Amnesie - Monika Wolff - E-Book

Amnesie E-Book

Monika Wolff

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Beschreibung

AMNESIE ist der 1. Teil der dystopischen Trilogie im Datenseheruniversum: 2145, 60 Jahre nachdem der dritte Weltkrieg gegen die Maschinen zum Preis eines dauerhaft verdunkelten Himmels gewonnen wurde, ist Energie knapp, künstliche Intel-ligenz verboten und In4ma$ das einzige Unternehmen mit historischen Archiven. Um ihren Job bei In4ma$ zu sichern, nimmt Mira Nielsson den Auftrag an, Bild und Namensliste zu einem in der Zukunft liegenden Blutbad in Zusammenhang zu bringen und damit vor Eintreten aufzuklären. Ihre Ausbildung als Seherin macht sie zu einem von zwei möglichen Bearbeitern dieses Auftrags, sodass ihre Kontrolle über ihre Sensitivität von Tunnelströmen plötzlich mehr ist, als ein Mit-tel, um nicht negativ aufzufallen. Jedoch erst nachdem Mira unfreiwillig eine Erinnerung verliert, nimmst sie Hilfe von dem zweiten möglichen Kandidaten an und entwickelt mit seiner Hilfe ihre seherischen Fähigkeiten weiter, um das prophezeite Massaker zu verhindern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 367

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Titel

Amnesie

Datensehertrilogie Band 1

Monika Wolff

Impressum

© 2024 Monika Wolff

Erstmals veröffentlich © 2023 by Monika Wolff

Umschlag, Illustration: Hannes Mangelsdorf

Lektorat: Elisa Garret

Druck und Distribution im Auftrag von Monika Wolff

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

Paperback978-3-384-37161-4

e-Book978-3-384-37162-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Monika Wolff verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag Monika Wolffs, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Es beginnt mit Orange. Angst. Alles beginnt mit Angst.

Dann kommt Rot. Wut. Eine Welt der Extreme, die

dazu verdammt ist, in die Dunkelheit hinabzusteigen.

Lila. Einsamkeit. Stille ohne Frieden.

Blau. Ruhe. Tiefe. Erfahrung. Wissen.

Grün. Können. Ein Weg, den man mit Selbstsicherheit findet und mit Bestimmtheit geht.

Gelb. Kraft. Sich selbst verstärkend auf dem Weg zur Erleuchtung.

Weiß.

Prolog

„Wer hat Ihrem Kind das Wort supraneurale Celeritas beigebracht?“, fragte der Mann im weißen Kittel.

Er hielt die einzige Lichtquelle im Raum in seinen Händen. Trotz des Bildschirms, der einen matten Schein erzeugte, konnte ich seine Augenfarbe nicht erkennen. Blau oder grau?

„Kinder mögen alles mit super, nicht wahr?“, entgegnete die weibliche Leistungseinheit vor ihm, meine Mutter. Sie konnte seine Augenfarbe problemlos erkennen. Dafür sorgte ihr Chip.

Zähne strahlten gebleckt in der Dunkelheit. Ich spielte mit dem Ring meiner Halskette.

„Sie liest es aus den Köpfen der anderen“, antwortete die zweite Leistungseinheit, ihr Partner, mein Vater. Ihm erschienen die Zähne als Lächeln. Noch ein Trick dieser Chips.

„Denken Sie solche Worte?“

„Ich dachte …“, er schüttelte den Kopf, „Ich dachte, dafür ist dieser Superchip da.“

„Der ist definitiv in ihrem Interesse“, sagte der Kittelträger, „Und in Ihrem! Ihre Tochter hat ein erfolgreiches Leben vor sich.“

„Das hoffe ich doch, bei solchen Summen. Und das für eine Standard-OP“, bemerkte Mutter.

„Rosa“, Vater legte ihr eine Hand auf das Knie, senkte jedoch den Kopf, „Was … Wie viel … Womit müssen wir rechnen?“

Ihr Gegenüber tappte auf seinen Bildschirm. Immer schneller drehte ich den Ring zwischen meinen Fingern, ganz leise. Er sah eine große Null vor sich.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte er, blickte von seinem Bildschirm hoch und stand auf. 

Die beiden Leistungseinheiten betrachteten einander verwirrt. Mutter setzte an: „Was soll das heißen? Uns wurde erklärt, dass nicht jeder Chirurg … diese OP ist gefährlich, oder?“

„Ihre Tochter hat ein enormes Talent, Frau Nielsson. Es ist nur ungewöhnlich schnell aufgetreten. Mit dem richtigen Chip wird nach dieser Operation alles leichter, versprochen.“

„Wie hoch ist die Summe genau?“, fragte sie weiter, „Wir können nicht …“

„Akzeptieren Sie die Summe einfach als bezahlt“, unterbrach er sie forsch. 

„Wie bitte?“, fragte Vater, „Woher kommt das Geld?“

Von einem jungen Mann, den er vor langer Zeit operiert hatte. Mehr verrieten die Gedanken des Mannes im Kittel nicht.

Mutter lehnte sich zu Vater: „Die OP ist das Richtige. Überleg doch mal, wir können froh sein.“

Bevor weitere Fragen ertönten, äußerte der Chirurg: „Wenn Sie mich nun meiner Arbeit nachgehen lassen.“

Die beiden erhoben sich und blickten in den Raum hinter sich. Nicht einmal mit Hilfe ihrer Chips konnten sie in dieser Dunkelheit etwas erkennen. Kurz darauf öffnete der Chirurg die Tür. Licht fiel aus dem Flur in den Raum. Mutter ging voran und zog Vater hinaus.

Fest schloss der Chirurg die Tür, legte den Bildschirm aus der Hand und kam zur anderen Seite gelaufen. Ohne dass sein Kittel beleuchtet wurde, war es noch dunkler im Raum. 

Anders als ich erkannte er wenigstens Schemen in dieser Dunkelheit. Anders als bei den zwei Leistungseinheiten ergänzte sein Chip die Konturen um einen Grundriss. Zielsicher drückte er verschiedene Knöpfe. Die Maschine unter mir begann zu vibrieren.

„Kannst du dich an unseren gemeinsamen Freund erinnern?“, fragte er mich. 

Seit unserer Ankunft hatte er mich nicht angesprochen. Musste er mit jemandem reden und ich war als Einzige über? Vielleicht genügte es, wenn ich den Kopf schüttelte.

„Nicht wackeln“, ermahnte er mich sofort. 

Mich traf etwas an der Schläfe. Ich zuckte, trotz seiner Warnung. Es roch nach Alkohol. Durch seine Augen erkannte ich einen Wattebausch. Dann zog er eine kalte Spur über meinen Schädel. Als er fertig war, sah er mich immer noch an.

„Ich kenne keinen einzigen Ihrer Freunde“, antwortete ich schnell. Ich kannte überhaupt niemanden. Zumindest nicht vor dem Unfall. 

„Nicht schlimm“, sagte er, lächelte und drehte mich auf der Liege. „Irgendwann wirst du dich an ihn erinnern.“

Ihn? War Er gemeint? Er durfte mich nicht finden!

Plötzlich lag eine Maske auf meinem Gesicht. Ich hielt die Luft an. Hatte Er das hier arrangiert? Ich durfte auf keinen Fall das Bewusstsein verlieren. 

