AMEN - Marcel Möring - E-Book

AMEN E-Book

Marcel Möring

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Beschreibung

„Komme Samstag, letzten Karton abholen, okay?“ Diese Nachricht seiner Frau Joyce, die ihn vor kurzem verlassen hat, stürzt Samuel Hagenau erneut in tiefe Verzweiflung, und er läuft in den Wald, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dort entdeckt er ein ausgebranntes Autowrack, darunter eine Leiche. Ganz in der Nähe liegt das ehemalige Durchgangslager Westerbork, wo er als Archäologe tätig ist, im Laufe der Ermittlungen ergeben sich aber auch Beziehungen zu drei ehemaligen RAF-Mitgliedern … Ein sehr dichter, intensiver Roman über Verantwortung und Schuld, Vergangenheit und Erinnern, vor allem aber über die Liebe – was es bedeutet, zu lieben und geliebt zu werden.

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Zum Buch

»Komme Samstag, letzten Karton abholen, okay?« Diese lapidare Nachricht seiner Frau Joyce, die ihn vor kurzem verlassen hat, stürzt Samuel Hagenau erneut in tiefe Verzweiflung, und er läuft in den Wald hinter dem Dorf Amen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Mitten im Naturschutzgebiet entdeckt er ein ausgebranntes Autowrack, darunter eine Leiche. Ganz in der Nähe liegt das ehemalige Durchgangslager Westerbork, wo er als Archäologe tätig ist, im Laufe der polizeilichen Ermittlungen ergeben sich aber auch Beziehungen zu drei ehemaligen RAF-Mitgliedern. Und während Samuel versucht, die Zusammenhänge zu begreifen, wächst seine Verzweiflung, er taucht immer tiefer in seine eigene Vergangenheit, in eine Flut der Erinnerungen …

Ein sehr dichter, intensiver Roman über Verantwortung und Schuld, Vergangenheit und Erinnern von einem der bedeutendsten europäischen Erzähler seiner Generation. Und ein Roman von großer emotionaler Wucht über die Liebe – was es bedeutet, zu lieben und geliebt zu werden, und wie es ist, die Liebe zu verlieren.

»Ein gnadenlos ehrlicher Roman über das Leiden an einer Trennung, vor allem über die Unfähigkeit, sich nahezukommen und einander wirklich zu kennen.« Zin

Zum Autor

Marcel Möring, geboren 1957 in Enschede, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Literaten der Niederlande. Für seinen ersten Roman »Mendel« erhielt er 1991 den wichtigsten Debütpreis des Landes, den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, und weitere Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Sein Roman »Der nächtige Ort« wurde 2007 mit dem Ferdinand-Bordewijk-Preis zum besten niederländischen Roman des Jahres gekürt. Marcel Möring lebt in Den Haag.

Zur Übersetzerin

Helga van Beuningen ist die Übersetzerin von u. a. A. F. Th. van der Heijden, Margriet de Moor, Cees Nooteboom und Marieke Lucas Rijneveld und wurde ausgezeichnet mit u. a. dem Martinus-Nijhoff-Preis, dem Helmut-M.-Braem-Preis, dem Else-Otten-Preis und dem Straelener Übersetzerpreis.

Marcel Möring

AMEN

Roman

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel AMEN

bei De Bezige Bij, Amsterdam.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © der Originalausgabe 2019 Marcel Möring

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe

2022 Luchterhand Literaturverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

Covermotiv: © plainpicture/kemai

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-26671-4V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Said you’d give me light

But you never told me about the fire.

Stevie Nicks, »Sara«

In our age it is not sex that raises its ugly head, but love.

John Fowles, The Magus

Communication is the problem to the answer.

