Am Ende der Straße - Brian Keene - E-Book

Am Ende der Straße E-Book

Brian Keene

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Walden ist eine gewöhnliche, verschlafene Kleinstadt – bis sich von einem Tag auf den anderen eine unerklärliche Schwärze herabsenkt und Walden von der Außenwelt abschottet. Jeder, der die Stadt verlassen will, verschwindet spurlos – nur die Schreie dringen aus der Finsternis. Als das Dunkel schließlich seine furchtbare Gestalt offenbart, geht es für Waldens Bewohner ums nackte Überleben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 427

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Das Buch

Eigentlich sollte es ein ganz gewöhnlicher Tag werden in Walden, Virginia. Doch als die Bewohner der kleinen Stadt morgens erwachen, stellen sie fest, dass der Rest der Welt sich scheinbar in Luft aufgelöst hat: Ganz Walden ist in pechschwarze Dunkelheit gehüllt, die Telefonleitungen sind tot und das Wasser ist versiegt. Ein Rettungstrupp wird losgeschickt, um in der Nachbarstadt Hilfe zu holen – und verschwindet auf Nimmerwiedersehen in der Nacht. Währenddessen versinkt die Stadt im Chaos, und ihre einst so friedfertigen Bewohner schrecken auch vor Mord und Totschlag nicht mehr zurück. Pizzalieferant Robbie Higgins will gemeinsam mit seinen Freunden die Ursache für die plötzliche Finsternis herausfinden, doch all seine Versuche bleiben ergebnislos. Einzig der Obdachlose Dez scheint mehr über das Geschehen zu wissen, und schon bald bestätigen sich Robbies schlimmste Befürchtungen: Die Apokalypse ist gekommen …

Der Autor

Brian Keene, geboren 1967, hat bereits zahlreiche Horrorromane veröffentlicht und dafür zweimal den begehrten Bram Stoker Award gewonnen. Zurzeit sind zwei Verfilmungen seiner Romane in Arbeit, außerdem werden für mehrere seiner Bücher und Kurzgeschichten Videospiel- und Comicbuchfassungen entwickelt. Er lebt mit seiner Familie in Pennsylvania. Weitere Informationen erhalten sie unter: www.briankeene.com

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorWidmungInschriftEINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHNSECHZEHNSIEBZEHNACHTZEHNDANKSAGUNGCopyright

Für Victoria Grace, die mit ihrem Lächelndie Sonne erstrahlen lässt …

»Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich …«

Jesaja 60,2

»… ins Land der Finsternis und des Dunkels, ins Land da es stockfinster ist und da keine Ordnung ist, und wenn’s hell wird, so ist es wie Finsternis.«

Hiob 10,22

»Wir sahen in der Finsternis der kleinen Stadt dort unten die Lampen flimmern.«

Arthur Machen, Strange Roads

»Die älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung ist die Angst, und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.«

H.P. Lovecraft, Die Literatur der Angst

EINS

Am Anfang …

So fangen Geschichten doch immer an, oder? Am Anfang? Ich schätze mal, dann sollte meine auch so anfangen.

Am Anfang war das Wort. Das weiß ich, weil die Bibel es mir verrät. Die Bibel verrät mir eine Menge Dinge: dass Jesus mich liebt, man Hexen nicht leben lassen soll und am Anfang das Wort war.

Worte haben Macht. Genau wie Namen.

Das klingt vielleicht, als würde ich nur irres Zeug schwafeln, aber das ist wichtig, also merkt es euch. Namen. Worte. Hexen. Wenn mir genug Zeit bleibt, werde ich auf all das später zurückkommen. Und wer weiß? Vielleicht rettet es sogar euer Leben. Vor einem Monat hätte ich das noch nicht geglaubt, aber jetzt schon. Die Dinge haben sich geändert.

Mein Name ist Robbie Higgins. So. Jetzt habt ihr Macht über mich. Meine Freunde nennen mich Rob oder Robbie. Die Bullen, meine Lehrer und alle anderen, die mich schikaniert haben, nennen mich Robert.

Egal, jedenfalls war am Anfang das Wort, und es existierte ganz allein in der Dunkelheit. Davon berichtet die Bibel ebenfalls – von der Dunkelheit. Sie war das vollständige, allumfassende Fehlen von Licht – eine Dunkelheit, die so tief und undurchdringlich war, dass einem die Augen schmerzten. Eine schwere Dunkelheit. Drückend. Zumindest stelle ich sie mir so vor. Ich meine, wenn ich eine Inspiration brauche, kann ich einfach aus dem Fenster schauen und dort die Dunkelheit verdammt deutlich vor mir sehen. Ich kann zwar nicht viel anderes sehen, aber die Dunkelheit sehe ich.

Wenn man nach der Bibel geht, ist das alles folgendermaßen abgelaufen: Da waren das Wort und die Dunkelheit und sonst nicht viel. Die beiden hängen quasi zusammen rum. Wort und Dunkelheit chillen zusammen in der großen Leere. Und dann sagt das Wort: »Es werde Licht«, und es geschah. Danach ging es größtenteils ganz gut weiter.

Und dann kommt Tausende von Jahren später irgendein Arschloch daher und versaut alles. Jemand anders sagt wieder etwas, entweder was Schlimmes oder einfach was anderes wie: »Es werde wieder Dunkelheit«, und kehrt damit den gesamten Akt der Schöpfung um – löscht das Licht aus. Nein, er löscht es nicht einfach aus. Er vernichtet es. Das verdammte Licht ist weg, Mann. Licht existiert einfach nicht mehr.

Und wer weiß? Vielleicht existieren wir ja auch nicht mehr.

Christy behauptet, wir wären alle tot. Das ist ihre Theorie. Sie meint, das würde alles erklären – warum die Telefone nicht funktionieren, warum es keine Elektrizität gibt, keinen Kontakt zur Außenwelt, weder Fernsehen noch Radio, warum wir da draußen nichts außer

Dunkelheit sehen können und – was am allerwichtigsten ist – warum niemand von außerhalb in die Stadt gekommen ist, seit das alles angefangen hat, und warum keiner, der in die Dunkelheit hinausgegangen ist, zurückgekehrt ist. Christy sagt, wir wären alle tot und das hier sei eine Art Vorhölle. Das Fegefeuer. Wir können nicht weiterziehen in den Himmel oder die Hölle, weil wir hier gefangen sind. Gestrandet. Laut Christy ist das der Grund, warum Geister immer an den Orten rumhängen, wo sie gestorben sind – weil die Dunkelheit sie daran hindert, zu verschwinden.

Das Problem bei der Sache ist nur, dass Christy ziemlich viele Drogen nimmt – oder zumindest genommen hat, bis sie ihr ausgegangen sind –, was ihre Schlussfolgerungen leicht fragwürdig erscheinen lässt. Versteht mich nicht falsch, sie hat nie hartes Zeug genommen. Kein Heroin oder Meth oder so etwas. Sie hat nur immer gerne Gras geraucht und sich hin und wieder mal eine Linie Koks oder eine Ecstasypille reingezogen. Genau wie ich, wenn ich ehrlich sein soll. Worauf ich hinauswill: Logisches Denken ist nicht gerade Christys Stärke. Aber ich liebe sie trotzdem – nicht nur, weil sie geile Titten hat. Vor der Dunkelheit hat sie es geschafft, mich jeden Tag zum Lachen zu bringen. Sie hat mich glücklich gemacht. Und bei Typen wie mir ist das Gefühl, glücklich zu sein, eine seltene Angelegenheit.

Christy liegt falsch. Wir sind nicht tot. Das weiß ich, weil tote Menschen nicht sterben. Und jeder einzelne Mensch, der die Stadt verlassen hat, seit sich die Dunkelheit auf uns herabgesenkt hat, jeder Einzelne von uns, der sich in dieses schwarze Loch hinausgewagt hat, war am Ende tot. Man kann nicht sterben, wenn man schon tot ist. Das bedeutet also, dass sie nicht tot und auch keine Geister waren. Sie sind nicht gestorben oder zu Geistern geworden, bevor sie die Stadt verlassen haben. Erst danach.

