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Der skrupellose Menschenhändler Gamal nutzt die bittere Armut von Maris Familie aus. Er kauft Mari und zwingt ihn zur Zwangsarbeit. Von nun muss Mari unter schlimmen Bedingungen Teppiche knüpfen. Doch seine Freunde vergessen ihn nicht. Vor allem ein Missionar sucht unerbittlich nach Mari und gibt nicht die Hoffnung auf, ihn eines Tages befreien zu können. Wird es ihm gelingen? Und wird Mari die Zwangsarbeit überhaupt überleben? Ein Roman über Freundschaft, Glaube, Hoffnung und Gottvertrauen.
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Hey Mari, machen wir was zusammen?" Das war Karim, Maris bester Freund.
"Nein, ich kann nicht. Ich muß Holz holen." Mari zeigte dabei auf die Axt, die er in Händen hielt. Wie gerne hätte er mit Karim gespielt, aber er mußte seiner Familie helfen. Sein Vater war schwer krank und im Moment war der zwölfjährige Mari der Mann im Haus. Und das bedeutete Arbeit. Andrerseits war Mari aber auch stolz darauf, der Mann im Hause zu sein.
"Okay, dann helfe ich dir." Karim folgte ihm. Das war schon ein toller Freund!
"Hast du schon von Gamal gehört?", fragte Karim nach kurzer Zeit.
"Ja klar, meine Eltern sprechen ziemlich häufig über ihn, aber immer, wenn ich dazu komme, hören sie auf zu reden." Mari dachte nach: "Weißt du, warum er hier ist?"
"Na ja", sagte Karim, "ich weiß nur, daß sich die Leute hier ziemlich verändert haben, seitdem er hier ist. Das war, glaube ich, vor zwei Monaten. Ja, Ende Januar und jetzt wird es langsam Frühling. Besonders Herr Wesley ist nicht gut auf ihn zu sprechen."
"Unser Missionar? Aber warum denn, was ist mit Gamal?" Mari wollte es unbedingt wissen.
"Herr Wesley warnt die Leute vor ihm. Er hat sogar gesagt, er will die Polizei holen, die Gamal festnehmen soll. Ich glaube, Gamal hat sehr viel Geld, und er will den Leuten hier irgendwas abkaufen."
"Aber was denn? Selbst meine Eltern sprechen nicht mit mir darüber, auch wenn ich jetzt der Mann im Haus bin.", fügte Mari mit einem stolzen Lächeln hinzu.
Karim lachte, wurde aber schnell wieder ernst: "Ich weiß nicht, was er kaufen will. Meine Eltern sagen es mir nicht."
"Da ist er!", flüsterte plötzlich Mari.
"Wo?", fragte Karim, doch Mari zog ihn schon in ein Gebüsch. Aus diesem Versteck heraus zeigte Mari in Richtung des Ganges. Dort stand er, Gamal.
"Hast du schon seine Narbe bemerkt? Die verläuft quer über seine Wange. Zusammen mit seinem schwarzen Haar sieht das richtig unheimlich aus."
Mari konnte auf die Frage Karims nur still nicken, denn jetzt setzte sich Gamal in Bewegung. Er kam genau in ihre Richtung!
Karim und Mari sahen sich stumm an. Die Äste knirschten unter den Füßen Gamals und jetzt konnten sie sogar schon seinen Atem hören. Er würde sehr nahe bei ihnen vorbeikommen! Was würde passieren, wenn er sie entdecken würde? Die beiden hielten den Atem an, noch einen Schritt, jetzt war er da! Plötzlich blieb er stehen, hatte er sie entdeckt? Er bückte sich und hob etwas auf. Sie konnten aber nicht erkennen, was es war. Er musterte den Gegenstand kurz und warf ihn dann zur Seite. Seine Augen verfolgten noch kurz den Flug des Gegenstandes, doch dann ging er weiter. Er hatte sie nicht entdeckt!
Erleichtert stießen die Jungen ihre Luft aus und blickten ihm nach.
"Puh, das war aber knapp!", stellte Karim fest.
