Am Ende - Rick Mofina - E-Book

Am Ende E-Book

Rick Mofina

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Beschreibung

Ein verhängnisvoller Flug Ein schreckliches Geheimnis  Eine unaufhaltsame Suche nach der Wahrheit Auf einem Flug von Mexiko-Stadt nach Los Angeles erhascht Wanda Stroud einen schicksalhaften Blick auf den Laptop des Passagiers in der Sitzreihe vor ihr. Am nächsten Tag erscheint sie nicht zu ihrer Verabredung zum Kaffee mit einer Freundin. Special Agent Jill McDade wird in die Lösung des Falles verwickelt, der Verbindungen zu zwielichtigen Netzwerken im Dark Web hat und weit über die Grenzen der USA hinausreicht. Gleichzeitig reist der Journalist Ray Wyatt auf der Suche nach seinem Sohn Danny nach Mittelamerika, um die Geschichte weiter zu untersuchen und sich an seine letzte Hoffnung zu klammern, dass Danny nicht tot ist. --- "Rick Mofinas Bücher sind so spannend geschrieben, dass es einem den Atem raubt. Bücher, bei denen sich die Seiten wie von selbst umblättern und den Leser nicht mehr loslassen." – Louise Penny "Rick Mofinas spannender, straffer Schreibstil macht jeden seiner Thriller zu einer adrenalingeladenen Reise." – Tess Gerritsen "Mofinas scharfe Prosa ist wie ein sauberer Schuss mitten ins Herz." – Publishers Weekly "Einer der besten Thrillerautoren der Branche." – Library Journal "Wieder einmal ein hervorragender Spannungsroman! Am Ende ist superspannend, ein hervorragender Roman. Wieder einmal hat Rick Mofina nicht enttäuscht." – Goodreads-Rezension "Rick Mofina enttäuscht nie! Ich habe diese Serie sehr genossen und Ray Wyatt war ein hervorragender Protagonist. Ich kann die Bücher wärmstens empfehlen!" – Goodreads-Bewertung "Großartiges Leseerlebnis! Ich habe auch die beiden vorherigen Ray Wyatt-Bücher geliebt, aber dieses war das beste. Ich liebe die Art, wie Mofina seine Geschichten erzählt." – Goodreads-Rezension

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Seitenzahl: 299

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Am Ende

Rick Mofina

Am Ende

Titel der Originalausgabe: Requiem

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Rick Mofina

Copyright © Skinnbok ehf, 2025

Übersetzung: Kirsten Evers © Skinnbok ehf

ISBN 978-9979-64-754-6

Kein Teil dieses Buches darf ohne Genehmigung des Herausgebers zum Zweck des Trainings von KI-Technologien oder -Systemen verwendet werden.

Kein Teil dieses Buches darf ohne Genehmigung des Herausgebers zum Zweck des Trainings von KI-Technologien oder -Systemen verwendet werden.

Published by agreement with Lorella Belli Literary Agency Limited.

–––

Zum steten Lernen bleibt auch das Alter jung.

Aischylos (525-456 v. Chr.)

TEIL EINS

1

Mexiko-Stadt und Los Angeles

Wanda Stroud hielt sich an den Armlehnen fest, als die 737 auf dem internationalen Flughafen von Mexiko-Stadt die Startbahn hinunterrollte.

Das Kribbeln in ihrem Bauch verstärkte sich, als das Flugzeug sich in die Luft erhob, und der Druck presste sie in ihren Sitz. Sie atmete tief ein und schaute aus dem Fenster auf die Stadt, die unter ihr vorbeizog. Das Flugzeug stieg höher und höher, bis es sich schließlich stabilisierte. Erleichterung machte sich in ihr breit.

Wanda war vielleicht kein ausgesprochener Fan vom Fliegen – okay, seit ich Ed verloren habe, fürchte ich mich vor vielen Dingen –, aber das hielt sie nicht vom Reisen ab, vor allem, wenn es um ihre Krankheit ging. Sie hatte gehofft, dass die Spezialisten in Mexiko herausfinden würden, was mit ihr los war, und sie erfolgreich behandeln würden, im Gegensatz zu den Ärzten in Kalifornien.

Sie war schon immer sehr auf ihre Gesundheit bedacht gewesen und achtete ständig auf Anzeichen von möglichen Krankheiten. Sie hatte immer Angst, dass eine Halsentzündung oder eine laufende Nase ein Anzeichen für etwas Ernsteres sein könnte, was sie oftmals dazu veranlasste, ihren Arzt zu kontaktieren, um zu sehen, ob sie sofort behandelt werden musste.

Eines Abends vor einigen Monaten hatte Wanda eine Fernsehsendung über eine Frau gesehen, die an einer neuen, nicht heilbaren Krebsart erkrankt war. Wanda war davon überzeugt gewesen, dass sie dieselben Symptome hatte, und war zu ihrer Ärztin gegangen, die daraufhin eine Reihe von Tests durchführte.

„Die Ergebnisse sind negativ. Alles ist in Ordnung“, hatte Dr. Singer gesagt und sie hinter ihrer rotgeränderten Brille angeblinzelt.

Aber Wanda hatte nicht geglaubt, dass sie gesund war. Sie war zu einem anderen Arzt gegangen, der, nachdem er Wanda untersucht hatte, den Schlussfolgerungen der ersten Ärztin zustimmte: Wanda sei in bester körperlicher Verfassung.

Dennoch hatte Wanda den Verdacht, dass bei den Tests etwas schief gelaufen war und dass sie falsch diagnostiziert worden war. Sie befürchtete, dass sie die neue unheilbare Form von Krebs hatte. Also hatte sie getan, was sie immer tat – sie hatte sich im Internet informiert. Auf eigene Kosten organisierte sie eine Reise nach Mexiko, um sich von Ärzten untersuchen zu lassen, die – den Online-Chatgruppen zufolge – kurz davor standen, eine bahnbrechende Behandlung für die Krebsart zu finden, von der Wanda überzeugt war, an ihr erkrankt zu sein.