Christy ist da natürlich anderer Meinung. Sie sagt, das wäre reine Spekulation. Scheiß drauf, ich weiß es, Mann.

Ich weiß es einfach.

Stimmt schon, ich habe nicht gesehen, wie sie gestorben sind. Nicht direkt. Ich meine, man kann hinter der Barriere einfach nichts erkennen. Aber ich habe sie gehört. Habe gehört, wie sie gestorben sind. Ich habe ihre Schreie gehört.

Und die anderen Geräusche. Die Geräusche, die die Dunkelheit macht.

Manchmal flüstert sie. Wenn man zu nah dran ist, genau an der Schwelle, wo das Kerzenlicht vom Schatten verschluckt wird, spricht die Dunkelheit, und zwar mit einer Stimme, die nicht ihre ist – einer Stimme, die einem wahrscheinlich vertraut ist. Sie gehört einem Geliebten, einem Elternteil, einem Freund.

Geister.

Aber die Dunkelheit redet nicht nur. Wenn sie einfach nur plappern würde, könnten wir uns Watte in die Ohren stopfen und fertig.

Die Dunkelheit beißt. Die Dunkelheit hat Zähne – scharfe, schwarze Fangzähne, die man nicht sieht. Aber sie sind trotzdem da. Die Dunkelheit hat Zähne und wartet nur darauf, uns zu zerfleischen, bis nichts mehr von uns übrig ist. Die Dunkelheit bringt uns um, wenn wir uns in sie hineinwagen, und wenn sie das tun kann, sind wir verdammt nochmal nicht tot.

Die Dunkelheit ist lebendig, genau wie wir.

Wir versuchen inzwischen nicht mehr, die Stadt zu verlassen. Niemand mehr. Aber hierzubleiben ist inzwischen auch zum Problem geworden, denn die Stadt hat ebenfalls Zähne bekommen. Die Dunkelheit dringt jetzt in uns ein, und das Ergebnis davon ist alles andere als hübsch.

Wir haben einen Plan – ich, Christy und Russ. Ich bin ein bisschen besorgt deswegen, denn mein letzter Plan endete damit, dass einige Leute umgekommen sind, und danach wurde ich zu einer Art Ausgestoßenem. Da hatte die Belagerung gerade erst begonnen. Seitdem habe ich es vermieden, bei irgendwas den Anführer zu spielen. Aber heute haben wir drei diese neue Idee entwickelt. Es ist nicht unbedingt ein toller Plan, und wahrscheinlich wird es auch nicht funktionieren, aber inzwischen sind unsere Möglichkeiten verdammt begrenzt. Wir haben diesen Plan entwickelt, nachdem wir gesehen haben, was mit dem armen Dez passiert ist.

Das war der letzte Tropfen – das endgültige Zeichen dafür, dass die Dinge nicht wieder normal werden. Game over, Mann.

Jedenfalls werden wir bald aufbrechen, aber ich habe mir gedacht, dass ich vorher vielleicht eine Art Aufzeichnung hinterlassen sollte. Einen Bericht, nur für alle Fälle. Also schreibe ich jetzt alles in dieses Notizbuch und werde es dann hierlassen, wenn wir gehen. Wahrscheinlich sollte ich euch alles erzählen, was uns an diesen Punkt geführt hat. Die ganze Geschichte erzählen, von Anfang an.

Namen. Worte. Hexen.

Dunkelheit.

Am Anfang …

ZWEI

Ich bin mir nicht sicher, wie lange wir schon hier sind, denn ich habe längst aufgehört, auf einen Kalender zu schauen, und mein Handy verrät mir nicht, welches Datum wir haben – oder sonst etwas. Der Akku ist leer, und ich habe keine Möglichkeit, ihn aufzuladen. Als es noch Saft hatte, habe ich das Telefon hin und wieder aufgeklappt, bin mein Telefonbuch durchgegangen und habe versucht, irgendwelche Leute anzurufen, aber es hat nie funktioniert. Entweder kam eine Bandansage, dass ihre Nummern nicht vergeben seien, oder ich hörte diese Pieptöne, die anzeigen, dass das Handy zu weit vom nächsten Sendemast entfernt ist. Ich habe nicht einmal ein Freizeichen bekommen. Jedes Mal, wenn ich es versucht habe, war es, als würde ich im Jenseits anrufen. Ich hörte nichts als das große Nichts.

Wenn man danach geht, wie lang mein Bart und meine Haare sind, würde ich schätzen, dass wir seit ungefähr einem Monat hier festsitzen, plus/minus ein paar Tage. Früher trug ich nie Bart. Nach ein paar Wochen fühlte er sich echt widerlich an – er juckte und spannte, und hinzu kamen die Pickelchen von den eingewachsenen Haaren, die im Bart auftauchten, rote Schwellungen voller Eiter. Aber ich bin zu faul, um Wasser zu kochen, und eine Rasur ohne warmes Wasser ist verdammt nervig. Außerdem hat irgendein Vollidiot die gesamten Rasierschaumvorräte geklaut, sowohl aus dem Supermarkt als auch aus der Drogerie. Aber das hat ihm offenbar nicht gereicht, denn dann hat er sich noch den Rasierschaum aus den verlassenen Häusern geholt. Wer macht nur so was? Lebensmittel, Batterien und Wasser kann ich ja verstehen. Scheiße, wir haben uns auch einiges geholt. Aber in unserem Fall waren das Sachen, die wir dringend brauchten. Wer klaut denn bitte den verdammten Rasierschaum? Und auch noch derart methodisch. Nimmt sich die Zeit, von Haus zu Haus zu gehen und dann damit abzuhauen. Ich meine, das ist doch wohl total irre.

Aber heutzutage sind überall Irre unterwegs, und der Diebstahl von Rasierschaum gehört da noch zum weniger bizarren Verhalten.

Jedenfalls spielt es wahrscheinlich gar keine Rolle, wie lange wir jetzt hier sind. Wichtig ist nur, wie alles angefangen hat und was seitdem passiert ist.

Es lief folgendermaßen. An einem Mittwochmorgen Ende September wachten ich, Christy und alle anderen in der ländlichen Kleinstadt Walden im Bundesstaat Virginia auf und mussten feststellen, dass der Rest der Welt verschwunden war.

Wohlgemerkt nicht zerstört, sondern verschwunden.

Einfach … weg.

Walden war noch da. Da hatte sich nichts geändert. Unsere Häuser, Geschäfte und Schulen, unsere Haustiere und Liebsten, unsere wertvollen Andenken und persönlichen Sachen, unsere Straßen und Bürgersteige – das alles existierte noch. Aber die Außenwelt, alles außerhalb der Stadtgrenzen, war durch eine makellose, schwarze Wand ersetzt worden. Ein Vorhang aus Dunkelheit umgab die Stadt. Er dehnte sich nach Osten und Westen aus – von dem Schild auf der Route 711, das stolz Willkommen in Walden, Einwohnerzahl 11 873 verkündete, bis zu den waldigen Hügeln hinter der Highschool – und erstreckte sich von der Texaco-Tankstelle auf der Maple Avenue im Norden bis zu dem unbebauten Platz hinter dem halbleeren Einkaufszentrum an der Tenth Street im Süden. Alles innerhalb dieses Radius existierte noch. Alles jenseits dieser Grenzen war von einer dichten, undurchdringlichen Dunkelheit verschluckt worden. Innerhalb der Stadtgrenzen war es ebenfalls dunkel, aber nicht so schlimm wie auf der Außenseite. In Walden schien es einfach nur Nacht zu sein. Am Stadtrand war die Schwärze dunkler. Irgendwie dichter, wie geronnenes Fett oder Motoröl.

