Am See - Maria Barbal - E-Book

Am See E-Book

Maria Barbal

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Beschreibung

Für die zwölfjährige Nora gibt es nichts Herrlicheres, als die Sommersonntage an einem See in den katalanischen Pyrenäen zu verbringen. Schwimmen ist ihr größtes Vergnügen und sie liebt die ruhige Weite des Wassers mit seinem ständig wechselnden Farbspiel. Außer Quim, der quirlige fünf Jahre alt ist, sind alle in der Gruppe, die sie begleitet, erwachsen. Sie alle bergen Sehnsüchte und Verletzungen in sich, die sich wie in einem Brennglas an diesem friedlichen Ort bündeln. Nora versteht längst nicht alles, was sie beobachtet, doch das, was an einem dieser Sommertage geschieht, wird für sie das Erwachen aus der Kindheit bedeuten.

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Seitenzahl: 150

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ZUMBUCH

Für die zwölfjährige Nora gibt es nichts Herrlicheres, als die Sommersonntage an einem See in den katalanischen Pyrenäen zu verbringen. Schwimmen ist ihr größtes Vergnügen und sie liebt die ruhige Weite des Wassers mit seinem ständig wechselnden Farbspiel. Außer Quim, der quirlige fünf Jahre alt ist, besteht die kleine Gruppe, die sie begleitet, nur aus Erwachsenen. Sie alle bergen Sehnsüchte und Verletzungen in sich, die sich wie in einem Brennglas an diesem friedlichen Ort bündeln. Nora versteht längst nicht alles, was sie beobachtet, doch das, was an einem dieser Sonntage geschieht, wird für sie das Erwachen aus der Kindheit bedeuten.

ZURAUTORIN

Maria Barbal ist eine der einflussreichsten und erfolgreichsten Stimmen der katalanischen Literaturszene. Geboren 1949 in den Pyrenäen, lebt und schreibt die mehrfach preisgekrönte Autorin heute in Barcelona. Ihr Debüt »Wie ein Stein im Geröll« wurde in 16 Sprachen übersetzt und gilt als moderner Klassiker. Auch ihr zuletzt erschienener Roman »Die Zeit, die vor uns liegt« begeisterte Leser*Innen und Presse.

MARIA BARBAL

AM SEE

Roman

Aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum

Blessing

Die Originalausgabe ALLLAC erschien erstmals 2022 bei Columna, Barcelona.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Motto ist ein Textauszug aus: Virginia Woolf, Zum Leuchtturm, übersetzt von Antje Rávik Strubel, Anaconda Verlag, München 2022, S. 29.

Die Übersetzung wurde gefördert durch das Institut Ramon Llull

Copyright © 2022 by Maria Barbal

Translation rights arranged

by Sandra Bruna Agencia Literaria, S.L.,

through SvH Literarische Agentur.

All rights reserved.

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagabbildung: © akg-images/UIG/Marka;

Shutterstock/BalanceFormCreative

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31324-1V001

www.blessing-verlag.de

Es war, als ob das Wasser hinausströmte und Gedankensegel setzte, die auf dem trockenen Land ins Stocken geraten waren […].

VIRGINIAWOOLF, ZUMLEUCHTTURM

I

Die Erinnerung an jenen Sommer ist wie ein letzter Blick auf das Paradies, bevor man durch eine Pforte tritt und es für immer hinter sich lässt.

Die Szene ist von einer außergewöhnlichen Klarheit, selbst die Schatten scheint es nur zu geben, um dieses Licht noch mehr hervortreten zu lassen. Da sind die Pappeln, da sind die beiden Männer, die sich in einen Streit verbissen haben, da ist die alte Frau, die ihre Augen geschlossen hat und zu schlafen scheint, und dann ist da noch dieses Kind, das einem wie immer den letzten Nerv raubt. Ich lasse mich ins Wasser gleiten, entferne mich ein paar Meter vom Ufer und von Quim, der sich auf dem Schwimmreifen zu halten versucht, dann wird er meinen Namen rufen und ich werde denken, sieh doch selbst zu, wie du klarkommst. Für den Fall, dass Lídia und Marieta plötzlich wiederkommen sollten, bin ich mit zwei Schwimmzügen dort, wo man stehen kann, und erspare mir so ihre Standpauke, weil ich nicht am Ufer geblieben bin. In diesem Augenblick merke ich, wie das Wasser zu schaukeln beginnt, und drehe mich um. Quim ist verschwunden.