Der Chirurg drückte mich zurück auf die Liege. Seine Hand half mir bei der Verbindung. Genaue Gedanken waren schwer zu erraten, aber Ihn würde ich sicher erkennen. Doch die Aufmerksamkeit des Chirurgen galt wieder ganz seiner Vorbereitung. 

Es konnte nicht Er gemeint sein. Er war nie eine Nebensache. Gut. Ich atmete ein. Bereit für die Narkose. Bereit, alles selbst sehen zu können. Der Ring glitt mir aus den Fingern.

Beauftragung

30 Jahre später

„Es geht um die Zukunft“, erklärte Tristan Wehrig. Seine Stimme hallte zwischen den Wänden meines Büros. 

„Auftrag 4580. Welche Region?“, fragte ich.

Deswegen wendete man sich an In4ma$. Wir besaßen die Mittel und Fähigkeiten, an alle Informationen zu kommen. Weit über die letzten sechs Jahrzehnte hinaus und bis in die Hochrechnungen hinein, die zur Nährstoffproduktion dienten.

„Die Frage lautet nicht wo“, sagte Tristan in einem von der Decke hängenden Sessel neben mir, „Sondern wer, was und wann.“

„Unmöglich“, stieß ich aus und erstarrte direkt. Meine Augen auf ihn gerichtet, schluckte ich schwer. Einen zahlenden Auftraggeber lehnte man nicht einfach ab. Erst recht nicht, wenn der persönliche Neujahrsvorsatz darin bestand, den eigenen Job zu sichern. Und das am 2. Januar.

„Der Bob steht dir ausgezeichnet“, bemerkte Tristan, zog seine Mundwinkel hoch und strich mit einem Finger durch ein Blatt des Hologramms hinter uns. Die Graue Mauer benötigte die Information dringend, wenn ich hier eine zweite Chance erhielt.

„Wir machen keine derartigen Vorhersagen“, versuchte ich es noch einmal.

Für so etwas brauchte es künstliche Intelligenz. Ohne den Krieg selbst erlebt zu haben, wollte ich keine neuen KI-gesteuerten Mörderroboter riskieren.

Tristan lachte. Sein nach hinten gegeltes Haar verrutschte nicht einen einzigen Millimeter. Den Eindruck des schmierigen Lehrerlieblings hatten weder die Jahre seit unserer Schulzeit noch seine Ausbildung in der Mauer verändert. Er lächelte mich an: „Die Vorhersage haben wir.“

Mein Mund klappte auf.

Einen Moment lang fiel mir nichts ein. Ich drehte am Ring meines Fingers und sank tiefer in den Sessel zurück.

Es kitzelte mich, eine Grundsatzdiskussion anzufangen. Darauf hinzuweisen, dass die Beschäftigung mit einer Prophezeiung sie überhaupt erst Wirklichkeit werden ließ. Erst in unseren Köpfen und dann durch unser Handeln in der Realität. Doch einem ausführenden Arm der Mauer musste ich nicht mit einer Sinnfrage kommen.

„Woher?“, fragte ich und beobachtete ihn genau. 

Er streckte seinen Rücken fest durch, so weit, dass sein Sessel zurückschwang und der Knopf seines Anzugs spannte. Vielleicht war dies eine der ungeschriebenen Regeln bei Versicherungen: „Regel 37: Öffnen Sie den obersten Knopf Ihres Jacketts niemals beim ersten Gesprächstermin“ – oder so ähnlich.

„Die Informationen hat eins unserer Subunternehmen erzeugt. Eine Liste mit Namen und ein Bild.“

Wie war das möglich, ohne das weltweite Verbot gegen Künstliche Intelligenz zu brechen? Tristan schien es allerdings ernst zu meinen und kannte den Hintergrund so gut wie ich. Wir hatten einst dieselben Geschichtskurse besucht. Und er saß hier. Die Informationsschürfung musste konform des Gesetzes sein.

„Worin besteht der konkrete Auftrag?“, fragte ich jetzt. Versicherungsfälle waren wie Kaugummi: Der Geschmack verging schnell und kurze Zeit später wurde es zäh. Allerdings verhießen Aufträge Belohnungen. Und für mehr als das Hologramm eines blühenden Kirschblütenbaums, durfte ich nicht wählerisch sein.

„Eine Informationsanreicherung auf jeglichen Ebenen“, sein grauer Anzug raschelte, während er sich zum Rand des Sessels voranschob, „Im Fokus steht ein Gewaltverbrechen. Sichtbar, blutig und unter Sternenhimmel.“

Ein wolkenloser Himmel? Funkelnden Sternen entgegenblicken. Mit jedem Atemzug Freiheit spüren. Sich umdrehen und einander Geschichten aus der Formation der Sterne erzählen. Das hatte es seit dem Krieg nicht gegeben. Bloß jetzt?

„Das klingt nach einem Fall für die Polizei.“

Ich würde meine Karriere nicht aufs Spiel setzen, indem ich die einfachsten Grundregeln hinterging. Sollte sich doch die Mauer mit der Bürokratie unserer sogenannten Ordnungshüter herumschlagen.

„Das Verbrechen wurde noch nicht begangen“, Tristan rutschte zum äußersten Rand seines Sessels. Früher hätte er seine Brille zurechtgeruckelt. Wie lange war es her, dass er seine Sehschwäche korrigiert hatte? Oder die gewohnte Handbewegung zum Nasenrücken? 

Langsam, aber stetig drehte ich den Ring um meinen Finger. Dass Tristan hier saß, ergab immer mehr Sinn. Einen Anruf hätte ich schnell beendet. Allein der Verdacht auf eine KI konnte ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen.

Der Mauer war es ernst. Die Energie, Tristan durch die halbe Stadt zu schicken. Die Versuche, das Gespräch am Laufen zu halten. Doch Tristan hatte noch nicht alles gesagt, was es zu diesem Auftrag zu wissen gab. Eine typische Taktik.

Mein Blick glitt zum Fenster hinaus. Die Mauer war undurchsichtig wie die ewige Wolkendecke um den Planeten. Nichts wodurch Sterne sichtbar waren, sondern verdächtig dunkel. Verdammt, wie spät war es? 17:53 Uhr leuchtete es in meinem Blickfeld. Komisch, wie die Überlagerung mir nur dann auffiel, wenn ich mich danach fragte.

Tristan legte seine Hände glatt auf die Knie: „Um diesen Fall zu lösen, braucht es eine Person, die sich sowohl mit der Interpretation komplexer Daten als auch mit Visionen auskennt. Du bist die Einzige, die beides anbietet.“

Mir wurde schwindelig. Hatte ihn etwa ein Seher geschickt? Nein, das Thema war zu ernst für einen blöden Streich. Trotzdem, dieses Wissen war nicht allgemein zugänglich. 

In der Schulzeit hatte ich oft gefehlt, das wusste Tristan durchaus. Aber Krankenhausbesuche und Einzelunterricht konnten alles Mögliche heißen. Und ich hatte nie gerne oder viel davon erzählt. Mein Arbeitgeber wusste natürlich von meinem Hochleistungschip und der dazugehörigen Seherausbildung. Als größter Informationshandelsplatz wusste hier auch jeder, wie man etwas für sich behielt.