Einige Leute bemerkten die Dunkelheit zunächst gar nicht. Sie wachten auf und stellten fest, dass Strom, Gas, Wasser und andere Annehmlichkeiten nicht mehr funktionierten. Natürlich war das beunruhigend. Aber erst als sie nach draußen stolperten, um nachzusehen, ob ihre Nachbarn das gleiche Problem hatten, entdeckten sie, was wirklich los war – auch wenn niemand von uns genau wusste, was es eigentlich war.

Ich persönlich dachte zuerst an eine Sonnenfinsternis, aber Russ machte diese Idee schnell zunichte. Er sagte, wenn es eine Sonnenfinsternis gegeben hätte, hätte er davon gewusst, und das bezweifelte ich nicht. Russ lebt in dem Einzimmerapartment über Christy und mir. Er ist ein Hobbyastronom, und bevor die Dunkelheit kam, verbrachte er den Großteil seiner Nächte auf dem Dach, starrte durch sein Teleskop in die Sterne und regte sich über die Straßenbeleuchtung auf. Er sagte, sie würde Lichtverschmutzung verursachen, so dass er nichts mehr klar erkennen könne.

Heutzutage muss er sich über Lichtverschmutzung keine Sorgen mehr machen. Das Dumme ist nur, dass es am Himmel auch nichts mehr für ihn zu sehen gibt. Die Sterne sind verschwunden. Er sagt, es sei, als würde man in einen Teich voller Teer starren.

Nach und nach erwachten die Leute in den Häusern und Wohnungen von Walden und mussten feststellen, dass der Sonnenaufgang abgesagt worden war. Die unterschiedlichen Reaktionen waren interessant. Einige beharrten darauf, dass es keine große Sache sei. Sie waren überzeugt, dass es sich bei der Dunkelheit nur um ein seltsames Wetterphänomen handelte, irgendeine komische, atmosphärische Erscheinung, die in ein paar Stunden abziehen würde. Sie stiegen in ihre Autos, Laster und SUVs und machten sich auf den Weg zur Arbeit. Andere warfen einen Blick auf die Dunkelheit, gerieten in Panik und wollten fliehen. Sie hielten es für alles Mögliche, von einem Terroranschlag bis hin zur Wiederkunft Jesu Christi, der über uns alle richten würde, beluden ihre Autos und Trucks und drückten aufs Gas, fest davon überzeugt, der Weltuntergang sei gekommen.

Was diese beiden Gruppen angeht, verstehe ich eines nicht. Die erste Gruppe, also alle, die zur Arbeit gingen, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag: Was zur Hölle haben sie sich dabei gedacht? Ich meine, man muss doch eine verdammt abgestumpfte Drohne sein, um einfach seiner Alltagsroutine zu folgen und völlig zu ignorieren, was sich um einen herum abspielt, oder? Waren sie derart von ihren Hypothekenzahlungen und Beförderungen besessen, dass sie bereitwillig alles andere ausgeblendet und gehofft haben, die Welt würde sich normalisieren, wenn sie erst einmal wieder ihrer Arbeit nachgingen? Und die zweite Gruppe, also alle, die davon überzeugt waren, das Jüngste Gericht sei gekommen, und deshalb geflohen sind? Wo zur Hölle wollten die hin? Wenn Jesus wirklich zurückgekehrt war, um über uns zu richten, wollten sie ihm entgegenstürmen, um ihn zu begrüßen, oder versuchten sie, sich vor ihm zu verstecken? Wenn das wirklich der Weltuntergang war, welches Ziel hatten sie dann für ihre Flucht im Kopf? Welcher Ort wäre nicht betroffen, wenn der Planet zerstört würde? Denkt mal einen Moment darüber nach, denn das ist wichtig. Wo versteckt man sich vor dem Weltuntergang?

Beide Gruppen – sowohl die Unbeeindruckten als auch die Durchgedrehten – fuhren aus der Stadt in die Dunkelheit hinein.

Keiner von ihnen wurde jemals wieder gesehen.

So fanden wir heraus, dass die Dunkelheit Zähne hatte.

Bin wieder da. Ich hatte mir eine Pause vom Schreiben gegönnt und meinen letzten Whiskey getrunken. Basil Haydens Kentucky Bourbon. Christy hat mir eine Flasche davon zum Geburtstag geschenkt. Verdammt gutes Zeug. Schweineteuer, aber jeden Penny wert. Ich habe den letzten Rest getrunken, weil ich dachte, eine kleine Stärkung verdient zu haben, um die ganze Schreiberei durchstehen zu können. Die Maschine ein wenig schmieren, versteht ihr? Ich muss meinen Ängsten ins Auge sehen, denn einiges von dem, was ich euch erzählen werde, ist verdammt trostlos. Und jetzt ist auch noch mein Whiskey weg.

Wollt ihr was Lustiges hören? Selbst wenn man außer Acht lässt, dass es keine Müllabfuhr mehr gibt, zögere ich, die leere Flasche wegzuwerfen. An Alkohol kommt man inzwischen noch schwerer ran als an Rasierschaum. Walden war schon immer eine ziemlich trockene Stadt, und der einzige Ort, an dem innerhalb der Stadtgrenzen Alkohol ausgeschenkt wurde, war das Versammlungshaus der Kolumbus-Ritter – und man musste Mitglied sein, um dort trinken zu können. Da war es keine Überraschung, dass der Alkohol sehr schnell verschwand, als die Plünderungen begannen.

Die Kolumbus-Ritter traf es natürlich als Erstes. Dann plünderten die Leute verlassene Häuser – und manchmal brachen sie auch in Häuser ein, die nicht verlassen waren. Heute ist eine Flasche Smirnoff oder Jim Beam besser als Bargeld.

Obwohl eigentlich alles besser ist als Bargeld. Papiergeld ist nur noch nützlich, wenn man es verbrennt, um sich zu wärmen. Aber auch das ist eher eine psychologische Sache, denn die Temperatur in der Stadt verändert sich nicht mehr. Manchmal tut es einfach gut, sich zu wärmen. Also verbrennen die Leute ihr Papiergeld.

Alkohol hält auch warm und hat den Vorteil, dass es keinen nervigen Rauch gibt und man nicht riskiert, dass das Haus abfackelt, während man schläft. Wie ich schon sagte, Jim Beam schlägt grüne Scheinchen. Und Münzen? Die kann man höchstens noch in Rohrbomben stopfen. Die machen sich super als Granatsplitter.

Aber ich will die leere Flasche nicht wegwerfen. Am liebsten würde ich sie verschließen, dann könnte ich ab und zu den Deckel abschrauben und die verbliebenen Dämpfe schnüffeln. Riechen, was einmal war. Aber vermutlich würden die wie alles andere auch irgendwann verschwinden.

Es ist wieder Abend. Streng genommen gibt es keine Möglichkeit mehr, zu bestimmen, wie spät es ist, es sei denn, man verfügt über eine batteriebetriebene Uhr oder eine Armbanduhr, die noch funktioniert. Tageslicht gehört der Vergangenheit an. Ich richte mich nach meinem inneren Wecker, und der sagt, dass es gerade ungefähr zehn Uhr abends ist.

Ich war schon immer ein Nachtmensch. Nachts bin ich so richtig wach. Lebendig. Zum Teil liegt das daran, dass ich bis vor kurzem in Giovannis Pizzeria in der zweiten Schicht gearbeitet habe. Das Restaurant in dem kleinen Ziegelgebäude lag kurz hinter der Stadtgrenze. Jetzt ist es Teil der Dunkelheit. Als ich dort arbeitete, fing ich um drei Uhr nachmittags an und lieferte meistens so bis um elf die Heimbestellungen aus, an besonderen Tagen wie dem Super Bowl oder Silvester auch manchmal länger. Nach meiner Schicht war ich normalerweise hellwach, von Red Bull, Kaffee und Cola voll aufgedreht. Also blieb ich bis zum Morgengrauen auf, spielte Videospiele oder quatschte mit Christy, wenn sie noch wach war. Sie versuchte immer, wach zu bleiben, bis ich heimkam, aber das war ziemlich hart für sie. Sie arbeitete als Teilzeitkraft und so gut wie immer tagsüber in dem kleinen New-Age-Laden der Stadt. Aber irgendwie bekamen wir es hin.

