Amado mio - Pier Paolo Pasolini - E-Book

Amado mio E-Book

Pier Paolo Pasolini

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Beschreibung

"Amado mio" zeichnet das zarte Bild einer ungehörigen Sommerliebe. Beim Dorftanz, beim Baden im hitzeflimmernden Fluss, beim Toben auf dem Sandstrand, im Kreis der Jugendlichen. Desiderio entdeckt, dass er lieber mit dem Jungen Chini tanzt als mit Mädchen, und er erlebt die vielleicht schönste Nacht seines Lebens. Ein Roman voller Ausgelassenheit, Eifersucht, Herzklopfen und Zärtlichkeit – durchwoben von der Erinnerung.

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Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Die italienische Originalausgabe des Romans Amado mio erschien 1982 in dem Band Amado mio, preceduto da Atti impuri bei Garzanti Editori in Mailand.

E-Book-Ausgabe 2021

© 1982, 1993 Garzanti Editori s.p.a., Milano

© 2000 Garzanti Libri s.p.a., Milano

© 1984, 1997, 2002, 2011 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4331 0

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2663 4

www.wagenbach.de

Erstes Kapitel

… das blaue Hemd und das wunderbare Band über der Brust.

J. R. Jiménez

Das schönste Hemd von ganz Marzins erschien gegen Abend. Es hatte sicher schon sechs geschlagen, und der Nachmittagstanz war noch bescheiden, fast familiär. Man sah wenige Leute rundherum, und wenige Leute auf der Tanzfläche; die auswärtigen Jugendlichen erforschten die Gegend, an der Umzäunung der Tanzfläche entlang; dabei riefen sie sich von einer Seite des Wäldchens zur anderen zu und wagten gelegentlich auch einen abenteuerlichen Abstecher auf den »Rost« hoch über dem Fluss, der hinter Büschen und Weinbergen verborgen war.

Das »Hemd« erschien, zwischen zwei auf die Tanzfläche herabhängenden Erlen, auf einer Zementwalze, einer von der Sorte, wie man sie zum Ebnen der Bocciabahn braucht. Desiderio tanzte um die Zeit gerade mit einem Mädchen aus San Vito, die einen kurzen blauen Umhang mit einem Rosensträußchen auf der Schulter trug und von den Jungen aus Marzins mit stiller und besonderer Bewunderung beäugt wurde, als handle es sich um eine »Dame«. Desiderio dagegen kümmerte sich gar nicht um sie, und wenn er überhaupt etwas für sie empfand, war es höchstens ein Stich ins Herz wegen ihres kurzen Umhangs und ihres Rosensträußchens; er warf vielmehr unruhig forschende Blicke über die Umzäunung der Tanzfläche, hinter der manche »Hemden«, die ihm am Nachmittag aufgefallen waren, in der Menge auftauchten und wieder verschwanden. Dieses Hemd auf der Walze hätte im ersten Augenblick als eine nur unwichtige Variante erscheinen können; gleich daneben sah man nämlich ein ebensolches, grau mit einem roten Streifen über der Brust, und dessen Besitzer war ein Rothaariger mit – wie Desiderio sogleich definierte – dem jugendlichen Gesicht »einer angelsächsischen Kokotte, die in einem gewissen Alter, aber noch wundervoll frisch war«; und vielleicht wegen der schreienden Farbe seiner Haare war er es, der beim ersten langsamen Vorbeitanzen Desiderios Blick einfing.

Chini, der rothaarige Junge, wurde mit jenem ersten Blick sofort eingeordnet; gleichwohl … trotz Desiderios abgebrühter Sachkenntnis umgab ihn weiterhin eine ziemlich dichte Barriere anfänglichen Geheimnisses, die vor allem väterlichen Ursprungs war (Alkoholismus? teilweise Impotenz?) und dem Jungen ein korruptes Aussehen verlieh, das Aussehen einer alten, wie durch ein Wunder verjüngten Kupplerin, die ein wenig vom Widerschein des roten Haarschopfes in der prallen Sonne geblendet ist. Welche inneren Reichtümer dem Jüngling mit jenem geringfügigen Geheimnis zu Gebote stehen mochten (Alkoholismus, angelsächsische Verderbtheit, organische Schwäche, Blüte der Jahre plus wiederverkörperte frühere Blüte des Vaters etc. etc.), weiß Gott allein. Sicher ist, dass bei der nächsten Runde, die im Sambaschritt getanzt wurde, so dass Ines’ kurzer Umhang aufflatternd den Eindruck erweckte, als wolle das Mädchen, Abbild sonntäglichen Glücks, jeden Augenblick im Flug abheben, Desiderio nicht der Versuchung widerstehen konnte, den Roten mit hitziger Eindringlichkeit zu betrachten.

