

Regina Mengel erblickte 1966 in Wuppertal das Licht der Welt, zog aus, das Glück zu finden und landete in Köln. Dort verdiente sie lange Zeit ihr täglich Brot als Wortjongleurin im Vertrieb.

Geschichten begleiteten ihr Leben, doch erst im Jahr 2010 machte sie ernst.

Neben Fantasyromanen schreibt sie auch Kinderbücher und freche Frauenromane. Unter dem Pseudonym Tessa Hansen erscheinen ihre Bücher im Insel Verlag.

Wer mehr über Regina Mengel wissen möchte, ist herzlich auf ihre Homepage eingeladen.

Impressum:

Copyright Regina Mengel

Covergestaltung: Jacqueline Spieweg - FarbRaum 4

Coverfotos: lassedesignen – Fotalia.com (Mädchen)

kstudija – Fotalia.com (Hintergrund)

Lektorat: Florian Tietgen – Satzklang

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Kontakt:

E-Mail: [email protected] Regina Mengel, Bruchstr.52, 50259 Pulheim

Homepage/Blog: Wortentbrannt

Widmung

Für Martin.

Wenn ich dich nicht hätte,

hätte ich einen anderen.

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„Für dich und für mich ist es ein Märchen, niedergeschrieben, um unsere Fantasie zu erfreuen. Und doch gibt es Einzelne unter uns, die eine wahre Geschichte erkennen, wenn sie ihnen begegnet.“

Jacques Moulin, Lesancé 2011

1 – Am Tag zuvor

Nur selten verirrte sich ein Fremder in die Ruelle-Gasse am Ende der Rue Münster. Schon gar nicht um diese Tageszeit, zu der die Touristen in den Braustuben der Luxemburger Altstadt saßen. Über der Straße lag Dunkelheit. Gnädig verhüllte sie die Baufälligkeit einiger Gemäuer.

Kein Haus glich dem anderen. Es gab hohe Gebäude und solche, die sich zu ducken schienen, jene, deren Farbe abblätterte, und Häuser, deren Fassaden in allen Farben des Regenbogens erstrahlten.

Tagsüber beschatteten bunt gestreifte Markisen die Läden im Erdgeschoss. Auf den Fensterbrettern der Wohnungen standen Kästen voller blühender Geranien. Rote, rosafarbene, weiße und lila Blüten leuchteten mit dem satten Grün der Blätter um die Wette. Nicht selten blieb ein Besucher entzückt vor dieser Farbenpracht stehen.

Doch nun waren die Markisen längst eingerollt und die Blüten hatten ihre Blätter zur Nacht geschlossen. Eine einzelne Laterne spendete gerade genug Licht, um den Bordstein zu beleuchten. In der Ferne erklang die Glocke einer Kirchturmuhr, sie schlug halb zwölf. Die meisten Bewohner der Ruelle-Gasse schliefen bereits. Nur aus Haus Nummer 13 drang Licht durch eines der Butzenfenster in der Dachgaube.

Susanna saß, ein Kissen hinter den Rücken gestopft, im Bett und las in einem dicken Wälzer. Vor einer ganzen Weile hatte Albin, Susannas Vater, Gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht. Sie sollte längst schlafen, doch das Buch ließ sie nicht los. Sie hatte es am Mittag im Regal mit den Lieblingsbüchern ihrer Mutter gefunden. Es war ihr vorher nie aufgefallen. Dabei hätte sie schwören können, alle Bücher dort zu kennen.

Seit dem Nachmittag schmökerte sie, die Geschichte spielte im Orient. Susanna liebte Märchen aus 1001 Nacht. Daher hatte sie, gleich, nachdem der Vater zu Bett gegangen war, nach der Taschenlampe in der Nachttischschublade gekramt. Gerade las sie:

Die Menschen zerstörten die Karaffen, in denen die Geistwesen auf ihre Befreiung hofften. Viele Geister verloren ihr Leben, einige verloren den Verstand und töteten in ihren Rachegelüsten wahllos Menschen. Auf beiden Seiten wuchs die Angst.

Die Geistwesen erkannten die Notwendigkeit, zu fliehen. Sie gelangten an den Rand des Goldenen Ozeans. Es gab kein zurück. In der Ferne erklangen Jagdhörner. Unruhig wirbelten die Geistwesen umher. Wie auf ein unsichtbares Signal hin setzten sie sich in Bewegung. Als der letzte Geist in den Ozean eintauchte, galoppierten die Verfolger auf den Strand. Und die Jäger begannen zu jubeln.

Wie wenig die Menschen doch wussten. Von diesem Moment an würden sie auf sich gestellt sein.

Susanna ließ das Buch sinken. Diese Geschichte berührte sie sehr. Mit dem Handrücken wischte sie sich eine Träne von der Wange. Unschlüssig starrte sie die Buchstaben an. Eines erschien ihr unlogisch. Wenn eine Karaffe zerstört wurde, müsste der Geist doch entkommen? Wieso klang es so, als kämen die Wesen ums Leben? Susanna gähnte. Ob sie weiterlesen sollte? Oder sollte sie besser versuchen zu schlafen?

Sie kam nicht dazu, eine Entscheidung zu treffen, denn aus dem Flur drang ein Fluch ihres Vaters. Er war über ein strategisch aufgestelltes Paar Stiefel gestolpert.

„Verdammt“, schimpfte er. Schnell schaltete Susanna die Taschenlampe aus und rutschte ein Stück tiefer in ihrem Bett.

Die Tür öffnete sich. Ein schwacher Lichtschein fiel hindurch.

„Susanna? Schläfst du?“, flüsterte er.

Sie schwieg. Gleichmäßig atmen, befahl sie sich.

„Denk daran – morgen ist Schule. Langsam bist du alt genug, um vernünftig zu sein. Außerdem solltest du nicht unter der Bettdecke lesen. Mit der Funzel machst du dir nur die Augen kaputt.“ Ehe er ging, wisperte er noch: „Letztendlich ist es deine Entscheidung.“

Als er die Tür leise hinter sich schloss, atmete Susanna auf. Was das wieder sollte? Erst spielte er den Kontrollfreak und dann wieder dieses ‚Es ist deine Entscheidung‘. Sie bildete sich ein, Resignation herausgehört zu haben. Sie hasste das. Entweder hüh oder hott, hatte ihre Mutter stets gesagt. Susanna seufzte. Es wäre viel einfacher, würde er klare Ansagen erteilen.

Sie setzte sich auf. Mit einem Klick schaltete sie erneut die Taschenlampe ein. Das Buch war zwischen die Falten der Bettdecke gerutscht. Susanna tastete danach und zog es hervor. Sie schlug es auf, doch statt darin zu lesen, dachte sie an ihre Mutter.

Vor drei Jahren war Sarah Aschem gestorben. Wie so oft wünschte Susanna sich, sie wäre noch bei ihnen. Seit dem Tod ihrer Mutter hasste Susanna Geburtstage. An solchen Tagen feierte man das Leben. Es war so verdammt ungerecht. Was gibt es bei uns schon zu feiern?

Mit zittrigen Fingern schaltete sie die Taschenlampe aus.

2 - Ein verrückter Geburtstag

Der gelbe Anstrich des Hauses leuchtete in der Morgensonne, als die Haustür aufschwang. Susanna trat hindurch und steuerte nebenan auf den kleinen Laden zu, vor dem Albin ächzend eine orange-weiß gestreifte Markise entrollte.

„Guten Morgen, Geburtstagskind. Wie fühlt man sich mit dreizehn?“, fragte er mit dröhnender Stimme.

„Toller Morgen.“

Susanna zog eine Grimasse. Ohne zu zögern, ging sie auf die Ladentür zu. Ein geschmiedetes Schild baumelte darüber im Wind. Mit verschnörkelter Schrift verkündete es:

Sarah und Albin Aschem

Teespezialitäten.

Viel brachte das Geschäft nicht ein, gerade genug, um die wichtigsten Ausgaben abzudecken. In den letzten zwei Jahren waren sie oftmals so pleite gewesen, dass es nicht einmal für ein Weihnachtsgeschenk gereicht hatte. Normalerweise beschwerte sich Susanna nicht, aber manchmal waren ihr die ärmlichen Verhältnisse vor den Mitschülern peinlich.

Sie drückte gegen den eisernen Knauf und trat ein. Der Laden bestand nur aus zwei Räumen, einem winzigen Hinterzimmer und dem Verkaufsraum. Dieser bot gerade genug Platz für drei Regale und eine Theke. Gleich neben dem Eingang standen einige Teekisten und ein Überseekoffer.

Susanna schloss die Tür hinter sich. Sofort umfing sie der köstliche Duft von getrockneten Teeblättern. Die Leidenschaft für alles, was sich aufgießen ließ, hatte Susanna von ihren Eltern geerbt. Als kleines Mädchen war sie nicht selten zwischen den Kisten eingeschlafen, berauscht von den Aromen. Sie liebte es dem Hauch von Vanille, Zimt oder Pfirsichblüten nachzuspüren oder in dem kräftigen Duft marokkanischer Minze zu schwelgen. Ihre Eltern hatten es nie gern gesehen, wenn Susanna sich allzu lange im Laden aufhielt. Vor allem um das Hinterzimmer veranstalten sie stets ein großes Brimborium. Bis heute war der Raum für Susanna tabu.