Früher liebte ich die Nacht. Die Dunkelheit war wie ein alter Freund. Ich genoss sie. Hieß sie willkommen. Nachts war die Welt friedlich, still und entspannend. Die Nacht hatte ihre ganz eigene Energie und barg unendlich viele Möglichkeiten.

Heute empfinde ich das nicht mehr so. Die Dunkelheit verbirgt ganz andere Dinge.

Seit den Tagen, als wir noch Höhlenmenschen waren, einander die Läuse aus den Haaren gepickt und versucht haben, nicht vom Säbelzahntiger gefressen zu werden, hatte der Mensch Angst vor der Dunkelheit. Früher habe ich nie verstanden, warum.

Ich sitze hier, pfeife ein Lied von Flogging Molly und wünschte, es gäbe noch Strom, damit ich mit meinem iPod Musik hören könnte. Um wieder Musik hören zu können, würde ich sogar töten – also, richtige Musik natürlich, nicht Cranston aus dem Erdgeschoss, wenn er auf seiner alten, verstimmten Gitarre herumzupft, oder die Ghettokids, wenn sie sich um die brennende Tonne auf dem Bürgersteig versammeln und sich gegenseitig ihre schlechten Rap-Nummern vorstammeln. Oh ja, ein bisschen Flogging Molly könnte ich jetzt echt brauchen. Oder Tiger Army. Oder The Dropkick Murphys. Nur ein bisschen davon würde die Dunkelheit vertreiben.

Nein. Nein, würde es nicht. Wem will ich hier etwas vormachen? Musik bringt nichts. Die Dunkelheit würde die auch nur verschlucken.

Okay, ich habe es jetzt lange genug vor mir hergeschoben, und der Whiskeyrausch wird auch nicht ewig anhalten. Wenn ich euch von der ganzen Scheiße erzählen will, sollte ich wohl endlich ernst machen. Christy schläft nebenan, und Russ ist oben und packt. Inzwischen versuchen wir, einander möglichst aus dem Weg zu gehen, damit keiner von uns wütend wird. Wir können es nicht riskieren, aufeinander loszugehen, und die kleinste angebliche Beleidigung könnte genau das auslösen. Denn die Dunkelheit verstärkt unsere negativen Gefühle. Ihr kapiert jetzt vielleicht noch nicht, was das heißt, aber das werdet ihr noch.

Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Sobald Christy wach wird, brechen wir auf.

Hoffentlich können wir die äußere Dunkelheit noch ein kleines bisschen länger in Schach halten.

Und die Dunkelheit in unserem Inneren ebenfalls.

DREI

Kennt ihr diese Bücher und Filme für Teenager? Die, in denen eine Gruppe mutiger Jugendlicher während der Sommerferien alle möglichen Abenteuer erlebt und sich am Ende herausstellt, dass alles Geschehene ein wichtiger Wendepunkt in ihrem Leben war? Sie besiegen das Monster, den Schlägertypen, den bösen Mann, den brutalen Elternteil, eigenes Feindbild bitte hier einfügen, und danach sind sie aufgrund dieser Konfrontation für immer verändert, und wenn sie später als Erwachsene darauf zurückblicken, erkennen sie, wie diese Ereignisse sie geformt haben.

Ja, ihr wisst, wovon ich spreche. Ich meine, wer hat denn bitte noch nie so einen Film gesehen oder eines dieser Bücher gelesen? Wir lieben solche Geschichten, weil wir uns alle damit identifizieren können. Wir waren alle mal Kinder und mussten uns alle unseren persönlichen Monstern stellen.

Einen Haken haben diese Geschichten allerdings. In neunundneunzig Komma neun neun neun Prozent der Fälle spielen sie in einer kleinen Stadt und in einer Zeit, als alles noch einfacher war – normalerweise in den fünfziger oder sechziger Jahren. Als das Leben angeblich leichter und voller Unschuld war. Ich meine, das ist doch typisch amerikanisch, oder? Fehlen nur noch etwas Baseball und Apfelkuchen. Diese Entwicklungsgeschichten sollen Amerika in seinem tiefsten Kern repräsentieren: all das, was an unserer Nation gut, anständig und moralisch richtig ist.

Aber sie sind eigentlich nicht mehr ganz zutreffend, nicht wahr? In diesen Geschichten kennt jeder jeden in der kleinen Stadt. Die Leute sagen Hallo, wenn sie sich auf der Straße begegnen. Die Stadt verfügt über einen ausgeprägten Sinn für Geschichte – die Einwohner wissen, wer sie wann und warum gegründet hat und alles, was seitdem in der Stadt geschehen ist. Könnt ihr das von eurem Wohnort auch behaupten?

Vor dieser ganzen Sache war es in Walden jedenfalls nicht so. Klar, wir entsprachen schon dem Stereotyp einer Kleinstadt, aber wir waren ebenso eine Stadt voller Fremder. Die Leute, die ich hier wirklich kannte, kann ich an beiden Händen abzählen: Christy und Russ, Cranston von unten, meinen Chef in der Pizzeria und die anderen Lieferjungen. Und Dez. Aber Dez zählt nicht, weil jeder in Walden wusste, wer er war. Ihn konnte man einfach nicht übersehen. Er war der einzige Obdachlose in der Stadt – und das eigentlich aus freien Stücken. Deshalb kannte jeder Dez. Er war die Ausnahme von der Regel.

In Walden blieb man nicht stehen und berichtete den Leuten auf der Straße von den Ereignissen in seinem Leben. Klar, manchmal nickte man, um zu signalisieren, dass man sie gesehen hatte. Vielleicht machte man sogar mal einen Kommentar über das Wetter oder fragte jemanden nach der Uhrzeit. Aber das war’s auch schon. Es gab keinen Billigladen, in dem man Schokobonbons kaufen oder sich die Comics in dem quietschenden Drehständer anschauen konnte. Keinen netten Apotheker, der Arzneien und großväterliche Ratschläge gleichermaßen verteilte. Und auch keine Tante-Emma-Läden, denn die gehörten der Vergangenheit an. In Walden gab es nur die üblichen 08/15-Ladenketten, die man in jeder amerikanischen Kleinstadt finden kann: Wal-Mart, McDonald’s, Best Buy, Burger King, Staples, Body Shop, Barnes & Noble, Subway und Starbucks an jeder Ecke. Für eine Einwohnerzahl von gut elftausend Menschen scheint das ziemlich viel zu sein, aber es gab im Umkreis noch ein paar andere kleine Städte, denen wir als Geschäftszentrum dienten. Abgesehen von dem New-Age-Ökoladen und dem Comicshop gab es lediglich drei unabhängige Geschäfte in der Stadt, und zwar die protestantische, die methodistische und die katholische Kirche – und die hatten nicht viel Laufkundschaft.

Ich wette, so war es überall in Amerika. Diese alten Teenager-Schmonzetten sind nichts als Lügen.

Feuerwehrfeste und Kirchenfrühstücke waren nicht die Highlights des gesellschaftlichen Lebens, und die Familien versammelten sich nicht um den Abendbrottisch oder den Fernseher, denn die Kinder hingen im Internet, und die Eltern waren entweder geschieden oder hatten zwei Jobs. An einer roten Ampel kannte niemand den Fahrer im Auto nebenan. Gelb bedeutete eher Gas geben als Bremsen. Ärzte machten keine Hausbesuche, weil die Versicherungen es untersagten. Die Bedienungen in den Lokalen kannten weder die Namen ihrer Gäste noch fragten sie, ob diese »das Übliche« wollten. Die Kinder strampelten nicht mit ihren Fahrrädern durch die Stadt oder bauten sich im Wald ein Fort, weil die Eltern ihren Kindern so etwas nicht mehr erlaubten. Im einundzwanzigsten Jahrhundert kannte man seine Nachbarn nicht mehr, und man konnte ja nicht wissen, ob sie vielleicht Kinderschänder oder Serienkiller waren, also ließ man seine Kinder höchstens noch hinten in den Hof, und selbst dann nur unter strenger Aufsicht.