Nachdem sie ein kleines Vermögen ausgegeben und sich mehrere Wochen lang in Mexiko-Stadt untersuchen lassen hatte – zunächst im renommierten Forschungszentrum und dann im Krebsinstitut –, kamen die Ergebnisse zurück.

„Der Krebs, vor dem Sie sich fürchten, ist extrem selten, und ich kann Ihnen versichern, dass Sie ihn nicht haben.“ Dr. Salazar vom Universitätszentrum hatte seine Brille abgenommen und sie mit einer leichten, aber herzlichen Irritation angeschaut. Dann hatte er ihr den gleichen Rat gegeben, den ihr die Ärzte in Los Angeles gegeben hatten.

„Mrs Stroud“, hatte Dr. Salazar gesagt, „wenn Sie wieder in Los Angeles sind, dann schlage ich vor, dass Sie Ihren Hausarzt aufsuchen, sich über Entspannungstechniken beraten lassen und nicht im Internet nach Informationen über Ihre Gesundheit suchen. Ihr Hausarzt wird Ihnen vielleicht Medikamente oder eine therapeutische Behandlung empfehlen, um Ihnen bei Ihren Ängsten zu helfen, und Ihnen einige Methoden an die Hand geben, mit denen Sie diese kontrollieren können, wann immer Sie glauben, ein Symptom zu verspüren.“

Während das Passagierflugzeug zehn Kilometer über der Sonora-Wüste hinweg flog, setzte sich Wanda auf ihren neuen Sitz. Sie war eine der Letzten gewesen, die an Bord gegangen waren, weil sie darum gebeten hatte, von ihrem Platz im hinteren Teil des Flugzeugs auf einen Sitz weiter vorne versetzt zu werden, wo sie lieber saß. Das Flugzeug war nur halb voll, also hatte die Flugbegleiterin sie weiter nach vorne gesetzt, sobald das Flugzeug in der Luft war und sich stabilisiert hatte. Wanda schaute auf die beiden leeren Sitze in ihrer Reihe und dann auf die Sitze in der Nähe. Die meisten waren leer, also konnte sie sich nur noch zurücklehnen und eine Bilanz ihres Lebens ziehen.

Es war jetzt fünf Jahre her, seit Ed, der Busfahrer gewesen war, sich im Supermarkt an die Brust gefasst hatte, zusammengebrochen und noch vor Ort gestorben war, mitten in der Feinkostabteilung. An manchen Tagen konnte sie schwören, dass sie ihn noch immer im Badezimmer beim Rasieren oder in der Küche beim Zubereiten eines Sandwiches hörte. Sie war jetzt sechundsechzig Jahre alt, Bibliothekarin im Ruhestand und kinderlose Witwe, die in ein leeres Haus zurückkehrte, und jeden Tag befürchtete sie aufs Neue, dass sie eine unentdeckte Krankheit hatte.

Sie schluckte und spürte ein Kribbeln in ihrer Kehle.

Was ist das? Haben sie etwas übersehen? Vielleicht sollte ich in LA doch nochmal einen neuen Spezialisten aufsuchen?

Sie drehte sich zum Fenster und seufzte.

Oder vielleicht sollte ich einfach aufhören, mich wie eine dumme alte Frau zu benehmen.

Wanda überlegte, ob sie ihren Taschenbuchkrimi aufschlagen sollte. Sie beschloss, ihre Sorgen zu vergessen, es sich bequem zu machen und ihr Buch zu lesen.

Da bemerkte sie den einsamen Passagier in der Reihe vor ihr – einen Mann Mitte fünfzig mit weißem Haar, der an seinem Laptop arbeitete. Er hatte einen großen Bildschirm mit einer großen Schrift, die Wanda einen klaren und einladenden Blick über seine Schulter ermöglichte. Da Wanda sich immer dafür interessierte, was die Leute gerne lasen, beschloss sie, einen Blick darauf zu werfen.

Nur einen klitzekleinen.

Las er gerade einen Roman oder machte er etwas Berufliches? Sie war neugierig.

Okay, ich bin neugierig, sei’s drum. Ich geb’s ja zu.

Er hatte ein paar Dateien geöffnet und sah sie durch – Bilder von Kindern.

Seine Kinder? Enkelkinder, Nichten, Neffen?

Lächelnd dachte Wanda, dass, wer auch immer das war, ein schönes Leben fuhren musste. Sie bereute es oft, keine Kinder bekommen zu haben, aber wie immer verdrängte sie das Bedauern. Sie griff nach ihrem Buch und dachte noch einmal nach.

Moment mal.

Sie warf einen weiteren Blick auf den Bildschirm des Mannes und die kleinen Gesichter, die in einem steten Strom vorbeizogen. Die Kinder schienen alle noch recht klein zu sein. Gelegentlich hielt er den Strom an, so dass Wanda sehen konnte, dass sich das Gesicht jedes Kindes genau an der gleichen Stelle und Position im Bild befand, fast wie bei einem biometrischen Passfoto. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass in der rechten unteren Ecke jedes Fotos eine mehrstellige Zahl stand.

Wie ein Katalog oder eine Galerie von Kindern. Ist das vielleicht ein Schulalbum?

Die Tastatur des Mannes klickte, während er tippte, und Wanda las seine Nachrichten. Weitere Ausdrücke und Satzfragmente erschienen: adoptiert ... Vereinbarung ... Übertragung der Rechte auf die Adoptiveltern ... ein Einverständnispapier bekommen ... Vermittler ... Gebühren ... sorgt für authentisch aussehende Unterlagen und Urkunden ... Validierung des rechtlichen Status als Waise ...

Wanda hielt den Atem an.

Authentisch aussehende Unterlagen und Urkunden? Was soll das denn bedeuten?

Die Tastatur des Mannes klickte unaufhörlich, während er scheinbar ein Gespräch mit anderen Teilnehmern führte.