"Stimmt. Zum Glück hat er den Gegenstand auf die andere Seite geschmissen und nicht zu uns. Jetzt laß uns aber gehen, Holz holen."
"Ja, laß uns gehen!", bestätigte Karim.
Sie standen auf, schüttelten den Dreck ab und gingen schweigend zum Fluß hinunter. Dort stand ein Affenschwanzbaum, dessen Luftwurzeln wie "Affenschwänze" von den Ästen hingen. Diese Luftwurzeln waren ein sehr gutes Brennmaterial, bei denen eigentlich keine Axt gebraucht wurde, doch Mari hatte sie unbedingt mitnehmen wollen.
"Wo will er wohl hin?", fragte auf einmal Karim.
"Ich weiß es nicht." Mari hatte eine Idee. "Hast du nicht Lust, gleich noch zu Herrn Wesley zu gehen? Wir können ihn ja mal fragen, was er über Gamal weiß."
"Das geht nicht", erwiderte Karim. "Er ist heute Morgen weggefahren und besucht in einem anderen Dorf eine befreundete Familie. Er kommt morgen im Laufe des Tages wieder."
"Schade!"
Langsam wurde es dunkel und sie gingen einen Schritt schneller.
"Hast du Angst vor Kobras?", fragte Mari schließlich.
"Ja“, antwortete Karim, "aber Herr Wesley hat gesagt, daß sie sehr selten Menschen angreifen."
"Ja, meine Eltern sagen mir auch immer, daß diese Schlangen eigentlich nicht gefährlich sind. Wir sollen uns nur vor leeren Termitenbauten in Acht nehmen, da sie dort sehr gerne wohnen."
"Ja, das haben mir meine Eltern auch schon erzählt. Na ja, wir sind ja jetzt da!"
Und tatsächlich. Mari sah schon die Hütte seiner Eltern. Er nahm Karim das Holz ab und bedankte sich.
"Vielen Dank fürs Tragen."
"Kein Problem!", versicherte Karim. "Dann also bis morgen!"
"Ja, bis morgen. Schlaf gut!" Mari drehte sich um und ging in die Lehmhütte hinein.
"Hallo, hier bin ..." Weiter kam er nicht. Er erschrak, als er Gamal am Tisch sitzen sah.
Was macht der denn hier?, schoß es ihm durch den Kopf.
"Hallo Mari!", sagte schließlich seine Mutter. Gamal blickte ihn nur stumm an. Mari legte das Holz auf den Boden und blickte seine Mutter fragend an.
"Ist schon gut, danke. Kannst du wohl in einer Stunde noch einmal wiederkommen? Wir müssen noch etwas besprechen." Sie guckte Mari dabei traurig an.
Warum ist sie nur so traurig? Mari verstand das nicht. "Ja klar“, sagte er, "dann spiele' ich noch ein wenig mit Karim."
So schnell er konnte lief er aus der Hütte und rannte Karim hinterher.
Karim befand sich noch auf den Weg nach Hause. Mari sah ihn schon von weitem. "Karim, Karim!", schrie er. "Bleib stehen!"! Ein wenig aus der Puste kam er bei ihm an.
"Was ist denn los?", fragte Karim.
"Weißt du, wer gerade bei uns zu Hause ist? Das errätst du nie - Gamal! Er unterhält sich mit meiner Mutter." Mari mußte erst einmal tief Luft holen, bevor er weitersprechen konnte.
"Meine Mutter hat mich auch sofort wieder 'rausgeschickt. Und das schlimmste dabei ist, ich habe meine Mutter noch nie so traurig gesehen. Irgendetwas Schlimmes wird passieren. Irgendwie spüre ich das."
"Mmh, ja, komisch ist das schon, aber es muß ja nicht gleich was Schlimmes passieren."
"Doch bestimmt. Und ausgerechnet jetzt ist Herr Wesley nicht da. Wenn er da wäre, würde sich Gamal nicht trauen, irgendetwas zu unternehmen. Aber jetzt... Ich weiß nicht wieso, aber ich habe eine schreckliche Angst."