Sie trat an die Tür der kleinen Kammer. Was, wenn sie einfach hineinginge? Sie schielte nach draußen, Albin kämpfte immer noch mit der Markise. Jetzt oder nie. Entschlossen drückte Susanna die Klinke hinunter. Doch die Tür gab nicht nach.

„Mist“, fluchte sie. Was hatte sie erwartet? Albin hatte noch nie vergessen, abzuschließen. Den Schlüssel trug er immer bei sich - an einer Uhrenkette in der Hosentasche.

Susanna betrachtete ihren Vater durch das Schaufenster. Wie er wieder herumlief, dieser verknautschte Anzug, die wirren Haare. Er sah aus, wie ein etwas zu sauberer Penner.

Sie sah auf die Uhr. Shit. Wenn sie pünktlich zur Schule kommen wollte, musste sie sich beeilen. Sie trat an den Tresen und öffnete die silberne Kanne, um Tee aufzugießen. Gleich daneben stand eine Schale mit Plätzchen. Sie stellte den Teller zur Seite und ignorierte die Verlockung. Diese Kekse waren für sie verboten. Sie waren unter allen Umständen den Kunden vorbehalten. Natürlich hatte Susanna hin und wieder davon genascht. Aber jedes Mal hatten ihre Eltern sie gezwungen, das halb zerkaute Plätzchen wieder auszuspucken. Irgendwann hatte sie sich mit dem Verbot abgefunden.

Das Klingeln der Türglocke verriet, dass Albin den Kampf mit der Markise gewonnen hatte.

„Zeit fürs Frühstück“, verkündete er.

Susanna beachtete ihn nicht.

„Bist du zu müde, um mit mir zu sprechen?“, fragte er. Als sie schwieg, fuhr er fort: „Du warst bestimmt noch wach, als ich gestern Abend nachgesehen habe. War wohl keine gute Nacht?“

„Phh.“ Susanna ließ die Luft durch die Zähne zischen. Du hast doch nicht die geringste Ahnung, wie ich mich fühle, dachte sie.

„Sei doch nicht so. Ich weiß, wie sehr du deine Mutter vermisst.“

Er trat neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter.

„Mir fehlt sie auch, jede Sekunde. Aber es muss weiter gehen.“ Er stockte.

Susanna wand sich unter seinem Griff. Sie starrte auf den Fußboden und versuchte ihren Vater zu ignorieren. Dieses Gespräch hatten sie schon zu oft geführt.

„Du bist jung, schau nach vorn. Das Leben hat so viel zu bieten“, fuhr Albin fort.

Nun löste sich Susanna endgültig aus seinem Arm. Sie hasste diese Sprüche. Davon ging es ihr auch nicht besser – nicht mal für eine Minute. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien: „Lass mich in Ruhe!“ Stattdessen schwieg sie, schubste lediglich seine Hand zur Seite, als er erneut nach ihr griff. Er machte keinen weiteren Versuch, sie zu berühren, sondern drehte sich um. Seine Schultern zuckten. Susanna schluckte. Natürlich litt er genauso wie sie. Sie sah es ihm an, jeden Tag. Wann hatte er zum letzten Mal gelacht? Sie erinnerte sich nicht.

Es lag nun fast drei Jahre zurück, als ihr Vater sie gegen seine Gewohnheit von der Schule abholte.

„Susanna, ich muss mit dir sprechen“, hatte er damals gesagt. Seine Augen hatten komisch ausgesehen, farblos, wie mit Bleistift gezeichnet. Merkwürdig, dass sie sich gerade daran erinnerte.

„Wir beide müssen jetzt zusammenhalten“, hatte er gesagt.

Als er angefangen hatte zu weinen, wusste sie, es war etwas Schlimmes geschehen. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Mutter bereits seit drei Wochen fort gewesen, verreist in den Süden, zu ihrer Familie, ans Meer. Susanna hatte sie darum beneidet.

Satzfetzen kreisten umher. „Beim Schwimmen ertrunken ... - zu weit hinaus geschwommen ... - sie hat sich überschätzt.“

Es dauerte lange, bis Susanna die Bedeutung der Worte verstand. Albin telefonierte sehr viel. Dann bekamen sie Post. Eine Woche war vergangen, da fand Susanna im Wohnzimmer einen Pappkarton vor. Neugierig öffnete sie das Paket. Ein grünes Gefäß kam zum Vorschein. Wer schickte ihnen eine Deckelvase, eine grüne obendrein? Sie suchte nach einem Absender, doch der Karton war nicht beschriftet. Albin kam herein. Er setzte sich neben Susanna und nahm ihre Hand.

„Darin sind Mamas sterbliche Überreste.“ Er wies auf die Urne. „Ihre Asche.“

Das Gefäß faszinierte und erschreckte Susanna zugleich. Sie zögerte, dann ergriff sie die Urne und hielt sie ans Ohr. Vorsichtig bewegte sie das Ding hin und her. Nichts, es schien leer zu sein.

Das also war von ihrer Mutter übrig geblieben: Nichts!

Als eine halbe Stunde später der Bestatter die Urne abholte, weinte Susanna. Auch in den Wochen und Monaten danach weinte sie oft.

Keine schöne Erinnerung. Sie rieb sich die Augen und schüttelte die Vergangenheit ab. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Mist, schon so spät. In einem Zug leerte sie die Tasse, griff nach ihrer Schultasche, murmelte: „Ich muss gehen“, und verließ ohne Abschied den Laden.

Sie flitzte los, spurtete schmale Gassen entlang und überquerte zahlreiche Kreuzungen. Ätzend, diese Rennerei. Sie schnaufte. Endlich sah sie in der Ferne das Schulgebäude durch die Bäume. Wenn sie noch ein wenig schneller lief, könnte sie pünktlich zum Unterrichtsbeginn da sein. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte.

Gerade wollte sie durchstarten, als sie kaum einen Meter von ihr entfernt jemanden stehen sah. Es handelte sich um einen alten Mann, ein richtiger Greis, mit schlohweißem Haar und wirrem Bart. Wo kam er auf einmal her? Beinahe hätte sie ihn umgerannt. Susanna blieb stehen und betrachtete den Mann neugierig.

Während sie noch darüber nachdachte, ob sie den Mann irgendwoher kannte, streckte der Alte in einer ruckartigen Bewegung seine geballte Faust in Susannas Richtung. Erschrocken sprang sie ein Stück zurück. Erneut musterte sie ihn. Eigentlich wirkte er nicht bedrohlich, alt und klapperig, wie er war und mit diesem zahnlosen Grinsen. Die Falten in seinem Gesicht vertieften sich, als er zu nuscheln begann. Susanna lauschte angestrengt, aber sie verstand kein Wort. Was wollte er ihr sagen?

Immer noch hielt der Mann Susanna seine Faust entgegen, die geschlossene Seite der Erde zugewandt. Nun öffnete er die Finger und beschrieb mit dem Arm einen Bogen. Weiße Schnipsel rieselten zu Boden - direkt vor Susannas Füße. Sie stutzte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es Blütenblätter waren. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich handelte es sich nur um einen harmlosen Spinner. Und für einen solchen Unfug riskierte sie einen Klassenbucheintrag.

Entschlossen trat Susanna zur Seite und stapfte vorwärts. Die Mathestunde wartete auf sie. Doch sie kam nicht an dem Alten vorbei, denn im gleichen Moment sprang er auf sie zu. Für sein Alter war er erstaunlich beweglich. Seine Hand näherte sich Susannas Oberarm. Sie schauderte. Am ganzen Körper stellten sich ihre Haare auf. Langsam wurde ihr der Typ unheimlich.

„Lassen Sie mich in Ruhe“, rief sie und wich seiner Berührung aus. Er bewegte sich nicht, sah sie nur eindringlich an. Er schien mehr neugierig als böse, dennoch fröstelte es Susanna.

Nur fort von hier. Sie wechselte die Straßenseite und brachte ein Stück Weg zwischen sich und den Fremden. Noch im Weggehen spürte sie ein Prickeln in ihrem Nacken. Sicher sah er ihr nach.

Natürlich kam sie zu spät zum Unterricht. Das Klingeln der Glocke verhallte bereits in den Gängen, als sie in den Klassenraum stürmte.

„Schön, dass du es zu uns geschafft hast“, sagte Herr Müller, Susannas Mathematiklehrer. Er setzte sein Klassenbucheintrags-Lächeln auf. „Dann wollen wir deine Pünktlichkeit einmal vermerken. Wenn du außerdem so gut wärst, gleich an die Tafel zu kommen?“

Wie immer vergeigte sie die Aufgabe - dämliche Geometrie. Herr Müller notierte grinsend eine Fünf. Mistkerl, dachte Susanna.

„Warum hast du nicht gesagt, dass du Geburtstag hast?“, flüsterte ihre Sitznachbarin, als Susanna sich endlich hinsetzen durfte.

„Spinnst du? Ich mach doch hier keinen auf Mitleid.“ Empört raufte sie sich die ohnehin schon wirren Haare.

Zum Glück überstand sie den Rest der Stunde ohne weitere Zwischenfälle. Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Nach Biologie und Englisch stand eine Doppelstunde Kunst auf dem Plan.

Langweilig, dachte Susanna, als sie den Zeichensaal betrat. Sie ließ sich auf den Holzstuhl plumpsen. Es dauerte keine Sekunde, bis der Tumult losbrach. Seit ein Referendar die Klasse unterrichtete, ging es drunter und drüber. Alle redeten durcheinander und manchmal hielt es die Jungs nicht einmal auf den Plätzen.