Richtig. Diese Woche haben wir solide Gebote für #0247 aus Madrid, #6796 aus Melbourne, #0055 aus Johannesburg, #2095 aus Moskau, #8849 aus Buenos Aires, #3716 aus London und #9902 aus Toronto.

Wanda versuchte zu verstehen, was sie sah, als der Mann tippte: Bin gerade dabei, die Angebotspreisliste zu aktualisieren.

Preisliste? Was könnte das sein?

Der Bildschirm seines Laptops flackerte. Die Galerie zeigte nun neben jeder Katalognummer einen Betrag in US-Dollar an. Die Zahlen und kleinen Kindergesichter rollten auf dem Computer vorbei: 185.000 Dollar... 130.000 Dollar ... 155.000 Dollar ...

Wanda lief es kalt den Rücken hinunter.

Irgendetwas schien hier ganz und gar nicht in Ordnung zu sein – es erschien ihr sogar illegal.

Könnte der Mann auf dem Sitz vor mir Teil einer Art Adoptionsring sein?

Sie sah sich nach einer Antwort um. Als sie keine fand, akzeptierte sie, dass es eine rationale Erklärung geben musste für das, was der Mann tat. Außerdem ging es Wanda nichts an.

Sie schlug ihr Buch auf.

Aber sie konnte sich nicht auf das Lesen konzentrieren, während der Mann vor ihr seine Arbeit fortsetzte. Wieder wurde Wanda von den Gesichtern der Kinder angezogen – ihren digitalen Namen und Preisschildern.

O mein Gott! Was ist, wenn etwas wirklich Schreckliches direkt vor meinen Augen passiert und ich hier sitze und nichts tue? Wie soll ich dann mit mir selbst leben können? Wie heißt es doch so schön, wenn man etwas sieht, muss man etwas tun. Ich habe etwas gesehen, also muss ich auch etwas tun.

Okay, dachte Wanda, sie könnte die Beweise besorgen, sie melden und einen Experten für solche Fälle entscheiden lassen.

Sie griff in ihre Tasche, holte ihr Handy heraus und sah sich um, um sicherzustellen, dass niemand zusah. Sie schaltete den Kameraauslöser ihres Telefons stumm, schaltete den Piepton der Videoaufzeichnung aus und begann dann, den Bildschirm des Mannes zu fotografieren. Vorsichtig zoomte sie heran und machte scharfe Bilder, Bild für Bild, bis sie nicht mehr wusste, wie viele es waren. Dann schaltete sie in den Videomodus und nahm den Mann bei seiner Arbeit und den Inhalt seines Bildschirms auf. Es war ihr ein wenig peinlich, in seine Privatsphäre einzudringen.

Wahrscheinlich ist es nichts, aber zumindest tue ich etwas.

Plötzlich hörte der Mann auf zu tippen.

Er drehte den Kopf leicht in ihre Richtung, ohne sie anzusehen.

O nein! Hat er mein Spiegelbild in seinem Bildschirm gesehen?

Schnell klappte er seinen Laptop zu und erhob sich von seinem Platz.

Wanda steckte ihr Telefon in ihre Tasche.

O mein Gott! Er hat mich gesehen! Er weiß, dass ich ihn beobachtet habe!

2

Los Angeles, Kalifornien

Wandas Herz schlug schneller.

Sie nahm ihr Buch in die Hand und zwang sich, weiterzulesen, als ob nichts geschehen wäre. Aber sie konnte die Worte auf der Seite nicht mehr erkennen. Die Sorgen störten ihre Konzentration, und sie hatte Mühe, ruhig zu bleiben.

Hatte der Mann in der Sitzreihe vor ihr gemerkt, dass sie die Bilder und Gespräche auf seinem Computer aufgezeichnet hatte? Nein, das hatte er bestimmt nicht.

Es musste ein Zufall sein, dass er so plötzlich aufgehört hatte zu arbeiten.

Aber wie kann ich mir sicher sein?

Wanda wusste nicht, was sie tun sollte.

Soll ich ihn anzeigen? Jemandem erzählen, was ich gesehen habe? Aber ich bin mir ja nicht einmal sicher, was genau ich eigentlich gesehen habe.

Im Laufe der Minuten trocknete der Speichel in ihrem Mund, und ihre Kehle verwandelte sich in Sandpapier. Sie blickte auf die Knöpfe an der Decke über ihr und drückte die Ruftaste. Einen Moment später erschien eine Flugbegleiterin neben ihrer Sitzreihe.

„Ja?“, fragte sie.

Wanda schaute vor sich hin. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Der Mann las inzwischen in einer Zeitschrift und lähmte sie mit seiner Tatenlosigkeit.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Flugbegleiterin.

„Könnte ich bitte etwas Wasser haben?“

„Natürlich.“

Die Flugbegleiterin kam mit einem Glas Wasser zurück.

Wanda beruhigte sich, während sie es trank, und tat weiter so, als würde sie lesen, während sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte.

Was, wenn sie sich in dem, was sie gesehen hatte, völlig getäuscht hatte?

Was wäre, wenn sie mit einer Anschuldigung, die sich als falsch herausstellte, aber außer Kontrolle geraten war, etwas in Gang setzen würde, das nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte?

Was wäre, wenn sie etwas anfangen würde, das das Leben dieses Mannes ruinieren könnte?

Ich mach mir zu viele Gedanken. Das ist doch lächerlich. Ich muss mich zusammenreißen.

Wanda drehte sich zum Fenster, schaute auf die Wolken und versuchte, sich zu entspannen, während sie die Zeit aus den Augen verlor. Ehe sie sich versah, verkündete die Lautsprecheranlage, dass sie sich im Landeanflug auf Los Angeles befanden.

* * *

Nach einer holprigen Landung hielt das Flugzeug am Flugsteig.

Die Passagiere lösten ihre Sicherheitsgurte, standen auf, schalteten ihre Handys ein und telefonierten, streckten sich und sammelten ihre Sachen ein.

