Ammo  der Waffennarr - Adam Arteon - E-Book

Ammo der Waffennarr E-Book

Adam Arteon

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Beschreibung

„Wenn man in unserem Milieu unterwegs ist, hat man keine Freunde mehr, nur Feinde.“ Als Ammo in seinem Studium zu scheitern droht, rutscht er in die Hooliganszene seines Heimatorts Klammstadt ab. Nach seinem ersten Kampf lernt er den Tschechen Milan Blecha kennen, der eine gefährliche Faszination mit ihm teilt: Waffen. Noch weiß Ammo nicht, dass Blecha in Wahrheit Chef einer Gang ist, die von der britischen Interpol-Agentin Olivia King beschattet wird. Immer tiefer landet Ammo in einem Sumpf voller Gewalt und Bandenkriminalität und trifft schon bald eine Entscheidung, die sein Leben für immer verändern wird ...

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Ammo der Waffennarr

1. Auflage, erschienen 02-2024

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Adam Arteon

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-608-7

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Adam Arteon

AMMO

DER WAFFENNARR

Inhalt

Chapter I

1. Der Ackerkampf

2. Hoher Besuch

3. Im Visier

4. Sparta greift an

5. G. N.

6. Der Rückschluss

7. Rekrut oder Freund

8. Eine halbe Million

9. Auf den Fersen

10. Bonny und Clyde

11. Jagdsäge

12. Überfall

13. Alexa

14. Blutzoll

15. Das Verhör

16. Ehre, Loyalität, Zusammenhalt

Chapter II – Bündnis der Reue

1. Schmerzhafte Entscheidung

2. Die Agram-Mafia

3. Der Tierarzt

4. Machtwechsel

5. Vladislav Blecha

6. Das Safehouse

7. Im Fadenkreuz

8. Bündnis der Reue

9. Auf der Karlsbrücke

10. Die Dreifachagentin

11. Strippenzieher

12. Falsche Polizisten

13. Für wen arbeiten Sie?

14. Impuls

15. Rote Clownskostüme

16. Chaos

17. Die Vertrauenswürdige

18. Ass im Ärmel

19. Das Ende der Mafia

20. Die goldene Patrone

Chapter III – Flucht der sieben Schatten

1. Vaterfreuden

2. Der Rattenschwanz

3. Wut

4. Die schattenhafte Sieben

5. Pakt mit dem Teufel

6. Hoffnung

7. Aufgeflogen

8. Kontrast

9. Da waren’s nur noch Sechs

10. Zweisamkeit

11. Arglist

12. Haderndes Schicksal

13. Der Samariter

14. Teufelskerl

15. Die Hütte brennt

16. Die Jagd auf Blecha

17. Schlachtpläne

18. Der Veteran

19. Opferfest

20. Uferlos

1. DER ACKERKAMPF

Aaron wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch nie zuvor hatte er am frühen Morgen bereits einen solchen Adrenalinausstoß verspürt. Eine schlaflose Nacht voller Körperwendungen und Panikattacken lag hinter ihm. Sie schienen einen denkbar schlechten Start in den Tag vorherzusagen, doch heute sollte es soweit sein. Sein erstes Hooligan-Match. Eine heimlich abgemachte Auseinandersetzung mit Gleichgesinnten. Vier Monate hatte er darauf hin gefiebert und trainiert. Vier Monate, in denen sich sein Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte. Gegen Ende des Jahres 2017 lud ihn sein Kollege Linus auf ein Spiel des lokalen Eishockeyclubs ein, dem ESV Klammstadt, begleitet von dessen Ultragruppierung Piranhas. Aaron war sofort begeistert und stellte seinen Lebensmittelpunkt statt dem Studium rasch auf die erlebnisorientierte Gruppe um, indem er es Linus gleichtat und Mitglied wurde. Und schwupps war er an zwei von fünf Erstsemester-Prüfungen gescheitert, wovon es sich bei beiden um Hauptfächer handelte. Die Exmatrikulation drohte, doch Aaron hatte nur eines im Kopf. Action. Adrenalin. Abenteuer. Allesamt Attribute der aktiven Ultragruppierung, die circa 15 Mann umfasste, mit einer Altersspanne von 19 bis 40 Jahren.

Zu ihren Tätigkeiten zählte neben dem organisierten Support für den Eissportverein auch das gemeinsame MMA-Training, zu welchem Aaron regelmäßig erschien und welches auch den Hauptgrund für seinen Eintritt als Crew Member darstellte. Der 23jährige Student mit sportlicher Figur trug schwarzes Kurzhaar, einen dunklen Stoppelbart und hatte kleine braune Augen. Er war von seinem eintönigen Alltagsleben inklusive Wohnen bei den Eltern oftmals gelangweilt, weshalb er immer wieder den Kick im Sparring suchte, doch nun sollte es ernst für ihn werden. Henning Hofer, ein langer, hagerer Kerl mit blonden, kurz rasierten Haaren und vollen Lippen, war der Anführer der Piranhas. Der Mann, dessen Wade eine Valhalla-Tätowierung prägte, brachte selbst bereits Hooligan-Erfahrung aus Fußballkreisen mit, weshalb man ihm szeneintern großen Respekt zollte. In der nordischen Mythologie stellte Valhalla eine Art Ruhmeshalle für die tapfersten Krieger dar und diente daher als Ansporn für viele Hooligans, Faustkämpfe auszutragen und körperlich ans Limit zu gehen. Henning hatte deshalb das Hauptaugenmerk der Trainingsgruppe auf das Ackermatch gelegt, eine ausgemachte Schlägerei, die meistens auf abgelegenen Wiesen oder Waldflächen stattfand und vom Staat als nicht rechtens eingestuft wurde. Die Ackertruppe der Klammstädter, ein Ableger der erlebnisorientierten Ultras, stand nun vor ihrem ersten Kampf, datiert auf den 24. März, den Henning via Tastenhandy vereinbart hatte, um so dem Visier der Polizei zu entgehen. Und der Leader hatte sich kein Fallobst als Gegner ausgesucht, sondern direkt eine berüchtigte Hooligangruppe aus Tschechien, zu der er schon länger Kontakt pflegte.

Als bereits die ersten Sonnenstrahlen Aarons Gesicht durch das Kellerfenster kitzelten, wagte er einen Blick auf sein Smartphone, 5:30 Uhr zeigte der Bildschirm an. Seinen Eltern hatte er erzählt, dass er zum Frühsport gehen und danach mit den Jungs abhängen würde, sie wussten nur einen Bruchteil vom Lebensinhalt seiner Gruppe. Um 6:00 Uhr wollte Linus ihn abholen, ein kleiner, schmächtiger Junge von 20 Jahren, den Aaron schon vor seinem Crew-Member-Dasein kannte, da sie mal zusammen im Probetraining einer Kampfsportschule gewesen waren. Der Student raffte sich auf, zog sich Jeans und Pullover an und eilte die Treppe hinauf in die Küche. Er rieb sich seine müden Augen, machte sich einen starken Kaffee und zwang sich trotz erhöhter Anspannung, eine Banane und ein wenig trockenes Brot zu verspeisen. „Er musste etwas im Magen haben“, dachte er sich. Um seinen Freund nicht mit Unpünktlichkeit zu enttäuschen, hatte er seine Sporttasche bereits gepackt und wartete nach dem Zähneputzen in voller Montur vor der Eingangstür. Linus sollte nicht klingeln, um niemanden zu wecken, weshalb sie sich auf eine WhatsApp-Nachricht geeinigt hatten. Ein Blinken am Bildschirmrand verzeichnete das Eintreffen seines Kollegen und Aaron öffnete voller Herzklopfen die Tür. Er fühlte sich, als würde die vereinbarte Keilerei jede Sekunde losgehen. Das breite Grinsen eines schmallippigen Gesichts trat ihm entgegen.

„Na, alles fit, Ammo?“, fragte der junge Mann mit blondem Kurzhaar und heller Stimme. Ammo war Aarons gruppeninterner Spitzname und er wurde so genannt, da er Waffen über alles liebte. Er kannte jede Knarre, jedes Gewehr, jede Munitionsart auswendig und las schon seit Kindheitstagen Zeitschriften über Waffen aller Art. Zudem hatte er bei einem Junggesellenabschied bereits das Schießen in Reallife ausprobiert. „Jaja“, entgegnete er sichtlich genervt vom übermütigen Auftreten seines Kumpels. Linus war bekannt für seine wilde, unerschrockene Art, die er stets mit einem fröhlichen Gesichtszug kompensierte. Trotz seines geringen Körpergewichts besaß er Erfahrung im MMA-Bereich und hatte sich nicht zuletzt deshalb einen Platz in der Kampfgruppe ergattern können. „Heute geht’s ab!“, betonte der Hooligan, öffnete den Kofferraum seines VW Lupos und verstaute Aarons Tasche darin. „Hast du alles dabei?“, wollte Linus sicherstellen. „Mundschutz, Sporthose, Handschuhe, Bandagen und was zu trinken!“, gab Aaron von sich, was sein Kumpel mit einem Nicken erwiderte. Die Piranhas hatten sich auf drei Autos aufgeteilt, um den langen Weg am Samstagmorgen über die tschechische Grenze anzutreten. Anführer Henning fuhr den ersten Wagen mit einer Entourage von drei Leuten und startete bereits eine halbe Stunde früher, um vor Ort alles abzuklären, während Linus Sauter mit Aaron Berger startete, gefolgt von Vitus Adelsmann samt Gefolge im dritten Wagen. Letzterer war Mitgründer der Piranhas, ein junger Typ von 22 Jahren mit braunen, kurz rasierten Haaren, knochigem Körperbau und wie Henning ein abgebrühter Charakter mit Hooliganerfahrung. Beide waren schon für diverse Fußballszenen auf dem Acker angetreten, wobei Vitus eher der Draufgänger und Henning der Techniker war. An der Autobahnauffahrt Richtung Nürnberg wartete bereits der schwarze BMW von Adelsmann, der Linus‘ erquickendes Zulächeln ebenfalls mit einem breiten Grinsen erwiderte. Aaron winkte den Kollegen im Auto und sie folgten dem Wagen auf der Autobahn, bis sie bei einem abgelegenen Parkplatz hinter Nürnberg herausfuhren. „Keine Raststätten, wegen den Cops!“, kommandierte Vitus, als er aus dem PKW ausstieg und sich eine Zigarette anzündete. Bis auf Aaron taten es ihm alle gleich. Während im Hintergrund das Rauschen der vorbeiziehenden Autos und LKWs ertönte, drehte sich Aaron zu seinem Begleiter um: „Sind die da echt so dahinter, also die Bull‘n mein ich?“. „Ja schon!“, antwortete Linus und pustete etwas Rauch aus seinem Rachen. „Die überwachen oft die Smartphones, deshalb hat Henning auch so’n altes Tastenhandy mit den ganzen Nummern. Und heute ist Samstag, da fahren viele Szenen vom Fußball auswärts, die steuern dann meist die Autobahnraststätten an, deshalb fahren wir lieber zu den kleinen Parkplätzen, da gibt’s keine Polizei und keine potenziellen Rivalen. Wir wollen ja nicht so kurz vor unserer abgemachten Party auf einer anderen Hochzeit tanzen,“ grinste Linus und zwinkerte kurz. „Ah, ok“, nickte Aaron verständnisvoll und sein Blick verlor sich in der Traube von Rauchern.