Susanna blendete den Lärm aus und schaute aus dem Fenster. Auf dem Fensterbrett saß ein Spatz und blickte in ihre Richtung. Susanna spitzte die Lippen und flötete eine Tonfolge.

Der Spatz hielt in seiner Bewegung inne. Er neigte den Kopf und blickte Susanna an, als hätte er sie verstanden. Sie könnte schwören, er sah ihr direkt in die Augen. Zwinkerte er ihr zu?

Draußen ertönte ein Pfiff, zu laut und schrill, um von dem Vogel zu stammen. Susanna beugte sich vor. Unten stand eine Frau. Sie winkte, wandte sich um und lief auf die Straßenecke zu.

Der Sperling klopfte mit seinem Schnabel gegen das Glas. Susanna schaute ihn verwirrt an. Ach was, das bilde ich mir nur ein. In diesem Augenblick kam die Sonne hervor. Ein Lichtstrahl erfasste den Vogel. Während er sich in die Luft schwang, veränderte sich die Farbe seines Gefieders. Statt in Braun leuchtete es nun in sattem Grün. Kaum einen Atemzug später verschwand die Sonne wieder hinter einer Wolke und das Farbenspiel erlosch.

Mit kräftigen Flügelschlägen flog der Spatz der Frau hinterher. Durch das schmutzige Fenster konnte Susanna nicht richtig erkennen, was draußen geschah. Fast schien es, als unterhielten sich die beiden. Eine Weile schwebte der Vogel in der Luft, ehe er sich auf der Schulter der Frau niederließ. Gemeinsam gingen sie davon.

Kopfschüttelnd sah Susanna ihnen nach. Heute war wirklich ein komischer Tag!

3 - Das Paket

Ein Gewitter bahnte sich an. Grau und schwer zogen sich die Wolken zu einer dichten Decke zusammen. Susanna fror. Zitternd schloss Susanna die Knöpfe ihrer Jacke. Trotzdem drang der Wind durch den Stoff.

Als sie in die Ruelle-Gasse einbog, begann es zu nieseln. Zum Glück erreichte sie rechtzeitig das Haus. Sie rief einen kurzen Gruß in den Teeladen und stieg die Stufen zu der kleinen Dachgeschosswohnung hinauf.

Das Kochen des Mittagessens war Susannas Aufgabe. Heute gab es Spinat, Kartoffelpüree und Spiegelei. Bei diesem Gericht konnte nicht viel schief gehen.

Während sie für das Püree einen Topf mit heißem Wasser und Milch füllte, klingelte es.

Susanna und Albin bekamen nicht oft Besuch. Wer konnte das sein? Sie drückte auf den Knopf, der die Haustür entriegelte. Da es einen Moment dauerte, vier Stockwerke hinauf zu steigen, kehrte sie zurück in die Küche, um den Herd einzuschalten. Sie stellte den Topf auf die Platte, den gefrorenen Spinatblock schob sie in einer Schüssel in die Mikrowelle.

Es klingelte erneut, diesmal an der Wohnungstür. Susanna wischte sich die Hände an der Hose ab und öffnete. Durch das Treppenhaus hallten Schritte, aber niemand stand vor der Tür.

„Hallo“, rief sie und trat an das Geländer. Sie starrte hinunter, doch mehr als einen Schatten, der sich zwei Stockwerke unter ihr die Treppen hinab bewegte, erkannte sie nicht. Vielleicht ein Mann, sie spähte durch das Geländer, nein - eher ein Junge. Ob eines der Nachbarskinder sich einen Spaß mit ihr machte?

Der Klingelton der Mikrowelle riss Susanna aus den Gedanken. Zeit den Spinat umzurühren. Sie trat zurück an die Wohnungstür. Dabei stieß sie mit der Fußspitze gegen etwas Hartes. Sie schaute hinunter und entdeckte ein Päckchen, das ein Stück neben der Tür lag.

Sie hob das Paket auf und musterte es. Es hatte die Ausmaße eines Schuhkartons, war jedoch schwerer. Auf dem Packpapier stand in krakeliger Handschrift geschrieben:

Für Susanna Aschem zum 13. Geburtstag

Ein Geburtstagsgeschenk also. Sie nahm es mit hinein und trug es in ihr Zimmer. Gerade als sie begann das Papier herunterzureißen, meldete sich die Mikrowelle erneut. Außerdem würde Albin jede Sekunde erscheinen.

Kaum brutzelten die Spiegeleier in der Pfanne, betrat er auch schon die Wohnung. Er besaß eine Art sechsten Sinn für fertiges Mittagessen. Daher fand Susanna keine Zeit mehr, das Geschenk auszupacken.

Die Mahlzeit verlief schweigend. Unruhig wartete Susanna, bis alle Töpfe geleert waren, dann räumte sie den Tisch ab und stellt das Geschirr in die Spüle. Abwaschen gehörte zu Albins Aufgaben. Sie würde währenddessen das Geschenk auspacken.

Heute jedoch kümmerte sich ihr Vater nicht um die schmutzigen Teller. Stattdessen ging er ins Schlafzimmer und kehrte gleich darauf mit einem Kuchen zurück, oder besser dem, was ein Kuchen hätte werden sollen. Das Gebilde erinnerte mehr an einen Vulkan mit einem Krater in der Mitte. Nur die Kerzen wiesen das Ding als Geburtstagskuchen aus.

„Danke, Papa“, sagte Susanna und umarmte ihn zaghaft.

„Gern geschehen.“ Er strahlte über das ganze Gesicht.

Als der Tee in ihren Tassen dampfte, schnitt Albin den Kuchen an. Er reichte ihr ein Stück und blickte sie erwartungsvoll an.

Tja, was nun? Susanna betrachtete die Katastrophe auf ihrem Teller. Dann sah sie zu Albin hinüber. Sie musste wenigstens probieren. Augen zu und durch, dachte sie und knabberte mit Todesverachtung an dem Kuchenstück. Es schmeckte besser, als es aussah - sogar viel besser.

„Lecker“, sagte sie und biss nun kräftig hinein.

Trotz der Kuchenüberraschung war Susanna enttäuscht. Anscheinend reichten die Einnahmen nicht einmal für ein kleines Geschenk. Sie seufzte unauffällig, dennoch schien Albin sie gehört zu haben. Er zwinkerte ihr zu.

„Was hältst du davon“, fragte er mit verschwörerischer Stimme, „wenn wir gleich nach dem Tee gemeinsam in die Stadt gehen?“

„Musst du nicht zurück in den Laden?“

„Heute ist dein Geburtstag. Wie wäre es, wenn ich dich zur Feier des Tages zu einem Stadtbummel einlade? Vielleicht finden wir etwas Hübsches zum Anziehen für dich.“

Wenige Minuten später drängte Albin zum Aufbruch, doch Susanna zögerte. Zu gern hätte sie noch schnell einen Blick in das Geburtstagspäckchen geworfen.

„Du Papa“, sagte sie. „Geh‘ du schon vor. Du musst doch einen Zettel anbringen, damit die Kunden wissen, dass wir heute Nachmittag geschlossen haben.“

„Wie schön, dass du mitdenkst.“ Er steuerte auf die Wohnungstür zu. „Du kommst gleich nach?“

„Ich muss nur schnell die Schuhe anziehen und meine Tasche packen.“

Kaum hatte Albin die Wohnung verlassen, flitze Susanna in ihr Zimmer und holte das Geschenk hervor. Ungeduldig riss sie das Papier herunter. Zum Vorschein kam eine hölzerne Schatzkiste, die mit silbernen Bändern beschlagen war. Susanna klappte den Deckel auf.

Von innen verkleidete jadegrüner Samt das Holz und umhüllte eine gläserne Karaffe. Sie schimmerte grünlich und sah ziemlich alt aus. Vorsichtig hob Susanna die Flasche und betrachtete sie. Sie wirkte zerkratzt und schien leer zu sein. Ein Korken verschloss den Hals. Ein schwarzes Lacksiegel, das den Verschluss einstmals geschützt haben musste, war gebrochen.

Was sollte sie damit anfangen? Ein schräges Geschenk. Und überhaupt, wer hatte es ihr geschickt? Sie durchsuchte die Kiste nach einem Absender, fand aber keinen Hinweis.

Nachdenklich hielt sie die Karaffe gegen das Licht. Verdammt - was war das denn? Die Flasche schien von innen zu leuchten. Eine Reflexion der Sonne? Susanna strich über das Glas. Es fühlte sich warm an.

Die Türklingel schrillte. Mist, sie musste sich beeilen. Vorsichtig legte sie die Karaffe zurück in die Truhe und verstaute die Kiste unter dem Bett. Dann griff sie nach Jacke und Tasche, stürmte hinaus, warf die Tür hinter sich ins Schloss und rannte die Treppe hinunter.

„Ich komm‘ ja schon!“

Sie gingen zu Fuß in Richtung Innenstadt. Susanna schwieg gedankenverloren. Albin stapfte mit großen Schritten dem Zentrum entgegen. Er strahlte über das ganze Gesicht.

„Hast du dir überlegt, was du haben möchtest?“, fragte er.

Die Frage, was sie sich wünschte, stellte sich eigentlich nicht. Eher, was sie brauchte.

„Eine neue Jeans wäre schön.“

Sie steuerten das nächste Kaufhaus an. Es dauerte keine halbe Stunde, da traten sie wieder durch die Drehtür auf die Straße, in Susannas Hand eine Einkaufstasche.

„Jetzt ein Eis“, sagte Albin.