Eric Stewart (10 cc),»The Things We Do For Love«

Für meine Lektorin Susanne Holtzer

Dass es einen Anfang gibt, der anfängt, und ein Ende, das endet, und dass das Ende anfängt und der Anfang endet und dass Ebbe und Flut der Zeit heranschwappen und sich zurückziehen und das Treibholz dessen zurücklassen, was war komme Samstag den letzten Karton holen, okay? und du, der sagt, dass es okay ist, dass alles okay ist, du bist okay, ich bin okay, dass du weg bist, ist okay, dass ich das nicht verstehe, ist okay, es ist okay, dass das Ende hier anfängt oder der Anfang hier endet, es gibt gar nichts, was nicht okay ist, okay vermeidet einen Haufen Blabla, der uns nicht weiterbringt, denn es ändert sich nie etwas, zwischen uns nicht, auf der Welt nicht, in der Geschichte nicht, alles fließt, und du kannst es dir nur ansehen und denken: Alles fließt. Dass, wenn wir von anfangen sprechen, wenn es einen Anfang geben muss, dass du allein sein wolltest, egal wo, dass du in den Wald gingst, aber eigentlich ohne Ziel, dass du (wie sagt man?) gingst, um zu gehen, und an den letzten Karton dachtest und was darin war und warum du eigentlich nicht hineingeschaut hattest, obwohl dieser Karton schon seit Wochen, Monaten im Flur stand, dass du dich fragtest, ob dieser Karton ein Symbol war (wofür?) und was es bedeutete, dass du nicht hineingeschaut hattest, dass du immer nur an ihm vorbeigegangen warst und ihn nicht einmal gesehen hattest, oder vielleicht schon gesehen, aber so wie man einen Stuhl sieht, einen Vorhang, die Dinge, die da sind, weil sie da sind, die Dinge, die keine Bedeutung haben, bis du sie anschaust und mit einem Mal über sie nachdenkst, und dass du erst über diesen Karton nachzudenken begannst … ein Symbol, weil du auch nicht dahintergekommen warst, was in ihr steckte, wer sie war, was sie war, geschweige denn warum sie bei dir war, nicht, dass du es nicht versucht hast, Gott weiß, dass du es versucht hast, dass du versucht hast, in sie hineinzuschauen, um sie kennenzulernen, wirklich kennenzulernen, und dass du das noch immer tun würdest, dass du damit nicht aufgehört hättest, wenn sie nicht aus dem Nichts heraus gesagt hätte, sie gehe weg, und nur einmal noch zurückkam, als du nicht zu Hause warst, und ihre Sachen abholte, außer diesem einen Karton, den sie … und was wäre, wenn ich jetzt einmal gesagt hätte, es ist nicht okay, Joyce, was, wenn ich gesagt hätte, bist du jetzt, verdammt noch mal, völlig bescheuert, kannst du nicht einfach sagen, he, bei dir steht noch ein Karton, ist es in Ordnung, wenn ich den abhole, wann würde es dir passen? Dass du also zu gehen beginnst, in den Wald, denn hier gibt es nichts als Wald (und Heide und Sumpf, wir wollen die Heide und den Sumpf nicht vergessen), und du gehst und gehst, einen Fuß vor den anderen, den anderen vor den einen (a poor lonesome cowboy), und du gehst und gehst, es ist egal, alles ist okay, alles ist prima, und nach einer Weile weißt du nicht einmal mehr, wo du bist und wie du hier gelandet bist, an diesem Punkt in deinem Leben, in deiner Geschichte als Mensch, »dieses kurze Aufflackern zwischen der Finsternis, aus der du kamst, und der Finsternis, die dich erwartet«, an diesem Ort, wo der Wald aufhört und die Leere sich entfaltet, ein widerspenstiges und karges Naturschutzgebiet, wie Joyce auf spröde Art attraktiv, wie Joyce, womit du sagen willst, dass du aus ihr nicht schlau werden konntest, obwohl du nichts lieber wolltest als das, zum Beispiel: Wenn ihr es getrieben habt (wie sagt man?), dass es dann manchmal war, als hieltest du nichts in den Armen, eine mandeläugige Schöne mit einem Gesicht wie der Mond und Brüsten wie Lämmer, die unter den Lilien weiden, Augen wie betaute Trauben und einem Mund von Honig, ein Traum, der sich in deine Arme schmiegt und dich vergessen lässt, was es ist, das Leben (dieses kurze Aufflackern und so weiter), die Welt, ihr, das heißt, was du bist und was sie ist, dass es keinen Unterschied mehr zwischen ihr und dir gibt, dass du nicht mehr weißt, wo sie anfängt und du endest, sie in deinen Armen, du in ihren Armen, und du bewegst dich, und die Welt bewegt sich … under us all moved, and moved us, gently, up and down, and from side to side … und plötzlich, wenn der Moment gekommen ist, in dem zwei aufhören zu existieren und im Begriff sind, eins zu werden, da löst sie sich auf, und mit einem Mal ist da Leere und das Bewusstsein dessen, was du da gerade machst, dass du auf einem anderen Menschen liegst, dass du ein Knäuel von Gliedern bist, ein Ringen, Kissen, die sich einmischen, Laken, die nach deinen Beinen greifen, das Radio der Nachbarn … ist es lange her, ist es lange her … dein abgeknicktes Handgelenk, ihre leeren Augen, ihre ins Nichts starrenden Augen, oder vielleicht schauen sie ja nach innen, auf eine Stelle in ihrem tiefsten Inneren, eine Stelle, an die du nicht gelangen kannst, an der du aber sein willst, denn du willst wissen, wer sie ist, wer das ist, der hier in deinen Armen liegt und dies mit dir macht, aber auch sehr klar ohne dich, und du sagst woran denkst du? und sie sagt an nichts, und das kannst du dir nicht vorstellen, denn du bist zu einer griechischen Skulpturengruppe von Lust und Verlangen und Begierde verschmolzen, und dann muss es doch so etwas geben wie: Was will ich von ihm/ihr, was will sie/er von mir, was bin ich für sie/ihn und was ist er/sie für mich, also fragst du, was sie empfindet, wenn sie an nichts denkt Lust, Wut, Freude, Geilheit, was weiß ich und sie sagt Geilheit, glaube ich und du denkst glaube ich? denn Geilheit ist nicht vage, Geilheit ist klar, wenn irgendwas klar ist, dann Geilheit, du sagst was empfindest du, wenn wir miteinander schlafen? (wie sagt man?) und sie runzelt die Stirn, denn Joyce redet nicht gern über diese Dinge – du hast sie mal nach ihren Fantasien gefragt, und es hat drei Jahre gedauert, bis darauf eine Art Antwort kam, und es war nicht so sehr eine Fantasie, sondern ein Plan, wie man dabei vorgeht … wie es war, wenn ihr es triebt, das hast du gefragt, und sie sagte so etwas wie na ja, normal und du denkst normal? normal ist, wenn ein Katholik die heilige Messe beschreibt als »ein Stück Brot und ein Schluck Wein«.