Ist das nicht seltsam? Vor der Dunkelheit galt unsere Zeit als das Informationszeitalter. Die Leute redeten davon, dass unser Planet ein verdammtes globales Dorf sei. Wir lebten in einer Welt, in der man mal eben online gehen und mit irgendeinem Typen in Australien Schach spielen oder virtuellen Sex mit einer Frau haben konnte, der man noch nie begegnet war und es wahrscheinlich auch nie tun würde, da sie in Schottland lebte – und eventuell nicht einmal eine Frau war, sondern ein auf Weibchen machender Kerl. Obwohl all diese sozialen und globalen Schranken gefallen waren, waren wir mehr denn je eine Nation der Entfremdung. Und der Geheimnisse. Wir kannten jemanden aus dem Netz, dem wir nie persönlich begegnet waren. Kannten seinen Benutzernamen und seinen Avatar und bezeichneten ihn als Freund, hatten aber gleichzeitig keinen Schimmer von den Menschen, die direkt nebenan wohnten. Wir hingen lieber bei irgendwelchen Message Boards rum als in Bars. Wir brachten unseren Nachbarn keinen Apfelkuchen vorbei, wenn sie krank waren, und wir verglichen auch nicht unsere verschiedenen Mähtechniken bei einem Schwätzchen am Gartenzaun. Wir hatten keine Ahnung, was unsere Nachbarn hinter verschlossenen Türen ausheckten oder wie sie privat eigentlich so drauf waren.

Bis die Dunkelheit kam. Dann nahmen alle ihre Masken ab. Jeder zeigte sein wahres Gesicht, weil es einfach keine Rolle mehr spielte. Und in den meisten Fällen waren diese Gesichter hässlich und monströs. Nicht böse. Nicht wirklich. Böse ist ein zu starkes Wort. Böse ist nichts weiter als eine Vorstellung, ein Begriff, den wir benutzen, um etwas zu beschreiben, das sich anders nicht erfassen lässt. Wann immer wir uns die Handlungen einer Person nicht erklären können, schreiben wir sie dem Bösen zu. Aber diese ganze Scheiße, die losbrach, nachdem die Dunkelheit gekommen war – es wäre zu einfach, das böse zu nennen. Es war brutal und unzivilisiert, aber es war nicht böse. Es war einfach menschlich. Gefällt euch das? Ziemlich clever, auch wenn es von mir kommt. Verdammter Galgenhumor.

Aber es ist wahr. Die Vergewaltigungen, Morde und Brandanschläge und alles andere, was passiert ist, seit die Dunkelheit kam – das waren einfach nur Menschen, die sich verhielten wie Menschen. Die Leute entwickelten sich zurück zu Archetypen, sie wurden primitiv. Verfielen wieder in das Verhalten, das wir zeigten, als wir noch Angst vor der Dunkelheit hatten. Es passierte nicht sofort. Erstmal waren wir alle zu verängstigt, und außerdem hatten wir noch Hoffnung. Aber nach der ersten, langen Nacht, als die Hoffnung starb und wir nichts mehr hatten außer der Angst, ging es rapide bergab.

Ich kann euch nicht sagen, was die anderen alle gemacht haben, denn ich kenne ihre Geschichten nicht. Ich kann euch nur erzählen, was mit uns passiert ist. Was wir persönlich gesehen, gehört und erlebt haben.

Am Anfang.

An diesem Morgen ging ich spät ins Bett – so gegen drei –, weil ich völlig in mein Videospiel versunken war. Christy saß im Wohnzimmer, schaute Nachrichten und aß Cornflakes. Sie hatte gerade Gras geraucht. Ich weiß noch, wie der Geruch vom Rauch aus ihrer Bong zusammen mit dem gedämpften Fernsehton unter der geschlossenen Tür hindurch ins Schlafzimmer drang. Einer der Nachrichtensprecher faselte etwas über zehn neue Modehighlights oder irgend so einen Mist, und ich fragte mich, was das in den Nachrichten zu suchen hatte. Dann schlief ich ein.

Ein paar Stunden später weckte Christy mich auf. Ich war verschlafen und grummelig und brauchte eine Weile, um die Augen aufzukriegen. Sie schüttelte mich immer weiter und bestand darauf, dass ich aufstehen müsse. Als ich es schließlich schaffte, die Lider hochzuziehen, war ich ziemlich schnell voll da. Etwas an Christys Ton beunruhigte mich. Sie klang besorgt. Nicht verängstigt. Die Angst kam erst später. Aber irgendetwas machte ihr eindeutig Sorgen.

Ich setzte mich auf und rieb mir die verquollenen Augen. »Was ist los?«

»Draußen«, sagte sie atemlos. »Das musst du sehen.«

»Was denn?«

»Beeil dich!« Sie sprang auf und rannte aus dem Zimmer.

Gähnend stieg ich aus dem Bett und kratzte mich an den Eiern. Ich hörte draußen ein paar Autos hupen und besorgte, laute Stimmen, aber keinen Alarm oder Sirenen oder so. Ich schnüffelte, bemerkte aber keinen Rauch.

»Ich hoffe bloß, das ist es wert, Christy.«

Sie antwortete nicht.

Unsere Wohnung im ersten Stock ist ziemlich klein, und zwischen dem Bett und dem Kleiderschrank ist nicht gerade viel Platz. Ich knallte mit der Hüfte gegen die Kante vom Schrank und fluchte. Ich hasste dieses verdammte Ding. Tastend suchte ich nach dem Schalter der Lampe und schmiss dabei eine leere Bierflasche, eine angebrochene Münzrolle und Christys Räucherstäbchenhalter runter. Die Münzen fielen klimpernd zu Boden, und die Flasche landete klirrend an der Wand. Ich fand und drückte den Schalter, aber nichts geschah. Dann bemerkte ich die Digitaluhr auf dem Nachttisch. Sie war dunkel. Sie blinkte nicht, sondern zeigte gar nichts an. Der Strom war weg. Ich überlegte mir, dass wahrscheinlich vor dem Haus ein Auto gegen einen Strommast gefahren war oder so.

Ich zog eine Trainingshose aus dem Wäschekorb. Christy hatte ein nasses Handtuch auf sie draufgeschmissen. Sie war feucht und roch muffig, aber ich zog sie trotzdem an, weil sie sauberer war als alles andere in dieser Wohnung. Der Gang in den Waschsalon war längst überfällig. Daran erinnere ich mich noch so gut, weil wir keine Gelegenheit mehr dazu bekamen. Seitdem haben wir ein paarmal Wäsche gewaschen – mit Spülmittel und einem Eimer Wasser aus dem Teich hinter der Feuerwache. Aber der Teich trocknet langsam aus, und das letzte Wasser ist inzwischen abgestanden und stinkt wie ein offener Kanal. Seit die Dunkelheit kam, hat es nicht mehr geregnet. Über dem Teich schweben dicke Wolken von Moskitos, und grüner Schleim bedeckt die Wasseroberfläche. Dreckige Klamotten sind inzwischen die bessere Alternative – zumindest für diejenigen von uns, die nicht nackt und heulend durch die Straßen rennen, was einige sich angewöhnt haben.

Barfuß schlurfte ich in unser winziges Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch standen zwei kleine, brennende Kerzen und erfüllten die Wohnung mit dem Duft von Flieder und Lavendel. Christy schaute aus dem Fenster. Sie trug nur eines meiner alten T-Shirts und eine Unterhose, aber es schien ihr völlig egal zu sein, dass man sie von der Straße aus sehen könnte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, und ihre Oberlippe zitterte. Eine Hand hatte sie an die Brust gelegt.