Nebeneinander betraten sie das Eiscafé, in dem sich regelmäßig die älteren Schüler aus Susannas Schule trafen. In der Ecke saßen sechs Jugendliche, die zwei oder drei Klassen über ihr waren.

„Hi“, grüßte Susanna.

Sie nahmen an einem der Tische Platz. In diesem Moment klingelte Albins Telefon.

„Es tut mir leid“, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. „Der Teelieferant steht zu Hause vor der Tür, obwohl die Lieferung erst für morgen avisiert war. Ich muss zurück.“ Er hielt inne und zog einen Zehneuroschein aus seinem Portemonnaie. „Du isst ein Eis für mich mit, okay? Oder möchtest du lieber nicht …?“

„Ich komme schon klar“, fiel Susanna ihm ins Wort. „Geh du ruhig.“ Sie winkte ihm nach und bestellte sich einen Erdbeermilchshake.

Normalerweise kam sie gut allein zurecht. Dennoch fühlte sie sich ein bisschen unwohl. Während sie auf ihre Bestellung wartete, beobachtete sie aus dem Augenwinkel die Clique, die aufstand und ging. Außer Susanna war kein weiterer Gast mehr im Café. Endlich brachte der Kellner den Shake. Sie nahm den Strohhalm zwischen die Lippen und trank einen großen Schluck. Lecker. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss den Moment.

„Hast du das Päckchen gefunden?“

Sie sah auf. Ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren stand neben ihrem Tisch. Der sieht verdammt gut aus, schoss es Susanna durch den Kopf.

„Wer bist du?“

„Ich bin Patrick, wir gehen auf dieselbe Schule.“

Sie betrachtete ihn genauer.

„Stimmt. Ich hab dich schon mal gesehen. Was machst du hier?“

„Du hast heute Geburtstag oder nicht?“ Er wirkte verunsichert.

„Ja.“ Sie dehnte das Wort. „Wie kommst du darauf?“

Er ging nicht auf die Frage ein. Stattdessen hielt er ihr die Hand entgegen.

„Herzlichen Glückwunsch.“ Dann wiederholte er: „Hast du das Päckchen gefunden?“

„Woher weißt du ...?“

„Du hast doch heute Geburtstag?“

„Schon, aber ...“ Sollte sie oder sollte sie nicht? Das könnte peinlich werden. Egal, sie musste es wissen. „Ist das Geschenk von dir?“

Er sah sie nicht an. Sein blonder Haarschopf verdeckte einen Teil seines Gesichts.

„Ich habe das Paket gebracht.“ Er drehte sich um. „Und jetzt muss ich los.“

Susanna sah ihm kopfschüttelnd nach. Waren denn heute wirklich alle verrückt geworden?

Gleich nach dem Abendessen verschwand sie in ihr Zimmer und zog die Kiste unter dem Bett hervor. Dieser Patrick hatte ihr also die Flasche geschenkt. Wie kam er nur dazu? Er kannte sie doch gar nicht.

Sie öffnete den Deckel der Truhe und strich mit den Fingerspitzen über das Glas. Die Flasche fühlte sich immer noch warm an, aber wenigstens leuchtete sie nicht mehr.

Ihr kam eine Idee. Sie trug Karaffe und Kiste ins Wohnzimmer zu ihrem Vater.

„Guck mal Papa, was ich geschenkt bekommen habe.“ Sie stellte die Truhe auf den Wohnzimmertisch und öffnete sie.

Aus dem Gesicht ihres Vaters wich die Farbe. Er starrte sie an, als wäre ihm soeben ein Geist begegnet.

„Papa.“ Susanna trat zu ihm. „Bist du okay?“

„Woher hast du das?“ Seine Stimme klang ernst.

„Von Patrick.“

„Von wem?“

„Patrick, ein Mitschüler. Ich kenne ihn noch nicht lange.“

„Warum schenkt er dir so etwas, wenn ihr euch kaum kennt?“

Er wirkte verärgert.

„Vielleicht ist er in mich verliebt. Oder bin ich zu hässlich, als dass sich ein Junge in mich verlieben könnte?“

„Natürlich nicht.“ Albins Tonfall war nun etwas freundlicher. „Zeig‘ mal her.“ Er wies auf die Flasche.

Gerade wollte Susanna die Karaffe in seine Hände legen, da berührte sie zufällig den Korken. Im gleichen Augenblick begann das Gefäß zu schimmern.

„Shit“, entfuhr es ihr.

„Leg‘ sie weg“, befahl Albin. Seine Blässe hatte sich noch verstärkt. Er starrte auf die Flasche. „Sofort! Geh in dein Zimmer!“

Irgendetwas in seiner Stimme ließ sie widerspruchslos gehorchen. Sie schauderte.

Fünfzehn Minuten später lag sie im Bett. An Schlaf war jedoch kaum zu denken. Dutzende Fragen trudelten durch Susannas Gehirn. Wieso schenkte ihr ein beinahe fremder Junge etwas zum Geburtstag? Was wollte der überhaupt von ihr? Und sein Geschenk erst. Damit stimmt doch etwas nicht. Warum war ihr Vater so blass geworden? Als erschreckte ihn die Karaffe, weil er sie erkannte? Vielleicht konnte ihr dieser Patrick etwas sagen. Sie beschloss, ihn am nächsten Tag zu fragen.

Endlich kam sie zur Ruhe. Sie reckte sich, gähnte herzhaft und war wenige Minuten später eingeschlafen.

4 - Peinlich, peinlich

Es klopfte.

„Steh’ auf.“ Eine Stimme durchdrang den Traumnebel, in dem sich Susanna verfangen hatte. „Du kommst zu spät zur Schule.“

Sie sprang aus dem Bett. Der Wecker zeigte 7.35 Uhr. Oh nein. Ab ins Bad, Katzenwäsche, Zähneputzen, so schnell es ging, rein die Klamotten. Zehn Minuten später flitzte sie die Treppe hinunter. Sie ließ das Frühstück ausfallen, um vor dem Unterricht noch mit Patrick sprechen zu können.

Noch so ein Tag, dachte Susanna, als sie das Schulgebäude erreichte. Es wirkte trotz des Sonnenscheins grau und wenig einladend. Sie betrat die Vorhalle und passierte die Aula. Doch anstatt den üblichen Weg einzuschlagen, stieg sie ein Stockwerk höher.

„Sag mal, kennst du Patrick?“, sprach sie ein Mädchen an.

„Patrick wer?“, antwortete die Blondine gedehnt.

Mist, seinen Familiennamen kannte sie nicht.

„Keine Ahnung, wie er mit Nachnamen heißt.“

„Wenn du nicht mal seinen Nachnamen kennst, was willst du dann von ihm?“

„Das geht dich nichts an. Kennst du Patrick nun oder nicht?“

„Keine Ahnung.“ Die Blondine drehte sich um und ließ Susanna stehen.

Was für eine Zicke. Susanna sah sich nach einem geeigneteren Ansprechpartner um. Gleich neben ihr stand ein Typ, er war etwa so groß wie Patrick.

„Die 9b hat heute erst zur Dritten. Komm zur großen Pause wieder“, riet er ihr.

In der Pause sah sich Susanna erneut nach Patrick um. Die Ecke, in der die Schüler der Neunten sich im Allgemeinen aufhielten, füllte sich langsam. Sie zog ihr Sandwich hervor, biss hinein und schlenderte kauend hinüber. Schon aus einigen Metern Entfernung sah sie ihn, er stand mitten in einer Gruppe von Jungen und Mädchen, allesamt einen Kopf größer als Susanna. Sie drängelte sich durch die Menge, bis sie Patrick erreichte.

„Was will denn der Drahthaarterrier hier?“, fragte ein Mädchen.

Die Anderen kicherten. Jetzt erst wurde Susanna klar, auf was sie sich eingelassen hatte. Sie schob die Reste des Brotes in ihre Jackentasche.

„Ich muss mit dir sprechen“, sagte sie leise. So gut es ihr gelang, ignorierte sie die Umstehenden.

„Häh?“ Patrick hielt eine Hand hinter das Ohr und beugte sich zu ihr hinunter. Seine Kumpels lachten.

„Ich muss mit dir sprechen.“ Nun brüllte sie beinahe. „Alleine.“

„Ist der Drahthaarterrier deine neue Freundin?“

Was für eine blöde Kuh. Susanna spürte Wut im Bauch. Doch sie würde sich nicht provozieren lassen. Stattdessen sah sie Patrick herausfordernd an.

„Also was ist jetzt?“, fragte sie.

Patrick wandte sich an seine Freunde.

„Ich klär das.“ Grinsend blickte er auf Susanna herab. „Komm mit.“ Er schob sie vor sich her. Ein Stück entfernt blieb er stehen. „Was willst du?“

Sie schnaubte. „Du brauchst dich gar nicht so aufzupumpen. Habe ich dich gestern angequatscht oder du mich?“

„Ist ja gut. Was willst du also?“

„Was war das gestern? Wieso bekomme ich von dir ein Geburtstagsgeschenk? Und warum ausgerechnet so etwas?“

„Du hast da was missverstanden.“

„Wie missverstanden?“

„Das Teil ist nicht von mir. Ich habe es nur gebracht.“

Susanna wich einen Schritt zurück. Verstört starrte sie den Jungen an.

„Aber von wem stammt das Paket denn dann?“

„Don’t know. Von mir jedenfalls nicht.“

Wie peinlich, sie hatte die Situation völlig falsch eingeschätzt. Moment. Das war doch Schwachsinn!