Vielleicht ist es das: dass du Kommunion wolltest und sie Brot und Wein.

Dass es also ein Ende gab, das anfing, und einen Anfang, der endete, und dass du nicht wusstest, dass er endete, dass er zu enden begann, das heißt an jenem Abend, vor fünf Monaten, Mai, sie auf der Couch dir gegenüber, das sinkende Abendlicht hinter ihr, und sie, die sagt, dass sie nicht glücklich sei, und du, der fragt, was sie damit meine, und sie wendet das Gesicht ab, eine bleierne Stille (This boat is sinking …).

Du bist der Buddha, und du sitzt im Zimmer und lauschst den Geräuschen der Welt, und die Welt sagt: Das wird nicht gut enden.

»Joyce«, sagst du, »Glück ist nicht so was wie das Wetter, es ist nichts, was dir widerfährt, es ist eine Verantwortung, du bist verantwortlich für dein Glück, für das deiner Liebsten, für das Glück in deiner Beziehung, du kannst es nicht erzwingen, aber du kannst auch nicht dasitzen und darauf warten.«

Ob du nicht ein bisschen Mitgefühl zeigen könntest.

Mitgefühl.

My fucking middle name.

Mein Mitgefühl hängt mir zum Hals raus, Joyce. Dein Ich-bin-nicht-glücklich ist ein Naturphänomen, das sich sechsmal pro Jahr ereignet und jedes Mal mit Mitgefühl und Verständnis bekämpft werden muss und damit, nichts zu sagen, was Joyce nicht gut findet, sonst wird Joyce noch unglücklicher. Ich bin müde, Joyce, verdammt bis-zum-Ende-der-Welt-gelaufen-und-zurück-müde. Meiner selbst müde. Meines Mitgefühls. Deines Unglücks. Ja, auch deines Unglücks, und dafür schäme ich mich, dass ich deines Schmerzes müde bin, deines Unglücks, all dessen, was nicht geheilt werden kann, des immer wieder mit meinem Erste-Hilfe-Köfferchen Angeranntkommens wo blutet es? um zu entdecken, dass es nirgends blutet, das heißt nicht da, wo ich hinkomme, nicht da, wo ich hindarf. Joyce, du hast keine Ahnung von meiner Ohnmacht, von meiner Unfähigkeit, von der Schuld, die ich empfinde, der Schuld wegen meiner Unschuld und meines Nichtglaubens an meine Unschuld.