"Hey, hey, jetzt mach aber mal halb lang. Bisher ist schließlich noch nichts passiert. Komm, laß uns ein wenig spazieren gehen, bis du dich wieder beruhigt hast."
Langsam gingen sie wieder in Richtung Ganges.
"Hast du gehört, über was sie gesprochen haben?", fragte Karim.
"Nein, keine Ahnung. Aber die Augen meiner Mutter. Sie hat noch nie so traurig geguckt. Überhaupt sind beide, auch mein Vater, in letzter Zeit ziemlich bedrückt gewesen. Wenn ich's mir recht überlege, seitdem Gamal aufgetaucht ist."
Sie setzten sich auf einen kleinen Erdhügel und schauten gedankenverloren ins Wasser. Langsam ging die Sonne unter und färbte die wenigen Wolken am Himmel tiefrot. Das Wasser glitzerte, als wäre es voller Diamanten. Doch dafür hatten die beiden Jungen keine Augen, im Moment gab es wichtigeres. Mari schüttelte sich auf einmal. "Ich glaube, ich hatte noch nie so eine Angst. Irgendetwas wird passieren!"
Karim schaute gedankenverloren in das trübe Wasser. So langsam bekam auch er Angst, doch er dachte auf einmal an Herrn Wesley.
"Weißt du noch, was uns Herr Wesley erzählt hat? Von Jesus, der als Gottes Sohn auf diese Erde gekommen ist?"
"Ach, du weißt doch, daß mir meine Mutter verboten hat, daran zu glauben und auch nur darüber zu sprechen. Sie sagt, daß Herr Wesley den richtigen hinduistischen Glauben zerstört und daß es Jesus und Gott gar nicht gibt. Wir haben zu Hause immer noch den Steinaltar stehen, wo wir Shiva opfern."
"Ja, ich weiß.", antwortete Karim, "meine Eltern haben das früher auch gemacht. Aber dann haben sie ihren Altar zerstört und sind Christen geworden. Sie sprechen sehr viel mit Herrn Wesley und ich höre dann immer sehr gespannt zu. Herr Wesley erzählt immer tolle Geschichten von Jesus. Weißt du eigentlich, daß Jesus jeden Menschen liebt, sogar Gamal?"
Mari schaute ihn ungläubig an. Das konnte er sich nicht vorstellen.
"Ja, er ist sogar gestorben für uns.", fuhr Karim weiter fort. "Die Leute damals haben ihn an ein Kreuz genagelt. Aber das Beste daran ist, das Gott ihn am dritten Tag wieder lebendig gemacht hat und ihn ein paar Tage später zu sich in den Himmel geholt hat. Jesus ist ja auch Gottes Sohn. Tja, und Herr Wesley hat erzählt, daß Jesus vorher gewußt hat, daß er getötet wird. Kannst du dir das vorstellen, was er für eine Angst gehabt haben muß? Bestimmt noch mehr als du jetzt."
Mari hörte Karim aufmerksam zu. "Wieso wußte er das denn vorher?"
"Das hat Gott ihm gesagt. Jesus wußte das alles. Daß ihn Soldaten festnehmen und ins Gefängnis werfen, daß er geschlagen wird und schließlich ans Kreuz genagelt wird. Herr Wesley hat gesagt, daß das eine der schlimmsten Todesarten ist. Und all das wußte Jesus vorher. Wieviel Angst muß er wohl gehabt haben?"
"Aber warum hat Gott das denn gewollt? Es ist doch sein Sohn!?"
"Mmh, das habe ich auch noch nicht so ganz verstanden. Herr Wesley meint, daß Jesus für jeden gestorben ist, für dich, für mich, für jeden. Und Jesus hat in seinem ganzen Leben nie etwas getan, was Gott nicht gefallen hat. Er hat immer das getan, was Gott wollte. Und da das vorher kein Mensch geschafft hat und auch keiner jemals schaffen wird, mußte Jesus für uns sterben. Herr Wesley bezeichnet das, als das größte Geschenk Gottes. Denn jetzt können alle Menschen zu Gott kommen und seine Kinder werden. Sie müssen das nur wollen. Gottes Liebe ist für jeden Menschen da. Ja, Herr Wesley hat sogar gesagt, daß Gott die Liebe ist."