Nach einer gemeinsamen Pinkelrunde im ansässigen Wald begaben sich die sechs Männer wieder in ihre Wägen und langsam, aber sicher, merkte man selbst dem erfahrenem Vitus eine gewisse Anspannung an, schließlich erwartete sie niemand geringeres als die berüchtigte Hooligangruppe „Chaos“ aus Prag. „Meinst du, die hauen wir heute weg?“, wandte sich Aaron zum Fahrer, obwohl er die Antwort eigentlich schon erahnte. „Chaos? Pff, nie im Leben. Die schlachten uns ab, aber dann gibt’s endlich mal wieder aufs Maul“, entgegnete Linus mit humorvollem Unterton. „Im Eishockey gibt’s ja keine Gegner, da sind die meisten Gruppen zu schwach und stellen sich nicht. Wir lieben aber das Kräftemessen mit anderen Szenen. Henning hat ja Gott sei Dank gute Kontakte.“

Stille brach herein. Linus‘ angstlose Art förderte Aarons Schweißausbrüche und er schien einem Nervenzusammenbruch nahezustehen. „Mach dir nicht ins Hemd. Das geht jedem so beim ersten Mal. Aber wer austeilen will, muss auch einstecken können. So sind Hools eben. Wir haben Henning und Vitus dabei, die sind stabil“, versuchte ihn sein Freund aufzumuntern. Aaron versuchte, das Pochen seines Herzens mit Händereiben zu übertönen und entnahm seiner Wasserflasche einen großen Schluck. „Ich kann das nicht, ich werde nicht antreten!“, redete es ihm eine leise Stimme ein, doch er ignorierte seine innerlichen Widersprüche konsequent. „Da ist die Grenze“, unterbrach plötzlich Linus den Gewissenskonflikt im Hause Berger und der VW Lupo zog an gespenstisch wirkenden Zollgebäuden zu ihrer Rechten vorbei. Eine Handvoll LKWs zierte den Grenzparkplatz, begleitet von zwei mürrisch auftretenden Zollbeamten, die jedoch an den vorbeifahrenden PKWs keinerlei Interesse hatten. „Easy going. Keine Kontrollen“, posaunte Linus, der wie zu Beginn der Autobahn stur hinter Vitus‘ BMW hinterherfuhr. Sein Handy klingelte und er fasste es mit seiner rechten Hand, während er mit der Linken das Steuer hielt, um das Gerät seinem Beifahrer ans Ohr zu halten. „Geh ran, das ist Henning!“ „Hallo!?“, kam es aus Aarons Mund, der sich etwas überrumpelt vorkam. „Servus. Henning hier. Wo seid ihr gerade?“, rief eine raue Männerstimme, die für den Gruppenführer bestimmt war. „Gerade an der Grenze vorbei“, erwiderte Aaron kleinlaut, da er seinem Kollegen stets mit einer Mixtur aus Ehrfurcht und Respekt entgegentrat. Henning galt als unscheinbar und nett, jedoch konnte er, seinen Crewmitgliedern zur Folge, rasch explodieren. Kein Typ also, dem Man blöd kommen wollte. „Okay, super. Fahrt Vitus hinterher, nächste Ausfahrt raus und dann rechts die Landstraße entlang, circa zehn Kilometer. Wir warten an ´nem Parkplatz!“, beorderte der Capo forsch. Gesagt, getan. Nach wenigen Minuten verließen die Piranhas die tschechische Autobahn und folgten Hennings Anweisung via Landstraße. Die Sonne war mittlerweile in luftigen Höhen angekommen und belohnte den Tag mit ihren wundervollen, milden Strahlen, die sich ihren Weg durch das Dickicht aus Blätterbäumen und Tannen hindurch auf die Straße bahnten. An einem kleinen Rastplatz zu ihrer Rechten stand ein, ungefähr 1,90 m langer Hüne, der den Autokorso mit einem Armwinken heraus lotste.

Erneut schien Aarons Herz beinahe stillzustehen. Er hatte große Mühe, seine Aufregung zu verbergen, jedoch wollte er es sich nicht vor der Gruppe anmerken lassen. Mit breiter Brust stieg er aus und marschierte direkt auf Henning zu. „Servus Capo“, rief er ihm zu und sie schüttelten die Hände, wobei der Anführer der Piranhas lediglich mit dem Auge zwinkerte. Die Truppe versammelte sich zwischen den drei Autos zu einer gemeinsamen Raucherpause, während Henning, als Anführer auch Capo genannt, seine Ansprache begann: „Also Männer. Erstmal danke fürs Kommen. Das wird heute kein Spaziergang, Chaos ist keine Bummstruppe, die wir mal eben so weghauen, sondern eine international respektierte Gruppe. Ihr Anführer heißt Milan Blecha, mit dem ich auch den Kontakt hergestellt habe. Er kann deutsch und wir haben abgemacht, dass keiner aufputscht und keiner Elfmeter verteilt. Wir sind zehn, die sind zehn, egal was heute passiert. Wenn wir uns gegen Die stellen, haben wir den bundesweiten Respekt, denn wer vom Eishockey stellt sich schon den großen Fußballszenen? Also auf geht’s!“ Er klatschte in die, mit schwarzen Lederhandschuhen geschmückten Hände und bekam tosenden Applaus vom Rest der Piranhas. Aaron brüllte kräftig mit, die Angst, dass die Gegner sich mit Drogen zudröhnen oder übel nachtreten würden, im Fachjargon Elfmeter genannt, entwich, und es gelang ihm, tatsächlich etwas wie eine Euphorie zu entfachen und die extreme Anspannung fürs Erste zu beseitigen. Selbstbewusst trabte er zurück zum Auto, sie sollten noch ein kleines Stück landeinwärts fahren, um dort auf die Tschechen zu treffen. Linus klopfte ihm voller Vorfreude auf die Schulter und schoss vom Übermut getrieben, mit abwinkenden Gesten an dem verdutzten Vitus vorbei hinter Hennings Skoda Fabia. „Henning hat extra das Auto von ´nem Kumpel geliehen, tschechische Marke, damit wir noch weniger auffallen. Der Typ denkt echt an alles“, verkündete Linus, der nun ebenfalls der Euphorie verfallen war und sie bogen in einen kleinen, kiesigen Feldweg an der linken Straßenseite ein. Die Steinchen brachten den Volkswagen zum Wackeln und plötzlich überkam Aaron wieder die fürchterliche Anspannung, die er schon seit dem Morgengrauen mit sich führte. „Ich muss aufs Klo!“, stotterte er, während Linus nur grinste. „Sind gleich da, mach dir keinen Kopf. Ist alles normal!“

Sie erreichten eine Waldlichtung fernab von Verkehrswegen oder Fußgängern und parkten seitwärts am Ende des Feldweges. Henning stieg als Erster aus und leitete per Handzeichen zum Umziehen und Aufwärmen an. Aaron aber steuerte geradewegs in das Waldstück, um sich erneut zu erleichtern, obwohl er dies schon kurz zuvor am Rastplatz hinter sich gebracht hatte, doch vor Aufregung drückte die Blase unaufhörlich. Er atmete tief durch und drehte sich wieder zu seinen Leuten um. Neun Männer standen dort. Allesamt in kurzen Sporthosen und blauen T-Shirts mit der Aufschrift: „Klammstadt Piranhas“. „Klammstädter Hooligans“, schoss es durch Aarons Kopf. „Was ist bitte Klammstadt gegen die tschechische Hauptstadt Prag? Will er uns umbringen?“ Sein Blick richtete sich zu Henning, der sich ein Springseil geschnappt hatte und sich tiefenentspannt warmmachte. Wieder kribbelte es in Ammos Bauch. Er schüttelte sich kurz und gesellte sich dann zu Linus, der an seinem Auto anlehnte und sich die Knie dehnte. Die beiden Freunde nickten sich zu und Aaron imitierte die Übungen seines Kollegen. Er dachte an seine ersten Gespräche über den Acker, an seine inneren Zweifel, ob er überhaupt tauglich dafür war, nachdem ihm Anführer Henning noch im Training das Gegenteil attestiert hatte. Aaron neigte dazu, sich schnell zu verletzen und seine Fragilität schien dem Capo ein Dorn im Auge zu sein. Jedoch war es Linus, der sich für ihn eingesetzt hatte und Henning letztendlich weismachen konnte, dass Ammo im Adrenalinrausch gut austeilen könne. „Doch würden ihm seine wenigen Schulschlägereien oder Clubrangeleien, die in seiner Vita standen, genug Anhaltspunkte für ein Ackermatch liefern?“ Aaron verwarf die Gedanken wieder und bahnte sich seinen Weg zum Rudelführer, der gerade dabei war, seine Crew Member herzurufen.