Aber das sagst du nicht.

Du siehst sie an, und du weißt, ohne zu wissen, warum du es weißt, was jetzt kommt und dass du daran nichts ändern kannst oder dass du vielleicht schon etwas daran ändern kannst, es aber nicht mehr willst, weil du die Kraft nicht mehr aufbringen kannst, zum hunderttausendsten Mal jenes Verständnis zu zeigen, das der Leim ist, der dies, dich-sie-euch, zusammenhält. Ein Zug in der Ferne, und du stehst auf dem Gleis, und obwohl du weißt, du kannst dich bewegen, von diesem Gleis herunterbewegen, kannst du es nicht. Du starrst wie gebannt auf diesen Zug. Nein, anders.

Ich bin ein Kaninchen im Licht deiner Scheinwerfer, Joyce.

Aber das sagst du nicht.

Stattdessen sagst du was willst du? und sie sagt von dir weg.

So.

So verläuft er, der Anfang vom Ende, das Ende vom Anfang, das Ende vom Ende. Du hast geschaut, du hast gelauscht, du hast gesehen und gehört, und jetzt, aus heiterem Himmel an einem Freitagabend im Mai, ist die Apokalypse da. Du warst der erste Mensch, Mann und Frau, Frau und Mann, im Paradies, Hand in Hand inmitten all dessen, was erst noch einen Namen bekommen musste und neu war und fremd, die Vögel, die Tiere des Feldes, die Wolken und die Berge, das endlose Meer. Du lebtest in dem Raum zwischen Anfang und Ende und dachtest alles ist du dachtest, dass alles so war, wie es sein sollte, aber hier ist jetzt der Reiter auf dem fahlen Pferd, und du fragst dich, was dieses Mal anders ist als all die anderen Male, warum das Schwert diesmal doch fällt und all die vorigen Male nicht, und während das Gespräch – die paar Sätze, die du, wenn dies alles vorbei ist, als »Gespräch« bezeichnen wirst –, während dir das durch den Kopf geht, dringt es zu dir durch. Warum jetzt auf einmal. Warum all die anderen Male nicht.

Ver-ant-wor-tung.

Dieses Wort.

Es war immer da, es schlummerte wie eine Schlange auf dem Boden des tiefen Brunnens eurer Beziehung, und jetzt, da ihr Name genannt wurde, ist sie erwacht, sie hat sich aufgerichtet und ihre Zähne gezeigt, und bevor du scheiße sagen kannst oder shit oder fuck oder verdammt noch mal, ist es passiert.

Am Anfang ist das Wort, und das Wort ist der Anfang, und am Anfang ist das Ende, das Ende des Anfangs, das Ende des Endes, das letzte Wort.

Amen.

All die Male, die du sie mitten in der Nacht hast aufstehen hören, barfuß durch die Dunkelheit, die Treppe hinunter, nach unten, wo sie in der Finsternis saß und vor sich hin starrte, alles Blei, Tinte im Kopf, und du, der oben lag und wartete, und wenn sie dann endlich zurückkam und sich auf ihre Bettseite legte, tatest du so, als würdest du dich im Schlaf zu ihr hindrehen, versuchen, einen Arm unter ihren Kopf zu schieben, eine Hand auf ihre Hüfte zu legen, und du spürtest, wie kalt sie war (innerlich? äußerlich?), und sie drehte sich von dir weg, bis fast an den Rand des Bettes, und dann lagt ihr da in dieser hohlen Finsternis, sie allein, du allein, alle beide allein.