Wanda blieb auf ihrem Platz sitzen und beobachtete den Mann. Er steckte seinen Computer in die Tasche und stand mit dem Rücken halb zu ihr gewandt. Er griff über den Gang, öffnete das Gepäckfach und nahm seinen schwarzen Handgepäckkoffer heraus. Nach einem kurzen Blick fand sie, dass er mit seinem schlichten Stil ziemlich gut aussah; er trug Jeans und ein weißes Hemd unter einer marineblauen Jacke.

Er hängte sich den Gurt seiner Laptoptasche über die Schulter und schob sie auf seine rechte Seite, wobei er das größere Gepäckstück auf den Boden stellte. Er blieb in der leeren Reihe auf der anderen Seite des Ganges stehen und nahm Blickkontakt mit Wanda auf, als sie aufstand.

„Lassen Sie mich Ihnen helfen.“ Der Mann gestikulierte lächelnd zu der Gepäckbox über ihr, drückte den Griff und öffnete die Box. „Ich hole Ihnen Ihre Tasche aus dem Fach.“

Wanda lächelte zurück. „Danke, aber das ist nicht nötig. Es ist eingecheckt.“

Sie wollte, dass er vor ihr aus dem Flieger stieg, weil sie sich nicht sicher war, was sie tun sollte – wenn sie überhaupt etwas tun sollte – und nickte in Richtung des Ganges.

Er bewegte sich nicht von der Stelle.

„Nach Ihnen“, sagte er mit einem nonchalanten Lächeln.

„Bitte, gehen Sie. Sie haben mehr zu tragen als ich.“

„Nein, nein.“ Er gab ihr erneut ein Zeichen, vorzugehen. „Gehen Sie nur.“

Jemand räusperte sich.

Wanda und der Mann wandten sich den genervt aussehenden Passagieren zu, die hinter ihnen in der Schlange warteten. Die Leute wollten aussteigen. Wanda gab nach und ging als Erste. Der Mann folgte ihr, und sie gesellten sich zu den anderen, die vor ihnen aus dem Flugzeug stiegen und dann die Startbahn entlanggingen.

Sie kamen zum Terminal B, dem Tom Bradley International Terminal, und folgten den Schildern, die zum US-Zoll und zur Gepäckabfertigung führten.

Auf der Rolltreppe in die unterste Etage fuhr Wanda an der riesigen amerikanischen Flagge und dem Schild vorbei, das sie mit den Worten Welcome to the USA begrüßte.

Obwohl sie über den Ausgang ihrer Mexiko-Reise enttäuscht war, war es gut, wieder in ihrem eigenen Land zu sein, dachte Wanda. Sie schloss sich dem Strom der neu eingetroffenen Passagiere an und ging zum Zoll- und Grenzkontrollbereich. Sie war erleichtert, den Mann aus dem Flugzeug aus den Augen verloren zu haben.

Gut.

Sie wollte im Moment nicht an ihn denken. Sie war müde. Sie wollte nur noch ihre Tasche finden, in ein Taxi steigen und nach Hause fahren. Sie brauchte eine gute Nachtruhe in ihrem eigenen Bett. Und wenn sie danach immer noch das Bedürfnis hatte, jemandem zu erzählen, was sie im Flugzeug gesehen hatte, dann ...

Aber darüber werde ich später nachdenken.

Wanda ging durch den Terminal, ohne zu bemerken, dass der Mann direkt hinter ihr ging, und ihre Gedanken schweiften ab.

Sie hatte sich nicht zugetraut, das mobile Passverfahren auf ihrem Handy zu nutzen, und hatte deshalb im Flugzeug das blaue Zollanmeldungsformular ausgefüllt. Zusammen mit ihrem Reisepass und ihrem Flugticket holte sie es aus ihrer Tasche und reihte sich in die lange Schlange ein, die sich langsam und träge in Richtung der Schalter und Grenzbeamten wand.

Die nächsten fünfzehn Minuten trottete Wanda durch das Labyrinth aus Stangen und Absperrbändern, dann schnappte sie nach Luft. O nein. Als sie zu einer Biegung in der Schlange kam, fand sie sich plötzlich neben dem Mann aus dem Flugzeug wieder. Ein paar andere Leute, darunter ein Paar mit zwei kleinen Kindern, trennten sie. Aber durch die Biegung in der Schlange standen Wanda und der Mann fast Schulter an Schulter, so dass es unmöglich war, dass sie einander nicht bemerkten.

„Hallo noch mal“, sagte er und lächelte.

„Hallo“, sagte Wanda.

„Ziemlich anstrengend, was“, sagte er und zeigte auf die Reihen von Menschen, die darauf warteten, zu den Schaltern zu gelangen und die Sicherheitskontrolle zu passieren. „Manchmal kann es Stunden dauern, und manchmal ist man ganz schnell durch.“

Wanda lächelte und nickte, denn sie spürte, dass er mit ihr reden wollte, was sie nur widerwillig tat. Aber die Schlange bewegte sich nicht.

Sie saß in der Falle.

„Sie haben doch im Flugzeug hinter mir gesessen, oder?“, fragte er.

3

Los Angeles, Kalifornien

Der Mann wartete auf Wandas Antwort.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie höflich lächelte.

„Ja“, sagte sie, „das habe ich. Ich saß hinter Ihnen.“

Er nickte. „Mexiko-Stadt ist toll, finden Sie nicht?“

„Ja, das ist es.“

„Ich war zum Arbeiten dort. Was ist mit Ihnen?“

Wanda zögerte und warf einen Blick auf die anderen in der Warteschlange. Ein Mann las ein Buch, Hundert Jahre Einsamkeit, und benutzte sein Zollformular und sein Flugticket als Lesezeichen; ein älteres Ehepaar unterhielt sich leise auf Spanisch und zeigte auf eine Landkarte; eine junge Mutter und ein junger Vater hatten sich hingehockt, um sich um ihre beiden kleinen Kinder zu kümmern, die sich zu langweilen schienen und kurz vor einem Wutanfall standen. Niemand schenkte Wanda und dem Mann Aufmerksamkeit.