Ich seufzte. Warum musste sich ausgerechnet die Mauer auf ein Thema wie Vorhersagen stürzen? Anfragen zum Wetter verstand ich bei einer Versicherung, Mord nicht. Wer investierte derartig in einen Einzelfall? Und warum heute? 

„Wer steht auf der Liste?“, fragte ich zögernd.

Tristan schaute mich an. Ein guter Blick. Nicht zu aufdringlich oder persönlich, aber scheinbar auf den Augenblick konzentriert. Dann schüttelte er den Kopf. 

„Das ist nicht unsere Frage“, er sagte unsere, als wäre er völlig im Kollektiv aufgegangen. Dann stand er auf, „Du warst unsere letzte Hoffnung.“

Tristans Kommentar verriet mir nur wenig, mit Sicherheit allerdings, dass eine Bearbeitung wertvoll war. Das konnte mein Ticket in eine sichere Zukunft sein. Unbefristete Arbeit, gut bezahlt, systemrelevant. Ich hob meine Hand. 

„Es gibt einen Ort und eine Liste aller Beteiligter, bloß keine Information darüber, was eigentlich geschieht“, ich atmete einmal tief durch, „Was ist das Informationsziel?“

Er schaute zu mir herab und erwiderte langsam: „Volle Transparenz, bevor es eintritt.“

Das war erstaunlich durchdacht. Jedenfalls besser als der Wunsch nach Vorbeugen oder Vereiteln. Entscheidungen wurden in der Gegenwart getroffen. Begriffe wie Glück oder Pech dienten einzig dem Entzug vor Verantwortung. 

Doch wenn ich die Gewichtigkeit dieses Auftrags richtig einschätzte, war die Zielformulierung zu unkonkret. Ich musterte Tristan schweigend. Sein Lächeln erstarrte. 

„Mit Risikoklassifizierung, sind eine plausible Ablaufbeschreibung und die Identifikation des Täters hinreichend.“

Das … war erreichbar. Wenn ich mich geschickt anstellte, könnte ich der Mauer sogar einen Denkzettel verpassen, was Vorhersagen anging. Wahrscheinlich bräuchte ich nicht mal meine seherischen Fähigkeiten einsetzen, zumindest nicht direkt. Doch ohne Zustimmung konnte ich keine Risikoklassifizierung annehmen. Ein Grund mehr, eine feste Position zu erreichen.

„Unter Vorbehalt“, sagte ich und stand neben ihm auf. Jemand wollte diesen Auftrag unbedingt, sonst hätte Tristan keinen Termin bekommen.

Er lachte, als hätte einer von uns einen Witz gemacht. Ich konnte nicht einstimmen. Eine blöde Risikoklassifizierung und ich konnte nicht mehr selbstständig arbeiten.

Er reichte mir seine Hand, wenigstens etwas. Während er meinen Fingerabdruck scannte, gönnte ich mir einen Blick in sein Inneres. 

Wie immer war der Gedankenstrom eines anderen Menschen im ersten Moment überwältigend. Sein Chip ermöglichte mir eine Interpretation, aber Gedanken waren divers und bedurften einer individuellen Analyse. Ich legte das Bild seines Stroms für später ab, vielleicht würde sich darin direkt eine Lösung finden. Menschen besaßen oft alle nötigen Informationen und brauchten nur jemanden, um sie zusammenzusetzen.

Als er meine Hand wieder losließ, zuckte er kurz. Er schaute mich an, schaute mir zum ersten Mal heute wirklich ins Gesicht, ohne etwas zu sagen.

Er ging zur Tür, die sich leise für ihn aufschob.

„Vertrag, Informationen und Termine laufen über die üblichen Kanäle“, sagte ich zu seinem Rücken. Ich berührte meinen Ring und ertastete dessen Fehlstelle.

Tristan drehte sich um, sein Gesichtsausdruck war wieder neutral: „Ich kann veranlassen, dass ein anderer Vertreter die Akte übernimmt.“

Natürlich war er im Zuge seiner Ausbildung ein besserer Beobachter geworden. Die Mauer bestand ausschließlich aus guten Beobachtern. Allerdings besaß er auch einen blinden Fleck, denn offenbar hatte er nichts von mir in seinem Kopf bemerkt. 

„Warum solltest du? Wenn wir erwischt wurden, standst schließlich früher auch nie du vorne“, mit einem Lächeln wies ich auf die Tür. „Ich habe noch einen Termin.“

Tristan starrte mich an: „Das ist über zwanzig Jahre her“, er verdrehte die Augen, „Bis bald, Mira.“

Party

Wind zischte um die Ecke, als ich die letzten Stufen zur Bahnstation nahm. Die Röhre wirkte wie ein waagerechter Windkanal. Dann fuhr der Waggon schließlich ein.

Neben mir stiegen Einzelne zu. Es blieb genug Platz, um sich nicht gegenseitig in den Weg zu springen. Die andere Seite des Bahnsteigs, zum Aussteigen, war durchaus voller. An einem Samstagabend kein Wunder, die Linie fuhr einmal quer durch die Alte Stadt.

Im Waggon hatte jeder Passagier ein Polster zum Anlehnen. Trotz dieses Luxus war ich froh, meine Gedankengeschwindigkeit heruntergefahren zu haben. Das Letzte, was ich auf dem Weg zu Veronika brauchte, war den Gedanken anderer nachzuhängen.

Die Röhre war transparent, aber an vielen Stellen nicht mehr ganz durchsichtig. Die verwinkelten Reihen versetzt stehender Gebäude kannte ich von Fußmärschen. Die Innenstadt bestand aus einem Wolkenkratzergewirr unterschiedlichster Firmen. Je weiter draußen, umso mehr Wohntürmen reihten sich dazwischen ein. Ich konnte meinen nicht ausmachen, als wir an der richtigen Straße vorbeifuhren. Sie sahen alle ununterscheidbar gleich aus.

Flammen. In einem Flammenmeer untergehende Augen.

Was? Wo? Ein kurzer Rundumblick versicherte mir, dass kein Notfall bestand. Vielleicht außerhalb des Waggons, irgendwo neben der Röhrenbahn.

Grüne Augen. Immer noch inmitten von Flammen.

Die Bahn war nicht schnell, aber an egal welchem Notfall – wir wären inzwischen vorbei. Auch außerhalb der Röhre waren weder Flammen noch Qualm zu sehen.

An Bord dieses Waggons war jemand, dessen Gedanken so laut dröhnten, dass ich sie über mehrere Meter hinweg hören konnte. Was war hier los?

Keiner der Mitfahrenden verhielt sich auffällig, alle standen stumm in den Reihen. Ich drehte meine neuronale Geschwindigkeit hoch und schaute einen nach dem anderen eindringlich an.

Die Frau in meiner Reihe schaute in unsichtbare Ferne, ein Online-Rollenspiel vor ihrem inneren Auge. Die elektronische Übermittlung ließ sich leicht erkennen. Ein Mann, der einzige Passagier in der Reihe hinter mir, war ganz ausgeglichen. Seine Gedanken konnte ich nicht gleich im Detail ableiten, das schloss das Flammenmeer aus. Der Mann in der Reihe von mir … war wir ein blinder Fleck.

Das war ungewöhnlich, ließ sich jedoch mit einem fehlenden Chip erklären. Seine Kleidung wirkte gepflegt, seine Statur dünn. Zu dünn vielleicht. Ein weiteres Anzeichen für einen Ernährer.