Joyce …

Aber das sagst du nicht, an jenem Freitagabend im Mai ist es lange her, ist es lange her, stattdessen schaust du zu, wie sie das Zimmer verlässt und nach oben geht, und du starrst auf die dunklen Fenster und fragst dich, was das ist, »nicht glücklich sein«. Was das bedeutet und warum das nicht definiert werden kann. Warum nie festgestellt werden kann, was »nicht glücklich sein« nun genau beinhaltet. Warum das irgendwie ausreichen soll, um die Tür zum Mitgefühl aufzuschließen. Warum du Mitleid empfinden sollst wie ein Hund, der beim Läuten der Essensglocke zu sabbern beginnt. Nicht, dass du an ihrem Kummer zweifelst. Aber du verstehst nicht, warum ihm nicht abgeholfen werden kann. Oder, vielleicht besser: warum ihm nicht abgeholfen werden darf. Denn trotz all deines verfluchten Mitgefühls und trotz deines Mundhaltens, wenn du etwas sagen willst, aber dir überlegst, dass es sie unglücklich macht, trotzdem hat sich nie etwas geändert. Tief in ihr flüstert eine Stimme, die sie nicht hören will, die sie nicht hören kann, weil sie Angst hat vor diesem Klang, was passiert, wenn sie darauf hört, sie in ihrem von Gestrüpp überwucherten Schloss, eine Burg, aus der nichts entkommen kann, die für alles, was von außen naht, nicht zu durchdringen ist, in der alles den tiefen Schlaf des Vergessens schläft, und du der Chevalier Mal Fet, der sich einen Weg durch den Wald der Dornenbüsche hackt und … Dass du ihren Kampf führtest, das meinst du, dass du hineinwolltest, aber sie nicht hinaus, dass deine Beziehung zu ihrem Unglück inniger war als die mit ihr und dass ihre Beziehung zu ihrem Unglück möglicherweise mehr Bedeutung hatte als die mit dir, dass sie eigentlich gut aufgehoben war in ihrem Schloss mit der Dornenhecke.

Eine Frage.

Eine Frage, die du vielleicht viel früher hättest stellen müssen.

Warum hast du es nicht aufgegeben? Warum hast du dir nicht früher überlegt, dass du den Kampf, den sie nicht führt, nicht gewinnen kannst? Liebe? Hier, mit dem Eisengeschmack a love like blood von Unglück in deinem Mund, neigst du dazu zu sagen, dass die Liebe bereits vorbei war, aber das ist Quatsch, denn du brauchst nur an ihr Gesicht zu denken, an die Momente, in denen du sie glücklich machen konntest, zumindest zum Lachen bringen konntest (ihr Mund, ihre Augen, mein Gott … ihr Mund, ihre Augen), und dann weißt du, dass das nicht stimmt. Aber was war es dann? Wenn du sie nicht kennen konntest, wenn du immer nur die Idee hattest, dass sie nicht war, wo sie war, was sie war, was war dann die Liebe? Ist es wie mit dem Kind, das geschlagen wird, das nicht versteht, warum, und trotzdem die Hand weiterliebt, die es berührt? Weil auch das, eine Hand, die dich berührt, Kontakt ist? Weil du noch nicht verlassen bist, wenn diese Hand dich noch berühren will? Bist du mit ihr unglücklich geworden, weil ihr so immerhin auf irgendeine Weise zusammen wart? (Du wartest in deinem Zimmer, bis die Schritte auf der Treppe zu hören sind und die Tür aufgeht, dein Vater, der hereinkommt und seinen Gürtel abnimmt und sich auf dein Bett setzt und dich, ohne etwas zu sagen, nur mit einer Geste dazu bringt, dass du dich über seine Beine beugst, und du, der du nicht weißt, warum du diese Strafe verdient hast, dich ihr aber unterwirfst, weil sich nichts dagegen machen lässt, nicht nur weil du klein bist und er groß, du jung und er alt, sondern vor allem weil kein Zweifel an der Strafe besteht, auch wenn du nicht weißt, warum, und so weiter und so weiter, und dass du zwar heulst, nicht so sehr wegen des Schmerzes, den du jetzt spürst, sondern eher vor Erleichterung, weil die Unsicherheit jetzt ein Ende hat geh du schon mal hinauf und warte auf deine Strafe und wir jetzt wieder zu dem schwankenden Gleichgewicht zurückkehren können, das du Jahrzehnte später hartnäckig als »eine normale Jugend, Mevrouw, mein Unglück hat nichts mit meiner Jugend zu tun …« beschreiben wirst.)