„Was soll das heißen, du hast keine Ahnung? Du wirst doch wissen, wer dir das Paket gegeben hat.“

„Ich weiß es aber nicht.“ Patrick wandte sich um.

„Halt!“ Wütend hielt Susanna seinen Ärmel fest.

„Lass mich los.“

„Nein.“

„Lass mich los. Normalerweise schlage ich keine Mädchen, aber in deinem Fall ...“ Er ließ den Rest ungesagt.

Sie verstand sein Verhalten nicht. Gestern im Café war er nett gewesen, aber heute … Jungs!

„Ich will sofort wissen, von wem das Paket ist.“ Sie funkelte ihn an.

„Okay, okay …“ Es klang, als wollte er ein Pferd beruhigen. Das brachte Susanna noch mehr in Rage. Vor Wut schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie hasste es, wenn das geschah.

Diesmal jedoch schien die Heulerei nützlich. Patrick, der eben noch so cool gewirkt hatte, schien nun um einige Zentimeter zu schrumpfen. Stumm starrte er Susanna an.

„Heul jetzt bloß nicht“, sagte er leise. „Okay!“ Er wirkte hektisch. „Am Besten du kommst heute Nachmittag zu mir nach Hause.“ Er zog ein Stück Papier aus der Tasche, kritzelte seine Adresse darauf und hielt es ihr entgegen. Dann stapfte er davon. Im Hintergrund grölten seine Freunde.

Als Susanna in die Ruelle-Gasse einbog, schlug die Kirchturmuhr gerade Eins. Sie ging sofort nach oben. Im Eiltempo kochte sie das Mittagessen, schlang es hinunter und widmete sich dann den Hausaufgaben. Während sie sich mit Mathematik abplagte, hörte sie Musik. Radio Luxemburg spielte die neuesten Hits. Hin und wieder unterbrach der Moderator das Programm, um von irgendwelchen Ereignissen zu berichten.

„Im Norden des Landes“, las er eine Meldung vor, „überfluteten schwere Regenfälle einige Dörfer. Ungewöhnlich viel Regen fiel innerhalb von dreißig Minuten vom Himmel. Bedauerlicherweise forderte das Unwetter mehrere Todesfälle. Besonders schlimm erwischte es eine siebzigjährige Dame in Wincrange nahe der belgischen Grenze. Sie ertrank in der Badewanne.“

Schon wieder ein Unglück, dachte Susanna. Ständig wurde von neuen Katastrophen berichtet. Sie schüttelte sich, verdrängte eilig die üblen Gedanken und konzentrierte sich auf die Hausaufgaben.

Eine Stunde später trat sie vor den geöffneten Kleiderschrank. Was sollte sie anziehen? Für gewöhnlich griff sie nach dem erstbesten Pullover und suchte eine halbwegs passende Hose heraus. Heute jedoch wollte sie hübsch aussehen, allerdings wirkten alle ihre Sachen abgetragen und unmodern.

Schließlich entschied sie sich für ein grünes T-Shirt und die neue Jeans. Das Grün unterstrich die Farbe ihrer Augen.

Einigermaßen zufrieden mit dem Outfit kümmerte sie sich um ihre Haare. Susanna versuchte, die Locken zu glätten, aber es reichte nicht einmal für eine halbwegs ansehnliche Frisur. Sie seufzte. Immer noch standen die Haare in alle Himmelsrichtungen und ließen sich nicht bändigen. Schließlich schnürte sie das Vogelnest kurzerhand mit einem Band zusammen.

Sie machte sich auf den Weg zu Patricks Adresse.

Er wohnte etwa zehn Minuten entfernt, direkt am Ufer der Alzette.

„Patrick und Gregor Mintas“, stand an der Wand neben der Türglocke. Früher musste noch ein dritter Name dort gestanden haben. Man konnte deutlich erkennen, wo er übermalt worden war. Susanna atmete durch, dann drückte sie den Klingelknopf.

Ein Mann öffnete die Tür. Er lächelte aufmunternd.

„Was kann ich für die junge Dame tun?“

„Ich bin Susanna. Ich möchte zu Patrick.“

„Schön dich kennenzulernen, Susanna.“ Er hielt ihr die Hand entgegen. „Ich bin Gregor Mintas, Patricks Vater. Komm herein. Zu dem Herrn Sohn geht es da lang. Die Tür links, am Ende des Flurs.“

Er schaltete das Licht ein und wies ihr den Weg durch die fensterlose Diele.

Vor Patricks Zimmertür hielt Susanna an. Sie fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigt hatte. Dann klopfte sie an. Es dauerte eine Weile, bis sich drinnen etwas bewegte. Sie lauschte. Endlich näherten sich Schritte, ein Schlüssel klapperte im Schloss. Gleich darauf schwang die Tür auf. Vor Susanna stand Patrick. Wortlos trat er zur Seite und ließ sie hinein.

Oh Mann, was für ein Saustall. Das Zimmer sah aus wie nach einem Bombeneinschlag. Eine Art Gang führte durch das Chaos zum Bett, ein Abzweig zum Schreibtisch. An den Wänden klebten Poster von Heavy-Metal-Bands. Dazwischen stach ein Stundenplan hervor.

Patrick schob ihr den Schreibtischstuhl hin. Sich selbst ließ er auf das ungemachte Bett fallen. Er sah sie an, sagte jedoch kein Wort. Zum Glück klopfte es an der Tür.

Gregor Mintas trat ein. Er balancierte ein Tablett, darauf zwei Gläser und eine Flasche Limonade.

„Durst?“ Er hielt Susanna ein Glas hin.

„Ja, danke.“

„Du hast mir noch nie von Susanna erzählt“, wandte er sich an seinen Sohn.

„Papa!“ Patrick kniff die Lippen zusammen.

„Oha.“ Gregor lachte. „Ist ja schon gut.“ Er wandte sich um und ging.

„Pah“, stieß Patrick aus, kaum, dass sein Vater das Zimmer verlassen hatte. „Warum müssen Eltern immer rumnerven? Das geht gar nicht.“

„Stimmt, das geht gar nicht“, bestätigte Susanna, froh, dass Patrick endlich mit ihr sprach. „Mein Vater ist genauso. Am liebsten würde er mich ständig kontrollieren.“

Sie unterhielten sich eine Weile über ihre Väter.

„Sind deine Eltern geschieden?“, fragte Susanna schließlich.

„Seit ich drei Jahre alt bin. Deine auch?“

„Meine Mutter ist tot.“

„Das ist schlimm.“

„Lass uns das Thema wechseln, bitte.“ Sie machte eine Pause. Dann wiederholte sie die Frage, die sie ihm bereits auf dem Schulhof gestellt hatte. „Also, von wem stammt die Flasche?“

Patrick druckste herum, setzte mehrmals zu Entschuldigungen und Erklärungen an, rückte jedoch mit der Antwort nicht heraus. Nach einer Weile wurde es Susanna zu blöd.

„Nun mach schon“, fuhr sie ihn an. „Weißt du, wie unfair das ist? Irgendjemand bringt dir ein Paket, in dem eine komische Flasche steckt und anschließend lässt er dich dumm sterben.“

„Ich darf es nicht sagen, ich habe es versprochen.“

Susanna ließ ihrem Ärger freien Lauf. Sie schrie ihn an, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass Gregor Mintas nicht weit entfernt sein konnte.

Schließlich sagte Patrick: „Mein Onkel Sam hat mich geschickt. Warum, hat er mir nicht gesagt.“

In diesem Augenblick betrat Patricks Vater das Zimmer.

„Was ist mit Sam? Wohin hat er dich geschickt? Und warum?“, fragte er mit einer Stimme, aus der Verärgerung herausklang.

Susanna horchte auf. Ob Patricks Vater etwas über die Flasche wusste? Sie musste ihn einfach fragen. Also erzählte sie ihm von der Holzkiste und der Karaffe.

Leider reagierte er anders, als es sich Susanna erhofft hatte. Erst lauschte er stumm ihrem Bericht, dann jedoch stürmte er, kaum dass sie geendet hatte, hinaus. Die Teenager sahen einander an. Patrick zuckte mit den Schultern.

„Don’t ask. Mein Onkel ist echt okay, aber manchmal hat mein Vater ein Problem mit ihm.“

Eine Minute später drang die Stimme von Gregor Mintas in Patricks Zimmer. Er schien zu telefonieren. Satzfetzen drangen zu ihnen herein.

„... versprochen, den Jungen da rauszuhalten“, verstand Susanna und dann: „Nein, du sollst nicht herkommen, du sollst das mit deinem Bruder klären.“ Ein Name fiel. Zenani oder so ähnlich.

„Wer ist denn Zenani?“, flüsterte sie.

„Das ist meine Mutter.“

„Streiten sie viel?“

„Früher war es noch schlimmer. Seit sie getrennt sind, ist es besser geworden. Das behauptet mein Vater zumindest, ich war ja noch zu klein, um mich zu erinnern. Aber auch so zoffen sie sich noch oft genug.“

„Ist es sehr schlimm für dich?“, fragte sie mitfühlend.

Er brummte ein paar unverständliche Worte.

Fünfzehn Minuten später beschloss Susanna, zu gehen. Von Patrick würde sie nicht mehr erfahren, als er bereits gesagt hatte. Bevor sie allerdings den Heimweg antreten konnte, musste sie noch etwas erledigen.

„Ich muss mal für kleine Königstiger“, sagte sie verlegen.