„Urlaub“, log sie und hoffte, dass sich die Schlange bewegen würde.

Der Mann lächelte und nickte.

„Urlaub“, wiederholte er. „Schön. Was machen Sie denn von Beruf, wenn ich fragen darf?“

„Naja, ich bin eigentlich im Ruhestand. Ich habe als Bibliothekarin gearbeitet.“

„Als Bibliothekarin?“ Er hob die Augenbrauen. „Ich liebe Bibliotheken. Ich recherchiere dort viel. Ich schreibe Drehbücher.“

„Drehbücher? Für Filme?“ Er hatte Wandas Interesse geweckt und ihre Ängste plötzlich in ein positives Licht gerückt.

„Ja. Das ist auch der Grund, warum ich in Mexiko-Stadt war. Um für ein bevorstehendes Projekt zu recherchieren, ein Drehbuch für einen großen Film. Ein Thriller über ein globales Verbrechen.“

„Na, das klingt ja interessant.“

„Brad Pitt und Meryl Streep haben bereits zugesagt.“

„Wie aufregend. Ich liebe Meryl Streep.“

„Das kann sich natürlich alles blitzschnell ändern. Das Business ist hart. Aber die Produzenten wollen, ja sie verlangen sogar, dass das Drehbuch so nah an der Realität angelehnt ist wie möglich. Deshalb war ich in Mexiko, um Nachforschungen über das organisierte Verbrechen dort anzustellen.“

„Das ist wirklich interessant.“

Er nickte, während er sie aufmerksam ansah. Dann senkte er die Stimme und sagte: „Ich dachte, ich kläre Sie lieber auf, falls Sie einen Blick auf meine Recherchen erhascht haben, während ich im Flugzeug gearbeitet habe. Ich möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen.“ Er lachte leise und blinzelte verschwörerisch.

„Oh, nein, also …“ Wandas Wangen wurden rot. „Nein, ich ... Sie müssen einen sehr interessanten Job haben, soviel steht fest.“

„Meistens, ja“, sagte er. „Aber es kann auch ziemlich herausfordernd sein.“

In der Warteschlange entstand eine Lücke. Wanda winkte dem Mann kurz zu, bevor sie weiterging und ihr Gespräch beendete.

* * *

Zwanzig Minuten später war Wanda endlich durch den Kontrollpunkt gegangen.

Sie ging weiter durch das Terminal in Richtung der Gepäckausgabe. Ihre Angst vor dem Mann und dem, was sie auf seinem Laptop gesehen hatte, war verschwunden.

Er schreibt ein Drehbuch. Recherchiert für einen Thriller. Das ergibt doch alles Sinn.

Sie war froh, dass sie keine Zeit gehabt hatte, es zu melden oder ein unnötiges Drama zu veranstalten.

Er scheint ein netter Kerl zu sein, und ich hätte wie ein Idiot dagestanden.

Sie schüttelte den Kopf.

Sie hatte sowieso viel wichtigere Probleme, zum Beispiel ihre Krankheit. Während sie ging, griff sie in ihrer Tasche nach ihrem Handy und schickte ihrer Freundin Colleen eine SMS.

Hey, Coll. Bin gerade gelandet. Kaffee morgen in unserem Café? Passt dir 13 Uhr?

Wanda wollte Colleen erzählen, was die Ärzte in Mexiko gesagt hatten. Wanda hatte nun wirklich das Gefühl, dass sie einen anderen Arzt in LA aufsuchen sollte. Colleen war ihre beste Freundin, eine aufmerksame Zuhörerin, die alles verstand, was sie seit dem Verlust von Ed durchgemacht hatte. Sie gab ihr immer gute Ratschläge.

Auch wenn ich sie nicht immer befolge.

Während sie auf Colleens Antwort wartete, sah Wanda sich um und erblickte den Drehbuchautor wieder. Er war in der Nähe, aber auf der anderen Seite des Raumes und ein wenig hinter ihr, als sie weitergingen. Er war am Telefon. Wanda hörte nur Bruchstücke von seinem Gespräch. Er sprach Spanisch und sie konnte nicht verstehen, was er sagte. Er warf einen Blick in ihre Richtung, bevor er sich abwandte.

Für Meryl Streep und Brad Pitt zu arbeiten muss ganz schön stressig sein.

Sie kamen bei der Gepäckausgabe an, und Wanda fand das Förderband mit dem Gepäck ihres Fluges. Das Förderband surrte, einige Koffer hatten es bereits auf das Band geschafft. Während sie mit den anderen Passagieren wartete, meldete sich Wandas Telefon mit einem Ping.

Colleen hatte geantwortet.

Na klar zum Kaffee morgen! 13 Uhr passt mir! Wie ist es in Mexiko gelaufen?

Eine Parade von Taschen und Koffern rollte auf das Förderband. Wanda beobachtete es aus dem Augenwinkel, während sie eine Antwort tippte.

Nicht so gut. Morgen mehr.

OK. Guter Flug?

Wanda suchte kurz nach ihrer Tasche und wandte sich dann wieder ihrem Handy zu.

Im Flugzeug ist etwas Seltsames passiert. Ich erzähl dir morgen davon.

Arrgh! Das kannst du doch jetzt nicht so stehen lassen! Spuck’s aus!

Die Leute hatten begonnen, ihre Taschen einzusammeln, als Wandas große Tasche mit dem bunten Blumenmuster auftauchte.

Ich muss los, tut mir leid!!!

Du bist unglaublich! Wir sehen uns morgen! Bussi!

Wanda legte das Telefon wieder weg und griff nach ihrer großen Tasche, die sie gerade mühsam vom Förderband hob, als der Drehbuchautor auftauchte und sie an sich nahm.

„Ich helfe Ihnen“, ächzte er.