Sie folgten ihm an dem Waldstück entlang, bis der Forst einen Knick nach links machte und eine große Lichtung offenbarte. Henning blieb abrupt stehen und mit ihm alle restlichen Piranhas. Eine saftige Waldlichtung breitete sich vor ihnen aus und begab sich in eine Senkung, in welcher sich nach und nach etwa sieben menschliche Köpfe bemerkbar machten. Dort standen sie. Die Chaos-Hooligans. Aaron durchzuckte es wie bei einem heftigen Stromschlag. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Das waren keine wilden Fußballfans, oder tschechische Drogenjunkies, wie er es vermutet hatte, sondern breitschultrige Kickboxer und durchtrainierte Athleten, die zum Erschrecken der Piranhas allesamt oberkörperfrei auf der Wiese standen. Nackte Haut, verziert mit unzähligen Nibelungen-Tattoos, steckte in den sieben Muay Thai-Hosen, die so kurz waren, dass man sie beinahe mit gewöhnlichen Boxershorts verwechseln konnte. Doch jeder Kampfsportler wusste, wie hilfreich solche Shorts für effektive Kicks waren. Just in dem Moment, als Henning das Zeichen zum Herunterlaufen gab, komplettierten die letzten drei fehlenden Tschechen die Chaos-Gruppe. Unter ihnen Anführer Milan Blecha, der nun am Horizont auftauchte. Auch ihn zierten reihenweise Tattoos, jedoch glänzte er mehr mit seiner fokussierten Ausstrahlung, als mit seinem massiven Körper. Eine klar definierte Kinnlinie prägte den markanten Gesichtszug des Mannes mit braunem Kurzhaar und Bart. Aarons Herz glich bei dem Anblick einer Achterbahn. Ein Wasserfall aus Angstschweiß schoss an seiner Stirn herunter und lief ihm eiskalt über den Rücken, auch seinen Kumpanen erging es ähnlich. Matthias, der gruppenälteste Piranha, ein glatzköpfiger Kleinwüchsiger Ende 30, blieb stehen und beugte sich nach vorne, die Hände an den Knien abstützend. Seine Beine schlotterten und Henning versuchte ihn zu beruhigen, doch er winkte ab. Matthias würde kneifen, das stand fest.

Aaron fragte sich, ob er nicht lieber sofort sterben könnte, anstatt nun zum Kampf anzutreten und erneut plagte ihn ein aggressiver Blasendruck. „Das Adrenalin kompensiert das“, flüsterte ihm Linus schulterklopfend zu, als würde er die gleichen Symptome wie er selbst spüren. Es herrschte Mucksmäuschenstille, als die Piranhas die Senkung erreichten, um den tschechischen Gleichgesinnten gegenüberzustehen. Matthias machte kehrt und ging zu den Autos zurück, er hatte seine Angst nicht eindämmen können. Mit enttäuschendem Blick widmete sich Henning dem Rest der Gruppe zu. „Das bedeutet Unterzahl. Wenn wir sagen, zehn gegen zehn und es selbst nicht auf diese Mannstärke bringen, ist das unser Problem“, verkündete Henning, dem nun selbst das Herz in der Hose stehenblieb. Er schnaufte tief durch und trat erneut hervor. Als Gruppenführer wollte er auf keinen Fall vor seinen Leuten Schwäche zeigen. Milan Blecha, der etwa 25 Meter entfernt im Kreis der Chaos-Gruppe stand, tat es ihm gleich und marschierte mit breiter Brust nach vorne. Die beiden Anführer gaben sich die Hand, flüsterten sich gegenseitig Respektbekundungen zu, dann trat jeder seinen Weg zur Gruppenformation an. „Der hat nicht mal mit der Wimper gezuckt“, tuschelte Aaron zu Linus, der zu seiner Linken verweilte. Mit dem Gesprächsversuch wollte Ammo nochmals seine Anspannung unterdrücken, auf keinen Fall konnte er jetzt kneifen, sie waren bereits ein Mann weniger. „Denk einfach ans Training“, antwortete Linus und streckte seinen linken Arm nach dem Mann vor ihm aus, um ihn an dessen Schulter zu drücken. Die Formationen glichen der Schildkröte von römischen Legionären, zwei Reihen mit den stabilsten Männern an der Front und den Kleinen, Flinken dahinter. Aaron war in diesem Moment froh, mit Henning Hofer eine Kante vor sich zu haben und er presste seine nassgeschwitzte, bandagierte Hand an den Rücken des Hünen. Auf der gegenüberliegenden Seite hatten sich die zehn Tschechen ebenfalls in zwei Reihen formiert, mit Milan Blecha an vorderster Stelle. Sein fokussierter Blick fühlte sich wie ein Messerstich an und Ammo schien es, als würde sein Kontrahent durch Henning hindurchsehen können. Vier Monate hatte Aaron auf diesen Moment gewartet. Und nun wünschte er sich nichts sehnlicher zurück, als sein warmes, kuscheliges Bett im Kellerzimmer, doch es war zu spät zum Umkehren. Die beiden Gruppierungen waren bereit. Neun Piranhas gegen zehn Chaoten, wie sich die Tschechen selbst nannten.

Ein lautes Händeklatschen ertönte und Milans Leute marschierten hervor. Ein wildes „Auf geht’s, Männer“, von Henning wurde von brachialen tschechischen Schlachtrufen übertönt und Ammos Herz katapultierte sich endgültig ans Limit. Er schnaufte wie eine Dampflock und folgte im Trab dem kleinen Pulk an erlebnisorientierten Männern. Die beiden Gruppen waren keine 15 Meter mehr voneinander entfernt. Dann explodierten die Schreie. Aaron wagte einen Blick nach links, wo Linus sich vollends nach vorne fokussiert hatte, während Vitus zum Sprungkick ansetzte. Eine plötzliche Stille trat ein. Männergeschrei. Das Geräusch von aufeinander einprasselnden Fäusten und Fußtritten erklang. Aarons Kopf schaltete ab, ein Adrenalinausstoß in der Fülle eines Acht-Liter-Bierfasses durchfloss seinen Körper, während er erneut einen Blick zur Seite erhaschte. Vitus war nach unten abgetaucht, um dem ersten Schlag des tschechischen Hooligan zu entgehen und versuchte einen MMA-artigen Take Down. Linus fegte über dessen Kopf hinweg einen Schwinger, der an der Stirn des Gegners abprallte und sofort einen blutigen Cut hinterließ. „Was für ein Treffer!“, dachte sich Aaron, der sich einer Mischung aus Zeitlupe und Zeitraffer zugleich ausgesetzt sah.

Es ging alles so schnell. Und doch so langsam. Henning hatte sich seinen Weg nach vorne mit einem Frontkick gebahnt, die von Milans Schlagfolge gekontert wurde und den Deutschen Hünen direkt zu Boden beförderte. Ein 1,80 m Typ hatte mal eben so den Anführer der Piranhas ausgeknockt. Ammo traute seinen Augen kaum und wollte ebenfalls zu einem Tritt ansetzen, jedoch rutschte er mit den Füßen auf dem zertretenen Rasen weg und sowohl er als auch Milan verfehlten dadurch ihr Ziel. Ein rascher Blick nach hinten, wieder konnte Aaron seinen Augen kaum trauen. Die gesamte Piranha-Crew lag bereits am Boden, Vitus hatte sich mit seinem misslungen Take Down selbst in eine missliche Lage gebracht, indem er im Gras gelandet war und auch die anderen Sieben hatten schnell schlechte Karten gegenüber den Tschechen. Adelsmann versuchte sich aufzuraffen und bekam noch im Liegen einen mächtigen Fußtreffer auf die rechte Wange. Knockout. Aaron wirbelte herum, sah, wie lediglich Henning aus der Männertraube an liegenden Kämpfern wieder zum Vorschein kam und er wollte ihm zu Hilfe eilen, da sich sofort vier aufbrausende Chaoten auf ihn stürzten. Zwei, drei, vier Fäuste trafen Hofer von allen Seiten, dann sank er zu Boden. Ammo fasste sich ein Herz und wagte einen letzten Vorstoß. Nach nicht einmal 20 Sekunden war außer ihm kein Piranha mehr auf den Beinen und auch er war nur durch Zufall dem direkten Knockout entkommen. Der Einzige, der nach der ersten Welle überhaupt nochmal zurückgeschlagen hatte, war Henning Hofer, der nun ebenfalls den Boden küsste. Aaron drehte sich um die eigene Achse, um sicherzustellen, dass kein fieser Tritt von hinten kam und dann stand er ihm gegenüber. Milan Blecha. Der Anführer der Tschechen, der keinen einzigen, wirkungsvollen Treffer abbekommen hatte und nun sollte Ammos Stunde schlagen. Der Prager stürmte nach vorne, setzte zum Kick an und blieb zu Aarons Überraschung mit dem Fuß an einer Wurzel hängen. „Das gibt es nicht. Was für ein Dusel!“, schoss es dem Deutschen durch den Kopf und in Windeseile platzierte er seinen rechten Fuß im Hüftbereich seines Kontrahenten, der das Gleichgewicht durch den Stolperer kaum halten konnte. Die Deckung zum Abwenden des Sturzes nach unten gesenkt, bot er Aaron tatsächlich eine freie Angriffsfläche an und eine Kombination aus Jab und Punch bearbeitete das Gesicht des Tschechen, der nun vollends zur Seite stürzte. Ammo konnte es nicht fassen. Er hatte gerade den berühmt-berüchtigten Hooliganchef Milan Blecha umgehauen. Doch die Freude währte nur kurz, denn innerhalb weniger Sekunden fing sich Aaron eine Ansammlung an Fäusten und Tritten am Hinterkopf und in der Magengrube, verabreicht von etwa vier Tschechen, die sich von hinten angenähert hatten, um ihrem Chef beizustehen. Ihm wurde schwarz vor Augen, leichte Übelkeit kam auf und Ammo klappte nach links zusammen, als wäre er ein Sack Kartoffeln. Dann gingen die Lichter aus. Der Kampf war vorbei.