Die Gästetoilette lag gleich gegenüber der Eingangstür. In dem winzigen Raum empfing sie Zitronenduft. Sie schloss die Tür hinter sich und legte den Riegel vor.

Als sie gerade die Hose heruntergelassen hatte und sich hinsetzen wollte, läutete die Türglocke. Schritte ertönten, es quietschte. Die Haustür.

„Was willst du?“ Gregor Mintas klang ärgerlich.

„Am Te..., äh Tele..., am Telefon kann man sich mit dir nicht vernünftig unterhalten.“ Die Stimme der Frau überschlug sich.

Das Telefon klingelte, verstummt jedoch sofort wieder.

„Ich habe dich nicht eingeladen. Du sollst die Sache mit deinem Bruder klären.“

„Denkst du, ich hätte so viel Einfluss auf Sam? Er ist ähnlich beratungsresistent, wie eine Klo..., eine Klo..., eine Klobürste“, gab die Frau zurück.

Neben Susanna fiel die Toilettenbürste zu Boden. Susanna betrachtete die Bürste irritiert, hob sie auf und steckte sie zurück in die Halterung. Draußen ging das Gespräch weiter.

„Wenn jemand Einfluss auf deinen Bruder hat, dann du. Weißt du was, Zenani, im Grunde ist es mir wurscht. Mach ihm einfach klar, er solle Patrick aus seinen Machenschaften heraus halten. Wir waren uns einig, dass der Junge normal aufwächst.“

Susanna lauschte angestrengt. Eigentlich musste sie dringend pinkeln, aber sie traute sich nicht.

„Wahr..., wahrha..., wahrhaf...“, stotterte Zenani.

Das Stottern schien zuzunehmen. „Wahrhaftig, du gibst mir mal wieder die Schu... die Schu... die Schu, ach verdammt“, fluchte sie. „Die Schuld.“

Es polterte im Flur.

„Jetzt geht das los“, schimpfte Gregor und seufzte. „Du solltest dich beruhigen, ich kann dein Chaos heute nicht ertragen. Komm‘ mit in die Küche. Ich koche dir einen Kaffee.“

Ihre Schritte entfernten sich. Susanna wartete einen Augenblick, ehe sie endlich das tat, wozu sie hierher gekommen war. Erleichtert atmete sie auf.

Ohne das Licht einzuschalten, schlich sie den Flur entlang. Verdammt, beinahe wäre sie hingefallen. Über irgendetwas war sie gestolpert. Sie bückte sich, um nachzusehen, was es gewesen war - drei einzelne Schuhe lagen vor einem Schuhregal.

„Hatten wir gerade ein Erdbeben?“, fragte sie Patrick, als sie sein Zimmer betrat.

„Hast du sie noch alle?“

„Schon gut“, sie winkte ab. Besser sie erzählte ihm nicht von der Klobürste. Er hielt sie ja so schon für bescheuert.

„Ich habe zufällig mit angehört, worüber deine Eltern gesprochen haben.“ Sie berichtete, was sie in ihrem Versteck erlauscht hatte.

„Was meint dein Vater damit? Wo soll dein Onkel dich raushalten? Und wieso sollst du ‚normal’ aufwachsen? Für mich siehst du nicht unnormal aus.“

„Don’t know.“ Patrick wirkte beunruhigt.

„Meinst du, dein Vater sagt dir, was los ist, wenn du ihn fragst?“

„Nie im Leben. Er macht ein Riesentheater um alles, was mit der Scheidung zu tun hat.“

Susanna überlegte.

„Es ist schon seltsam, wie sie über dich sprechen. Hast du schon mal deine Mutter gefragt?

„Bloß nicht, die streiten sich sowieso andauernd. Vielleicht frage ich mal Onkel Sam.“ Patrick rieb sich die Augenbraue. Er schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: „Von ihm bekomme ich am ehesten eine Antwort.“

„Fragst du ihn auch, was es mit der Flasche auf sich hat?“ Sie schob ein „Bitte“ hinterher.

„Okay – I do.“ Es klang ein bisschen großkotzig, doch Susanna war erleichtert. Immerhin bestand eine Chance, mit Patricks Hilfe herauszufinden, was eigentlich los war.

5 - Brief ohne Absender

In den Blumenkästen der Ruelle-Gasse glitzerte der Morgentau. Die Sonne schien bereits kräftig. Es versprach, ein warmer Tag zu werden. Susanna war ungewöhnlich früh unterwegs. Der Gedanke an die Truhe mit der Karaffe, die seit dem Abend ihres Geburtstags unangetastet auf der Kommode stand, hatte sie aus dem Bett getrieben. Dennoch hatte sie die Kiste ignoriert, heute sollte ein stinknormaler Tag werden.

Sie schlenderte durch die Unterstadt, überquerte eine Kreuzung und bog in eine ruhige Straße ein. Hier standen die Häuser ein Stück zurückgesetzt inmitten gepflegter Vorgärten. Einer dieser Gärten zog Susannas Blick auf sich. Clematis rankte sich um einen hölzernen Bogen, der an ein Tor in eine andere Welt erinnerte.

Direkt am Zaun wuchsen Rosenbüsche, rot und weiß wucherten sie auf den Gehweg hinaus. Susanna senkte die Nase in eine der Blüten und schnupperte. In diesem Moment trat eine Frau aus dem Haus. Nicht weit von Susanna entfernt blieb sie stehen und begann in ihrer Handtasche zu wühlen.

Gerade überlegte Susanna, ob sie die wildfremde Dame grüßen sollte, als diese sich ihr zuwandte und einige Worte murmelte: „Sajadi Surafei, tekisma sadi...“, der Rest ging im Straßenlärm unter.

„Bitte?“, fragte Susanna höflich. Diese Worte hatten wie ein Gebet oder ein Gedicht geklungen. Vielleicht irgendetwas Arabisches.

Die Frau antwortete nicht. Stattdessen ließ sie die Tasche sinken. Auf ihrer geöffneten Handfläche hielt sie Susanna einige zerknautschte Blütenblätter entgegen.

Noch eine Verrückte? Susannas gute Laune verflog, sie fühlte sich elend. Am liebsten wäre sie abgehauen, doch dazu kam sie nicht mehr, denn die Dame verbeugte sich vor ihr.

„Entschuldigung“, sagte Susanna. „Warum verbeugen sie sich? Sie müssen mich verwechseln.“

Die Frau schüttelte mit dem Kopf. Dann verneigte sie sich erneut und ging schnellen Schrittes davon.

Verunsichert blieb Susanna zurück. Es prickelte in ihrem Rücken und das Gefühl, beobachtet zu werden, stieg in ihr auf. Sie blickte sich um, doch die Straße war leer. Irgendwie wurde die Sache zunehmend unheimlicher. Besser, ich verschwinde von hier, dachte sie. Sie begann zu laufen. Diesmal war sie beinahe froh, als sie die Schule erreichte.

Zum Glück verlief dort wenigstens alles nach Plan. Als die Glocke sie um 13.30 Uhr in die Freiheit entließ, hatte Susanna die Ereignisse des Vormittags und das ungute Gefühl abgeschüttelt.

Wie meist besserte sich ihre Laune, sobald sie das Schulgelände hinter sich gelassen hatte. Sie pfiff eine schräge Melodie, als sich Patrick an ihre Seite gesellte.

„Hey“, grüßte er.

„Selber Hey.“ Sie nickte ihm zu. „Alles klar?“

„Geht so, wir hatten einen Englisch-Test. Den habe ich bestimmt verhauen. Unangekündigte Tests sollte man verbieten.“

Susanna lachte, dasselbe hatte sie schon oft gedacht.

„Hast du mit deinem Onkel gesprochen?“, fragte sie.

„Noch nicht.“

Ein Mann mit dunklem Teint kam ihnen entgegen. Zuerst achtete Susanna nicht auf ihn, doch dann bemerkte sie, dass er in die Tasche seines Jacketts griff. Als er die Hand hervorzog, blitze in seiner geschlossenen Faust etwas Weißes auf. Oh nein, nicht vor Patricks Augen.

„Lass uns die Straßenseite wechseln“, sagte sie und schob ihn vom Gehsteig. Aber auch der Mann überquerte die Straße.

„Sajadi surafei, tekisma sadi safar...“, sprach der Fremde und öffnete die Faust. Patrick betrachtete die Blütenblätter, die zu Boden rieselten mit gerunzelter Stirn.

„Was war das denn?“, fragte er, als der Mann weiter gegangen war. Er bückte sich. „Das sind Rosenblüten.“

„Es geht die ganze Zeit so“, platzte Susanna heraus, ehe sie sich besinnen konnte. Verdammt, eigentlich hatte sie die Sache vor ihm geheim halten wollen.

„Was meinst du?“

„Diese Blütenblätter. Seit zwei Tagen. Vorgestern das erste Mal, heute Morgen wieder und jetzt dieser Typ.“

„Und was soll das?“

„Keine Ahnung. Die sagen ja nichts.“

„Aber der Typ eben hat doch irgendwas gebrabbelt.“

„Unverständliches Zeug. Ich habe keinen Schimmer, was die von mir wollen – Ah ...“, fügte sie hilflos hinzu.

Während des Heimwegs überlegten sie gemeinsam. Es musste doch eine Möglichkeit geben, den fremdartigen Worten auf die Spur zu kommen.