„Oh, danke!“

„Kein Problem.“ Er stellte sie ab, nahm sich ihren Adressaufkleber und studierte ihre Daten. „Wanda.“ Er lächelte. „Ich sehe, Sie wohnen in Downey.“

„Ja.“

„Sie werden es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich wohne in Pico Rivera. Das ist ganz in der Nähe.“

„Wirklich?“

„Wirklich. Was für ein Zufall, was?“

„Die Welt ist wirklich klein.“ Sie lächelte und hob ihre Tasche auf. „Ich danke Ihnen nochmals. Viel Glück mit Ihrem Manuskript.“ Sie drehte sich um und ging in Richtung Ausgang.

„Wanda, warten Sie“, sagte er. „Das Studio hat einen Wagen geschickt, um mich abzuholen. Ich kann Sie nach Hause fahren – ohne dass Sie dafür bezahlen müssen. Es liegt schließlich auf dem Weg.“

Wanda schluckte. Obwohl sie von seiner Großzügigkeit überwältigt war, musste sie schnell überlegen.

„Vielen Dank, aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.“

„Das ist doch kein Problem. Es liegt auf der Strecke.“

„Nein, wirklich, vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen, aber auf mich wartet eine Freundin“, log sie. „Ich danke Ihnen vielmals.“

Wanda war gerade auf dem Weg nach draußen, als sie sein Telefon klingeln hörte. Als sie wegging, hörte sie, wie er die Stimme senkte und ein Gespräch auf Spanisch begann, sie meinte das Wort flores zu hören, von dem sie wusste, dass es Blumen bedeutet.

Als Wanda sich draußen auf den Weg zum Taxistand machte, seufzte sie beim Anblick einer weiteren langen Schlange. Sie wartete darauf, dass ihr ein Taxi zugewiesen wurde, und schämte sich ein wenig.

War ich unhöflich, habe ich das freundliche Angebot des Drehbuchautors zu schnell abgelehnt?

Es wäre sicher interessant gewesen, in einem richtigen Filmstudio-Auto mitzufahren. Vielleicht hätte sie sogar etwas Hollywood-Klatsch darüber aufgeschnappt, wie die Stars im echten Leben so sind. Außerdem, wenn sie, entgegen den Aussagen der Ärzte, den neuen Krebs nun doch hatte, sollte sie dann das Leben nicht in vollen Zügen genießen?

„Wanda?“

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen und schaute auf die andere Straßenseite, wo eine glänzende, dunkelblaue Limousine angehalten hatte und illegal parkte. Der Drehbuchautor war hinten ausgestiegen und kam auf sie zu.

„Was ist passiert? Hat Sie Ihre Freundin etwa sitzen lassen?“

Ihr Gesicht wurde wieder rot, als er sich dicht neben sie stellte.

„Ja, sie musste leider absagen. Ein Problem mit dem Auto.“

„Mein Angebot steht noch. Ich nehme Sie wirklich gern mit.“

Wanda sah, wie der Kofferraum des Wagens aufsprang und der Fahrer ausstieg.

„Ich möchte Ihnen aber keine Umstände machen.“

„Seien Sie nicht albern.“

„Sind Sie sich sicher?“

„Natürlich. Wir fahren doch sowieso in die Richtung.“

„Okay, dann. Na gut. Ich danke Ihnen vielmals.“

„Wissen Sie was?“, sagte er, nahm ihre Tasche und führte sie zum Auto. „Es ist dasselbe Auto, das Streep benutzt hat, und sie hat doch tatsächlich ihre Sonnenbrille vergessen.“

„Wirklich?“

„Möchten Sie ein Souvenir?“

Der Fahrer nickte Wanda zu, hob ihre Tasche in den Kofferraum und schloss den Kofferraum. Sie setzte sich neben den Drehbuchautor auf den Rücksitz und schnallte sich an.

„Nochmals danke“, sagte sie. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.“

„Ich weiß“, sagte er und warf einen Blick auf sein Handy. „Aber es ist mir ein Vergnügen.“

Als sie den Parkplatz verließen und vom Los Angeles International Airport auf die Autobahn fuhren, zitterte Wanda vor Erwartung.

Das wird lustig. Ich bin froh, dass ich doch Ja gesagt habe.

In diesem Moment, als das Auto an Geschwindigkeit gewann, ertönte ein lautes Klicken und alle Türschlösser wurden aktiviert.

4

Downey, Kalifornien

Am nächsten Nachmittag kam Colleen Eden zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit im Café an und erwischte zu ihrer Freude ihren üblichen Tisch am Fenster.

Sie wartete mit der Bestellung, weil sie es vorzog zu warten, bis Wanda eingetroffen war.

Colleen wollte alles über die Reise nach Mexiko erfahren. Wanda war stark gewesen, dachte sie, aber Eds Tod hatte sie verändert. Es war, als wäre sie eine zerbrochene Porzellantasse, die man wieder zusammengeklebt hatte. Die Risse waren da – hinter ihrem Lächeln, in ihren Augen – und brachten sie dazu, impulsive Dinge zu tun. Wie jetzt diese aberwitzige Reise nach Mexiko.

Wanda trauerte nicht nur um den Tod ihres Mannes, sondern war auch von ihrer Gesundheit besessen und bildete sich oft ein, dass sie eine Reihe von schweren Krankheiten hatte. Colleen hatte Wanda vor langer Zeit vorsichtig vorgeschlagen, einen Psychologen aufzusuchen, um dem Grund für ihre unbegründeten Gesundheitsängste auf die Spur zu kommen, aber daraus war nichts geworden.

Das Beste, was Colleen tun konnte, war, ihr eine gute Freundin zu sein.

„Hallo. Kann ich Ihnen schon etwas bringen?“, fragte ein Mann Mitte zwanzig mit Vollbart, Pferdeschwanz, Schürze und hochgekrempelten Ärmeln.

„Danke, aber ich würde gerne warten, bis meine Freundin hier ist.“

„Völlig in Ordnung.“

Colleen schaute aus dem Fenster und behielt den Bürgersteig im Auge. Dann prüfte sie die Uhrzeit auf ihrem Handy: 13:19 Uhr.