"Woher weiß Herr Wesley das alles?"
"Das steht alles in der Bibel. Herr Wesley hat uns doch einmal eine geschenkt. Ich lese jeden Tag in meiner Bibel. Hast du deine noch?"
"Ja, aber die habe ich versteckt. Meine Eltern dürfen ja nicht wissen, daß ich so etwas besitze." Mari sagte einen Moment nichts mehr weiter.
"Was hat Jesus denn getan, als er soviel Angst hatte?", wollte er schließlich wissen.
"Er hat zu Gott, seinem Vater gebetet. Er hat ihm alles gesagt, was ihn bedrückt und wovor er Angst hat. Er hat Gott sogar darum gebeten, daß er nicht ans Kreuz genagelt werden muß. So eine Angst hat er gehabt und das, obwohl er Gottes Sohn ist. Aber dann hat er Gott gesagt, daß er das tun wird, was Gott von ihm verlangt. Ich bin fest davon überzeugt, daß Jesus immer noch eine fürchterliche Angst gehabt haben muß. Aber ich glaube auch, daß er wußte, daß Gott bei ihm ist. Das hat ihm geholfen. Und genau so ist Gott und auch Jesus jeden Tag bei uns, bei dir und bei mir. Ihm ist es nicht egal, ob du Angst hast, oder ob du glücklich bist. Er möchte mit dir leben und freut sich schrecklich darüber, wenn du ihm das alles erzählst. Und ich glaube, das Wichtigste ist, zu wissen, daß Gott immer da ist. Herr Wesley sagt auch, daß Gott immer da ist, wo du auch bist. Und deshalb brauchst du auch keine Angst haben. Gott hilft dir!"
"Es fällt mir so schwer, das zu glauben, diesen Glauben anzunehmen. Er ist ja vollkommen anders, als der hinduistische Glaube, aber ich kann das nicht. Dafür erzählen mir meine Eltern zuviel von Shiva und Vishnu und all den anderen Göttern. Ich kann das nicht einfach so vergessen. Verstehst du das?"
"Ja klar verstehe ich das.", antwortete Karim. "Wahrscheinlich würde ich dasselbe sagen, wie du jetzt, wenn meine Eltern nicht Christen geworden wären Natürlich verstehe ich das! Und wenn du nicht zu Gott beten möchtest, dann werde ich für dich beten. Und Gott wird dir bestimmt helfen, was auch passieren wird."
Die beiden Jungen saßen noch ein paar Minuten schweigend auf dem Hügel. Mari hatte sein Bein angewinkelt und sein Kinn auf sein Knie gestützt. Sein Blick hing gedankenverloren an einem Punkt am anderen Ufer. Nach einiger Zeit bemerkte er auf einmal, daß die Sonne längst untergegangen war und der Mond am Himmel stand.
"Laß uns mal lieber nach Hause gehen, es ist schon stockfinster."
"Stimmt!" Karim schüttelte sich auf einmal. "Mir wird auch langsam kalt!"
Es war wirklich ziemlich kalt geworden. Schnell standen die Jungen auf und gingen zurück ins Dorf. Der Himmel war völlig klar und es standen unglaublich viele Sterne am Himmel. Der Mond verbreitete sein helles Licht. Es war fast Vollmond und kein Mensch mehr zu sehen, als sie schließlich das Dorf erreichten.
"Wenn noch etwas ist, dann komm ruhig bei mir vorbei. Du kannst mich notfalls auch wecken, okay?" Karim lächelte ihn freundlich an.
"Ja, okay. Vielen Dank! Ich habe mich auch fast wieder beruhigt. Ein wenig Angst habe ich zwar immer noch, aber nicht mehr so viel."
Karim nickte. "So, jetzt muß ich aber nach Hause. Mach's gut!"
"Tschüß!"