Bevor ich diesem Verdacht weiter nachging, musterte ich die verbleibenden Passagiere in der vordersten Reihe. Ein typisches Paar. Sie teilten ihre Gedanken miteinander, einvernehmliche Abendplanung. Welche Route war zu wählen, wo ließ sich am günstigsten ein Nährstoffpaket mitnehmen. Unauffällig.

Blieb der Unlesbare. Waren es seine Gedanken, die so laut dröhnten? Ja, definitiv. Laut und schnell. Und, wenn er keinen Chip trug, ausgesprochen klar.

Die von Flammen umgebenen Augen ließen mich nicht los. Nicht nur, weil sie mir permanent entgegengeschleudert wurden. Das allein war mit meiner aktuellen Gedankengeschwindigkeit beeindruckend. Gleichzeitig fühlte es sich an, als sollten sie mich an etwas erinnern.

Der Mann stieß sich von der Lehne ab und wechselte zur linken Seite, der Ausstiegsbereich des Waggons. Meine Konzentration war gebrochen. Die kommende Station war richtig, wenn ich zu Veronika wollte. Draußen wäre es außerdem leichter, in seine direkte Nähe zu kommen und weitere Gedanken von ihm zu lesen.

Ich drängelte mich schnell an der Frau vorbei und stellte mich neben den Unlesbaren. In dem Moment verschwand die Röhre vor uns, ohne dass ich einen detaillierten Blick auf sein Spiegelbild erhaschen konnte.

Mit einem sanften Sprung verschwand er. Er ließ es leicht aussehen. Der Trick war auf dem Bahnsteig weiterzulaufen, erinnerte ich mich dunkel. Energietechnisch war es natürlich schlau. Die Waggons fuhren bei nahezu konstanter Geschwindigkeit. Aber wer hatte es für eine gute Idee befunden, alle Passagiere in und aus fahrenden Zügen springen zu lassen?

Mit einem großen Satz sprang ich nach draußen. Einige Schritte weiter wurde es kühl. Gefühlt kühler als vor der Fahrt. Völliger Quatsch bei der allumspannenden Wolkendecke, es herrschten immer vier Grad Celsius. Ich richtete meinen Mantelkragen und schaute mich um.

Der Mann verschwand gerade auf der Treppe nach unten. Er bewegte sich schnell, fror wahrscheinlich noch leichter als ich. Mit langen Schritten lief ich den Bahnsteig zurück und ihm hinterher.

Auf der Straßenebene eilte er unter der Glasröhre der Bahn der Ampel entgegen. Das Flackern der Leuchtreklame, als er mir die Sicht auf die QR-Codes nahm, machte es mir leicht, ihn zu finden. Um ihn einzuholen, musste ich joggen.

An der Ampel, immer noch viele Meter im Rückstand, wurde mir plötzlich ein Leuchtband in der Luft eingeblendet. Die Ampel vor mir war auf Rot gesprungen.

Ein Blick über die Kreuzung und ich sah einen Laster auf mich zukommen. Ich rannte weiter, es ertönte ein Warnsignal. Das ist nur in deinem Kopf. Ich hechtete zur anderen Seite.

Sobald ich die Fußwegmarkierung berührte, verschwanden Lichtershow und Hupkonzert. Der Lastwagen brauste hinter mir vorbei.

Die Straße vor mir kannte ich. Bisher konnte ich diese kleine Verfolgungseinlage damit rechtfertigen, dass ich den kürzesten Weg zu meinem Zielort einschlug. Man wusste ja nie, wer zuschaute.

Wo war der Unlesbare jetzt? Ich entdeckte ihn an der nächsten Ecke. Ihn wieder alleine gehen zu lassen war unmöglich. Moment! Wieder? Wie kam ich darauf? Blieb nur ein Weg, um das herauszufinden.

Trotz des Mund-Nase-Schutzes brannte die Luft in meiner Lunge. Er musste sowohl meine Schritte als auch meinen Atem hinter sich hören. Kurz bevor ich ihn erreichte, blieb er stehen. Ruhig, ohne ein Wort zu sagen.

Dann drehte er sich um und schaute mich an. Ich starrte in grüne Augen, seine grünen Augen. Die Maske über dem Rest des Gesichts betonte sie nur noch stärker. Ich konnte nicht anders und überwand die letzten zwei Meter.

Als sich meine Hand um seinen Arm schloss, wurde er real. Im selben Moment liefen mir Tränen über die Wange.

Verbrennen, Flammen. Rote Flammen rund um diese grünen, stechenden Augen. Das Atmen fiel mir schwer. Er blieb regungslos. Wer ließ sich vollheulen, wenn ihm die andere Person egal war? Niemand. Dann war das hoffentlich keine Einbildung. Ha. Einbildung, ein eigenartiges Wort für Bilder davon, wie jemand verbrannte.

„Was ist passiert?“, fragte ich und tupfte meine Tränen fort, bevor sie meine Maske erreichten und kälter machten.

„Gehen wir rein“, sagte er und ergriff meine Hand.

Einfach so. Sprachlos starrte ich auf unsere Hände. Aber es war fair, ich hatte ihn ebenso ungefragt berührt.

Er führte uns zum nächsten Hauseingang. Die Tür registrierte uns und öffnete sich. Offensichtlich waren wir willkommene Gäste.

Ein Blick durch den Flur und ich erkannte den Ort. Mit welcher Wahrscheinlichkeit waren wir zufällig beide auf dem Weg zu Veronika?

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich keine Gedankenströme von ihm auffing. Keine Flammen mehr oder Augen. Ruckartig ließ ich ihn los. Das war mir nicht geheuer.

„Ich wusste, ihr kommt noch!“, Veronika kam durch den langen Flur auf uns zu. Ihre Haare waren neu eingefärbt und strahlten uns hellrosa entgegen.

Mit einer Umarmung begrüßte sie mich. Der Duft von Lilien umgab sie. Dann löste sie sich von mir. Die flatterhaften, dünnen Lagen ihres Kleides hafteten noch an mir, während sie sich umdrehte.

Sie umarmte den Mann mit den grünen Augen weniger eng und ihre Hände blieben gegenseitig im Bereich der Oberarme. Eine Begrüßung für alte Freunde. Vielleicht kannte ich ihn und seine Augen aus ihren Erinnerungen. Und die Flammen?

Veronika drehte sich zurück und ihr Lächeln erfüllte ihr gesamtes Gesicht. Mit einer Handbewegung forderte sie uns auf, ihr zu folgen. Ich zog meine Maske und meinen Mantel aus. Durch den Flur vernahm ich Gelächter. Veronika zwinkerte mir zu.

Oh, nein. Warum tat sie das immer wieder? Ich mied Menschenmassen der Menschen wegen. Das änderte nichts an Veronikas Meinung, dass ich zu wenig soziale Kontakte pflegte. Normalerweise wäre ich jetzt wieder umgedreht, verschwendete Bahnfahrt hin oder her.

Von hinten hakte sich jemand bei mir ein, der Unlesbare. Meine Neugier gewann und ich ließ mich von ihm mit in den Wohnbereich ziehen.