Es war nur eine kleine Regionalbahn und als Lídia einstieg, blieben gerade mal noch zwölf Kilometer bis zur Endhaltestelle. Vor langer Zeit hatte es Überlegungen gegeben, die Bahnlinie bis nach Frankreich zu verlängern, doch dafür wäre der Bau etlicher Tunnel notwendig gewesen oder die Trasse hätte die gewaltigen Höhenunterschiede des Gebirges überwinden müssen, und so war das Vorhaben gescheitert. Wie dem auch sei, immer wenn Lídia das Pfeifen des schwarzen Ungetüms hörte und sah, wie sich der mit weißem Dampf beflaggte Zug dem Bahnhof des Städtchens näherte, schien alles in ihr zu frohlocken. Auch dieses Mal wurde ihr wieder ganz weit ums Herz, und am liebsten wäre sie, wie Nora mit ihren zwölf Jahren, vor lauter Freude herumgesprungen.

Schon früh am Morgen war sie rasch aufgestanden, um sich zu vergewissern, dass der Himmel wolkenlos war. Gleich darauf, glücklich, wenn auch noch etwas schläfrig, hatte sie sich wieder hingelegt und sich vorgenommen, nach dem Frühstück Noras Mutter anzurufen, die Cousine ihres Mannes, damit das Mädchen um halb elf bereit zum Aufbruch war.

– Wir fahren zum See!

Diese magischen Worte waren es, weshalb ihr der Sonntag so verlockend erschien und sie sich nichts aus Tonis üblicher Neckerei machte, sie habe die Barceloneta wohl noch immer nicht vergessen. Natürlich nicht! Er hatte ja keine Ahnung, wie oft sie nach wie vor an den Strand dort denken musste, doch mittlerweile kannte Lídia ihren Mann und zog es vor, ihm nichts darauf zu erwidern. Sie sah sich selbst, so wie früher, mit ihrer Schwester, ihrem Bruder, mit Vater und Mutter, sie alle fünf, mit dem Proviant, den Badesachen und Handtüchern, und alle fünf waren sie am Herumalbern. Und dann gab es da den Sand und das Wasser, den Geschmack von Salz auf ihren Lippen. Das Meer, dieses unaufhörliche, unermüdliche Rauschen der Wellen, eine nach der anderen, eine wie die andere, all das, was ihr auf wundersame Weise ein Gefühl von Ruhe zu vermitteln vermochte … Wie hatte sie nur alldem den Rücken kehren können, um in die Berge zu ziehen? Der Grund dafür hieß Toni. Sie hatten sich ineinander verliebt und nun lebten sie gemeinsam in Tremp. Die kleine Stadt gefiel ihr ausnehmend gut, aber ihr altes Viertel in Barcelona, der Poble-sec, und die belebte Avinguda del Paral·lel fehlten ihr schon ein wenig. Sie vermisste es, an den Varietétheatern vorbeizukommen, am Molino oder am Arnau, sie vermisste den Markt von Sant Antoni, die vielen Kinos, ihre Familie und ihr Leben als unverheiratete Frau. Doch das behielt sie für sich.

Nora und sie waren gerade eingestiegen, und die Solars, die schon seit der letzten Station im Zug saßen, winkten ihnen von ihrem Abteil aus zu. Senyor Joaquim, der Verkäufer aus dem Geschäft; Milagros, seine Mutter; Marieta, seine Frau, und ihr fünfjähriger Sohn, Quim. Alle begrüßten Senyora Lídia mit großer Herzlichkeit. Der Verkäufer stand auf, damit sie sich in Fahrtrichtung hinsetzen konnte, neben seine Mutter, die ihr dann ihrerseits den Platz am Fenster überließ.

– Aber … das ist doch nicht nötig, wirklich nicht –, protestierte Lídia ohne Erfolg.