»Was ist los?«, fragte ich wieder. »Ist jemand verletzt?«

Ohne mich anzusehen, sagte sie: »Es ist dunkel.«

Ich blinzelte verwirrt und versuchte zu verstehen, was daran so wichtig war. »Na ja, wie spät ist es denn?«

»Keine Ahnung. Fast sieben, glaube ich. Die Sonne müsste schon aufgegangen sein.«

»Vielleicht gibt es Regen. Haben die im Wetterbericht nicht gesagt, dass es die ganze Woche über Gewitter geben soll?«

Sie antwortete nicht. Ich ging zum Fenster und stellte mich neben sie. Dann legte ich den Arm um sie und versuchte meine Gereiztheit zu unterdrücken, weil sie mich geweckt hatte. Da fiel mir auf, dass sie zitterte. Es war nicht nur ihre Lippe. Ihr gesamter Körper bebte.

»Es sollte nicht so dunkel sein«, erklärte sie. »Schau dir mal den Himmel an. Kein Mond und keine Sonne. Keine Wolken. Gar nichts. Der Strom ist ausgefallen und das Telefon. Und ich habe den Hahn in der Küche aufgedreht, aber es kam kein Wasser.«

»Haben sie im Radio irgendwas gemeldet?«

In der Küche hatten wir ein batteriebetriebenes Radio – eines dieser Teile, das sowohl CDs und Kassetten abspielen konnte als auch Radioempfang hatte.

»Es funktioniert nicht. Kein Empfang, nicht einmal statisches Rauschen. Es ist einfach… tot.«

Ich spähte nach draußen. Es war wirklich ziemlich dunkel. Die einzigen Lichtquellen waren die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos und das sanfte Glühen der Kerzen hinter einigen Fenstern. Auf der Straße standen ein paar Leute herum, zeigten zum Himmel hinauf und riefen sich etwas zu. Andere starrten nur schweigend auf den Horizont. Stirnrunzelnd griff ich nach meiner Armbanduhr, die auf dem Fernsehschrank lag.

»Es ist zwanzig nach sieben«, verkündete ich. »Du hast Recht. Es müsste draußen eindeutig hell sein.«

Christy nickte. Ich lotste sie vom Fenster weg, und wir setzten uns auf die Couch. Dann zog ich sie an mich und hielt sie fest. Sie zitterte immer noch.

»Was ist passiert?«, fragte ich. »Wann hat das angefangen? «

»Gerade eben erst, vor zehn oder fünfzehn Minuten vielleicht. Ich habe gerade die Today Show geschaut. Der Empfang ist abgebrochen, als sie gerade diesen Rapper Prosper Johnson interviewt haben.«

»Was hat der denn jetzt schon wieder gemacht?«

»Er hat eine Party veranstaltet, um seine neue Modelinie vorzustellen, und dabei hat jemand auf ihn geschossen. Die Polizei hat noch keinen Verdächtigen. Jedenfalls hat diese Asiatin von der Today Show gerade mit ihm geredet, und dann, ein paar Sekunden später, war plötzlich der Strom weg. Mir ist aufgefallen, wie dunkel es hier drin ist, und da habe ich die Jalousie hochgezogen, um zu sehen, was draußen los ist. Ich habe auch versucht, beim Stromanbieter anzurufen, aber das Telefon war tot. Dann habe ich es mit dem Handy probiert, aber das funktioniert auch nicht. Ich kann noch nicht mal meine Mom anrufen.«

Christys Mutter lebte in einer Wohnwagensiedlung im Nachbarort – ungefähr eine halbe Stunde von uns entfernt. Damals habe ich Christy versichert, dass es ihrer Mom bestimmt gutginge. Jetzt wissen wir es natürlich besser.

»Und du hast getestet, ob das Radio funktioniert, sagst du?«

Sie nickte. »Das ist auch tot.«

»Warte hier.«

Ich stand auf und ging stolpernd durch die Dunkelheit in die Küche. Dort zog ich eine Schublade auf und holte mehr Kerzen und eine Taschenlampe heraus. Dann drückte ich selbst an dem Radio herum, um sicherzugehen, dass es richtig funktionierte. Was es tat. Die Batterien waren nicht leer. Das kleine rote Licht leuchtete.

Aber es gab absolut keinen Empfang. Ich tappte zurück ins Wohnzimmer, zündete die Kerzen an und verteilte sie strategisch im ganzen Zimmer. Ihre Flammen schienen die Schatten zurückzudrängen, und das Zimmer wirkte nicht mehr ganz so klein. Außerdem schienen sie sich auf Christys Laune auszuwirken. Sie hörte auf zu zittern und schaffte es sogar, mir ein schwaches Lächeln zu schenken.

»So etwas Romantisches hast du schon lange nicht mehr gemacht.«

Ich erwiderte das Lächeln und gab ihr einen Kuss. Ein paar Minuten lang saßen wir einfach nur da und lauschten auf die Geräusche von der Straße.

»Vielleicht ist es eine Sonnenfinsternis«, meinte ich. »Ich sollte Russ fragen. Der wird’s wissen.«

»Der ist aber wahrscheinlich schon auf dem Weg zur Arbeit.«

»Na ja, ich kann ja mal runtergehen und mich umsehen. «

Christy legte mir eine Hand aufs Bein und drückte fest zu. Sie klang wieder besorgt, als sie sagte: »Nein, bleib hier. Geh nicht raus. Wir wissen doch gar nicht, was los ist.«

»Es wird schon nichts Dramatisches sein.«

»Was, wenn es ein Terroranschlag oder so was ist? Oder eine Atombombe?«

Ich seufzte. »Wenn es ein Atomschlag wäre, wären wir jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr da. Und wenn es irgendeine andere Bombe gewesen wäre, hätten wir die Explosion gesehen oder zumindest gehört.«

»Nicht wenn es weit weg war.«

»Warte einfach hier. Mir passiert nichts. Ich verspreche dir, dass ich zurückkommen werde, sobald ich rausgekriegt habe, was hier los ist.«

Widerwillig gab sie nach. Ich zog ein T-Shirt und Socken an und stieg in meine Schuhe.

»Nimm deinen Schlüssel mit«, bat Christy, »ich werde hinter dir abschließen.«

Ich fand das etwas paranoid, behielt den Gedanken aber für mich. Mit der Taschenlampe in der Hand ging ich nach unten. Die Stufen quietschten. Vor Cranstons Tür blieb ich kurz stehen, aber in seiner Wohnung war es still.

Draußen war alles ungefähr so, wie ich es schon beschrieben habe. Einige Leute benahmen sich ganz normal. Andere drehten durch. Ich schätze, dass ich mich irgendwo zwischen den beiden Extremen befand. Ich rastete nicht aus, wusste aber, dass das alles nicht normal war. Ein Blick zum Himmel lieferte den eindeutigen Beweis dafür.

Der Himmel war verschwunden. Keine Sonne, keine Wolken, keine Flugzeuge oder Vögel. Da war gar nichts – nur Schwärze. Mit dem Horizont war es dasselbe. Eigentlich hätte ich in der Ferne Berge sehen müssen, außerdem Sendemasten und solche Sachen, aber auch hier war nichts. Es sah aus, als hätte jemand Walden in eine Flasche gesteckt und dann ein schwarzes Tuch darübergelegt.

Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich wusste nicht, wie der Mann hieß, erkannte aber sein Gesicht. Er lebte in dem Wohnblock neben unserem. Ich hatte ihn ein paarmal nach Hause kommen sehen.