„Danke“, flüsterte Veronika, als wir auf der Schwelle standen, „Mitarbeitende von Infourmas heben das Level einer Party an wie nichts anderes.“

Der Stoff ihres Kleides kitzelte meinen Arm. Ihre rosa Locken wippten, als sie in den Raum lief und rief: „Schaut mal alle, wer da ist!“

Schlagartig zog ich mich zurück und versuchte in den Schatten des Flures zu flüchten. Bis eben neben mir, stürzte sich mein Begleiter selbstsicher in die wogende Masse und wurde herzlich empfangen. Über die Schulter warf er mir ein Zwinkern zu. Dann verschwand er endgültig in der Menge und die Menschentraube zog weiter.

Die Party war glamourös, ganz ohne Zutun von In4ma$. Wie ein sanfter Sonnenstrahl tanzte Veronika von einer Gruppe zur nächsten. Bei wem sie nicht schnell genug war, der kam zu ihr.

Was mir wie eine Störung vorkommen würde, verwandelte sie in perfekte Gelegenheiten, deutete in Richtungen, spiegelte Gesichtsausdrücke und brachte alle um sich herum zum Lachen. Ohne ihre Worte direkt zu hören, spürte ich, wie sie Zuversicht und Optimismus versprühte. Wie kleine Geschenke, die sie auf die Reise schickte.

Das war die einzige Form, in der ich Gespräche von Erben längere Zeit aushielt: mit ausreichend Abstand. In der aktuellen Situation galt das im Besonderen. Ich wollte meine Gedankengeschwindigkeit hochhalten, ohne mehr Blödsinn von dieser Gesellschaftsschicht mitzubekommen, deren Energiebedarf für die nächsten Monate sicher gedeckt war.

Auf der Suche nach dem Unlesbaren schlich ich vorsichtig durch das Erdgeschoss. Um die Gruppe auf der Sofalandschaft machte ich einen Bogen und einer Gruppe in abgestimmt perlmuttfarbenen Kleidern konnte ich im Zickzackkurs ausweichen. Doch drei andere fingen mich am Durchgang zur Küche ab.

Für Personen, die aus Langeweile an drei Tagen in der Woche arbeiteten, war Konsum eine wertvolle Freizeitbeschäftigung. Und was ließ sich besser zur Schau tragen als Mode, Frisuren und Tanzschritte? Bei diesen Themen wollte ich mir keine schlagfertigen Antworten aus dem Kopf meines Gegenübers suchen.

„Was tragen Sie?“, fragte mich einer der drei, trotz meines gesenkten Blicks. Er hatte mindestens den halben Tag Zeit gehabt, sich aufzutakeln. Ich nicht.

„Pst“, ein anderer aus dem Trio stupste ihn in die Seite, „Sehen Sie nicht, dass dies eine Mitarbeiterin von Inquatrema ist?“

„Oh“, das Gesicht des Dritten leuchtete auf, als wäre ich eine Attraktion: „Können Sie uns etwas über die Verfügbarkeit neuer Trendfarben sagen?“

Ich hatte keine Ahnung von Trendfarben, Designern oder den neusten Ausstellungsräumen. Und zu erklären, dass es schlauer war, Kleidung anhand von Säureresistenz und Kälteschutz auszusuchen … nein, das war der Atem nicht wert.

Als uns eine Leistungseinheit, die ähnlich robust wie ich gekleidet war, aus der Küche entgegenkam, schüttelte ich den Kopf und schlüpfte hinein. Hoffentlich zog die Gruppe gleich weiter.

Der Raum war klein. Die Fliesen machten ihn kälter als die anderen Räume. Außerdem gab es hier nichts außer eines Mischautomatens. Er war auf Stimmungsaufheller und Hemmungssenker spezialisiert. Diese Zusätze zu den gewöhnlichen Nährstofflösungen waren unter Erben merkwürdigerweise verbreitet, doch galten offiziell als verpönt. Erben machten einen riesigen Wirbel, sich beim Konsum nicht erwischen zu lassen – oder, vielleicht gerade doch. Spielereien.

Da kam schon der nächste. Mein genialer Plan für etwas Ruhe hatte phänomenale zwanzig Sekunden lang funktioniert. Ich lehnte mich zum Automaten, als studierte ich die verschiedenen Optionen im Detail. Vielleicht ging er ja einfach wieder.

„Gelangweilt?“, fragte er.

Als ich mich zu ihm umdrehte, erkannte ich seine grünen Augen. Er grinste.

„Nik!“, rief Veronika von der Tür aus.

„O“, ergänzte er.

„Hattest du eine gute Reise? Und was für eine Nährlösung probierst du da gerade aus?“, fragte sie.

Trotz Veronikas eingehenden Musterung sagte Nico: „HibisQS. War ein Experiment.“

Er hatte einen Katheterzugang? Dann musste er einen Chip tragen. Warum konnte ich ihn dann nicht lesen?

„Und dir gefällt es auch heute?“, fragte sie an mich gewandt.

„Ja, ich wollte gerade …“, mein Blick landete erneut auf Nico. Was wollte ich noch mal sagen?

Veronika lachte: „Alles klar, dann lasse ich euch Zwei mal allein.“ Mit einer eleganten Drehung verschwand sie zurück im Salon.

„Wir müssen reden“, forderte Nico.

Ich schluckte schwer. Hatte ich heute schon meine Portion Wasser getrunken? Einerseits bereitete es mir Angst, dass ich ihn nicht lesen konnte. Andererseits gab es dafür mit Sicherheit eine gute Erklärung. Dafür war ich hiergeblieben.

„Ich kenne einen Rückzugsort“, sagte ich und ging aus der Küche.

Er folgte mir in den leeren Flur. Die Party beschränkte sich aufs Erdgeschoss. Links auf der Seite war etwas mehr Platz und ein Loch in der Geschossdecke, dort wartete ich. Wie bei der Eingangstür erkannte mich das Haus. Kurze Zeit später klappten die Stufen direkt aus der Wand.

Bevor ich die erste betrat, griff ich nach Nicos Hand. Ich hörte nicht einen seiner Gedanken. Das erleichterte unsere Nähe. Vielleicht griff ich fester zu, als für die Treppe notwendig. Gefühle von Anziehung, Nervosität oder Angst waren körperlich nicht different. Es gab keinen Grund, Angst zu haben, sagte ich mir – oder jeden.

Auf dem Flur im ersten Stock kannte ich eine einzige Tür. Veronika hatte mir ein Gästezimmer gezeigt, das ich stets nutzen durfte, wenn mir mein Talent zu viel wurde. Da ich ihre Menschenansammlungen normalerweise verpasste, betrat ich den Raum auf der linken Seite des Gangs zum zweiten Mal.

Die Luft war kalt und keinerlei Licht schaltete sich automatisch ein. Hatte die Energieknappheit inzwischen sogar die Erben erreicht? Immerhin reichte die Straßenbeleuchtung für einen gemütlichen Schimmer.

Leise fiel die Tür zu. Ruhe trat ein, das Gelächter von unten war ausgesperrt. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Schlafsofa. Ich setzte mich. Meine Hand fand erneut meinen Ring und drehte ihn wie üblich zur Fehlstelle.

Nico trat vor das Fenster. Sein graues Hemd war weit geschnitten. Der Nährbeutel hinten auf seinen Schulterblättern zeichnete sich dick und rund darunter ab.

