Tiefe Märchenblicke - Alte Weisheiten im neuen Gewand - Stefan Geschwie - E-Book

Tiefe Märchenblicke - Alte Weisheiten im neuen Gewand E-Book

Stefan Geschwie

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Beschreibung

Märchen blicken tiefer als man denkt. Sie vermitteln Weisheiten in Bildern, Metaphern und Geschichten. Eine dieser wundervollen Geschichten ist das Märchen "Das Mädchen ohne Hände" von 1857. Es schildert eine Kindheit in Fremdbestimmung und absoluter Gebundenheit an die Eltern. Eine Kindheit geprägt durch Selbstaufgabe und Manipulation. Eine Kindheit in absoluter Abhängigkeit. Aber das Märchen endet in Befreiung. Dies zu verstehen, den Inhalt tiefer zu ergründen und den Bogen zu begreifen von Fremdbestimmtheit zu Freiheit - dafür bietet das Märchen Stoff für mehrere Regale voller Bücher. Dieses Buch ist nur eines davon. Eine Auslegung in Form einer Geschichte.

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Veröffentlichungsjahr: 2013

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Stefan Geschwie

Tiefe Märchenblicke - Alte Weisheiten im neuen Gewand

Band 2 Das Mädchen ohne Hände

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Der Niedergang

Der Winter stand vor der Tür. Und nichts war im Haus. Es war leer. Wovon sollten sie leben? Wovon sollten sie sich ernähren? Wie sollten sie den Winter überleben?

Nichts. Es war nichts da. Und alle wußten es. Sie alle standen kurz davor, dem Tod zu begegnen.

Mary-Ann hörte, wie ihre Eltern miteinander sprachen. Die Wände waren nicht sehr dick, sie konnte hin und wieder ein Wort aufschnappen. Aber die Verzweiflung hörte sie auch so.

Die Trauer und die Trostlosigkeit drangen durch das Holz, schwebten in dem Raum und ließen sich auf sie nieder. Sie waren ihr ständiger Begleiter, schon seit Jahren. Seit es mit der Arbeit ihres Vaters begab ging. Seit es Jahr für Jahr schwieriger wurde, zu überleben.

Doch so schlimm wie diesmal war es noch nie gewesen. Von Ernte konnte im Grunde nicht gesprochen werden, so mies wie sie dieses Jahre ausgefallen war. Der Regen hatte alles vernichtet. Wer braucht da schon einen Müller?

Allen anderen Familien um sie herum ging es nicht besser. Doch die meisten hatten Vorräte. Sie nicht. Sie hatten überhaupt nichts. Das kleine Feld hinter ihrem Haus reichte selbst in guten Zeiten kaum zum Leben.

Nein, bisher hatte ihr Vater immer genug verdient mit seiner Arbeit. Und nun? Nun waren die Mühle und der Garten hinter dem Haus mit dem schönen Apfelbaum das einzige was sie hatten. Mehr war ihnen nicht geblieben. Die Truhen waren leer. Wie denn auch? Sie hatten selbst im Sommer hungern müssen. Und nun stand der Winter vor der Tür.

 

Mary-Ann drehte sich unruhig auf die andere Seite. Es ging um sie, das merkte sie. Sie sprachen über sie. Sie hätte schon längst heiraten können. Einige Männer hatten schon gefragt. Aber wie konnte sie jemals ihre Mutter im Stich lassen? Sie hatte doch so viel für sie getan und ihre Krankheit war immer schlimmer geworden. Jetzt, wo dazu noch das Alter kam, kam die Krankheit immer häufiger. Es gab keine Chance. Ihre Mutter hatte so viel für sie getan, sie konnte hier nicht weg. Eher würde sie sich die Hände abschlagen lassen.

Wehmütig dachte sie an all ihre Freundinnen. Sie waren alle schon verheiratet. Aber sie selbst? Wie alt war sie? Sie wußte es nicht, irgendwas über zwanzig. Sie dachte an all die Männer zurück, die sie bisher gefragt hatten. Nein, es war niemand dabei gewesen, den sie von sich aus auch hätte heiraten wollen. Aber immer schon zu wissen, es geht sowieso nicht, ich kann hier nicht weg, zermürbte.