2. HOHER BESUCH

Alles okay?“, fragte eine geheimnisvolle Stimme in Akzentdeutsch und eine dunkle Gestalt mit braunen Augen beugte sich über Aarons 1,75 m langen, ausgestreckten Körper, dessen Gesicht im Sud aus Gras und Erde zu versinken drohte. Er blinzelte mit den Augen, wischte sich den Dreck aus dem Gesicht und hielt sich den schmerzenden Hinterkopf, dann blickte er in Richtung der Stimme, die er vernommen hatte und eine kräftige, bandagierte Hand streckte sich ihm entgegen. „Guter Kampf “, erweiterte die Stimme die Konversation. Niemand geringeres als Milan Blecha stand vor ihm, der trotz seiner lediglich fünf Zentimeter größeren Statur, einen mächtigen Eindruck hinterließ. Es war, als würde den Tschechen, Ende 20, mit braunem Kurzhaar und Dreitagebart, ein Schein von Charisma umkreisen und voller Ehrfurcht erwiderte Ammo den Handschlag. „Bist der Erste, der es geschafft hat, mich umzuhauen“, lächelte der, zu Aarons Verwundern, unerwartet freundliche Hooligan, während er sich auf den blutigen Cut am linken Auge tippte, als würde er diesen voller Stolz präsentieren.

Der Deutsche rappelte sich auf, schaute ein wenig benommen durch die Gegend und nahm wahr, dass bereits alle 19 Teilnehmer des Ackermatches wieder auf den Beinen standen. „Gott sei Dank, keiner schwer verletzt“, dämmerte es ihm. Milan klopfte ihm auf die Schulter und lief zurück zu seinen Crew Membern, während Aaron seinen Hinterkopf nach einer Wunde absuchte. Fehlanzeige. Außer einer aufkommenden Beule spürte er nichts und auch seine Magengrube schien in Ordnung zu sein, lediglich ein leichtes Unwohlsein überkam den Studenten. Er torkelte zu den versammelten Piranhas, die sich allesamt zu einer Menschentraube zusammengeschlossen hatten, um die Bandagen abzulegen. Nach einem kurzen Gruppenfoto zur Erinnerung, das Matthias nach Anweisung Hennings schoss, traf Aarons Blick zuerst Linus, der ihn angrinste und eine Platzwunde an der Stirn verzeichnete. „War die scheiß Überzahl. Hab zwar einen erwischt, aber danach haben direkt Zwei auf mich eingekloppt“, rief er mit einem Hauch von Galgenhumor. Es folgte Vitus, dessen rechter Wangenknochen sichtlich angeschwollen war, weshalb er seine Hand an die Verletzung drückte, um sie womöglich ein wenig zu kaschieren. Neben Adelsmann erhob sich Henning, dessen Gesicht, außer einer aufgeplatzten Lippe, relativ ungeschoren davongekommen war und der Capo erwiderte den Austausch von Blicken mit Aaron durch ein zufriedenstellendes Nicken. Die Anerkennung Hennings erfüllte Aaron mit wohltuendem Stolz.

Rechts von ihm stand Matthias, der sich offensichtlich für seinen Rückzieher schämte und nichtssagend den Boden anstarrte. Ammo schnaufte tief durch, er hatte es tatsächlich geschafft. Sein erstes Ackermatch und er schien von größeren Verletzungen verschont geblieben zu sein. Er schaute auf die Senkung zurück, in der sich noch wenige Minuten zuvor die tätliche Auseinandersetzung abgespielt hatte, in der Hoffnung, nochmal einen respektvollen Blick mit Milan austauschen zu können, doch die Tschechen waren bereits in Richtung ihrer Autos verschwunden. „Also, Männer, ging doch!“, unterbrach Hennings donnergrollende Stimme die einkehrende Ruhe, die selbst die zwitschernden Vögel im Hintergrund zum Verstummen brachte. „Die Chaoten fahren jetzt noch nach Taunus, das ist die nächstgrößere Stadt hier, wir wollen gemeinsam was trinken, bevor wir aufbrechen, als Zeichen des gegenseitigen Respekts!“ Es folgten einige, wenige Zustimmungen per Händeklatschen, die Euphorie und das Adrenalin von vor dem Kampf war hingegen verflogen. Aaron spürte eine riesige Leere, weder ein Hunger,- noch ein Durstgefühl oder ein Harndrang widerfuhren ihm, während er wortlos den Zahnschutz ablegte, aus seinen vom Schweiß klebenden Sportklamotten schlüpfte und diese gegen seinen Casual-Style aus Jeans und Pullover eintauschte. Die ganze Aufregung, der pure Stress und der Rausch während des Kampfes wechselten sich nun mit einer beruhigenden Stille ab, die nach und nach in ein Gefühl der Zufriedenheit flossen. „Scheiße, war das geil“, platzte es plötzlich aus ihm heraus und er grinste sein Gegenüber Linus an, der gerade seine Tasche im Kofferraum verstaute. „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, entgegnete dieser lachend und öffnete die Fahrertür.

Zum ersten Mal konnte Ammo nachvollziehen, warum auch das Einstecken dazugehörte. Das Gefühl, nicht aus Zucker zu sein und wieder aufzustehen, erfüllte ihn mit Stolz. Nachdem alle bereit zum Abfahren waren, folgten sie dem blauen Skoda von Henning, der mittlerweile zum Beifahrer mutiert war und auch Vitus, der sich hinter Linus einreihte, wurde von Matthias als Fahrer ersetzt. Aarons Freund hingegen wurde stets von seinem Dickkopf begleitet, weshalb er trotz Anraten Hennings, auf einen Fahrerwechsel verzichtete, seine Platzwunde hatte er mit diversen Pflastern zugeklebt. Adelsmann, der von Hofers mitgeführter Kühlbox ein Pad entnommen hatte, drückte dieses während der Fahrt auf seine angeschwollene Backe. Er sah ein wenig verärgert aus, als würde er sich für den Treffer schämen. Die Piranhas verließen den sandigen Kiesweg und bogen nach rechts auf die Landstraße ab, von der sie gekommen waren. An dem Rastplatz stießen sie auf zwei schwarze Sprinter, die den Chaoten zuzuordnen waren und es bildete sich ein Autokorso, der sich erst wieder an einem Parkplatz in der tschechischen Kleinstadt Taunus auflöste. In einer örtlichen Spelunke, die sich gegenüber des Parkplatzes befand, verteilte sich der Pulk aus deutschen und tschechischen Hooligans auf mehrere Tische. Aaron setzte sich neben Milan Blecha, der ihm überraschend von seinem Platz zugewunken hatte. Ammos Brust schwoll in diesem Moment zu der eines Bodybuilders an, so stolz war er, den Respekt des Prager Anführers gewonnen zu haben. „Warst du schon mal schießen, du kannst sehr gut zielen?“, begann der Ackerkämpfer humorvoll das Gespräch, zwinkerte dabei mit dem lädierten Auge und versuchte sogleich, Aarons sichtbare Schüchternheit aufzulockern. „Ja, hier in Tschechien. Ich war mal auf einem Junggesellenabschied in Prag“, erwiderte er verdutzt und es entwickelte sich ein längeres Gespräch zwischen ihnen, in welchem sich herausstellte, dass sie beide ein Faible für Feuerwaffen besaßen. Wie er selbst, schien auch der Tscheche ein riesiges Fachwissen zu besitzen und Aaron erzählte dabei, dass er einst den Spitznamen Ammo erhalten hatte, was im Englischen für das Wort Ammunition, also Munition stand. Jeder in seinem Umkreis wusste, wie sehr er Waffen liebte. „Was machst du nächstes Wochenende?“, fragte ihn Milan mit erwartungsvollem Blick. „Nichts geplant. Hab Semesterferien!“, entgegnete der Deutsche, der sich dabei ärgerte, dass er nichts Spannenderes hatte vorweisen können. „Ich lade dich ein, nach Prag zu kommen. Dann gehen wir am Samstag auf den Schießstand und am Sonntag läufst du mit unserer Gruppe mit, wir haben da nochmal ein Match!“

Aaron musste schlucken. Er hatte sich nicht verhört. Milan Blecha, der berühmte Hooligan, lud ihn tatsächlich auf ein Match mit seiner Chaosbande ein. „Was für eine Ehre“, dachte sich Ammo und nahm die Einladung an, weshalb er mit dem Tschechen noch die Nummern austauschte. Nach dem Konsum einiger hopfenhaltiger Kaltgetränke verabschiedeten sich die zwei Gruppen respektvoll und verließen die Bar. Zuvor hatte Aaron noch einen tschechischen Gulasch verzehrt, nachdem er endlich wieder Hungergefühle verspürt hatte. Voller Gedanken döste er in Linus Wagen auf der Rückfahrt ein wenig vor sich hin, ehe sie nach zwei Toilettenpausen schließlich um 16 Uhr in Klammstadt ankamen. Die Piranhas trennten sich, wobei Vitus in Begleitung von Henning doch noch den Weg in die Notaufnahme einschlug, sie vermuteten einen Bruch an seiner Wange. „Wir sagen, es ist beim Training passiert!“, verkündete der Capo noch zum Abschied, um die restlichen Ultras nicht zu verunsichern. Da die Eishockey-Saison bereits abgeschlossen war und somit nichts mehr los war, steuerte Aaron geradewegs sein Zuhause an, nachdem Linus ihn dort abgesetzt hatte. Er öffnete die Haustür und zog sich wortlos in sein Kellerzimmer zurück, um schon bald einem tiefen Schlaf zu verfallen.