Nach einem Moment drehte er sich zu mir um. Er hatte die obersten Knöpfe geöffnet. Sein Katheter trat als markante Wölbung in der Nähe seines Herzens hervor.

Mein Blick wanderte hoch zu seinem Gesicht. In dem Zwielicht wirkten seine Augen ebenfalls grau, wie das Hemd. Weiterhin hell und klar, aber nicht Grün.

„Siehst du mich?“, fragte er mit gedämpfter Stimme.

„Viel sehe ich nicht“, sagte ich. Wie sollte ich einem Fremden vertrauen? Allerdings schuldete ich ihm vielleicht eine Erklärung: „Normalerweise breche ich nicht vor attraktiven, fremden Männern in Tränen aus.“

Er grinste: „Fremd?“

„Nicht? Wer bist du? Was ist passiert?“, fragte ich. Warum konnte ich ihn nicht lesen, hatte aber dieses Flammenbild aufgefangen? Kopfschmerzen bahnten sich an. Wenn ich ihn nicht lesen konnte, sollte ich es nicht ständig probieren.

„Was wird passieren …“, entgegnete er.

Wovon redete er?

„Weshalb bist du mir hinterhergelaufen?“

„Ein Gedanke. Eine Erinnerung könnte man sagen. Unerwartet und laut“, ich wollte auf keinen Fall das Wort Verbrennen in den Mund nehmen.

„Was hat dich zum Weinen gebracht?“, seine Stimme hallte tief in mir nach. Wie sollte ich hier einen sinnvollen Gedanken fassen?

„Du“, ich leckte mir über zu trockene Lippen, „Deine Augen. Dein von Flammen umrahmtes Gesicht.“

Angst, Schuld, fügte ich innerlich hinzu.

Nico trat ans Sofa und setzte sich. Meine Haut kribbelte förmlich, obwohl noch reichlich Abstand zwischen uns lag.

„Du siehst mich sterben“, sagte er triumphierend, legte mir aber im nächsten Moment eine Hand auf den Arm. „Du gibst dir daran die Schuld.“

Das war nicht ganz richtig. Ich schüttelte den Kopf und antwortete: „Ich hätte dazu beitragen können, deinen Tod zu verhindern. Aber ich war zu spät. Weißt du, wovon ich spreche?“

Wusste ich, wovon ich sprach? Ich konnte doch nicht so tun, als wäre er tot, und ihn gleichzeitig danach fragen.

Er sah mich wehmütig an. Musterte mich, als würde er nach einem Erkennungszeichen in meinem Blick suchen. Verschlossen waren mir seine Gedanken noch immer.

„Du siehst diese Augen und spürst ein Echo starker Gefühle“, er schaute zur Seite, „Gefühle für den Zwilling dieses Körpers.“

Von wem sprach er? Hatte Veronika mal von einem Zwilling erzählt? In jedem Fall hieß das dann wohl, dass er seinen Bruder verloren hatte. Sollte ich ihm mein Beileid bekunden?

„Was ist passiert?“, fragte ich erneut.

Er rümpfte die Nase: „Es wird ein großes Experiment. Du fragst dich, warum du dich nicht erinnern kannst.“

In seiner Betonung lag keine Frage, trotzdem erwiderte ich ein Nicken. Wenn ein Bekannter von mir starb, erfuhr ich das als Erstes durch die Kanäle bei In4ma$. Von einer Verbrennung war mir nichts bekannt.

Mit erhobenem Kopf sagte ich: „Ich gebe viel …“

„… auf dein Erinnerungsvermögen?“, beendete er meinen Satz. „Das glaube ich. Aber nach allem, was ich weiß, solltest du dich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht an die Zukunft erinnern können.“

Das konnte er nicht ernst meinen.

Er legte mir seine zweite Hand an den Kopf. Der Kopfschmerz wurde nicht besser dadurch, aber die Wärme tat gut. Diese Art Nähe konnte ich sogar genießen. Dann spürte ich es. Er war in meinem Kopf. Sofort zuckte ich von seinen Händen weg.

„Pardon“, sagte er mit einem Lächeln, es wirkte aufrichtig, „Wie sieht es mit deinen Träumen aus?“

„Was sollte damit sein?“, fragte ich.

Wie hatte er es in meinen Kopf geschafft? Ich hatte noch nie einen schnelleren Seher als mich selbst getroffen. Und seine neuronale Geschwindigkeit musste signifikant höher sein, wenn er derart mit mir umspringen konnte. Das war es, deswegen konnte ich ihn nicht lesen. Er war der bessere Seher von uns.

Ernste Augen fixierten mich: „Wenn du dich an zukünftige Dinge erinnern kannst, weißt du, was für Träume ich meine.“

Der Kopfschmerz flammte nun höher. Zukünftige Erinnerungen? Kein Seher nahm es mehr mit der Zukunft auf. Weder die alten Meister noch die jungen Alternativen. Nicht einmal ich, die quasi als Aussätzige für den Feind In4ma$ arbeitete. Zukunftsforschung war das Einzige, was niemand abdeckte. Worunter normalerweise auch Prophezeiungen fielen.

„Ist das ein Witz? Warum bist du hier?“, fragte ich.

„Kein Witz. Du hast heute einen außergewöhnlichen Fall angeboten bekommen“, er holte tief Luft, „Ich bin hier, damit du am Ende nicht Teil dieses Blutbads wirst.“

Ich kniff die Augen zusammen. Auf den Innenseiten meiner Lider zuckten orange Blitze. Da halfen keine Atemübungen und auch nicht das Fummeln am Ring. Ich legte den Kopf in den Nacken. Was für ein Albtraum.

„Ich muss vorsichtig sein, in welche Richtung ich dich geleite“, stellte er fest.

Das war verrückt. Ohne die Augen zu öffnen, fragte ich leise: „Warum?“

„Um genau in der Zukunft anzukommen, an die wir uns beide erinnern.“

Ich stöhnte leise. Fragen strudelten in meinem Kopf: Warum? Wie konnte er von dem Auftrag wissen? Was war das für eine seltsame Situation? Das half meinem Kopfschmerz nicht. Ich presste meine Lider fester zusammen.

Irgendwann hörte ich schließlich die Tür. Als ich kurze Zeit später die Augen aufschlug, war Nico verschwunden.

Spielregeln

Der Teppich unter meinen Füßen ist mintfarben. Ich stehe neben einem länglichen Tisch. Zwei Personen sortieren Steckbauklötze nach Farben. Weiter sehe ich nichts als Nebel.

„Solche musst du aussortieren“, erklingt eine Stimme. Ein älterer Mann tritt an den Tisch und schmeißt einen blauen Stein runter. Am Boden liegen viele Steine, in allen möglichen Farben. Was an diesem verkehrt war, verstehe ich nicht. Dann wendet sich der Antreiber um und verschwindet im Nebel.

Eine Frau kommt hinzu und schöpft mit beiden Händen sortierte Steine. Sie dreht sich um. Neugierig laufe ich ihr hinterher. Sie trägt die Steine zielsicher durch den Dunst und erreicht einen zweiten Tisch, eine Werkbank. Rasselnd fallen ihre Steine auf die Arbeitsplatte.

Eine große Person setzt die Steine zusammen. Immer im gleichen Muster. Auf der anderen Seite des Tisches baut jemand die Grundelemente zusammen. Dort entsteht eine Art Turm.