Würde sie niemals hier weg kommen? Erst wenn ihre Mutter tot wäre? Sie erschrak bei diesem Gedanken. Sie durfte sich doch nicht den Tod der Mutter wünschen! Aber eine andere Möglichkeit konnte sie sich nicht vorstellen. Es sei denn ihre Mutter würde wieder gesund werden. Aber das ... Nein, das würde nicht geschehen.

Aber es war ja auch nicht so, daß sie nicht gerne hier war. Nein, natürlich hatte sie ihre Eltern lieb, und ihre Eltern sie. Natürlich war es hier schön.

Sie dachte an den Tod. Er war ihr nicht unbekannt, nein, er war ihr Begleiter, die letzten langen Winter über. Der Tod wäre ihre Erlösung, das fühlte sie. Sie hatte keine Angst vor dem Tod. Ihr Leben hier war sowieso nur eine Last, die sie spürte und unter der sie zusammenbrach. In den letzten Jahren immer häufiger.

Nein, sie freute sich auf den Tod. Dann wäre endlich alles zu Ende.

Was hatte ihr Leben denn schon für einen Sinn? Wer war da, den sie lieben konnte, der sie liebte? Wer war da, der für sie sorgte, der für sie da war? Wer war da, mit dem sie leben und weinen konnte? Niemand. Sie war immer alleine. Nur sie und ihre Eltern.

Und Gott. Ja, Gott. Vielleicht würde er ja ihre Gebete erhören, irgendwann? Sie schloß die Augen und sagte ihm kurz ihr übliches Nachtgebet. Mehr nicht. Sah er ihre Not, ihre Verzweiflung, ihre Angst? Sie hoffte es. Sie vertraute auf ihn. Sie vertraute darauf, daß er reagieren würde und ihr helfen würde.

 

Ihre Eltern sprachen immer noch. Sie drehte sich wieder um, vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen und versuchte Schlaf zu finden. Auch er war kostbar geworden, je näher der Winter kam. Die Sorgen waren zu mächtig geworden, als daß sie so einfach schlafen konnte. Doch mittlerweile hatte sie den Spieß herumgedreht. Sie wußte, was unweigerlich kommen würde, wenn nicht noch ein Wunder passieren würde. Der Tod würde kommen, würde an ihre Tür klopfen und hereintreten. Es blieb kein Entrinnen. Er war dicht hinter ihr.

Keine Chance, keine Rettung, keine Möglichkeit in Sicht. Nur Gott konnte ein Wunder vollbringen. Darüber war sie ruhig geworden. Sie konnte nichts tun. Wenn der Tod kommen würde, war sie bereit. War sie bereit zu gehen. Etwas anderes konnte sie nicht tun.

 

Sie träumte davon, einmal in einem Schloß zu wohnen. Sie malte es sich aus. Sie stand an der Treppe zum Schloß, in ihren alten Kleidern, schmutzig und dreckig und der Königssohn würde herauskommen. Er würde sie umarmen, so wie sie ist. Würde sie hochführen und ihr das Schloß zeigen. Er würde ihr neue Kleider geben und sie heiraten. Und sie würden leben in seinem Schloß für immer und ewig.

Mit Hunden, Dienstboten und genügend zu essen. Sie ging die vielen Zimmer durch, die schöne Treppe mitten im Schloß, die Teppiche, die Bilder, die gewaltigen Tische. Der riesengroße Park hinter dem Schloß mit dutzenden von Apfelbäumen. Mit einem Teich, einem Wald und vielen Tieren. Sie malte sich aus, wie sie spazieren ging in diesem Park, mit den Tieren spielen konnte, sie tanzten und lachten, sie sangen und feierten. Und der Königssohn würde auf einem Pferd heran reiten und sie hochheben. Sie würden zusammen ausreiten. Über endlose Wiesen. An riesigen Feldern vorbei. In der Nase den Duft von Wald, von Gras, von Getreide. Der Wind würde durch ihre Haare fahren und sie zerzausen. Sie hätte ihr Hochzeitskleid an, strahlendes Weiß, mit einem Diadem aus funkelnden Edelsteinen und sie würde reiten, der Sonne entgegen. Ewig würden sie reiten, ohne Ende, Raum und Zeit. Endlos.