„Vitus hat einen Jochbeinbruch!“, stand in der WhatsApp-Nachricht, die auf Aarons Handy aufblinkte und diesen jäh aus dem Schlaff riss. „Kein Training diese Woche! Wir sehen uns am Freitag zum gemeinsamen Trunk“, tickerte Henning via Smartphone hinterher. „Scheiße“, dachte sich Aaron und konnte es kaum glauben, dass er ungeschoren davongekommen war, während sich ausgerechnet Vitus verletzt hatte. Im selben Moment blinkte eine weitere Nachricht auf. Unbekannte Nummer, ausländische Vorwahl. Milan Blecha meldete sich, wohl von seinem Smartphone. Wieder musste sich Aaron schütteln, um die Situation zu begreifen. Nicht etwa Henning oder Vitus, er selbst sollte nun der nächste, hohe Besuch bei der, in Prag beheimateten Hooligancrew sein. In einer Woche stand also eines der größten Ereignisse seines Lebens an. Er konnte es kaum erwarten.

Die folgenden Tage vergingen wie im Flug, trotz der ansonsten so unspektakulären Semesterferien, in denen Aaron sich befand. Plötzlich bekam er wieder Motivation in seiner alltäglichen Tristesse. Er holte sich das Go von Henning Hofer ab, um am Samstag alleine in Piranha-Kleidung gen Prag zu reisen. Er bekam allerhand Gratulationsnachrichten für sein erfolgreiches Match plus Einladung, obgleich der ein oder andere Crew Member ein wenig eifersüchtig zu sein schien. Wie schon am Wochenende zuvor konnte Ammo kaum ein Auge zudrücken und er zwang sich am Morgen des Reisetages hundemüde in eine schwarze Jeans, die von seinem gruppeninternen Piranha-Pullover ergänzt wurde. Seinen Eltern erzählte er wie so oft nur die halbe Wahrheit, indem er behauptete, mit den Ultras für ein Wochenende nach Prag zu fahren. Er pflegte ein kühles, distanziertes Verhältnis zu ihnen. Nach einem kräftigen Frühstück mit ausreichend Kaffee, die Sachen hatte er bereits am Vorabend gepackt, machte sich Aaron voller Vorfreude auf den Weg zum Klammstädter Bahnhof, begleitet von düsterem Nieselregen. Über Regensburg, wo er in den Eurocity umstieg, gelangte er in die tschechische Hauptstadt und schon beim Einfahren in den Durchgangsbahnhof pochte sein Herz in ähnlicher Hochfrequenz wie vor seinem ersten Ackermatch. Via WhatsApp hatte er sich mit Milan Blecha auf 15 Uhr verabredet, der Hooligan würde ihn am Bahnhof abholen. Als der Zug um kurz vor Drei endlich zum Stehen kam, schnaufte er nochmal tief durch, bevor er die Stufen der erhöhten Waggontür hinabstieg, um sich nach links zu orientieren. „Bei dem Taxistand, hat er gesagt“, redete Aaron zu sich selbst und plötzlich durchliefen ihn Horrorszenarien, dass Milan gar nicht kommen würde oder das Ganze nur eine Falle war, um sich für den Niederschlag zu rächen, schließlich war er der Erste, der es fertiggebracht hatte, den Tschechen zu Boden zu ringen.

Ammo schüttelte sich und verwarf die Gedanken wieder. Die Bahnhofshalle war voller Menschen unterschiedlichster Kulturen und ein Wirrwarr an Sprachen füllte das Gebäude, das so schien, als würde es jeden Moment vor lauter Vokabular zerplatzen. Aaron schob sich durch die Eingangstür hindurch und blickte sich um. „Kein Milan“, grübelte er und marschierte zur Hauptstraße vor. Ein plötzliches „Willkommen“ ließ ihn beinahe zusammenzucken. Es war Blecha. Der Tscheche mit dem braunen Kurzhaar lehnte lässig an einem matt lackierten Sportwagen, geziert von einer schwarzen Lederjacke und lächelte in seine Richtung. Der Cut an seinem Auge war schon nahezu vollständig verheilt. Ammo blieb kurz wie angewurzelt stehen, ein Gefühl von Ehrfurcht, aber auch Erleichterung durchfloss ihn. Dann schüttelte er die Hand des Chaoten-Anführers und bemerkte erst dann die blondhaarige Frau in dunkler Windbreaker-Jacke und sportlicher Figur neben ihm, die sich sofort um seine Tasche kümmerte und diese im Kofferraum verstaute. „Das ist Eliska, meine Frau“, machte Milan sie bekannt und die beiden gaben sich ebenfalls höflich die Hand. Aaron wusste in diesem Augenblick nicht, ob er stolz darauf sein konnte, dass Blecha ihm direkt seine Partnerin vorstellte. Da sich das Wetter im Vergleich zu Deutschland kaum gebessert hatte, hinterließ der Regenfall einen betrüblichen Eindruck über dem dunkel gekleidetem Paar. Nach kurzem Smalltalk über die Reise und etwaige Strapazen stiegen sie in den Wagen und begaben sich auf eine halbstündige Fahrt durch die Prager Innenstadt. In einer schmalen Straße, die zusätzlich von beidseitig parkenden Autos eingeengt wurde, hielten sie an. Aaron schulterte seine mitgeführte Sporttasche nach dem Öffnen des Kofferraums und folgte den Beiden in eine leerstehende Bar, über deren Eingangstür ein merkwürdiges Zeichen seine Blicke erhaschte. Zwei gekrümmte Pistolen kreuzten sich über einem Bierfass, worauf in bernsteinbraunen Lettern „G. N.“ geschrieben stand.

Das Trio steuerte den Tresen der unbeleuchteten Spelunke an und durchquerte eine Tür, die die blondhaarige Eliska zuvor aufgesperrt hatte. Eine knarzende Holztreppe führte nach oben und Aaron war froh, endlich Lichter wahrzunehmen. Noch immer grübelte er, wofür das GN stehen könnte und wieso die Kneipe an einem Samstagnachmittag nicht geöffnet hatte. „Vielleicht haben sie ja Ruhetag. Wobei das Quatsch ist, die ganze Laufkundschaft, die einem da entgeht“, dachte er sich und betrat einen hellen Wohnraum, der sich hinter einer zweiten Tür verborgen hatte. „Unsere Wohnung, hübsch, oder?“, fragte Eliska mit sanfter Stimme und lächelte ihren Gast mit einem freundlichen Blick ihrer dunkelbraunen Augen an. Die schlanke Tschechin mit schulterlangem Haar trug ein dezentes Make-up und war bildhübsch anzusehen. „Ja. Wirklich schön habt ihr’s hier“, beschwichtigte Aaron und verwarf seinen Gedankengang. „Prag ist eine meiner Lieblingsstädte“, fügte er hinzu, um nicht zu wirken, als hätte er kein Interesse an einem Gespräch. Nach weiteren kurzen Konversationen über Stadt und Land verstaute Ammo sein Gepäck in dem, für ihn vorgesehenen Schlafzimmer. Er nahm ein altes Bettgestell und ein Fenster mit Blick zum Innenhof wahr, schenkte dem Ganzen jedoch nicht weiter Beachtung. Endlich fühlte er sich angekommen und er holte ein paar Minuten inne.

Wieder im Wohnzimmer ankommend, nickte ihm Milan zu, dessen Frau sich in die Küche zurückgezogen hatte und drückte ihm eine Flasche Pils in die Hand. „Bereit, zu schießen?“, fragte er seinen neuen Bekannten und ihm war anzumerken, dass er sich Mühe gab, akzentfrei deutsch zu sprechen. „Allzeit bereit“, antwortete Aaron cool und folgte Blecha die Treppe hinunter. Seinen Pullover hatte er mit einer leichten Regenjacke ausgetauscht, darunter trug er das Hooligan-Shirt vom Ackermatch der vergangenen Woche. Sie durchquerten erneut die Bar, um zu Milans Wagen zu gelangen und diesmal stieg Ammo auf der Beifahrerseite ein. Erneut überkam ihn eine leichte Euphorie, er fühlte sich wie ein König, der bei einem fremden König zu Gast war. „Warum hat die Bar geschlossen?“, wollte Aaron wissen und drehte sich für einen kurzen Blick in Milans Richtung. Eigentlich hätte er viel lieber erfragt, wofür das GN stand, doch ihn überkam das Gefühl, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt gewesen wäre. „Slavia hat Heimspiel. Meine Frau macht nach Spielende auf, die Bar gehört uns“, entgegnete dieser mit kühler Stimme. Ammo schämte sich in dem Moment, der Grund zu sein, dass Blecha das Spiel seines Fußballvereines verpasste und er musste kurz schlucken. „Du fragst dich gerade, warum wir nicht dort waren, oder? Ich gehe nicht oft ins Stadion, unsere Kämpfe sind meist am Samstag. Aber Bohemians, unser Ackergegner von morgen, hat selbst ein Spiel, die können nur sonntags“. Aaron gab ein überraschtes „Ah okay“ von sich und versuchte sich an sein Fachwissen im Fußball zu erinnern. Bohemians Prag war der kleine Stadtrivale von Slavia, bei dem Erzfeind von Milans Verein handelte es sich allerdings um Sparta Prag. „Sind die Hools von Bohemians stark?“, rätselte er, während er den Verkehr der Millionenstadt begutachtete. Nach und nach schienen sie das Zentrum zu verlassen und es breiteten sich immer mehr alte Fabrikgebäude an den Straßenrändern aus. „Nicht der Rede wert. Ist schon die dritte Anfrage“, gab der Tscheche an, bog nach links ab und durchquerte ein sperriges Gittertor, das bereits geöffnet war. „Prague Armory“, stand in schwarzen Buchstaben auf einem Schild und die Szenerie hinterließ einen weitaus düstereren Eindruck als die Bar zuvor. Verlassene Gemäuer zerbröselten vor sich hin und den steinigen Boden zierten mehrere alte Bahnschienen. „Wir sind da. Die Runde geht aufs Haus, ich kenne alle Leute dort“, verkündete Milan zu Ammos Erstaunen, hatte er doch beim damaligen Junggesellenabschied satte 83 Euro für eine Stunde schießen bezahlt. Sein, sich anbahnender Kloß im Hals ließ lediglich ein fades „Danke“ zurück. Die Beiden verließen den Wagen, überschritten weitere Industriegleise und traten vor eine verschlossene Metalltür, die von Blecha nach einem leisen Surren aufgedrückt wurde, nachdem dieser an der kleinen Klingel daneben geläutet hatte.