„Bau das höher“, ermahnt der Antreiber, der plötzlich hinter dem Turmbauer steht.

Die Frau, erneut halb im Nebel, schaut über die Schulter zurück: „Der Planer hat gesagt, wir sollen darauf achten, dass der Turm nicht umkippt“, und geht.

Der Turmbauer nickt: „Höher haben wir noch nie gebaut. Das wäre nicht richtig.“

„Das ist die Hauptsache“, sagt der Antreiber und verschwindet.

Die Grundelemente sind alle gleich. Die Handgriffe wiederholen sich. Ich schaue sie mir bei dem Großen ab, um ein Element nachzubauen.

„Versuch es doch wenigstens richtig zu machen“, flüstert er mir bald zu.

Bevor ich etwas erwidern kann, steht der Antreiber vor uns und spricht mich an: „Bist du der Ritter?“

Ich schaue an mir herunter, finde aber weder Rüstung noch Schwert oder Lanze und schüttle den Kopf. Der Nebel hinter dem Antreiber wirbelt auf und wirkt dunkel, dann verschwindet er darin.

Ich verstehe die Regeln nicht und halte Ausschau nach Hilfe.

Der Turmbauer lehnt sich zu mir rüber und sagt: „Ich mache immer das hier. Das ist richtig.“

„Woher weißt du das?“, frage ich ihn.

Er schüttelt den Kopf: „Das sieht man doch.“

In Wirklichkeit sieht man nichts. Nicht einmal den anderen Tisch. Gibt es mehr Tische in dem Nebel? Wenigstens ist er jetzt heller.

Ich wage den nächsten Versuch, bemühe mich alles richtig zu machen. Trotzdem sieht das Grundelement jedes Mal anders aus

„Warum machen wir das?“, frage ich leise.

„Vielleicht für die Prinzessin“, antwortet die Frau, die wieder Steine absetzt, „Wäre es nicht schön, wenn Prinzessin und Ritter am selben Ort sein könnten?“

„Und du hoffst wohl, selbst die Prinzessin zu sein“, zieht sie der Turmbauer auf.

„Wie oft soll ich es dir noch sagen?“, die Frau rollt mit den Augen, „Ich bin der Zwilling. Du raubst mir echt den letzten Nerv – jedes Mal.“

„Ich?“, der Turmbauer blickt auf seinen Unterarm. Einer der Steine scheint mit ihm verwachsen zu sein. Doch anstatt panisch zu werden, freut er sich: „Dann gehöre ich zum Prozess.“

Der Antreiber steht plötzlich wieder vor uns: „Sehr gut. Das ist richtig. Es geht stets um den nächsten. So soll es sein.“

Sogar die Zwillings-Frau applaudiert. Ich versuche sie mir genau einzuprägen. Wenn sie der Zwilling der Prinzessin ist, kann ich durch sie vielleicht die Prinzessin erkennen, wenn ich sie treffe.

Je genauer ich hingucke, umso weniger erkenne ich. Plötzlich wirken die Gesichter um mich herum blank, leer, keine Augen, keine Nasen – leer. Ich schaue mich erneut um. Gibt es hier eine Tür? Irgendwas fehlt …

Der Turm gerät in Schieflage. Er ist falsch ausgerichtet. Alle arbeiten konzentriert weiter, als ob nichts wäre. Gleichzeitig bahnt sich ein Sturm an. Was zuvor Nebel war, ist inzwischen eine dunkle Gewitterwolke, die um die eigene Achse wirbelt. Ihr Wind fegt beharrlich Bausteine vom Tisch.

„Pst“, sagt der Antreiber, als würde ich den Lärm erzeugen.

Die Gewitterwolke wird größer, bis ich nicht einmal mehr den Turmbauer neben mir sehen kann.

„Worum geht es hier?“, rufe ich über den tosenden Sturm hinweg.

„Um den Fortbestand der Zivilisation“, schreit jemand zurück. Dann zuckt ein Blitz auf mich zu.

Schwer atmend fuhr ich hoch und stieß mir den Kopf. Eine Schrecksekunde später ließ ich mich zurücksinken. Es war nur ein Traum. Ich war in meinem Privatraum, sicher in meinem Schlafzylinder. Nichts davon war Wirklichkeit.

Ich tastete den Zylinder rechts neben mir ab und nahm den Nährstoffbeutel vom Haken. Er fühlte sich leer an. Dann hatte ich über fünf Stunden geschlafen. Hoffentlich hatte ich deswegen geträumt. Die Kopfschmerzen und Flammenbilder von gestern gegen hyperrealistische Träume zu tauschen, war nicht der Plan.

Heute war mein freier Tag, ich musste waschen – mich und meine Klamotten. Letzteres brauchte Zeit, ersteres machte ich am liebsten, wenn die Duschen unbesucht waren. Am allerliebsten würde ich liegen bleiben, aber das würde ich spätestens morgen auf dem Weg ins Büro bereuen.

Mit einem Fuß drückte ich die Luke am Ende des Zylinders auf. Der Raum dahinter war weniger dunkel. Das Licht der Straße fiel durch ein Fenster herein. Die Außenlage machte den Privatraum kälter, aber auch ruhiger.

Mit den Füßen voran schob ich mich aus dem Zylinder und stieg die drei Leitersprossen hinab. Das aufgebrauchte Nährstoffpaket landete in einer Tüte an meiner Tür. Ich trat hinter die Trennwand und hob den Deckel über dem Bodenloch der Toilette.

Nachdem meine Blase geleert war, bückte ich mich zur Kommode unter dem Schlafzylinder. Eine Baumwollhose, Unterwäsche und ein langer Rollkragenpullover waren das letzte tragbare Set. Ich musste waschen, eindeutig. Ich zog meinen Schlafoverall aus und roch daran. Er landete in dem Beutel mit der Dreckwäsche.

Wie spät war es? 06:47 Uhr. Die Duschen wären jetzt leerer als in drei Stunden. Ich hing den Beutel an einen Haken und wickelte mich in das Handtuch, das daneben hing. Ich griff nach den frischen Klamotten und öffnete leise die Tür.

Der Flur war verlassen, der Boden kalt. Schnell ging ich den Gang hinunter, an vier anderen Türen vorbei. Auf dem Hauptgang lief ich nach rechts. An dessen Ende, einmal um die Ecke, waren die Duschen.

In keiner der Ablagen lag etwas, es dröhnte keine Musik. Ich trat in die Duschkabine ganz außen und hing meine Sachen über die halbhohe Trennwand zur Nachbarkabine. Dann schaltete ich den Strahl ein, geräuschloser Schall kribbelte auf meiner Haut.

Ich hörte keine Musik, summte nicht mal und hoffte, dass niemand anderes Zeit für eine Dusche fand. Es war weniger der Wunsch allein zu sein als eine vernünftige Menge Misstrauen. Jedenfalls der Grund, weshalb ich den Gang höchstens zweimal wöchentlich wagte. Ich lauschte in die Gänge und Geräusche um mich herum.

Ungebeten meldeten sich erneut Kopfschmerzen. Nach so viel Schlaf? Warum? Ich befand mich in einer bekannten Umgebung. Neben dem Traum ein weiteres Anzeichen für tiefe innere Anspannung. Am Ende meiner To-do-Liste für heute ergänzte ich eine Entspannungsübung.