Nora hatte sich neben den Verkäufer gesetzt, mit dem Rücken zur Lokomotive. Quim war sofort auf Lídias Schoß geklettert und sie ließ ihn gewähren. Sanft strich sie über sein glattes Haar, das so schwarz war wie seine Augen, und der Junge griff nach ihren Händen mit den tiefrosa lackierten Fingernägeln. Er betrachtete sie, als wären es eigenständige Wesen, auf geheimnisvolle Weise losgelöst vom übrigen Körper. Dann kraulte Lídia ihn sacht von den Ohren bis hinunter zum Hals, und weil ihn das kitzelte, fing der Junge an zu kichern. Lídia schaute zu Nora und lächelte sie an. Als das Mädchen so alt war wie Quim, hatte es auch auf ihrem Schoß gesessen und sie hatte es im Nacken gekrault und zum Lachen gebracht. Lídia kam es vor, als sei das erst gestern gewesen. Und jetzt war Nora schon fast ein kleines Fräulein, noch dazu sehr vernünftig. Sie dachte, aus dem Alter, eifersüchtig zu sein, sei das Mädchen ja längst heraus.

Eine Weile verbrachten alle die Zeit damit, Vermutungen anzustellen, wie kalt das Wasser wohl heute sein würde, sie zählten die Stunden, die seit dem Frühstück vergangen waren, fanden schon jetzt die Menschen abscheulich, die vielleicht ihre Lieblingsstelle in Beschlag genommen hatten, ließen sich lang und breit darüber aus, wie heiß es noch werden könnte. Marieta war recht füllig, und während sie sich mit einem chinesischen Fächer aus durchscheinendem Papier Luft zufächelte, war sie ständig am Schnaufen. Senyor Joaquim stellte kategorisch fest, sie würden einen herrlichen Tag verbringen, und schaute dabei Lídia an, mit der er sich siezte, und er tat dies auf eine Art und Weise, die Nora stutzen ließ. Als ob er es bemerkt hätte, fragte er das Mädchen unvermittelt, wie denn ihre Noten ausgefallen seien, und sie, die ihr lockiges, rötliches Haar mit einem braunen Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, antwortete ihm ohne nachzudenken.

– Geht so.

Wie ein schwerer Tropfen war ihre Antwort in den Becher der Unterhaltung gefallen, und sie hatte kurz angebunden geklungen, ja schroff, vielleicht sogar lächerlich? Die Erwachsenen hatten jedenfalls gelacht und Nora war rot geworden. Aber was hätte sie denn sagen sollen, damit die anderen nicht anfingen zu lachen? Lídia bemerkte, ihre Noten seien um einiges besser als »geht so«. Vom Vater des Mädchens wisse sie, dass Nora überall ein »gut« bekommen habe und im Zeichnen sogar ein »sehr gut«. Marieta hörte auf, sich Luft zuzufächeln, und mit ungläubiger Miene fragte sie:

– Magst du denn gerne zeichnen?

Nora befürchtete, die anderen könnten wieder anfangen zu lachen, wenn sie jetzt einfach mit Ja antworten würde. Also sagte sie, Zeichnen möge sie besonders gern, und weil ihr Vater viel davon verstehe, gebe er ihr Ratschläge. Da lächelten die vier Erwachsenen gleichzeitig und Nora fühlte sich sofort ein wenig besser. Derweil hatte Lídia bereits den See ausgemacht, das Wasser und die fröhlichen Pappeln, die mit dem lebhaften Grün ihrer Blätter zu winken schienen. Dort, wo er tief war, schimmerte der See im Sonnenlicht in einem Smaragdgrün, das nach und nach ins Goldene übergehen würde. Auf dieser letzten, geraden Strecke kam der Zug schnell voran, und weil der Junge auf ihrem Schoß hin und her rutschte, fasste Lídia ihm unters Kinn und zeigte zum Fenster hinaus. Mal sehen, ob er nun stillhielt.

Da hatte Marieta wieder angefangen zu reden:

– Dieses Strandkleid steht Ihnen sehr gut. Haben Sie es selbst genäht?

So wie ihr Mann siezte auch sie Lídia, die der Frau des Verkäufers lächelnd zunickte, sich aber gleich wieder zum Fenster drehte, zu ihrem ganz eigenen Sommersonntagshimmel.