Eine dunkle Treppe führte hinunter in eine Art Bunkeranlage, dumpfe Schussgeräusche förderten die trübe Atmosphäre. Aaron versuchte sich an den Moment von seiner ersten Schießerfahrung zurückzuerinnern, um die innere Anspannung zu verdrängen und sie öffneten eine weitere Stahltür, wieder nach einem kurzen Surren. „Das sieht fast so aus wie der Schießstand, wo ich beim letzten Mal war“, erwähnte Ammo und wandte sich an Milan. „Ja, davon gibt es hier ´ne Menge. Prag ist die Stadt der vielen Möglichkeiten“, erwiderte dieser und begrüßte zwei breitschultrige Männer, die in dem faden Licht zum Vorschein kamen. Aaron nickte den beiden Tschechen zu und imitierte Blechas Körperhaltung, der seine Arme locker an dem schwarz lackierten Empfangstresen aufstützte. Die Anlage war farblich dem Militärstil angepasst und ein Camouflage-Anstrich zierte die Wände, an den Decken hingen mehrere, zu Lampen umfunktionierte Handgranaten. Milan verlangte von dem Empfangspersonal mehrere Waffensets inklusive Gehörschutz, dann drehte er sich zu Ammo um: „Erklären muss ich dir nichts mehr, oder?“ „Nein. Alles gut. Mit welchen Waffen schießen wir denn?“, entgegnete er, in der Hoffnung, dass es sich nicht um dieselben Schießeisen wie damals handeln würde. „Lass dich überraschen, mein Freund. Und keine Smartphones da drin, du kannst dein Handy hierlassen!“, sagte Milan und klopfte ihm auf die Schulter. Aaron folgte der Anweisung sofort und hinterlegte sein Mobiltelefon am Tresen.

„Mir nach!“, rief der Tscheche. Sie betraten eine weitere schwere Stahltür und ein großer Raum, der einer Bowling-Halle glich, kam zum Vorschein. Vier Bahnen, von Steinmauern getrennt, verteilten sich in der knapp 30 Meter langen Behausung. An den Enden hingen Metallziele, welche Personen darstellen sollten und zu ihrer Rechten schoss bereits Jemand, was die Geräusche von zuvor erklärte. Der Mann stoppte abrupt seine Schießübung, setzte sich Schutzbrille und Gehörschutz ab und gesellte sich zu dem Hooligan-Duo. „Das ist Mirko Bogdan. Ihm gehört der Laden“, erklärte Milan und die zwei begrüßten den, von der Größe her Blecha ähnelnden Mann mit dunklem Kraushaar und braunen Augen, wobei dieser leicht korpulenter und weniger sportlich daherkam. Aaron bedankte sich auf Englisch nochmals für die Einladung und den Preiserlass, dann bewegte er sich mit den Anderen zu der äußersten Bahn auf der linken Seite. Auf einem Holztisch verteilten sich mehrere Schusswaffen unterschiedlichster Kaliber und zu Ammos Freude befand sich keine identische Waffe vom letzten Mal darunter, also die erhoffte Abwechslung. „Skorpion, vz. 61, 7,65x17 mm Kaliber. Tschechische Eigenproduktion“, posaunte Blecha, der sich sogleich als Fachmann erwies und Aaron eine Maschinenpistole in die Hand drückte. „Reihenfeuerpistole, 10er und 20er Magazin“, gab er sachgemäß zurück und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Milan nickte sichtlich erstaunt, während Mirko ein Kompliment in seiner Landessprache aussprach, um es dann auf Englisch zu ergänzen. „Not bad, my friend“, lobte ihn der Besitzer des Schießstandes, der offensichtlich Ammos Fachsprache verstanden hatte. Er bat ihn, mit dem Schießen zu beginnen. Der Piranha setzte sich die Schutzgegenstände auf, holte tief Luft und fokussierte die Metallperson, über der ein Schild den 25-m-Abstand anzeigte. Per Knopfdruck gesellte sich eine Papierscheibe mit aufgemalter Punkteskala hinzu, die passend zu tödlichen Körperstellen die höheren Zahlen aufwies. Aaron betätigte den Hebel zum Öffnen des Magazins, um sicherzustellen, dass es geladen war und eine golden schimmernde Patrone bestätigte es ihm. Ein Adrenalinausstoß versetzte ihn in Spannung und er presste seine linke Hand fester an seine Rechte, die den Griff umklammerte. Es folgte ein kurzes Klicken zum Scharfmachen, dann berührte er den Abzug.

Zu seiner Verwunderung löste sich nur ein Schuss, dessen dumpfer Knall von einem kurzen Feuerstrahl begleitet wurde. „Semi-Auto. Ich Vollidiot“, schimpfte Aaron mit sich selbst und schüttelte den Kopf. Die beiden Tschechen begutachteten seinen Schießvorgang aus drei Metern Entfernung armeverschränkend und hatten ursprünglich vollautomatisches Schießen erwartet. Ammo betätigte den Hebel zum Umstellen auf Vollautomatik, dann visierte er erneut die Zielscheibe an. „Ratatatatat!“ In Windeseile leerte sich das 10-Schuss fassende Magazin und Aaron legte seine Schutzbrille ab, um etwaige Treffer besser erkennen zu können. „Good job!“, schallte es von hinten und Mirko Bogdan zeigte ihm einen Daumen hoch. Er ließ die Zielscheibe über einen Mechanismus bis zum Bahnbeginn heranfahren und notierte sich Ammos Punktzahl anhand der Papplöcher. Dann tauschte Aaron seinen Platz mit dem Hooligananführer, der nun ebenfalls zu schießen begann und ihn dabei mit einer satten 35 überpunktete. Aaron traute seinen Augen kaum. Mit seinen erzielten 25 Punkten hatte er sich schon zum Sieger erklärt, da er auch die Runde beim damaligen Junggesellenabschied gewonnen hatte, was ihm den Spitznamen Ammo eingebracht hatte. Doch der Tscheche überbot ihn beinahe um das Dreifache. Es folgten zwei weitere Runden mit einer Pistole und einem Sturmgewehr, doch die Verunsicherung stand Aaron ins Gesicht geschrieben. Ernüchternd unterlag er seinem Kontrahenten jeweils um mindestens 15 Punkte. „Probier‘ mal die hier“, rief Milan aufmunternd und öffnete einen Holster aus Glattholz, den Mirko in der Zwischenzeit auf den Munitionstisch gelegt hatte.

Eine silbern glänzende Waffe mit Stangenmagazin kam zum Vorschein, geschmückt mit einem kastanienbraunen Griff. Ammo rieb sich die Augen. Er konnte es nicht fassen. Eine Bauser C96, in der Schnellfeuervariante. „Wow, wo habt ihr die denn her?“, erkundigte sich der überraschte Deutsche. „Die ist ultraselten!“ „Geschenk eines Freundes. Ein Pfandleiher hat sie mir vermacht, bei meinem letzten Besuch in London“, antwortete Milan stolz, dessen Worte Aaron insgeheim anzweifelte. „Eine Bauser M712. Das ist unmöglich. Diese Waffe kriegt man nicht einfach so, vor allem nicht in so einem Top-Zustand. Und eigentlich ist vollautomatisches Schießen in Tschechien nicht erlaubt“, ging es ihm durch den Kopf, doch er unterdrückte sein stutziges Verhalten. Immer noch staunend, nahm er die Pistole entgegen und musterte sie haargenau, als würde er sie auf ihre Echtheit überprüfen. „Ist original. Sehr wertvoll“, fügte Blecha hinzu, dem Ammos detektivisches Vorgehen nun doch ein wenig merkwürdig vorkam. „Hab sie einschiffen lassen. Keine Lust auf Zollvorschriften und so. Schieß doch noch ´ne Runde damit“, meinte Milan und überreichte Aaron ein zweites Magazin, mit dem Verweis darauf, dass das andere ungeladen sei. Der Piranha tauschte die zwei Munitionshalter aus und begab sich zurück in seine Anfangsposition. „Ausgerechnet meine Lieblingswaffe, diesmal muss ich mich konzentrieren“, besann sich Aaron und machte die Waffe scharf. Das eingravierte GN im Holzgriff hatte er sofort entdeckt, jedoch hielt er es für klüger, Blecha nicht darauf anzusprechen. Dieses Mal schaltete er sofort auf Vollautomatik und fokussierte sich auf die Metallperson, die wieder von der zurückbeförderten Zielscheibe verdeckt wurde. Eine kurze Stille trat ein. Dann knallte es. In Hochgeschwindigkeit folgten Schüsse aufeinander, begleitet von grellen Feuerstößen, weshalb Aaron entscheidend geblendet wurde.