Ja, auf der Couch dir gegenüber, das sinkende Abendlicht in den Scheiben hinter ihr, nichts Besonderes los, ein Abend wie alle anderen, ein Nichts-Besonderes-los-Abend, tralalalala, und du, der fragt, warum sie so still sei, und sie, die sagt, dass sie nicht glücklich sei, und deine Gedanken was um Himmels willen ist passiert, warum sagt sie … habe ich … was habe ich … Eine Erinnerung, die immer wieder auftaucht. Wie ein sägender Schmerz, der manchmal für kurze Zeit vorbei zu sein scheint und dann wieder einsetzt. Und man kann nichts dagegen tun. Wenn es nicht die Erinnerung selbst ist, dann doch die Erinnerung an die Erinnerung. Oder die Erinnerung an die Erinnerung der Erinnerung. Die Erinnerung der Erinnerung der Erinnerung der Erinnerung. Das Abendrot, und sie sagt ich bin nicht glücklich und du siehst sie an, und das schwarze Wasser der Verzweiflung sinkt in dich ein, du sagst … Nein, das sagst du nicht. Du sagst etwas anderes. Verantwortung. Und was du eigentlich sagen wolltest und dass du es nicht tatest: dass sie verdammt noch mal aufhören soll zu leiden du hast eine Scheißjugend gehabt, ich habe eine Scheißjugend gehabt, eine Scheißjugend ist das, was wir gemeinsam haben, du, ich, jeder, they fuck you up, your mom and dad, they may not mean to, but they do, it’s life, Jim, but not as we know it, das Leben ist eine Scheißjugend, das Leben ist nicht nett, es ist nichts, niemand hat versprochen, dass es schön sein würde, also take what you need and be on your way and stop crying your heart out. Du bist unglücklich, Joyce? Und wie war das dann, als wir Hand in Hand durch den Vondelpark gingen, Herbst, und alles goldgelb und braun und rot, das Wetter mild und wir mild, und da, mitten auf dem Weg, deine Arme unter meinem Mantel, meine Arme um deine Taille, dein Gesicht nach oben gewandt, und wir küssten uns, die Sonne scheint, es riecht nach Humus, Hunde rennen hinter aufwirbelnden Blättern her, Kinder radeln vorbei, die junge Frau, die auf uns zukommt und sagt ich habe ein Foto von euch gemacht, wie ihr da standet und euch geküsst habt, es war wie eine Hallmark-Karte, soll ich es euch schicken? und wir sehen uns an, und mein Gott, ich bin glücklich, dass die Welt uns sieht, Menschen, die sich mitten auf einem Spazierweg küssen, und die Frau schickt ihr Foto, und du bedankst dich, und wir gehen weiter, Arm in Arm, eine lebende Ansichtskarte LOVE IN AUTUMN. Letzte Woche, Joyce! Vor sechs Tagen! Die Hallmark-Karte, die wir waren. Und jetzt bist du unglücklich? Wieso unglücklich, verdammt noch mal? Du meinst das Unglück, das du selbst verursacht hast! Denn an jenem Nachmittag, nach Hause gekommen von dem Spaziergang und noch glühend von dem Bewusstsein deines Glücks (Glück, Joyce!) wird geküsst, und Knöpfe werden aufgeknöpft und Reißverschlüsse aufgezogen, und du stürzt auf die Couch, du leckst ihre Lippen, sie leckt dein Kinn, du streichelst ihre Oberschenkel, sie streichelt deinen Kopf, deine Zunge über die Innenseite ihrer Schenkel, und du leckst sie, und es dauert nicht lang, dann wölbt sie den Rücken, eine Hand auf deinem Kopf und oh und ah und hmmmmm und ja und dann, als du in sie eindringst und sie die Augen schließt und leise seufzt, siehst du sie an, mein Gott, du liebst sie, die Liebe zu ihr strömt wie ein träger Wasserfall durch dich hindurch und aus dir heraus und rings um dich, wenn jemand dich jetzt sähe, dann wärst du nackt, und du schwebtest, und aus deinen Augen und Ohren und aus dem Mund und aus deinen Händen und Füßen, aus all deinen Poren: Liebe, deine Liebe zu ihr eine vielfarbene Ausgießung des Heiligen Geistes, Nirwana. Liebe ist du, du bist Liebe, Liebe ist um dich, und du, der Buddha der Liebe, sagst mein Gott, ich liebe dich ihr schwimmt im kaleidoskopischen Nichts, Sonnenstäubchen in der Sommerluft, keine Körper mehr, nur Wolken von Atomen und Neuronen und Protonen und Elektronen und

sie öffnet die Augen, und sie sieht dich an, und ihr Blick, mit einem Mal ist ihr Blick leer. Als wäre sie verschwunden.