Unter den grünlichen Katzenaugen und den langgezogenen, ruhigen Lippen triumphierte das Hemd mit seinem Streifen auf dem Brustkorb. Aber … Himmel … dieses andere Hemd … Ines musste bei einer plötzlichen Laune ihres Tänzers, dem schwindelig geworden war (zuviel Bier? die Hitze? man musste jedenfalls einmal aussetzen, um auszuruhen), lächeln und ihm mit einer möglichst städtischen Miene, nicht ohne einen Anflug graziöser Langeweile, zum Zaun hin folgen: Der Tatsache, dass ihr Freund, um sich von dem, wenn auch nur ganz leichten, Unwohlsein zu erholen, ausgerechnet die Seite des Zauns gewählt hatte, die am meisten der höllischen Augustsonne ausgesetzt war, maß sie offenbar keine große Bedeutung bei. Auf jener Seite ging – über der Zementwalze – gerade der Stern von Iasìs auf.

Doch unversehens sprang der Junge ins Gras und verschwand. Schlagartig vom Schwindel genesen und (Geheimnis – nicht nur für Ines – der menschlichen Natur) verrückt vor Freude, wollte Desiderio daraufhin den unterbrochenen Tanz wieder aufnehmen: Es war ein Boogie-Woogie, der die naiven Augen des Publikums auf Ines zog, die sich in der Mitte des Tanzbodens mit ihrem unglaublichen Umhang im Kreise drehte.

Iasìs war gegangen mit seinem noch unbekannten Namen, war weder Benito, noch Iasìs, noch Sardanapalo … und auch nicht Giuseppe oder Bepi, wie sein Hemd es nahelegte; er war gegangen, fast als würde die Mittagsstunde, die ihn ausgeschieden hatte, ihn nun wieder in ihren Schlund zurückjagen: einen Schlund aus Blättern, Himmel, Kies … Und einen Stein davorwälzen. Nun rächte Desiderio sich für jenes Verschwinden: doch wer darunter zu leiden hatte, war unglücklicherweise die arme Ines, das lammfromme, in seiner Bewunderung rührende Publikum, der rote Chini, der, allein auf der Walze, ein echtes waste land (bitterste Analogie für Desiderio: angelsächsische Verderbtheit – Eliot) ohne Palmbaum geworden war. Und der Palmbaum? Unter welchem verdammten Kreuz des Südens reiften seine zaghaften Datteln? An welchen anderen Ort und in welche andere Gesellschaft war das Hemd der Brust seines Besitzers gefolgt, oder seinem Herzen, falls Desiderios Sehnsüchte schon bis ins Herz drangen? Es gab ein Fleckchen Erde, ach, so nah und doch so unendlich fern, an dem der N.N., Schoßkind der Liebe, etwas mehr als ein Mensch, etwas weniger als eine Statue, dem Verlauf seines Festes folgte, und seine Anwesenheit war mehr als genug, um Sonne und Landschaft viel, viel lieblicher und lichter werden zu lassen.

Atemlos, in der Stimmung, sich selbst zu vernichten, versuchte Desiderio, während er tanzte, sich die Wege jener Karte vorzustellen, die er ausschließlich um der Liebe willen entworfen hatte. In ihm dröhnte der Vers von Kavafis:

Und dann erblickte ich den herrlichen Körper …

Doch der Junge war reine Ferne, der Unbekannte schlechthin.

Da erschien er plötzlich wieder. Desiderios Beunruhigung war also grundlos gewesen, eine Täuschung wie in einem Kriminalroman mit kafkaesken Seiten, denn mit aller Wahrscheinlichkeit hatte sich der zukünftige Iasìs ja nur abgesondert, um gewisse – wundervolle, sicherlich –, aber leibliche Geschäfte zu verrichten … Zugleich mit dem Hemd kam auch das Kopfweh wieder.