Die Feuerkraft und der starke Rückstoß überrumpelten ihn und mit einem heftigen Ruck stemmte es den Lauf der Pistole nach oben. Dutzende Kugeln verfingen sich in der staubigen Wand, übersäten diese mit Löchern und kleine Steinchen bröckelten herunter. „Scheiße, tut mir so leid, ehrlich!“, rief Ammo intuitiv und riss sich seinen Gehörschutz vom Kopf. Er war von der extremen Feuerrate der Waffe völlig perplex. Ein lachender Mirko und ein klatschender Milan beruhigten ihn jedoch rasch wieder, als er sich zu ihnen umdrehte. „Die Bauser ist wunderschön, aber sie ist ein Biest. Hat eine Kadenz von über 1000 Schuss pro Minute. Lassen wir’s gut sein für heute, es wäre unfair, wenn ich jetzt auch noch schieße“, verkündete der Anführer der Chaoten und Aaron stimmte ihm sichtlich erleichtert zu. Schließlich hatte er die Zielscheibe mit keiner einzigen Patrone getroffen, was eine weitere schmerzliche Niederlage im Schießduell bedeutet hätte. Am Empfangstresen angelangt, griff der Deutsche nach seinem Smartphone, das nach wie vor unberührt an derselben Stelle verharrt hatte. Während sich Milan mit den anderen Tschechen unterhielt, begab sich Ammo ein wenig in die Ecke und versendete eine umfangreiche Sprachnachricht an seinen Kumpel Linus, um ihm von seinem ereignisreichen Tag zu erzählen. Dabei erwähnte er auch die seltene Bauserpistole, mit der er so miserabel geschossen hatte und die beiden führten eine längere WhatsApp-Konversation, bis Blecha per Handzeichen den Aufbruch signalisierte. Mit einem Daumen hoch verabschiedete sich Aaron von den Schießstandbetreibern und folgte Milan die Treppen hinauf zum Ausgang. „Mirko und ich haben beide den Waffenschein D, deshalb dürfen wir Vieles legal schießen. Aber komm, gehen wir einen trinken, in unserer Bar“, verlautete der Prager und öffnete die Fahrertür. Ammo nickte nur kurz, gab ein leises „Okay“ von sich und befand sich alsbald in seinen, so häufig einkehrenden, Gedankengängen. Jetzt konnte er vielleicht endlich erfahren, was es mit den Initialen G. N. auf sich hatte. Voller Spannung und Aufregung begab er sich zu dem Beifahrersitz, schnallte sich an und sogleich verschwand der Sportwagen des Hooligan-Anführers im dichten Verkehrssumpf der Großstadt.

3. IM VISIER

Olivia King betrat ihr spärlich eingerichtetes Büro im zwölften Stock des Interpolgebäudes der englischen Hauptstadt London. Ihre langen blonden Haare hatte sie sich in Teilen zu einem Zopf zusammengebunden und nach hinten gesteckt, nur zwei Strähnchen zierten ihre Stirn. Darunter kamen ihre eisgrauen Augen und ein kalter Blick zum Vorschein. Die großgewachsene Frau Anfang 30 setzte sich an den Schreibtisch aus Kunstholz und schaltete ihren Laptop an. Sie wollte noch einmal die Akte ihres aktuellen Falles sowie deren digitale Speicherdaten durchforsten, bevor sie das Briefing der gesamten Ermittlergruppe anleiten sollte. Akribisch wischte sie an dem Touchdisplay des Gerätes einige Chatverläufe hoch, notierte sich die, ihrer Ansicht nach wichtigsten Stellen per Handynotiz, dann öffnete sie eine Schublade unter dem Bürotisch. Ein Aktenzeichen, verschiedene Nummern sowie zwei große Initialen schmückten das Deckblatt eines Dokumentes, das zum Vorschein kam und zahlreiche DinA4 Seiten in Blockform umfasste. G. N. stand darauf geschrieben. Energisch steckte sich Olivia die Unterlagen unter den rechten Arm, während sie mit ihrer linken Hand die Standby-Taste des Laptops betätigte.

Die Agentin schloss das Büro hinter sich ab und marschierte entschlossen den schmalen Gang des Gebäudes entlang, bis sich zu ihrer Linken eine doppelte Glastür offenbarte. Dahinter verbarg sich ein breiter, heller Raum mit unzähligen Monitoren, einem Whiteboard, mehreren Schreibtischplätzen sowie einer großen Leinwand, die von einem, an der Wand hängenden Beamer, per Lichtstrahl anvisiert wurde. „Herhören!“, schallte es in den Raum, dessen Schreibtischplätze nun von mehreren Personen besetzt waren, die augenblicklich verstummten. Olivia startete ihre Ansprache, sie galt als harter Hund bei Ermittlungen: „Folgender Vorfall hat sich ereignet. Ein Waffensammler aus Deutschland wurde vergangenen Monat auf dem Weg zum English Auction House in Leeds überfallen und dabei schwer verletzt. Ihm wurde eine seltene Bauser C96 in der Schnellfeuervariante entwendet, weshalb wir einen Waffenhändlerring hinter dem Raub vermuten. Also hat man sämtliche Auktionshäuser, Armeeshops und Pfandleihhäuser der Gegend überwacht, falls die Pistole dort auftaucht und siehe da, dieser Clip wurde uns von Scotland Yard bereitgestellt“. Mit einem Raunen bestaunten die anwesenden Agenten des Briefings die nun ausgestrahlte Videosequenz einer Überwachungskamera auf der Leinwand. Sie zeigte zwei Gestalten in einem Raum, jeweils mit Kopfbedeckung, die einen schimmernden Gegenstand, sowie einige Worte hinter einem Tresen austauschten. Olivia King kommentierte den abgespielten Film: „Unser Verdächtiger erhält in einem Pfandleihhaus hier in London eine Bauser M712 Reihenfeuerpistole, mit nachträglich eingravierten Buchstaben, es besteht kein Zweifel daran, dass es sich um die gesuchte Waffe handelt. Funktionsfähige Einzelstücke sind auf dem Markt kaum unter 25000 Pfund zu erwerben. Vollkommen ausgeschlossen, dass unser Suspect sie einfach so umsonst erworben hat. Dafür spricht auch das personalisierte Branding GN, das verdeckten Ermittlern zufolge extra für unseren Verdächtigen eingraviert wurde, nach dem Überfall. Wohl, um es zu vertuschen, vielleicht hat dies aber auch andere Hintergründe“.

Auf der Leinwand erschien in diesem Moment ein Videoframe der Schnellfeuerwaffe, wie sie gerade einer Person vor dem Tresen überreicht wurde, aufgenommen von der Überwachungskamera des Pfandleihauses. Am hölzernen Griff der Waffe konnte man unscharf die Initialen G und N erkennen. „Wofür es steht, wissen wir noch nicht, aber hier geht es um mehr als nur einen einfachen Raub oder Körperverletzungsdelikt“, berichtete King weiter. „Hier geht es um internationalen Waffenhandel. Via Gesichtserkennung konnten wir die Identitäten der Beiden trotz Kopfbedeckung feststellen. Der Pfandleiher heißt Benjamin Miles und steht unter dringendem Tatverdacht, am Überfall auf den Sammler beteiligt gewesen zu sein, jedoch will Scotland Yard mit einer Verhaftung noch abwarten“. „Aber dieser Benjamin Miles erhält die Waffe ja nicht, er überreicht sie Jemandem! Das ergibt keinen Sinn und wieso hat er seine Kameras währenddessen nicht abgeschaltet?“, warf ein Agent in den Raum, King antwortete sofort: „Deshalb liegt der Tatverdacht beim Pfandleiher. Er muss die Waffe schon besessen haben, sämtliche Kameraaufzeichnungen der vergangenen Wochen, in denen kein verdächtiges Treffen stattfand, bestätigen dies. Solche Pfandhäuser sind verpflichtet, Kameras zu installieren, aufgrund des Waffenschutzgesetzes. Aber interessanter ist der Mann, der die Pistole entgegennimmt. Unser Suspect. Ich vermute mit dem überreichten Geschenk eine Art Anzahlung dahinter, für eine größere Sache. Die Kollegen von Scotland Yard konnten dessen Handyüberwachung jetzt endlich bei den tschechischen Behörden durchsetzen.

Also, was haben wir bisher?“, warf Olivia fragend in den Raum. Die zögerliche Hand eines Agenten meldete sich, begleitet von einer schüchternen Stimme: „Milan Blecha, 28 Jahre alt. Braunes Kurzhaar, Bart. Wohnhaft in Prag. Verheiratet mit Eliska Blecha, ehemals Cerny, 29 Jahre alt und blond. Ihr Gatte ist der Anführer einer tschechischen Hooligangruppierung namens Chaos!“ „Unwichtig!“, gab Via barsch zurück. „Also das mit der Hooligangruppe. Das ist Aufgabe unserer Kollegen in Prag. Da kriegen die ihn maximal wegen Landfriedensbruch dran, falls man ihm das überhaupt nachweisen könnte. Wichtiger wäre der genaue Wohnort, den er leider nicht in seinen WhatsApp-Nachrichten verrät“, fügte die Frau mit den eisgrauen Augen hinzu. „Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass er ein Apartment in Zentrumnähe hat! Aber die, auf seinem Ausweis angegebene Adresse stimmt damit nicht überein“, rief ein weiterer Agent herein. „Zu unpräzise!“, hakte Olivia den Satz ab. „Haben wir Verbindungen?“, wollte sie stattdessen wissen. „Es gibt eine Schwester, namens Alexa. Aber er scheint keine Beziehung zu ihr zu haben, sie steht nicht mal in seiner Kontaktliste. Ansonsten wäre da noch Mirko Bogdan. 33 Jahre alt. Braunes Kraushaar, korpulent, ansonsten ähnliche Statur wie Milan Blecha, einer seiner engsten Vertrauten. Betreibt laut offiziellen Angaben der Stadt einen Schießstand im Industriegebiet, den er mit Blecha teilt.“, erläuterte eine Agentin von den hinteren Plätzen. King nickte kurz, hatte jedoch erneut etwas einzuwenden: „Da ist nichts dran, der Stand ist offiziell angemeldet, mit dem Namen „Prague Armory“. Solche Schießstände gibt es zuhauf in der Stadt. Außerdem wissen wir nicht, ob die Waffe nach Tschechien geschmuggelt wurde, die Kollegen vom Flughafenzoll haben keinen Hinweis darauf erhalten.