»Ziemlich unheimlich, oder?«

Ich nickte. »Das kann man wohl sagen. Wissen Sie, was hier los ist?«

»Keine Ahnung. Als ich aufgewacht bin, war es schon so. Gestern Abend, bevor ich ins Bett gegangen bin, hieß es, wir würden Regen bekommen. Angeblich sollte heute Morgen ein heftiges Gewitter kommen. Vielleicht ist es das? Irgendeine seltsame Sturmfront?«

»Vielleicht.« Ich schaute zum Himmel hoch. »Aber warum regnet es dann nicht? Warum gibt es keinen Donner und keine Blitze? Nicht einmal Wind. Spüren Sie das? Die Luft steht völlig still.«

»Gutes Argument.« Er streckte mir die Hand hin. »Tom Salvo.«

»Robbie Higgins.«

Während ich ihm die Hand schüttelte, kam mir der Gedanke, wie surreal die ganze Situation eigentlich war. Da musste erst so ein bizarrer Scheiß wie das passieren, damit die Leute mal höflich und zivilisiert miteinander umgingen.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Robbie. Du lebst mit deiner Freundin da oben, nicht wahr?«

»Ja, im ersten Stock. Und du wohnst nebenan, oder?«

Er nickte. »Schon seit einem Jahr, seit meine Frau und ich uns getrennt haben. Die Wohnung ist klein, aber ich kann mir nichts Größeres leisten. Wegen der Alimente und so. Ich habe zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Sie leben bei ihrer Mutter, aber ich sehe sie jedes zweite Wochenende.«

Jetzt, wo er es sagte, fiel mir auch wieder ein, dass ich hin und wieder gesehen hatte, wie er mit zwei Kindern ankam.

Wir unterhielten uns noch eine Weile. Alle paar Minuten blieb jemand bei uns stehen und fragte, ob wir wüssten, was los war. Einige wanderten weiter, wenn sie herausfanden, dass wir nichts wussten. Andere blieben bei uns. Ein Typ, der auf der anderen Straßenseite wohnte, brachte eine Thermoskanne mit heißem Kaffee und ein paar Pappbecher mit raus und verteilte sie an die Gruppe. Er hatte gerade eine Kanne Kaffee fertig gehabt, als der Strom ausfiel, und ihn dann in die Thermoskanne gefüllt, damit er nicht kalt wurde. Er schmeckte echt gut. Einige Minuten später war unser kleines Kaffeekränzchen an der Ecke auf ein Dutzend Leute angewachsen. Ich kannte keinen von ihnen, aber das hinderte uns nicht daran, uns zu unterhalten.

Plötzlich hupte ein Auto und ließ uns zusammenfahren.

Der Fahrer brüllte: »Schieb deinen Hintern von der Straße, du Penner!«

Wir wandten uns dem Aufruhr zu. Mitten auf der Kreuzung stand Dez und wich den fahrenden Autos aus. Seine schäbigen, abgetragenen Klamotten wirbelten wie ein Cape um ihn herum und ließen ihn aussehen wie eine Vogelscheuche.

Er grinste und nickte und machte entschuldigende Gesten, bekam dafür aber nur immer wieder den Stinkefinger gezeigt.

»Das ist doch dieser Obdachlose, oder?«, fragte Tom.

»Ja«, meinte jemand. »Verdammter Spinner.«

»Er ist schizophren«, erklärte eine Frau. »Der arme Mann hat unser Mitleid verdient.«

»Der ist nicht schizophren«, erwiderte ein übergewichtiger Mann, der nach Zigarren stank. »Der ist einfach nur völlig durchgeknallt.«

»Mir tut er jedenfalls leid«, bekräftigte die Frau. »Er lebt in dem verlassenen Werkzeugschuppen gegenüber der Lutheranerkirche. Er nimmt einfach keine Hilfe an, von niemandem. Wir haben schon einmal versucht, ihm Essen zu bringen, aber er lehnt es ab.«

Der fette Mann rollte mit den Augen. »Wie ich bereits sagte, Lady, der ist total irre. Er will nicht essen? Tja, Pech gehabt, würde ich sagen.«

Wir beobachteten, wie Dez sich durch den Verkehr schlängelte. Es erinnerte mich ein bisschen an dieses Videospiel, Frogger. Ich atmete erleichtert auf, als er den Bürgersteig erreichte. Ich hatte ihn schon oft in der Stadt gesehen, aber noch nie aus der Nähe. Sein Alter war schwer zu bestimmen, aber er war definitiv jünger, als ich erwartet hatte, schätzungsweise irgendwo in den Dreißigern. Sein dichter Bart war zerzaust, aber sauber, und seine Haare waren zwar nicht gekämmt, schienen aber ebenfalls gewaschen zu sein. Eigentlich schien Dez – abgesehen von seinen Klamotten, die aussahen, als könnten sie alleine stehen – in ziemlich guter Verfassung zu sein. In der Tasche seines Trenchcoats zeichnete sich ein rundlicher Gegenstand ab, der unverwechselbare Umriss einer Flasche. Er lächelte, als er langsam an uns vorbeilief, fast so, als wäre er erschöpft.

»Ich habe es geschafft«, sagte er immer noch lächelnd zu uns. »Hätte nicht gedacht, dass ich rechtzeitig fertig werde, aber ich habe es geschafft. Ich habe es draußen gehalten. Solange sie niemand auslöscht, wird es gehen.«

Unsere Gruppe nickte lächelnd und trat unangenehm berührt auf der Stelle. Keiner von uns wusste, wie er reagieren sollte. Einige schauten einfach weg. Andere starrten einander an. Einer lachte.

»Sie kann nicht rein«, erklärte uns Dez. »Man muss nur die Worte kennen. Ist schon gut, dass ich sie in einem meiner Bücher hatte, sonst hätte sie uns verschluckt wie Jelly Beans. Kleine, menschliche Jelly Beans. Welche Geschmacksrichtung bist du?«

Tom räusperte sich. Die anderen blieben stumm.

Ich sprach ganz langsam, wie mit einem Kind: »Wovon redest du, Mann?«

»Die Dunkelheit. Irgendjemand hat ihren wahren Namen ausgesprochen und sie in unsere Welt geholt. Ich wusste, dass sie kommen würde, deshalb habe ich die Worte aufgeschrieben und sie aufgehalten. Ich weiß aber nicht, wie man sie vertreiben kann. Ich weiß nicht, wie man die Tür wieder schließt.«

Dez lief die Straße hinauf und bog um eine Ecke. Danach löste sich unsere Gruppe auf. Die Konfrontation mit dieser Abgedrehtheit machte uns plötzlich wieder zu Fremden. Falls das der Weltuntergang war, hatten wir alle unsere eigene Version davon, um die wir uns kümmern mussten.

Außerdem gab es keinen heißen Kaffee mehr.

Tom klopfte mir auf die Schulter. »War schön, dich mal kennenzulernen, Robbie.«

»Ja, Mann, gleichfalls. Ich hoffe, deine Kinder sind okay.«

»Ich auch. Ich …«

Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Sein Adamsapfel hüpfte krampfhaft, und seine Augen wurden feucht.

»Meld dich mal«, schlug ich vor. »Lass mich wissen, wenn ich dir irgendwie helfen kann.«

»Danke, das weiß ich wirklich zu schätzen. Werde ich machen. Bis dann.«

»Alles klar, Mann, wir sehen uns.«

Ich ging wieder in unser Haus zurück. Es war sehr still und das Treppenhaus irgendwie unheimlicher als zuvor. Ich holte tief Luft. Mein Magen knurrte, und ich überlegte, etwas zu essen – Weltuntergang hin oder her.

Danach habe ich Tom Salvo noch zweimal gesehen. Beim ersten Mal nur ganz kurz. Und als ich ihn zum zweiten Mal wiedersah, war er tot.

VIER

Während ich wieder hochging, beschloss ich nachzusehen, ob Russ in seiner Wohnung war. Klar, es konnte sein, dass er schon auf dem Weg zur Arbeit war, aber es gab immerhin auch die Möglichkeit, dass er beschlossen hatte, nicht zu gehen, nachdem er gesehen hatte, was draußen los war. Ein kleiner Teil von mir hegte noch immer die Hoffnung, dass das Ganze nur eine seltsame Art von Sonnenfinsternis war. Mein Magen meldete sich wieder, aber ich beschloss, dass er noch etwas länger warten konnte.

Ich ging an unserer Tür vorbei und stieg in das nächste Stockwerk hinauf. In Russ’ Wohnung war alles ruhig. Ich klopfte an die Tür und wartete. Es kam keine Antwort und drinnen rührte sich nichts, also klopfte ich noch einmal. Als danach immer noch keine Reaktion kam, ging ich wieder runter.