ich … dich …

es ist weg, Joyce ist weg, die Hallmark-Karte der Liebe »Zwischen Herbstlaub und sich verfärbenden Bäumen«, die vielfarbene kaleidoskopische nukleare buddhistische Halluzination des EIN UND ALLES UND ÜBERALL UND WIR

du sagst was ist? und sie windet sich unter dir hervor, und anstatt hitziger Liebender, die es nicht erwarten können, sich gegenseitig aufzufressen, seid ihr plötzlich zwei verlegene Menschen in zerknautschten Kleidern, sie, die sich die Bluse zuknöpft und ihren Slip unter der Couch findet, und du mit der Hose, die auf deinen Schuhen liegt, und du siehst dich selbst, als stündest du am anderen Ende des Zimmers und betrachtetest all dies: einen Mann, der seine Frau will, eine Frau, die sich anzieht und aufsteht, den Mann, der sagt, nein, denkt was ist los, was um Himmels willen ist los? ihren Rücken, der aus dem Blickfeld verschwindet.

Ist es lange her, ist es lange her, dass du sagtest, ich bin so …

Schritte, Türen. Joyce, die noch da ist und nicht mehr da ist. Du, der hier …

Dass du gehst und gehst, einen Fuß vor den anderen, den anderen vor den einen, unter einem aschgrauen Regenhimmel, durch den Wald, über die Heide, durch Bilder, die in deinem Kopf auftauchen wie manchmal am Morgen ein Lied beim Erwachen, ein Lied will nicht verschwinden ist es lange her, ist es lange her, die Vergangenheit, die über der Gegenwart liegt, die Gegenwart über der Vergangenheit … Der Anfang. Das Ende. Wie der Anfang anfing, wie das Ende endete, jedenfalls alles durcheinander, und währenddessen schnurgerade Brandschneisen, die Parzellen mit Tannen voneinander trennen, Bäume, die im gleichen Abstand zueinander gepflanzt worden sind, alle ungefähr gleich groß, alle gleich gerade, Natur und dennoch Ordnung, ein Ort, um Struktur im Chaos des Lebens zu finden, in diesem Moment, dem Moment, in dem etwas angefangen und etwas geendet hat … ticketack all die Nächte … ein matschiger Weg, Sumpf links, dann wieder Heide, rechts morsche, verfaulende Birken, jedenfalls tot, Nieselregen, der einfach nicht aufhören will … hab ich auf dich gewartet … in der Ferne ein rostbrauner Haufen Hochlandrinder … die Zeit war um …

Mitten auf dem Weg …

… wie ein fauler Zahn, als wäre etwas vom Himmel gedonnert, als wäre Elias himmlischer Streitwagen wie eine Fackel herabgestürzt …

Ein ausgebranntes Auto.

Auch das noch.

Was jetzt? Umdrehen hab nichts gesehen, hab nichts gesehen, hab irgendwo anders hingeschaut die Mittagspause ist fast um, bestimmt kommt hier jemand vorbei … ein Förster … Spaziergänger … Oder … Bürgerpflicht? Ver-ant-wor-tung?

Ein vager Geruch von Plastik und Öl, als ich näher komme. Als würde eine Grenze überschritten, eine Trennlinie zwischen dem einen und dem anderen, zwischen der Welt, in der Männer in ihrer Mittagspause über das Ende der Liebe nachgrübeln, und einer anderen Welt, in der Menschen Autos in einem Naturschutzgebiet stehen lassen und anzünden.

Von den Reifen ist nichts übrig. Das Fahrgestell berührt beinahe den Boden. Die Erde ist schwarz verbrannt im rußigen Dunkel unter dem Wrack. Ein satter erdiger und zugleich chemischer Geruch von Dieselresten, verbranntem Gummi und geschmolzenem Plastik.