Mari blieb noch einen kurzen Augenblick unbeweglich stehen und schaute Karim nach. Dann ging er langsam auf die Haustür zu. Auf einmal fiel ihm wieder ein, warum er Angst gehabt hatte. Die Unterhaltung mit Karim hatte ihn so sehr beschäftigt, daß er Gamal ganz vergessen hatte. Doch als Mari jetzt eintrat, sah er ihn sofort. Gamal saß schräg links auf einer Decke auf der Erde. Neben ihm saß Maris Mutter und sein Vater lag hinter ihnen. Er sah sehr blaß aus, und Mari sah deutlich, wie krank sein Vater war. Doch das hatte Mari in letzter Zeit zu oft gesehen, als daß es ihn jetzt erschreckt hätte. Er wußte, daß sein Vater nicht mehr lange leben würde, doch im Moment war er viel zu sehr mit Gamal beschäftigt.
Warum habe ich nur wieder so eine Angst?, fragte sich Mari. Er wußte es nicht. Und auch diese Vorahnung, daß irgendetwas passieren würde, war wieder da, viel stärker, als vorher. Wäre doch Karim jetzt hier! schoß es ihm durch den Kopf. Und im nächsten Moment dachte er komischerweise daran, daß Jesus jetzt bei ihm war.
Es waren nur wenige Sekunden vergangen, seitdem Mari eingetreten war, doch es war noch kein Wort gefallen. Selbst seine beiden kleineren Geschwister bemerkten die Spannung, die in der Hütte herrschte. Sie saßen in der anderen Hälfte der Hütte und hatten gerade mit ihrer selbstgebastelten Strohpuppe gespielt.
"Setz dich doch!", sagte plötzlich seine Mutter. Sie sah ihn dabei wieder so traurig an. Was war nur los? Mari wußte es nicht. Langsam ging er zu ihnen hin und setzte sich neben seiner Mutter auf die Erde, gegenüber von Gamal. Dieser sagte nichts, er schaute Mari nur verächtlich an.
"Na, hast du gerade schön gespielt?", fragte seine Mutter, als ob er ein kleines Kind wäre.
Mari nickte nur. Bei dem dicken Kloß, den er im Hals hatte, glaubte er, nicht sprechen zu können. Er schluckte, doch er war immer noch da. Er bekam ihn einfach nicht weg. Dann schaute er seine Mutter an. Sie wollte offensichtlich etwas sagen, wußte aber wohl nicht wie.
"Du kennst doch Gamal, oder?", fragte sie schließlich.
Mari konnte wieder nur nicken.
"Weißt du, er hat uns, deinem Vater und mir, ein sehr gutes Angebot gemacht." Sie stockte. "Ich denke, du kennst unsere jetzige Situation. Dein Vater ist sehr, sehr krank und wird wahrscheinlich auch nicht wieder gesund werden, es sei denn, wir hätten das Geld für eine Operation. Zudem mußten wir Schulden machen, um die nötigsten Sachen kaufen zu können. Du mußt uns wirklich glauben, daß wir sehr verzweifelt sind." Sie machte eine Pause. Mari glaubte ihr, er hatte sie noch nie so traurig und verzweifelt gesehen. Er dachte an ihr strahlendes Lächeln, daß er so an ihr mochte. Wann hatte er es zuletzt bei ihr gesehen? Er wußte es nicht, es war schon zu lange her. Plötzlich dachte er an das Angebot von Gamal. Was war es nur? Wellen der Angst schossen in ihm hoch.
"Ja und wir haben lange überlegt, ob wir das Angebot annehmen", sagte seine Mutter gerade.
Mari räusperte sich. "Aber was ist denn das für ein Angebot?" Er erschrak selbst über seine heisere Stimme.
Seine Mutter warf schnell einen Blick zu seinem Vater hinüber, als ob sie wollte, daß er das erzählte. Doch er lag stumm auf dem Rücken und starrte die Decke an. Enttäuscht wandte sie sich wieder Mari zu.
"Gamal möchte dich mitnehmen. Er hat Arbeit für dich. Mit dem Geld, daß er uns dafür gibt, könnten wir unsere Schulden bezahlen und die Operation für deinen Vater. Er könnte vielleicht wieder gesund werden, verstehst du das?"
"Ja, ich denke schon." Mari schaute seine Mutter verzweifelt an.
"Aber wohin denn?"