„Vielleicht kann Albin helfen“, sagte Susanna. „Er interessiert sich für antike Sprachen und lauter so langweiliges Zeug. Vielleicht hat er eine Idee.“

Sie erreichten die Kreuzung, an der sich ihre Wege trennen würden.

„Frag ihn gleich mal, ob er mit den Worten etwas anfangen kann. Rufst du mich dann heute Nachmittag an?“, fragte Patrick. „Hast du meine Nummer?“

„Nur deine Adresse.“ Susanna zog ihr Uralt-prepaid-Handy hervor und reichte es ihm. „Gib sie einfach ein.“

Nachdem Patrick seine Telefonnummer abgespeichert hatte, verabschiedeten sie sich. Er ging nach rechts und sie nach links. Sie hätte sich gern umgedreht, doch sie zwang sich, weiter zu gehen. Nach etwa zwanzig Schritten hielt sie es nicht länger aus. Sie blieb stehen, wandte sich um und schaute ihm hinterher.

Er sieht schon gut aus, dachte sie. Anscheinend hatte sie ihn zu Beginn falsch eingeschätzt. Jetzt, da sie ihn näher kannte ... na ja, er war echt süß. Ein Grinsen stahl sich in ihr Gesicht, ohne, dass sie es hätte beeinflussen können. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Heute Nachmittag würden sie telefonieren.

Als Susanna in die Ruelle-Gasse einbog, lag diese, wie jeden Tag um diese Zeit, in Mittagsruhe. Die meisten Geschäfte schlossen um 12.00 Uhr und öffneten erst wieder am späten Nachmittag. Nur Albin wuselte umher. Ausnahmsweise stand er nicht hinter der Ladentheke und probierte neue Teemischungen aus, sondern rubbelte mit einem Geschirrtuch an der Schaufensterscheibe.

Als Susanna zu ihm trat, erklärte er: „Taubendreck, die Viecher kennen kein Mitleid mit einem alten Mann.“ Er grinste verschwörerisch und sie blinzelte ihm zu. Für einen kurzen Moment fühlte es sich an wie früher.

„Du Papa“, sagte sie. „Sprichst du eigentlich Arabisch?“

„Arabisch? Wieso?“

„Na ja“, sie zögerte einen Moment. „Weißt du, in den letzten Tagen sind mir mehrmals Leute begegnet, die alle das Gleiche vor sich hinmurmelten. Es hörte sich irgendwie arabisch an.“

Er runzelte die Stirn. „Erzähl mir genau, was passiert ist.“ Eine leichte Röte zog über sein Gesicht.

„Was ist denn los, Papa? Kein Grund zur Aufregung.“

„Ich rege mich nicht auf. Lenk nicht ab. Du musst mir sofort berichten, was geschehen ist.“

Also erzählte sie ihm, was sie erlebt hatte. Wie die Leute ihr in den Weg getreten waren - beinahe ehrfürchtig - und alle das Gleiche gesagt hatten. Sie bemühte sich, die Worte korrekt nachzusprechen.

„Sajadi surafei, tekisma sadi safar ..., so ungefähr.“

Einige Sekunden lang blieb Albin stumm. Seine Nervosität schien verraucht.

„Sajadi zurafai, teqisma sadi safar en bayadi“, rezitierte er. Es klang wie ein Gedicht.

„Genau das waren die Worte“, rief Susanna.

Albin nickte.

„Sajadi zurafai, teqisma sadi safar en bayadi“, flüsterte er. „Ich verneige mich vor der Glücklichen, deren Schicksal bestimmt eine Reise in die Wüste.“

„Was bedeutet das?“, fragte Susanna.

Albin reagierte nicht. Er öffnete die Ladentür und ging hinein. Sie folgte ihm, doch er schien keine Notiz von ihr zu nehmen. Aus einer Schublade in der Ladentheke zog er einen Schreibblock hervor. Er notierte einige Daten und Zahlen.

„Wie viel Zeit …?“, murmelte er, während er schrieb.

Susanna schielte auf den Zettel. Da stand:

13 Tage 13 Stunden 13 Minuten

2 Tage 4 Stunden 45 Minuten

Darunter Susannas Geburtsdatum.

Die Türglocke läutete. Der Postbote schob den Kopf und einen Arm herein. „Hier, eure Post.“ Er legte einen Stapel Briefe auf eine der Teekisten. Da ihr Vater immer noch nicht reagierte, ging Susanna hinüber, nahm die Briefe und blätterte sie durch. Reklame, eine Rechnung, eine verspätete Geburtstagskarte und ein Brief an Susanna Aschem, persönlich/vertraulich. Sie schaute den Umschlag genauer an. Er war mit der Hand beschriftet und trug keinen Absender.

Neugierig riss sie den Brief auf. Ein einzelnes Blatt lag darin, sie zog es heraus, faltete es auseinander und las:

Dies ist die Karaffe von Hassan Ben Ali, der dereinst für die schönste Blume des Landes in tiefer Liebe entflammte. Welch großes Glück, sie teilte seine Gefühle. Und es geschah, dass der Vater das Mädchen Hassan zur Frau gab.

Doch auch das größte Glück steht nicht allein im Weltenrund. Denn dem Glück liegt das Leid gegenüber - gemeinsam bilden sie zwei Seiten einer Münze.

Die Gefahr, die für Hassan Ben Ali das Schicksal einst brachte, ruht am Grunde der Flasche. So höre und hüte dich.

Zu keiner Zeit soll ein Nachkomme zurückkehren müssen, zu den Ahnen in die Nebel der Existenz. Zieht er den Spund aus dem Hals der Karaffe, wird ein großes Unglück geschehen.

Drum hüte er sie gut, die Flasche des Hassan Ben Ali. Denn öffnet er sie, kehrt er zurück in die Schleier, ohne sich jemals aus eigener Kraft daraus befreien zu können.

Susanna starrte die Worte an. Was sollte das bedeuten? Wer um alles in der Welt war Hassan Ben Ali? Nebel, Schleier? Was sollte das bedeuten? Ob mit der Flasche in diesem Schreiben die Karaffe gemeint war, die in ihrem Zimmer lag?

Albin trat zu ihr und nahm ihr den Brief aus der Hand. Schlagartig verfinsterte sich seine Miene. Er sah wütend aus. „Das auch noch“, sagte er.

„Was ist los“, wollte Susanna fragen, doch Albin ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Sofort nach oben“, befahl er.

Susanna war über seine Reaktion derart erstaunt, dass sie widerspruchslos gehorchte. Albin schloss den Laden ab und schob sie vor sich her die Treppe hinauf.

„Was ist denn passiert?“ Auf dem dritten Treppenabsatz blieb Susanna dann doch stehen.

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.“ Er presste die Lippen aufeinander, ergriff Susannas Hand und zog sie grob hinter sich her in die Wohnung. „Pack ein paar Sachen zusammen.“

„Fahren wir weg?“

Ihr Vater antwortete nicht, stattdessen riss er eine Reisetasche aus dem Kleiderschrank und warf wahllos Susannas Klamotten hinein. Sie stand fassungslos daneben.

„Papa“, sagte sie. „Du machst mir Angst.“

„Dazu besteht kein Grund. Geh mir aus dem Weg.“ Er schob sie unsanft zur Seite. Gleich darauf kehrte er mit Zahnbürste, Zahnpasta und Kamm zurück. „Brauchst du noch etwas?“ Als sie nicht antwortete, sagte er: „Gut, dann fahren wir. Nimm deine Schultasche mit!“

„Wohin?“, langsam wich Susannas Schockstarre. „Ich kann hier nicht weg. Morgen ist Schule.“

„Ich schreib dir eine Entschuldigung.“ Albin trat an das Bücherbord im Flur. Entsetzt beobachtete Susanna, wie er aus einem der Bücher eine leere Seite herausriss und etwas darauf kritzelte.

Am liebsten hätte sie sich geweigert mitzukommen, aber das seltsame Verhalten ihres Vaters beunruhigte sie. So folgte sie ihm ohne weiteren Protest die Treppe hinunter und stieg in den vor der Tür geparkten Wagen.

Sie verließen die Stadt. Im Auto herrschte Stille. Rechts und links säumten Bäume die kurvigen Landstraßen. Susanna starrte aus dem Fenster.

So ein Mist. Sie hatte völlig vergessen, dass Patrick auf ihren Anruf wartete. Daran war wohl vorerst nicht zu denken. Aber wahrscheinlich war es ohnehin besser, sie würde erst einmal herausfinden, wohin die Reise eigentlich ging.

6 - Gestrandet im Nirgendwo

Schon seit zwei Stunden brausten sie dahin. Sanfte Hügel gingen in schroffe Felsen über. Stetig fuhren sie höher hinauf. Hin und wieder durchquerten sie ein Dorf. Insgesamt wurde die Gegend zunehmend karger.

Bald darauf tauchten sie in eine waldreiche Region ein. Die Bäume vermischten sich vor Susannas Augen zu einem grünen Brei. Das Dämmerlicht im Wald tat das Übrige. Susanna gähnte, bald fiel sie in einen unruhigen Schlummer.

Als der Wagen abbremste, schrak sie auf.

„Wir sind da.“ Albin drehte sich zu Susanna um. „Bitte aussteigen.“ Es klang fröhlich, doch das kaufte sie ihm nicht ab. Wortlos verließ sie das Auto. Wo um alles in der Welt befanden sie sich?

Albin hatte mitten auf einem leeren Marktplatz geparkt. Der Platz war von Häusern aus grob behauenen Steinen umgeben. Ein kalter Wind ließ Susanna frösteln.