Nachdem der Zug mit einem metallischen Kreischen zum Stehen gekommen war, stiegen sie mit Hilfe von Senyor Joaquim, der den Frauen und dem Jungen die Arme entgegenstreckte, die hohen Stufen des Waggons hinunter und befanden sich mit einem Mal mitten auf dem überfüllten Bahnsteig. All die Menschen, die den Tag am See verbringen wollten, waren nun darauf aus, den bestmöglichen Platz am Ufer zu ergattern. Bevor sie sich jedoch auf den Weg machten, schulterten sie erst noch ihre Körbe und Segeltuchtaschen, und einige trugen wie riesige Armreifen Autoschläuche vor sich her, mit denen man sich später treiben lassen konnte. Auch Marieta machte es so. Und wer eine Kopfbedeckung aufhatte, rückte sie noch schnell zurecht, damit sie ihm nicht davonflog. Quim wurde von seinem Vater huckepack genommen, und so nutzte Lídia die Gelegenheit, um nach Noras Hand zu greifen. Sie mussten das Gleis überqueren, doch zuerst würden sie unter dem Hauptbogen des dreigeteilten Bahnhofsportals hindurchgehen. Und so wie immer galt es dann, sich für einen der drei Wege zum See zu entscheiden.

Lídia hatte eine Vorliebe für den Weg, der nach links abbog, führte er doch zu einer Gruppe junger Pappeln mit biegsamen Ästen, in deren Nähe ein alter Baumstamm lag, breit genug, um sich daraufsetzen zu können. Nur war dieser Platz manchmal schon belegt. Neben Nora schnaufte Marieta. Sie trug ein gestreiftes Strandkleid, das am Armausschnitt spannte und vom Dekolleté bis unter die Knie durchgehend geknöpft war. Ein paar Knöpfe schienen jeden Moment abspringen und sich so ihrer schweren Aufgabe entledigen zu wollen. Der Junge quengelte, er wolle zu Senyora Lídia, und streckte einen Arm nach ihr aus, doch von seinem Vater bekam er ein strenges Nein zu hören. Verstohlen drückte Lídia Noras Hand und meinte zu ihr:

– Er ist ja noch so klein!

– Ich glaube nicht, dass er es schafft, schwimmen zu lernen.

– Wer weiß, schau mal, du bist viel jünger als ich und kannst es viel besser.

– Aber du hast es mir beigebracht, du hast mich unter dem Bauch gehalten, bis ich allein schwimmen konnte. Ich fand es ja so schön, als wir nur mit meinen Eltern hergekommen sind!

Lídia brach in ein schallendes Lachen aus, und Nora bemerkte, wie ihre großen hellbraunen Augen, die sie an Zimt erinnerten, zu glänzen begannen und wie sich ihre Lippen öffneten und ihre so regelmäßigen, strahlend weißen Zähne sichtbar wurden. Und da musste sie selbst lachen, denn schließlich hatte sie sich endlich getraut, etwas auszusprechen, das sie schon lange umtrieb, und der Mensch, von dem sie sich wünschte, er wäre ihre Mutter, hatte es verstanden.

II

Vor elf zeigte sich die Sonne noch gnädig und so nahmen wir die Abkürzung am schon abgemähten Weizenfeld entlang, um kurz darauf zwischen den Pappeln in der Nähe des Wassers unseren Weg fortzusetzen. Dort gab es nur wenig hinderliches Gestrüpp, sodass wir leicht vorwärtskamen. Die Kommentare waren immer die gleichen: Bald können wir endlich baden; gut, dass wir den Ball dabeihaben und den Schwimmreifen; wenn Toni kommt, gibt es Mittagessen; das Wasser dürfte eigentlich nicht allzu kalt sein. Und vor allem, wenn schließlich unser Lieblingsplatz vor uns lag und niemand war dort: Er ist frei!

Eigentlich war es Lídia, der dieser abgeschiedene Winkel am besten gefiel, und uns anderen war das Grund genug. Ich glaube, keiner von uns hatte sich jemals Gedanken darüber gemacht, ob er persönlich vielleicht einen anderen Ort vorziehen würde. Alle wollten wir ihr gefallen. Wie weit ein jeder von uns wohl gegangen wäre, um sie zum Lächeln oder gar zum Lachen zu bringen? Heute, mit dem Abstand der Zeit, der die Erinnerungen in einem anderen Licht erscheinen lässt, stelle ich mir diese Frage, aber ich bin mir so gut wie sicher, dass uns damals gar nicht bewusst war, wie sehr wir ihr gefallen wollten.

An diesem Sonntag schien ihnen das Glück hold zu sein. Die Sonne hatte schon viel Kraft und ihr Lieblingsplatz war frei.

– Hast du gefrühstückt?

– O ja! Das ist schon ganz lange her!

– Von deiner Mutter weiß ich aber, dass du für gewöhnlich erst kurz, bevor du dich auf den Weg zum Bahnhof machst, etwas isst.