"Sehr weit weg von hier. In ein kleines Dorf, in der Nähe von Nagpur."
"Ich will aber nicht weg von hier! Ich möchte bei euch bleiben."
"Tut mir leid, Mari. Aber du mußt gehen. Du bist alt genug. Es geht nicht anders."
Mari bemerkte auf einmal, wie seine Augen naß wurden. Er kämpfte darum, nicht zu weinen, doch er schaffte es nicht. Die Tränen rannen in kleinen Bächen nur so über sein Gesicht. Seine Mutter drückte ihn an sich und er vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter. Nun kamen auch seine beiden kleineren Geschwister und drückten sich an ihn. Sie verstanden zwar nicht, warum Mari weinte, doch als sie merkten, wie traurig er war, versuchten sie ihn zu trösten. In den nächsten Minuten war nur noch Maris Schluchzen zu hören. Seine Mutter konnte nicht mehr weinen. Dafür hatte sie in den letzten Nächten zu oft geweint. Jetzt hatte sie keine Tränen mehr.
Schließlich stand Gamal auf. "Ich komme in zehn Minuten wieder und dann nehme ich ihn mit!" Seine Stimme war dunkel und hatte einen verächtlichen Ton. Mit langen Schritten ging er zur Tür, machte die Tür auf und ging hinaus.
Mari hob langsam den Kopf und schaute seiner Mutter direkt in die Augen. "Ich will nicht mit ihm gehen. Ich habe Angst vor ihm." Er wollte gerade wieder sein Gesicht in ihrer Schulter vergraben, als er die scharfe Stimme seines Vaters hörte.
"Mari, du stehst jetzt auf, hörst auf zu weinen und packst deine Sachen."
Die Schärfe in der Stimme des Vaters bestürzte Mari. So hatte er ihn noch nie reden gehört. Sein Vater meinte es ernst. Er hatte sich ein wenig erhoben und schaute seinen Sohn streng an.
Langsam löste Mari sich von seiner Mutter und ging mit hängenden Schultern schluchzend auf die andere Seite des Zimmers. Hier waren sein Decke, auf der er nachts normalerweise schlief und die wenigen Sachen, die ihm gehörten. Er nahm einen Korb, den seine Mutter selbst geflochten hatte und packte sein Sachen dort hinein.
Auf einmal fiel ihm seine Bibel ein. Wo hatte er sie bloß versteckt? Er überlegte kurz, dann wußte er es wieder. Er hatte sie unter seinen wenigen Anziehsachen versteckt. Rasch holte er sie hervor, packte sie in den Korb und tat schnell die Anziehsachen darüber. Er wollte sie unbedingt mitnehmen. Doch wenn seine Eltern sie bemerkten, würden sie sie ihm wegnehmen.
Mari brauchte nicht lange zum packen. Er war gerade fertig, als Gamal wieder hereinkam.
"So, bist du endlich fertig?"
Mari warf einen verzweifelten Blick zu seiner Mutter. Mit diesem Menschen sollte er gehen? Seine Mutter dachte wohl dasselbe. Schuldbewußt senkte sie ihren Blick und starrte vor sich auf die Erde. Würde sie jemals wieder glücklich sein können? Mari konnte es sich nicht vorstellen. Er ging langsam zu ihr hin und flüsterte ihr leise ins Ohr: "Ich habe dich immer noch gern! Du bist die beste Mutter, die es gibt!" Und wieder rannen Tränen über sein Gesicht.
Auch seine Mutter hatte auf einmal wieder Tränen, die über ihr zerfurchtes Gesicht liefen. Sie drückte ihn fest an sich.
"Es tut mir leid, mein Junge. Es tut mir leid!", stammelte sie leise. Mehr konnte sie nicht sagen. Als auch noch die beiden kleinen Kinder anfingen zu weinen, packte Gamal Mari und zog ihn von seiner Mutter fort.
"Noch einen schönen Abend!", wünschte er höhnisch und schob dabei die Decke zur Seite.
Mari warf noch einen letzten Blick in das Zimmer, konnte aber wegen den Tränen nicht viel sehen.