Zum zweiten Mal musste Ines erfahren, von welcher Raffinesse die große Welt lebt, und schon standen sie wieder unter der sengenden Sonne auf jener bekannten Seite des Tanzbodens. Aber Desiderios Beklemmung hatte neuen Auftrieb bekommen: Jetzt hatte sich jenes mysteriöse Fleckchen Erde teilweise offenbart … Es handelte sich wohl um einen abgeschiedenen Ort, bestimmt unter dem Rost zwischen Holunder und Mohrenhirse, wo Er, in Anbetracht der großen Vertrautheit mit sich selbst und mit der Natur, nicht gezögert haben dürfte, gewisse Geheimnisse von sich preiszugeben: und Desiderio war rasend eifersüchtig auf das Gehölz.

Auf der Walze drängte er nun, lebendiges Abbild des Widerrufes, sein dem Gras gemachtes Geständnis so weit wie irgend möglich in sicheren Schatten zurück, und die Knöpfe an seiner blauen Hose waren mit einem Faden unübertrefflicher Keuschheit festgenäht.

Und er ließ sich dort oben bewundern bis zur Stunde des Abendessens. Als dann der Nachmittagstanz mit dem letzten Walzer zu Ende ging, bestand das Leben für Desiderio nur noch aus seiner ausgedörrten Kehle. Denn es gab nichts auf der Welt außer einer Wolke, aus der es niemals regnete. Die Wolke war jetzt vermutlich beim Abendessen, und erneut begann die kafkaeske Kasuistik: Die Mutter wurde rekonstruiert, eine Figur mit engelsgleicher Funktion, mit positiven Einflüssen: Hatte etwa nicht sie in San Vito oder Morsano das Hemd für ihn gekauft? Auch wäre Desiderio bereitwillig jede Wette eingegangen, dass Haut und Lippen direkt von der Mutter ererbt waren. Was die blauen Augen betraf, hätte wohl niemand bei der Wette eingeschlagen, denn es gab keinen Zweifel. Bei den schwarzen Haaren dagegen hatte der Teufel die Hand im Spiel: Bei solcher Haut und solchen Lippen, bei allen Heiligen, da ist die Frau blond. Und dieser Ruß also: dieser Haarschopf, nervös gewellt, gestriegelt mit dem allerschwärzesten Brill? Im ganzen Körper sonst pulsierte die Mann gewordene Mutter; jene süße Übersetzung – dem verliebten Vater zu verdanken – des männlichen Namens ins Weibliche (Erinnerung an einen mexikanischen Film: sie, Juana, er, das Knäblein – das schon als Rivale des Vaters betrachtet werden kann – Juanito). Und je kraftvoller und trockener sich der Körper in den durch Ausrufung und magische Formel männlichen Kleidern gebärdete, umso dichter und fließender war seine Weichheit.

Desiderio ging mit dem Freund Gilberto zum Abendessen: doch er aß fast nichts: Dem Schwertschlucker war ein Schwert im Halse steckengeblieben.

»Wirklich beneidenswert, deine Tänzerin«, rief ihm der Freund zu, der sich vor Lachen hätte ausschütten mögen beim Gedanken an den kurzen Umhang. »Ihr Aufzug hätte besser zu Chopin gepaßt. Sag mal, warum hat sie sich denn beim Boogie-Tanzen regelmäßig mit der Faust auf die rechte Brust geschlagen?«

»Vielleicht um sich dafür zu bestrafen, dass sie mich nicht interessierte. Eine Art Mucius Scaevola.«

»Hast du dir etwa in den Kopf gesetzt, ihre unverkennbaren athletischen Eigenschaften zu fördern? Willst du eine Olympionikin aus ihr machen? Die Jungen aus Marzins haben sie angeschaut, als wären sie zum ersten Mal bei einem Hahnenkampf dabei.«

»Ich bin wahnsinnig verliebt«, schloss Desiderio.

»Ach ja?« machte Gilberto gelangweilt: Desiderio war ständig verliebt und sprach gerne davon: Aber diesmal fügte er nichts hinzu – was Gilbertos schlummerndes Interesse wieder weckte.