Wanda ist spät dran. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Sie ist sonst immer pünktlich und pflichtbewusst. Keine Nachrichten, nichts. Colleen biss sich auf die Lippe und schickte ihr eine SMS.

Ich sitze hier an unserem Lieblingstisch. Wo bleibst du denn?

Während sie auf eine Antwort wartete, dachte Colleen an die Zeit zurück, als sie sich vor vielen Jahren auf einer Konferenz der California Library Association kennen gelernt hatten. Damals war Colleen Bibliothekarin in Whittier und Wanda Bibliothekarin hier in Downey, nachdem sie kurzzeitig in der Archivabteilung des Downey Police Department gearbeitet hatte. Colleen und Wanda waren seit langem befreundet und hatten gemeinsam viel durchgemacht. Wanda hatte ihr geholfen, ihre Scheidung zu überwinden. Aber Colleen weigerte sich, sich mit der Wunde aufzuhalten, die ihr betrügerischer Ex ihr zugefügt hatte.

Sie schaute erneut auf ihr Telefon.

Ach du meine Güte.

Es war jetzt 13:35 Uhr, und immer noch keine Nachricht von Wanda.

Das ist wirklich nicht ihre Art.

Colleen rief sie an, aber der Anruf ging direkt auf Wandas Anrufbeantworter. Sie hinterließ ihr eine Nachricht.

Dann schaute Colleen die Straße auf und ab und dachte, dass es eine natürliche Erklärung dafür geben musste, warum Wanda noch nicht aufgetaucht war. Colleen wartete. Und wartete. Aber nach fast einer Stunde begann sie, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Was hält sie auf?

Das Haus von Wanda war nicht weit entfernt. Sie schrieb ihr erneut eine SMS, diesmal um ihr mitzuteilen, dass sie vorbeikommen würde.

Vorsichtshalber rief sie sie noch einmal an, bevor sie ging. Wieder ging der Anruf direkt auf die Voicemail. Colleen schickte eine weitere Nachricht, dass sie auf dem Weg sei. Sie verließ das Café, stieg in ihr Auto und fuhr los.

* * *

Als Colleen an einer roten Ampel anhielt, schaute sie auf ihr Handy, das in der offenen Tasche auf dem Beifahrersitz lag. Kein einziges Wort von Wanda. Colleen konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so spät dran gewesen war oder einen ihrer Termine verpasst hatte.

Was könnte ihr bloß dazwischengekommen sein?

Es dauerte nicht lange, bis sie in die De Palma Street einbog. Nach ein paar Häuserblocks hielt sie vor Wandas gepflegtem, gelbem, einstöckigem Stuckhaus mit Palmen im Vorgarten. Wandas Auto, ein Ford Fusion, war im Carport geparkt.

Colleen läutete an der Tür und lauschte.

Sie erwartete, dass sich auf der anderen Seite jemand bewegte, aber Colleen hörte nichts.

Sie drückte noch einmal auf die Türklingel.

Im Haus blieb alles ruhig.

Sie klopfte heftig.

Nichts.

Sie ging um das Haus herum zur Rückseite und klopfte an die Terrassentür.

Keine Antwort.

Colleen hielt sich die Hände über die Augen und drückte ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe.

„Wanda! Wanda, ich bin‘s, Colleen!“

Stille.

„Sie ist nicht zu Hause.“

Colleen keuchte auf und drehte sich um, um einen Mann zu sehen, der sie vom Zaun zwischen den Gärten aus ansah. Dann seufzte sie vor Erleichterung. Es war Wandas Nachbar, Len Peterson, ein pensionierter Buchhalter und Marineveteran, der in seinem Garten stand und sich um seine hübsch blühenden Zitronenbäume kümmerte.

„Hallo, Len.“

„Hi, Colleen. Ja, na wie gesagt, Wanda ist nicht zu Hause.“

„Nicht zu Hause? Aber sie ist gestern auf dem Flughafen von Los Angeles angekommen. Sie hat mir eine SMS geschickt. Wir waren vor über einer Stunde zum Kaffee verabredet, und sie ist nicht aufgetaucht. Deshalb bin ich hier.“

„Seltsam.“ Peterson kratzte sich an der Kopfhaut. „Ich habe ihre Post auf dem Küchentisch. Sie hätte sie schon längst abholen müssen. Gestern Abend war kein Licht an. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie hier gewesen ist.“

Vor Sorge lief es Colleen eiskalt den Rücken hinunter.

„Das gefällt mir nicht. Len, ich weiß, wo sie ihren Zweitschlüssel versteckt hat. Ich werde ihn holen, aber kommst du mit rein, um nach ihr zu sehen?“

„Du willst reingehen?“

„Ja, wer weiß? Sie könnte einen Jetlag gehabt haben und eingeschlafen sein, oder im Bad hingefallen sein oder zu viele Medikamente genommen haben.“

„Natürlich, natürlich. Ich bin gleich da.“

Colleen fand den Schlüssel unter dem eiförmigen Stein im Blumenbeet unter dem Fenster des Gartenschuppens. Wanda wusste auch, wo Colleen ihren Schlüssel versteckt hatte. Da sie beide allein waren, hatten sie einander versprochen, aufeinander aufzupassen.

Len erschien mit einem Louisville Slugger Baseballschläger in der Hand.

Colleen schaute auf den Schläger und dann auf Len.

„Nur für den Fall, dass es Ärger gibt“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Man weiß nie.“

Sie traten durch die Hintertür ein. Die Luft war abgestanden und roch leicht nach Spülmittel, als sie die Küche betraten. Mit ihren weißen Schränken und der elfenbeinfarbenen Spüle wirkte sie makellos, tadellos.

Colleen rief nach ihrer Freundin.

„Wanda? Ich bin‘s, Colleen, und Len ist auch hier. Geht es dir gut, Schatz?“

Sie hörten nichts.

Len öffnete den Kühlschrank; er war leer, bis auf einige Tuben Salatdressing und Gläser mit Oliven und Essiggurken. Colleen schaute in den Mülleimer: leer.