Noch etwas?“, fragte Via und blickte erwartungsvoll in den, von Interpolagenten gefüllten Raum. „Aaron KP, Alter und Herkunft unbekannt. Wurde von Milan Blecha vor einer Woche als neuer Handykontakt unter genau diesem Namen eingespeichert. Wir haben deren Konversation ein wenig weiterverfolgt“, verkündete der Agent, der sich bereits zuvor schon als Erster gemeldet hatte. „Und weiter?“, sprach Olivia forsch. „Sie haben sich offensichtlich am heutigen Samstagnachmittag getroffen, bei der zuletzt gesendeten Nachricht hieß es: „15:00. Praha hlavní nádrazí“, mit einem Taxi-Emoji“. „Das ist der Prager Hauptbahnhof! Dann ist dieser Aaron mit dem Fernzug angereist. Aber von wo? Finden sie heraus, welche Züge um ca. 15 Uhr dort angekommen sind, wie der richtige Name seines Kontaktmannes lautet und wofür das KP steht. Kontaktieren sie, wenn nötig, die internationalen Kollegen.“, kommandierte die Frau, während sie eine Kurznotiz verfasste. „Da ist noch mehr!“, berichtete erneut der Mann von Interpol. „Blecha hat noch jemanden mit denselben Initialen eingespeichert. Einen gewissen Henning KP“. „Reden sie weiter, da könnte was dran sein!“, forderte Via ihn auf. „Nun gut. Der Chatverlauf enthält kaum Nachrichten, ein paar Begrüßungen hin und her und lediglich ein zensiertes Bild. Interessant ist jedoch die deutsche Unterschrift: „Gutes Ding heute!!“ Datiert auf den 24. März“. „Das Bild auf die Leinwand, sofort! Blecha kann deutsch, das ist bekannt“, befahl King mit energischer Stimme, sie schien ganz in ihrem Ermittlungsfilm zu sein. Ein horizontales Handyfoto füllte die Leinwand und präsentierte 19, vor einer Waldlichtung stehenden Männer, teils oberkörperfrei, teils in blauen T-Shirts, mit verpixelten Gesichtern. Im Hintergrund konnte man mehrere Baumwipfel erkennen und ein blauer Himmel zierte die obere Bildhälfte.

Olivia schaltete blitzschnell und ergriff einen Zeigestab, mit dem sie intuitiv auf eines der T-Shirts mit Schriftzug zeigte. „Klammstadt Piranhas. KP. Dafür stehen die Initialen. Es ist eine Hooligangruppe, Klammstadt ist eine deutsche Ortschaft. Jetzt haben wir’s.“, posaunte sie in den Raum. Die Ansammlung an Agenten kommentierte ihre Erkenntnis mit tosendem Beifall. „Um 14:57 Uhr ist in Prag heute der Eurocity aus Regensburg angekommen, dort hätte man, wenn man von Klammstadt aus gekommen wäre, zusteigen können“, meldete sich ein Interpolmann. „Sehr gut. Das passt. Irgendwelche Einwände?“, erkundigte sich Olivia. „Der Hooligankampf war ja, laut der Message am 24. März, also genau am vergangenen Samstag. Und heute treffen sie sich wieder? Mit derselben Gruppe? Klingt merkwürdig“, teilte einer der Interpolmänner mit und erneut begann eine längere Diskussion, in der verschiedene Beiträge, gefüllt mit aufkommenden Gerüchten über die Verbindung Blechas zu den Piranhas ausgetauscht wurden. Anhand der WhatsApp-Profilbilder, trotz der, ebenfalls zensierten Gesichter, konnten die Ermittler sowohl Ammo als auch Henning jeweils einer Person auf dem Gruppenfoto zuordnen. „Sie verabreden sich zu einer Schlägerei, vermutlich in einem abgelegenen Waldgebiet und eine Woche später trifft Blecha diesen Aaron nochmal persönlich, in Prag. Da ging es aber sicher nicht um einen Rückkampf der Gruppen. Sonst hätte er diesem Henning bestimmt auch geschrieben. Da geht’s um was Anderes! Verfolgen sie das weiter, überwachen sie notfalls auch die Handynummern von den beiden Deutschen, die er eingespeichert hat. Ich will vollständige Namen und Adressen, aber fokussieren sie sich auf Blecha, er ist der Schlüssel zu der Verbindung hier nach London, die er im vergangenen Monat aufgebaut hat!“ Mit diesen Worten beendete Olivia King das offizielle Briefing der Ermittlungsgruppe GN am Samstagabend und stolzierte mitsamt der Akte zurück in ihr Büro.

Auf ein frühes Dienstende, das ihr nach Beendigung der Besprechung offiziell zustand, wollte sie verzichten und sich stattdessen noch einmal die Kontakte von Milans überwachtem Smartphone ansehen. Sie wusste, dass eine Abhörung der deutschen Rufnummern mit einer Menge Kontaktknüpfungen in Richtung Bundespolizei verbunden war, doch sie hatte ihre Arbeitskollegen bereits verbissen darauf angewiesen. Auf Milans Tastenhandy, wie es in Hooligankreisen üblich, verwendet wurde, hatten sie hingegen weder Zugriff, noch wussten sie überhaupt von der Existenz dieses Gerätes. Über das Netzwerk aller europäischer Ackerkämpfer entstand einst der Kontakt zwischen Henning Hofer und Milan Blecha, wobei Letzterer seinen deutschen Kollegen über jenes Tastenhandy angerufen hatte, um den Kampf auf tschechischem Boden auszumachen. Im Zuge dieses Telefonats hatten die Beiden auch ihre Smartphone-Nummern ausgetauscht, aus Sicherheitsgründen aber nur die Vornamen und Gruppeninitialen eingespeichert, so wie es auch die Piranha-Crew handhabte. Üblicherweise wurden Ackerkämpfe stets geheim via Tastenhandy vereinbart, der Austausch von zensiertem Bildmaterial und alltäglichem Smalltalk fand hingegen gewöhnlich über Smartphones statt. Da nun auch Ammo im Besitz von Milans Smartphone-Nummer war und sie bereits über WhatsApp kommuniziert hatten, gerieten alle drei Hooligans unwissend ins Visier der Fahnder rund um Olivia King, deren Hauptaugenmerk auf Blechas mysteriösen Verbindungen zum illegalem Waffenhandel lag.

4. SPARTA GREIFT AN

Der niederschlagsreiche Märzsamstag offenbarte seine letzten Regenergüsse und ein leichter Schauer ließ die Prager Innenstadt in eine nasskalte Festung eintauchen. Auf der berühmten Vrsovická-Straße bildete sich eine längere Ansammlung von Verkehrsmitteln jeglicher Art, in dessen Getümmel sich Milan per Stop-and-Go fortbewegte. In Schrittgeschwindigkeit gondelten die Insassen des Wagens am Fußballstadion Eden vorbei, in welchem noch kurz zuvor Blechas Lieblingsmannschaft Slavia Prag gespielt hatte, weshalb der Verkehr zusätzlich von den zahlreichen, heimfahrenden Fans beeinträchtigt wurde. „Paar meiner Jungs waren da. 2:0 gewonnen. Wir treffen uns nach den Heimspielen zum gemeinsamen Stammtisch, in meiner neuen Bar. Dann lernst du sie mal besser kennen!“, verkündete Milan, stets auf den schleppenden Verkehr konzentriert.

Aaron, dessen Gedanken ihn mal wieder in eine völlig andere Welt katapultierten, hatte Mühe, zuzuhören. Vielmehr war ihm nun aufgefallen, was für ein teures Auto sein Kollege eigentlich fuhr und er versuchte sich einen Reim darauf zu machen, wie Blecha dieses finanzieren konnte. „Ist das dann die Lagebesprechung für morgen, oder?“, antwortete er schmunzelnd und bemühte sich, mit seinem Denkinhalt zurück ins Diesseits zu gelangen. „Unter anderem“, lachte Milan und schaltete den rechten Blinker ein. Sie befanden sich nun an einer großen Kreuzung, unweit von der Wohnung des Ehepaares Blecha, weshalb sie steuerbords abbogen. „Meine Gruppe hat gestern Abend trainiert, mal schauen, ob Bohemians wirklich erscheint, wir haben Zwölf gegen Zwölf ausgemacht“, fügte er hinzu. Ammo wollte die Gunst der Stunde nutzen und seine Neugier in der gemeinsamen Konversation erleichtern, indem er klopfenden Herzens endlich die ständig aufkommende Frage stellte: „Klingt doch gut, das mit Morgen. Aber eine andere Sache. Wofür steht eigentlich das GN über eurem Pub, ist das die Abkürzung des Namens?“ Eine kurze Stille trat ein. „Wir haben sie The Grand Nation‘s Bar getauft, weil Tschechien den weltweit größten Bierkonsum hat. Passend dazu das abgebildete Fass als Logo. Meine Frau und ich haben die Bar erst kürzlich vom Vorbesitzer übernommen mit der gemeinsamen Wohnung. Auf meinem Ausweis steht noch die alte Adresse“, verkündete Milan zu Aarons Ernüchtern. Er hatte sich eine aufschlussreichere Antwort erwünscht, da er sich sicher war, dass sich hinter den Initialen GN noch mehr verbarg als nur der Name einer Bar, den Griff der Bauserpistole sprach er jedoch bewusst nicht an. „Und wird das mehr so eine Fankneipe? Ihr seid ja nicht weit weg vom Stadion?“, setzte Ammo das Gespräch fort, in der Hoffnung, noch mehr Insiderwissen zu erfahren. „Nicht direkt. Für meine Jungs von Chaos, ja. Aber es wird keine Sportsbar mit Liveübertragung oder dergleichen. Wir machen, wie gesagt, erst nach den Spielen auf und ansonsten nur unter der Woche abends“, quittierte Milan und bog in die Straße seines Apartments ein.