Wieder hatte Lídia auf diese ihr so ganz eigene Art gelacht und Nora bemerkte, dass Quims Vater sich umdrehte. Noch immer trug er den Jungen huckepack, der sich an seinen Rücken schmiegte wie eine Eidechse an einen sonnenwarmen Stein. Senyor Joaquim schaute Lídia an, als wolle er ihr etwas sagen, richtete seinen Blick aber gleich wieder auf den Weg, der nun von Steinen übersät und an beiden Seiten von Grasbüscheln gesäumt staubig und holperig hinunter zum See führte. Die Luft war erfüllt vom lästigen Geschwirr der Insekten. Ihr Vater hatte Nora gezeigt, wie man Heuschrecken fängt, aber sie konnte sich nicht so recht dafür begeistern. Die Beine der Heuschrecken waren kratzig und wenn Nora eine von ihnen in der Hand hielt, wusste sie nichts mit ihr anzufangen.

Die Körbe und Taschen hatten sie gerade abgestellt, und Quims Vater war dabei, den Campingstuhl für seine Mutter aufzuklappen, als der Junge mit einem Kick den mitgebrachten Ball ins Wasser beförderte. Lídia bat Nora, ihn zurückzuholen, doch Joaquim war bereits ins Wasser geeilt und stand im nächsten Augenblick auch schon wieder am Ufer, mit dem Ball in der Hand und bis zu den Knien nassen Hosenbeinen.

– Die trocknen schon wieder!

Milagros schimpfte mit Quim, drohte, ihm den Hintern zu versohlen, wenn er nicht brav sei, und Nachtisch gebe es dann auch nicht. Ihr Sohn machte ihr ein Zeichen, still zu sein, und sie gehorchte ihm sofort. Nora bedauerte es, dass nicht sie selbst den Ball von »diesem Kind« herausgeholt hatte, wie sie Quim für sich nannte. Seinen Namen vermied sie, diese eine Silbe, der sie sich nicht entziehen konnte, so als würde über ihrem Kopf unablässig eine Glocke bimmeln. Jetzt hörte sie, wie sein Vater mit ihm sprach.

– Quim, weißt du denn nicht, dass es noch zu früh zum Baden ist? Du kannst hier am Ufer mit dem Ball kicken. Und vielleicht mag ja Nora auch ein wenig mit dir spielen.

Milagros beobachtete alles durch ihre großen Brillengläser, nicht die kleinste Kleinigkeit entging ihr. Währenddessen hatte Lídia sich einen sonnigen Platz in der Nähe des Wassers gesucht, ihr großes gelbes Badetuch im Gras ausgebreitet und wollte gerade aus ihrem Kleid schlüpfen. Sie hatte Nora zu sich gerufen, die unter einer grünen Trägerlatzhose einen Pullover aus weißem Perlgarn trug, der ihr reichlich kurz war.

– Soll ich dir helfen?

– Ich wollte diesen Pullover nicht anziehen, aber Mutter hat nicht mit sich reden lassen.

Im nächsten Augenblick stand das Mädchen schon im Badeanzug da. Er war gesmokt und all die vielen Gummifädchen kräuselten den kürbisfarbenen Stoff in kleinen Falten um ihren Körper. Nora gefiel er kein bisschen. Lídia bat das Mädchen, es möge sich kurz vor sie stellen und das Handtuch hochhalten. Dann zog sie sich dahinter geschickt ihr Kleid aus.

– Fertig.

Nora verstand nicht, weshalb sich Lídia dazu hinter einem Handtuch verstecken musste, wo sie doch unter dem Strandkleid bereits ihren Badeanzug anhatte. Er war himmelblau, ganz schlicht, und betonte ihre gebräunte Haut, die dem Mädchen unglaublich zart vorkam. Nicht ein einziges Härchen war zu sehen. Zum Schluss schüttelte Lídia wie immer ihr welliges, kastanienbraunes Haar, das kaum einmal in Unordnung zu geraten schien.

–Wir müssen uns etwas eincremen, besonders im Gesicht und am Hals.

Nora hätte sich so gerne noch länger der sanften Massage dieser kräftigen Hände überlassen, die eine feuchte Schicht Nivea auf ihrer rosigen Haut verteilten und sie ab und zu mit den Fingernägeln kitzelten. Aber dann hatte dieses Kind geschrien:

– Ich auch, ich auch!