Christy hockte nach wie vor mit angezogenen Beinen auf der Couch. Als ich reinkam, schaute sie zu mir hoch, und ich konnte sehen, dass sie geweint hatte.

»Hast du irgendwas rausgefunden?«

»Nein«, erwiderte ich und setzte mich neben sie. Die Sprungfedern quietschten. »Niemand weiß, was eigentlich los ist. Jeder hat irgendwelche Theorien, und einige davon sind ziemlich abgefahren – Aliens, die himmlische Entrückung, solcher Mist eben –, aber niemand weiß mit Sicherheit, was passiert ist.«

»Was hast du gesehen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Dasselbe, was man vom Fenster aus sieht. Dunkelheit. Der einzige Unterschied ist, dass es draußen noch mehr davon gibt. Hast du als Kind manchmal die Superman-Trickfilme geschaut?«

»Ja.«

»Erinnerst du dich an Kandor?«

»Der riesige Affe, der Supermans Kräfte hatte?«

»Nein, das war nicht Kandor. Ich weiß nicht mehr, wie der hieß.«

»Gigantor?«

»Nein, das war es nicht. Ist egal. Wie auch immer er hieß, dieser Affe war ein ziemlich lahmer Bösewicht. Kandor war die Miniaturstadt in der Flasche, die Superman in der Festung der Einsamkeit aufbewahrte.«

Christy nickte. »Ach ja, jetzt erinnere ich mich.«

»Tja, und so fühlt sich das da draußen an. Als hätte jemand Walden in eine Flasche gesteckt und dann das Licht ausgemacht.«

Sie rieb sich zitternd die Arme. »Ziemlich kühl hier drin.«

»Stimmt. Ich könnte jetzt einen Kaffee gebrauchen. Ein Typ auf der Straße hat mir einen Becher ausgegeben, aber ich brauche mehr. Ich wünschte, wir hätten wieder Strom.«

»Wir haben noch dieses kleine Glas mit Instantpulver, das meine Mom mitgebracht hat, als wir noch keine Kaffeemaschine hatten, aber ich habe keine Ahnung, wie wir das Wasser heiß machen sollen.«

»Schon okay«, meinte ich. »Später vielleicht. Auch wenn ich es echt nötig habe, hasse ich kalten Kaffee.«

Christy stand auf und zog sich eine Trainingshose an. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, legte sie sich eine Decke über die Schultern und setzte sich wieder hin. Sie zündete die Bong an, und wir rauchten eine Zeit lang. Dabei erzählte ich ihr alles, was ich gehört hatte, von den Leuten, denen ich begegnet war, und von Dez’ seltsamem Auftritt. Während wir redeten, nahm der Lärm auf der Straße zu, als immer mehr Leute aufwachten und entdeckten, was los war.

»Hat irgendeiner von den anderen gesagt, was sie jetzt tun werden?«

»Ein paar schon«, nickte ich. »Einige wollten abhauen und versuchen, eine von den anderen Städten zu erreichen, um zu sehen, ob die noch Strom haben oder wissen, was los ist. Andere wollten einfach abwarten. Ich finde, das sollten wir auch machen. Einfach stillhalten und warten.«

»Worauf?«

»Keine Ahnung. Dass die Strom – und Wasserversorgung wieder funktioniert, zum Beispiel. Ich meine, momentan wissen wir doch überhaupt nichts, oder? Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt sicher ist, die Stadt zu verlassen.«

»Wir sollten zu meiner Mom fahren. Vielleicht hat sie noch Strom. Und vielleicht bringen sie was in den Nachrichten. «

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre, Süße. Ich weiß, dass du dir Sorgen um sie machst, aber sie würde wollen, dass du in Sicherheit bist, und ich denke, das schaffen wir eher, wenn wir hierbleiben.«

»Du glaubst also wirklich, dass irgendetwas Schreckliches passiert ist?«

»Kann sein. Erst dachte ich, es wäre eine Sonnenfinsternis, aber die dauern normalerweise nicht so lange. Es muss ja nicht unbedingt etwas Schlimmes sein, aber nehmen wir mal an, es ist wirklich ein Terroranschlag oder eine Naturkatastrophe. Vielleicht wird die Dunkelheit durch irgendeine chemische Wolke oder so verursacht, oder durch Vulkanasche. Wenn wir da reingehen, könnten wir krank werden.«

»Du glaubst, das war es? Al Qaida? Die Söhne der Verfassung? Die haben nichts mehr gemacht, seit sie die Leute bei dieser Realityshow, Castaways, umgebracht haben. Oh Gott, was, wenn die dahinterstecken?«

»Ich habe doch gerade gesagt, dass es nicht zwangsläufig so etwas sein muss, Christy. Aber egal was es ist, wir sollten zunächst davon ausgehen, dass es gefährlich ist. Alle öffentlichen Netze sind zusammengebrochen, und die Leute haben Angst. Das führt zu Panik, und wenn die Leute dann richtig durchdrehen, sind wir überall besser dran als auf der Straße. Also sollten wir uns entspannen und erstmal abwarten, was passiert. Vielleicht kommt ja Hilfe. Und wenn nicht, können wir uns in ein paar Stunden immer noch überlegen, was wir tun sollen. Okay?«

»Okay.« Sie zog einen Flunsch.

Ich ging in die Küche und beschloss, uns etwas zu essen zu machen. Da ich die kalte Luft nicht rauslassen wollte, vermied ich es, die Kühlschranktür zu öffnen, denn schließlich konnte niemand sagen, wie lange wir ohne Strom auskommen müssten, und ich wollte nicht, dass unsere Lebensmittel schlecht wurden. Stattdessen holte ich ein paar Trockenfrüchte und eine Schachtel Cheerios aus dem Schrank. Ich mischte sie in zwei Müslischalen und trug die Schalen ins Wohnzimmer rüber.

»Wir werden sie leider ohne Milch essen müssen«, erklärte ich, »tut mir leid.«

»Schon okay.«

Christy klang nicht mehr ganz so hoffnungslos. Es tat gut, sie wieder lächeln zu sehen. Es war nur ein kleiner Sieg, aber für mich ein wichtiger. Denn ehrlich gesagt bekam ich langsam selber Angst. Männer sind genetisch irgendwie darauf programmiert, die Menschen zu beschützen, die ihnen wichtig sind. Wenn wir das nicht schaffen, ist das ein schreckliches Gefühl. Man fühlt sich hilflos und meint, man sei es nicht wert, von ihnen geliebt zu werden, selbst wenn die Betroffenen einen gar nicht so sehen. Ich wollte, dass Christy in Sicherheit war, hatte gleichzeitig aber keine Ahnung, wovor ich sie eigentlich beschützen musste und wie ich das anstellen sollte. Ich glaube, diese Unwissenheit war das Schlimmste. Wenn ich gewusst hätte, was los war und womit wir es eigentlich zu tun hatten, wäre ich schon irgendwie damit fertiggeworden. Ich hätte tun können, was auch immer ich für uns hätte tun müssen. Aber so unwissend, wie ich war, konnte ich mich auf nichts vorbereiten. Ich konnte nur versuchen, dafür zu sorgen, dass Christy einigermaßen glücklich und zufrieden war. Sie ablenken und hoffen, dass es bald vorbei war.

Aber es ging nicht vorbei.

Wir knabberten noch unser trockenes Frühstück, als es an der Tür klopfte. Es war ein sehr lautes Klopfen, das uns beide zusammenzucken ließ. Mir fielen ein paar Cheerios auf die Couch.

»Bleib hier«, befahl ich Christy und stellte meine Schüssel auf dem Couchtisch ab.

Christy zog die Augenbrauen zusammen, wie sie es immer tat, wenn sie Angst hatte oder nervös war. Ich zögerte, dann streckte ich einen Finger aus und wischte ihr einen Cornflakekrümel vom Mundwinkel. Das brachte sie zum Lächeln.