Das Essen der kleinen Wirtschaft von Marzins, die voller betrunkener Stammkunden war, übte indessen, als es in einen Magen gelangte, in dem alle erdenklichen Säfte gärten außer solchen, die der Verdauung förderlich waren, eine seltsame Wirkung auf Desiderios Stimmung aus. Vielleicht weil er, als er sich umsah, die von Nievo beschriebenen Orte wiederfand – die Bassa, direkt vor der Tür des Wirtshauses, die vom Meer ausgezehrte Ebene – rechts im Rücken, wenige Kilometer entfernt, Teglio und Fratta, und dann Portogruaro, den Brunnen von Venchiaredo, einer Madame de Sevigné würdig … und eine holde Stimmung wie aus dem neunzehnten Jahrhundert überkam ihn beim Untergehen der Sonne. Er gedachte einer bestimmten Stelle aus den Confessioni (… die sinnliche Freiheit, die es den Kindern verwehrt, unschuldig zu sein, noch bevor sie schuldig werden können … Die Kämpfe der Seele erwachten in mir vor denen des Fleisches, und zum Glück lernte ich zuerst lieben, dann begehren. Doch das Verdienst war nicht meines, wie es nicht Schuld der Pisana war …), und fühlte sich der Verzweiflung nahe. Und unterdessen eilte er, wie der Erfinder eines Romans voller Begebenheiten, stiller Opfer und heroischer Entscheidungen, im Geiste in Seine Küche, wo gerade mit einem Haufen entzückender kleinerer Geschwister (?), einer verbündeten Schwester (?) und einem betrunken vom Bocciaspiel heimgekehrten Vater (?) zu Abend gegessen wurde. Dort hinten der Herd, schwarz, grau, älter als eine Kirche; hier die Anrichte, an deren Scheiben zwei Dutzend Photographien steckten: Tote mit Schnurrbart und aufgeputzte Lebende, Freundinnen der Schwester mit geschwollenem Busen und unsäglichen Hütchen, der Cousin, der Soldat bei den Gebirgsjägern war, und eine Gruppe Rekruten. Herrscht beim Abendessen Ordnung oder Durcheinander? Die zweite Hypothese ist wahrscheinlicher: Die Schwester, sie, die sich von Luft ernährt, ist in ihrem Zimmer und kramt, mit gewissen, ganz besonderen Ideen im Kopf, die kleinen Geschwister essen mit der Schüssel auf den Knien, eines auf der Türschwelle, ein andres sogar im Hof; ein Zwölfjähriger (Himmel!) isst neben Ihm am langen Tisch ohne Tischtuch, mit der obligaten Salatschüssel in der Mitte und dem Krug Rotwein, nachdem die Kleinen die Hand ausstrecken, denn da auch sie ihren Teil im Weinberg gearbeitet haben, haben sie auch ein Recht darauf. Er, ältester Bruder (?), isst ein wenig zu ernst: Er hat eine Würde, die er verteidigen muss. In einem Zug leert er sein Glas Wein, und los geht’s auf die Straße, wo die Gefährten schon versammelt sind mit ihren Hemden, ohne sich noch einmal nach dem Sinn ihres Glücklichseins zu fragen, mit ganzer Seele der Kirmes zugewandt, wie Libellen über dem Wasser.

Acht Uhr abends im August am Tagliamento! Der Abend ist ein einziger Duft nach Heu und Wiesenblumen. Die Vögel des Tages sind verschwunden und die Zwergohreule beginnt, die seidig-laue Luft mit ihrem Kopfgesang zu bedrängen.

Der soeben wieder eröffnete Tanz im Freien machte schwermütig, so zwischen Tag und Abend, fast wie ein Ausbruch zu ruhiger Freude.

Desiderio rächte sich weiter … Er hatte Gil im Wirtshaus sitzenlassen, um sich, fern von der Kirmes, in Quarantäne zu begeben. Nachdem er den Damm hinauf- und wieder hinuntergestiegen war, war er zwischen den Wäldchen aus Mohrenhirse und Pappeln weitergegangen, hatte die Saatfelder überquert und war schließlich ans Flussufer gelangt.

Wie sehr lud diese Einsamkeit zum Weinen ein: ein abgeschiedenes und unbekanntes Weinen inszenieren können, einen ungehörigen Protest, jetzt, da die Kulissen so geeignet und so heiter waren. Die goldenen Staubwolken über der Carnia geronnen zu glühender Asche, die sich im Gegenlicht auf die Bergkette niedersenkte und nach und nach in der