Der Traum hatte sich ähnlich angefühlt wie das Bild der verbrennenden Augen. Nico. Nein. Über ihn wollte ich nicht nachdenken. Er führte offensichtlich etwas im Schilde. Kein gutes Zeichen, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hatte.

Das Prickeln wurde nun warm, das Zeichen, die Dusche abzustellen. Ich griff nach dem Handtuch und rubbelte den gelösten Schmutz von meiner Haut. Das Handtuch konnte gleich mit in die Wäsche. Ich legte es zur Seite und zog mich an.

Dann schlich ich zurück zu meinem Privatraum, zog mir Socken und Stiefel an und begab mich auf den Weg in den Waschkeller.

Die frisch gewaschene Wäsche war wärmer als meine Hände und mir brummte der Schädel. Auf der Treppe kam mir eine Leistungseinheit entgegen. Ein Nachbar aus einem höheren Stockwerk. Heute konnte ich nicht weghören. Natürlich hielt ich Abstand, aber seine innere Schimpftirade über seine Kollegen verfolgte mich bis zum nächsten Treppenabsatz.

Ich brauchte Ruhe. Der Weg zu meiner Tür schien weiter als sonst. Ich berührte den Knauf. Es dauerte ewig, bis die Identifikation durchlaufen war und das leise Klacken erklang. Kaum war ich im Raum, drückte ich die Tür hinter mir zu und sank auf den Boden.

Keuchend saß ich da, schob den Beutel zur Seite und zog meine Stiefel aus. Der geplante Spaziergang zum nächsten Nährstoffpaket musste warten. Es war höchste Zeit für die Entspannungsübung.

Der Freiraum hinter der Tür bot ausreichend Platz für einen Schneidersitz. Mit bewussten, langsamen Atemzügen brachte ich meinen Körper zur Ruhe. Aber der war nicht das Problem. Was war mit mir los?

Erst der Auftrag, dann dieser Nico und heute Nacht dieser Traum. Hatte Nico nicht sogar nach meinen Träumen gefragt? Hatte er das gemeint? Quatsch. Der Auftrag war ungewöhnlich, aber die Mauer hatte nichts mit Sehern oder KI zu tun. Falls doch, wäre der Auftrag schneller abgelehnt, als ich mir Sorgen einbilden konnte. Und Nico war nur ein alter Freund von Veronika. Ein Erbe. Die meisten Seher waren Erben, logisch bei den hohen Kosten. Wahrscheinlich war es Langeweile gewesen, die ihn auf dumme Ideen gebracht hatte. Das fühlte sich nicht richtig an, inzwischen war ich jedoch abgeregt genug, dass die Übung beginnen konnte.

Ich schloss im Schneidersitz meine Augen und fuhr meine neuronale Geschwindigkeit runter. Ich kam nicht besonders tief, aber das war okay. Dafür war die Übung da. Einer Erinnerung. Ich war nicht meine Gedanken.

Stufenweise erhöhte ich meine Gedankengeschwindigkeit. Meditation sprach davon, den Geist zu entleeren. Für Seher funktionierte das nicht gerade gut. Stattdessen ließen wir den Inhalten freien Lauf und kontrollierten bloß die Geschwindigkeit.

Ich ging die Stufen wieder nach oben, ohne mein Maximum einzustellen. Dann wieder runter. Es war schwer, langsamer zu werden als vorher. Mehrfach stimmte ich diese Tonleiter hoch und runter. Jedes Mal schaffte ich eine Stufe langsamer und im Ausgleich nahm ich am anderen Ende eine schnellere mit.

Nach einer Weile kreisten meine Gedanken. Ich lief durch den Steingarten im Ausbildungszentrum, durch die riesigen Flügeltüren aus Holz, die bunte Grotte aus geschliffenem Glas und die trocknenden Tücher der Malerei.

Es war typisch, an einen schönen Ort während dieser Übung zurückzudenken. Schönheit war vielfältig. Die Ausbildung des Geistes brachte eine besondere Wertschätzung der realen Welt mit sich.

Als ich keine langsamere Geschwindigkeit mehr erreichte, öffnete ich die Augen. Der Kopfschmerz war endlich gebannt. Ich fühlte mich ausgeglichen und dennoch unruhig. Niedriger Blutzucker. Kein Wunder, nach dieser Übung. Ich zog mir meine Stiefel abermals an, stand auf, hing den Wäschesack an die Wand, warf mir den Mantel über und machte mich auf den Weg zur nächsten Cafeteria.

Auftakt

Am nächsten Morgen war die Unruhe immer noch da. Entweder sie verflog, sobald ich die Freigabe für den Auftrag erhielt, oder Nico hatte etwas mit meinem Kopf angestellt. In dem Fall würde ich ihn schon dazu bringen, den Urzustand wiederherzustellen.

Ich trat durch eine der Eingangstüren ins Hauptgebäude und nahm meine Maske ab. Der Digitale Zwilling erkannte mich als Mitarbeitende und öffnete die zweite Tür der Eingangsschleuse für mich. Ein paar Schritte weiter und schon war von der Kälte da draußen nichts mehr zu spüren.

Die Lobby war so breit wie das gesamte Gebäude und summte vor reger Betriebsamkeit. Der Handel mit Informationen lief rund um die Uhr.

Kunden und Kollegen ließen sich leicht unterscheiden. Kundennamen schwebten in Leuchtbuchstaben in der Luft. Diese vollintegrierte Hologrammlösung zeichnete unser Hauptquartier aus. Als Mitarbeitende sah ich auch die Namen meiner Kollegen, aber der vom Chip ergänzte Schriftzug leuchtete den Kopf darunter nicht an.

Einige Kunden waren überhaupt nicht vor Ort, sondern wurden als schimmernde Avatare dargestellt. Hier in der Lobby hatten wir alles unter Kontrolle: Wer kam, ging und wann an die Reihe kam.

Der blaue Streifen des Digitalen Zwillings ringsum an der Decke beobachtete und unterstützte uns alle. Das Werk unserer Kanalisierungsabteilung. Obwohl man uns häufig das Gegenteil vorwarf, arbeiteten wir ohne künstliche Intelligenz. Neid war ein schönes Kompliment.

Anstatt KI nahmen wir Echtzeitdaten aus den einzelnen Chipimplantaten. Mit Betreten unseres Gebäudes, real oder digital, gab jeder Besucher seine Erlaubnis dafür. Damit konnten wir Details wie Hormonlevel und Herzrate auslesen. Diese Technik war inzwischen Standard für Versammlungsorte – zum Beispiel Sehenswürdigkeiten oder Konzerthallen. Wenn der Ort des von Tristan angedeuteten Blutbads tatsächlich bekannt war, könnte es sich mit dieser Technik direkt aufhalten lassen.

Ich bahnte mir einen Weg zu den Aufzügen. Um die Schalter in der Lobby herum standen sehr lange Schlangen. Waren es mehr Leistungseinheiten als sonst? In einem weiten Bogen ging ich ihnen an der Wand entlang aus dem Weg. Fast jeder wollte dasselbe: Arbeit leisten, Energie erwirtschaften, überleben. Wir wussten, wo es die besten Chancen gab. Niemals wollte ich selbst von einer unserer Jobempfehlungen abhängig sein.