„Wo genau, ist da?“, fragte sie sarkastisch.

„Lesancé“, erwiderte Albin knapp.

„Und was wollen wir in Lesancé?“ Susanna betonte jede einzelne Silbe.

„Du wirst eine Weile bei deiner Großcousine Antoinette wohnen. Ich fahre heute Abend zurück.“

Wie bitte? Susanna meinte, nicht richtig verstanden zu haben. Sie kannte diese Cousine kaum. Und nun wollte Albin sie bei ihr zurücklassen?

„Das kannst du vergessen. Nie und nimmer bleibe ich hier.“ Susanna prustete und wies auf die wenigen Häuser. „Papa, das ist tiefste Provinz. Warum willst du mich überhaupt so plötzlich loswerden?“

„Schatz, du verstehst das falsch.“ Er wirkte bestürzt. „Glaube mir. Es ist doch alles nur zu deinem Schutz.“

„Schutz? Wovor?“

„Du musst mir vertrauen. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.“

Albin wandte sich um, öffnete den Kofferraum und hob die Reisetasche heraus.

„Kommst du?“

Widerstrebend folgte sie ihm. Sie überquerten den Marktplatz und gingen etwa fünfzig Meter die angrenzende Straße entlang. Vor einem zweiflügeligen Tor hielten sie an. Albin schlug mit der Faust dagegen. Dumpf hallte das Geräusch durch die Abendluft.

Es dauerte einige Minuten, bis sich jemand an dem Durchgang zu schaffen machte. Es klapperte und quietschte, bis endlich einer der Torflügel knarzend nach innen schwang. Eine hagere Frau von undefinierbarem Alter erwartete sie.

„Albin?“

„Antoinette“, erwiderte er, während er ihr in den Innenhof folgte. Lustlos schlich Susanna hinterdrein.

Wow! Sie blieb stehen. Mehrere Bruchsteingebäude umringten den Hof. Unter einer Kastanie stand eine Staffelei, daneben plätscherte ein Brunnen. Von den Ästen des Baumes wallten bunte Stoffe herab, an den Hauswänden hingen Leinwände mit gemalten Landschaften und überall standen Podeste, auf denen Skulpturen aus Glas oder Ton ausgestellt waren.

Hier lebte eindeutig eine Künstlerin. Einen kurzen Moment lang fragte sich Susanna, wieso sie noch nie in Lesancé gewesen waren. Dann jedoch rief sie sich den Gesichtsausdruck der Cousine ins Gedächtnis.

Albin und Cousine Antoinette - was für ein bescheuerter Name – betraten das Hauptgebäude. Susanna beeilte sich, hinterher zu kommen. Drinnen schrak sie zurück. Das Innere der Räume stand in krassem Gegensatz zur Heiterkeit des Hofs. Schwere, dunkle Möbel füllten die Zimmer bis in die letzte Ecke.

Antoinette führte sie eine Treppe hinauf und einen düsteren Flur entlang, vorbei an hohen Türen. Schließlich öffnete sie eine davon.

„Hier könnt ihr bleiben“, erklärte sie.

„Susanna bleibt“, antwortete Albin. „Ich fahre gleich wieder.“

„Also dein Zimmer“, sagte Antoinette und schob Susanna durch die Tür. „In einer Stunde sehen wir uns unten zum Abendessen. Ich bespreche mich in der Zwischenzeit mit deinem Vater.“

Susanna blieb allein zurück. Seufzend hievte sie die Reisetasche in die Mitte des Raumes. Was nun? Sie sah sich um. Im Gegensatz zum Rest des Hauses wirkte dieses Zimmer hell und freundlich. Ein breites Bett stand unter einem der Fenster, gegenüber ein Schreibtisch, daneben eine Kommode und ein Kleiderschrank aus hellem Holz. Ein Kamin mit einer Marmorumrandung war in die linke Wand eingelassen. Durch die großen Sprossenfenster drang Licht herein.

Achtlos stopfte Susanna die Klamotten in den Kleiderschrank. Als sie die Tür schloss, fiel ihr Blick auf ein Loch und einen Spalt in der Wand. Sie ging näher heran und entdeckte eine Tapezierte Tür. Das Loch war der Türgriff.

Hinter der Tür lag ein altmodisches Badezimmer. Die uralte Wanne auf ihren eisernen Füßen hatte schon bessere Zeiten gesehen. Überall platze die Emaille ab. Misstrauisch betrachtete Susanna die Toilette, deren Spülung noch mit einer Kette funktionierte. Versuchsweise zog sie daran. Mist! Vor Schreck hüpfte sie ein Stück zurück, als die Mechanik mit einem Höllengetöse auslöste und ein Wasserschwall durch die Toilettenschüssel brauste.

Als der Lärm verklang, kehrte sie zurück in das Schlafzimmer. Es wurde Zeit, sich bei Patrick zu melden. Es war schon beinahe 21.00 Uhr.

In ihrem Bauch kribbelte es, während sie seine Nummer wählte. Es tutete und das Gespräch wurde angenommen. Eine Computerstimme leierte eine Ansage herunter. Dann wurde die Leitung unterbrochen. Susanna hatte die Bandansage nicht verstanden. Wahrscheinlich hatte sie sich verwählt.

„Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vorhanden.“ Diesmal verstand sie die Worte, die gleich darauf in anderen Sprachen wiederholt wurden. Sie versuchte es ein weiteres Mal. Wieder die Ansage. Wütend warf Susanna das Handy aufs Bett. Wieso funktionierte das nicht?

Sie starrte nach draußen. Der Innenhof leuchtet in den letzten Sonnenstrahlen des Tages. „Verdammter Mist, ich hänge hier fest, fern aller Zivilisation.“

Fern aller Zivilisation. Ob das bedeutete ...? Natürlich. Während sie geschlafen hatte, mussten sie die Grenze überquert haben. Sie hatte bereits die Ländervorwahl getippt, als ihr einfiel, wie verdammt teuer Auslandsgespräche werden konnten. Sie checkte den Stand ihrer Prepaid-Karte. Zwei Euro und sechsundzwanzig Cent. Shit.

Für ein paar SMS würde es reichen. Sie tippte: „Sorry, konnte nicht anrufen. Bin im Ausland (Lesancé). Mein Vater hat mich gezwungen. Sag‘ Bescheid, wenn du mit deinem Onkel gesprochen hast. Die arabischen Worte bedeuten: Ich verneige mich vor der Glücklichen, deren Schicksal bestimmt eine Reise in die Wüste. Kannst du damit was anfangen? Susanna.“

Während des Abendessens herrschte Schweigen. Erst nachdem Antoinette die Reste des Nachtischs abgeräumt hatte, richtete sie das Wort an Susanna.

„Dein Vater hat mir erklärt, warum er dich hierher gebracht hat. Wenn du dich benimmst, werden wir miteinander auskommen.“ Ihr Lächeln wirkte schief.

„Ich muss jetzt los“, sagte Albin. „Du bist hier vorerst in Sicherheit.“ Als Susanna etwas erwidern wollte, hob er die Hand. „Frag nicht, je weniger du weißt, desto besser.“

„Wie lange muss ich hierbleiben?“

„In zwei Wochen hole ich dich ab. Versprochen.“

Susanna verzichtete auf Protest, jedoch nur, weil Albin ernsthaft in Sorge zu sein schien.

Wenige Minuten später verabschiedeten sie sich. Albin umarmte Susanna und verschwand durch das Tor.

7 - Begegnungen

Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster. Susanna lag, gemütlich eingemummelt, zwischen den Decken. Die Helligkeit störte sie nicht. Der Lärm jedoch, der die Flure entlang hallte, war gänzlich ungewohnt.

Sie schoss hoch. Woher kam dieser Krach? Missmutig stieg sie aus dem Bett.

Im Speisezimmer fand sie einen einsamen Teller und eine kalte Tasse Tee vor. Auf einem Beistelltisch lagen etwas Brot und Käse. Sie nahm sich davon und setzte sich an den Tisch, an dem locker eine Fußballmannschaft Platz gehabt hätte.

„Antoinette?“, rief sie leise.

Niemand antwortete. Dann würde sie eben allein frühstücken. Während sie aß, dröhnte das Hämmern durch das Haus. Endlich hörte es auf.

Als Susanna den letzten Bissen zum Mund führte, kam Antoinette herein. „Folge mir.“ Ohne die Miene zu verziehen, nahm sie das schmutzige Geschirr vom Tisch und trug es in die angrenzende Küche.

„Voilà, wie man spült, muss ich dir wohl nicht erklären?“

Trotz des barschen Tonfalls der Cousine war Susanna froh, etwas zu tun zu haben. Sie machte sich an die Arbeit. Antoinette sah eine Weile zu, dann verließ sie die Küche. Im Türrahmen hielt sie kurz an.

„Ich bin in meinem Atelier und möchte nicht gestört werden.“

„Jawohl, Cousine Antoinette.“ Susanna verdrehte die Augen.

Antoinette verschwand, kehrte allerdings gleich darauf noch einmal zurück.

„Wie wäre es, wenn du Toni zu mir sagst? Das klingt nicht so förmlich. Abgemacht?“

Häh? Susanna wunderte sich über die plötzliche Veränderung der einsilbigen Cousine. Doch Antoinettes Grinsen wirkte ansteckend.

„Abgemacht Cousine Antoinette, äh Toni.“ Susanna lächelte ebenfalls.

Bald darauf begann das Hämmern erneut.