„Wanda?“

Das kleine Esszimmer mit Eichentisch und -Stühlen war leer. Das Wohnzimmer war ebenfalls leer. Das Bett in Wandas Schlafzimmer war gemacht. Auch ihre anderen Zimmer waren verlassen. Das Gleiche galt für die Bäder. Keine Spur von Gepäck, Auspacken oder Wäsche.

Es herrschte eine unheimliche Stille im Haus.

„Ich habe ein sehr, sehr ungutes Gefühl“, sagte Colleen zerknirscht.

5

Manhattan, New York City

„Das könnte mich meinen Job kosten“, sagte FBI-Spezialagentin Jill McDade.

Ray Wyatt nickte.

Von ihrem Tisch im Bryant Park aus beobachteten McDade und Wyatt, Reporter der Online-Nachrichtenagentur True Signal News, die lachenden Kinder auf einem Karussell und die Jongleure in der Nähe.

Mit seinen Promenaden entlang des üppigen grünen Rasens, dem Springbrunnen, den Blumenbeeten, den Verkäufern und den caféähnlichen Tischen unter den schattigen Bäumen war der Park eine wahre Oase in der Großstadtwüste von Midtown Manhattan, ein seltenes Stück Natur zwischen hoch aufragenden Glas- und Stahlgebäuden zwischen der 41. und 42. Street.

McDade mochte die Ruhe und den Frieden im Bryant Park und hatte es für das Beste gehalten, sich dort zu treffen.

Ihre Hände ruhten auf ihrem Tablet.

„Wir haben schon viel zusammen erlebt, Ray.“

„Das haben wir.“

„Und ich vertraue dir.“

Wyatt nickte.

„Ich zeige dir das, weil für dich viel auf dem Spiel steht und weil du es sehen musst, damit die Ermittlungen vorankommen.“

„Verstanden.“

Sie tippte auf ihr Tablet, drehte es zu Wyatt und zeigte ihm ein Farbfoto, das den Kopf und die Schultern eines Jungen zeigte.

Während Wyatt auf das Bild starrte, verstummten die Karussellmusik, das Lachen und die Geräusche des Verkehrs. Der Junge sah dünn aus, fast ausgemergelt, und lächelte ein kleines, nervöses Lächeln, das Wyatt durchbohrte und alte Wunden aufriss. Wie hypnotisiert von dem Foto wurde Wyatt von einem Tsunami von Gefühlen, Erinnerungen, Liebe und Schmerz überflutet, der ihn mit Hoffnung erfüllte.

Tränen traten ihm in die Augen.

Gleichzeitig bekam er aber auch eine Heidenangst.

„Ich denke ... ich glaube, das ist Danny“, sagte Wyatt.

„Das denke ich auch. Ich brauchte deine Hilfe, um den Jungen zu identifizieren.“

„Lebt er? Wo ist er? Woher habt ihr dieses Bild?“

„Versprich mir, dass das unter uns bleibt.“

„Jill, das ist – das könnte mein Sohn sein!“

„Ich brauche dein Wort, Ray.“

„Du hast gesagt, du vertraust mir.“

„Das tue ich.“

„Dann vertrau darauf, dass ich das Richtige tun werde.“

„Ray, es muss unter uns bleiben. Wir haben gerade erst mit den Ermittlungen begonnen.“

Es war schon einige Monate her, dass der Fall Hydra in Vermont explodiert war. Die Geschichte war längst aus den Schlagzeilen verschwunden. Am Abend zuvor war McDade nach Queens gekommen, um Wyatt zu besuchen und ihm zu sagen, dass er vielleicht doch recht hatte, wenn er glaubte, dass sein Sohn Danny nach all der Zeit, die seit seinem Verschwinden vergangen war, noch am Leben war. Aber mehr hatte sie nicht sagen können. Wyatt hatte darauf bestanden, zu erfahren, ob sie ihm Informationen vorenthielt, bis McDade ihn schließlich gebeten hatte, sie am nächsten Tag im Bryant Park zu treffen.

Und jetzt waren sie hier. Nachdem sie ihm das Foto gezeigt hatte, begann McDade zu erzählen und ließ ihn die Jahre und den Schmerz noch einmal erleben.

Danny war drei Jahre alt gewesen, als er bei einem Hotelbrand in Banff, Alberta, Kanada, ums Leben gekommen war, als Wyatt und seine Frau Lisa dort Urlaub gemacht hatten. Die kanadischen Behörden hatten ihnen mitgeteilt, dass Danny zusammen mit mehreren anderen bei dem Brand ums Leben gekommen war und dass sie Dannys Überreste nicht hatten finden konnten – nichts, nicht einmal DNA –, weil Danny durch die Intensität des Feuers vollständig verbrannt sei.

Ray und Lisa hatten sich das nie verziehen. Sie kämpften mit ihren Schuldgefühlen und ihrer Trauer und weigerten sich zu akzeptieren, dass Danny tot war. Ray hatte Experten konsultiert, die glaubten, dass Dannys Zähne das Feuer überlebt haben müssten, was DNA-Tests und Beweise ermöglicht hätte.

Ohne den Beweis, dass Danny wirklich tot war, hatten Wyatt und Lisa die Hoffnung, dass er noch lebte, nie aufgegeben.

Im Laufe der Zeit hatte Wyatt alles getan, was er konnte, um das Rätsel zu lösen. Er kontaktierte alle seine Quellen und suchte Leute auf, die zur Zeit des Brandes in Banff gewesen waren.

Lisa war in Therapie gewesen. Ihr Therapeut hatte sie ermutigt, sich ein neues Hobby zu suchen, das ihr helfen sollte, ihre Trauer zu überwinden. So hatte sie den Töpferkurs am Queens College gefunden. Ein Jahr nach dem Brand stieß eine Frau, die Textnachrichten schrieb, währen sie am Steuer saß, mit Lisa zusammen, die gerade auf der Autobahn von Long Island nach Hause fuhr.