Vision - Monika Wolff - E-Book

Vision E-Book

Monika Wolff

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Beschreibung

VISION ist der 2. Teil der dystopischen Trilogie im Datenseheruniversum: 2145 - der Himmel ist dunkel, Arbeitskraft wird zentral von In4ma$ verteilt, KI ist verboten und ausgestorben geglaubte Dimensionswandler existieren. Nach den blutigen Ereignissen ihres letzten Auftrags erhält Mira Nielsson die höchste offizielle Auszeichnung In4ma$s. Obwohl damit alle denkbaren Abfragen möglich sein sollten, findet sie keine eindeutigen Antworten zu ihrem aktuellen Auftrag: ein Todesfall an ihrer Ausbildungsstätte. Parallel hält sie ein alter Widersacher auf Trab und auch andere Seher bereiten ihr unangenehme Überraschungen. Wo steckt ihr Mentor, dessen Anleitung sie schmerzlich vermisst? Ohne ihn schließt Mira ungewöhnliche Allianzen, um nicht von einer fremden Vergangenheit überrollt zu werden. Doch die Frage bleibt: Was ist ihre Wahrheit und könnte sie überhaupt anerkennen, sich nicht zu den Guten zu zählen ...

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 360

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Titel

Vision

Datensehertrilogie Band 2

Monika Wolff

Impressum

© 2024 Monika Wolff

Umschlag, Illustration: Hannes Mangelsdorf

Druck und Distribution im Auftrag von Monika Wolff

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland. Erreichbar unter: [email protected]

Paperback978-3-384-40729-0

e-Book978-3-384-40730-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Monika Wolff verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag Monika Wolffs, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Nichts. Leere. Dunkelheit.

Schmerz. Verzweiflung.

Leuchtturm. Sturm. Ungewissheit.

Glitzer. Kraft. Spiegel.

Feuer. Probe.

Tiefe. Hass. Gewissheit.

Maske.

Prolog

Der Raum ist über fünf Meter hoch, beige gestrichen und groß genug, dass das Dutzend Leistungseinheiten darin nicht auffällt. Wir stehen hier im Kreis, als würden wir uns an einem Feuer wärmen. Es ist nicht Kälte, die uns zusammentreibt, sondern Angst. Angst vor einstürzenden Gebäuden hat uns alle an diesem fremden Ort zusammengeführt. Das letzte Erdbeben war verheerend.

Die anderen versuchen das mit Gelächter zu überspielen. Ich jedoch bleibe wachsam. Die großen Flügeltüren auf der anderen Seite des Raums sind geschlossen und sperren jeglichen Schall, ja, die ganze Welt aus. Was ist dahinter los? Es muss einen besseren Ort geben als diesen Saal, um sich zu verstecken.

Plötzlich wackelt die Erde wieder. Ich bin die Erste, die nach ihrem Beutel in der Mitte unserer Gruppe greift und zur Tür läuft. Dahinter erstreckt sich ein schmaler Gang, der in einem schlichten Treppenhaus mündet. Verschwunden sind die Tapeten und Lampen, wir sind mitten in einem Bunker. Vielleicht war der Raum eben sicherer, als ich ihm zugetraut habe.

Noch bevor ich mich umdrehe, berührt mich jemand am Arm und drückt die Tür hinter uns zu. Der Mann trägt eine praktische Uniform und eine Sonnenbrille. Er kommt mir seltsam bekannt vor.

Obwohl alle das Erdbeben gespürt haben müssen, stehen wir allein hier. Kein Ton dringt durch die Etage. Mich plagt der Wunsch, zu entkommen, als drängende Notwendigkeit.

„Uns läuft die Zeit davon“, sagt der Mann, als könnte er meine Gedanken lesen.

Er scheint die Situation einschätzen zu können. Ich frage ihn: „Wo soll ich hin?“

„Es ist gefährlich, allein zu gehen“, antwortet er und deutet in Richtung Treppenhaus: „Möchtest du nach oben oder nach unten?“

Ohne zu überlegen, laufe ich die Stufen hinunter.

„Natürlich, im Untergrund verstecken“, meine ich zu hören, aber die Stimme klingt weit entfernt. Als ich mich kurz umdrehe, lächelt der Mann.

Im Keller ist es kühler und feuchter. Beton formt sich zu Mauersteinen. Sie verschlucken den Hall unserer Schritte und es riecht komisch. Nach einem langen Flur stehen wir vor drei Torbögen. Die Tunnel dahinter sind dunkel, windstill und eng.

„Welcher bringt uns in Sicherheit?“, frage ich.

Der Mann zuckt mit den Schultern: „Was heißt schon Sicherheit?“

Es ist viel schlechter keine Entscheidung zu treffen als eine schlechte, also wähle ich den erstbesten Gang. Obwohl ich laufe und laufe, wirkt der Tunnel schier endlos. Mit nur wenigen Abbiegungen lässt er den Bunker weit hinter sich. Wo soll das enden?

Unsichtbar unter der Erde, hier fühle ich mich wohl. Immer in Bewegung, wo könnte ich besseren Schutz finden? Was für ein trauriges Dasein.

Sanftes Licht füllt den Raum. Ich blinzle und richte mich auf. Habe ich geträumt? Neben mir liegt mein Partner. Die helle Bettwäsche lässt seine Haare wie Stacheln um seinen Kopf wirken.

„Schön, dass du hiergeblieben bist“, sagt er und streicht die Bettdecke über uns glatt. Das Bett, in dem wir liegen, ist groß und weich. Ich muss lächeln und strecke meinen Arm nach ihm aus. Sein Haar fließt seidig durch meine Finger.

Er setzt sich ebenfalls auf, beobachtet mich, streichelt mir über die Schulter und fragt: „Ist dir warm genug?“

Unter der Decke ist es angenehm, trotzdem sind seine Finger eiskalt. Ich lehne mich dichter zu ihm, komme seinem Körper ganz nahe. Das Herz schlägt mir bis in den Hals. Ich greife um ihn herum und ziehe die Decke um seine ebenfalls kalte Schulter.

Er sieht glücklich aus. Ein Lächeln erhellt sein Gesicht und es ist, als würden seine Augen schier leuchten. Rot. Sie leuchten Rot! Ich drücke ihn in die Kissen und sitze auf seiner Brust. Seine Beine stecken unter der schweren Decke fest, seine Ellenbogen fixiere ich mit meinen Knien.

Sein Lächeln dimmt ab, erlischt aber nicht. Stattdessen wirken seine Augen jetzt traurig. Augen, die alles sehen, mit einem Kopf dahinter, dessen Ausdruck nichts weiter als Reproduktionen sind. Was ist los? Das ist mein Partner hier unter mir, der sich weder wehrt noch mich angreift. Hängt mir der Traum noch nach? Allerdings …

„Träume zeigen uns die Dinge, die wir lernen müssen“, antwortet er ungefragt.

Jetzt muss ich es wissen: „Bist du eine Maschine?“

Die Frage verhallt und kommt mir auf einmal unfair vor. Wie kann ich meinen Partner, nachdem wir gemeinsam aufgewacht sind, bloß fragen, ob er ein gefühlloses Wesen sei, das den Wunsch eines zentralen Denkapparats befolgt?

„Ich bin ein Individuum“, antwortet er, nicht sauer.

Das ist gut. Eine Maschine oder ein von künstlicher Intelligenz kontrollierter Apparat würde sich niemals als Individuum darstellen. Oder ist selbst diese Bezeichnung ein leeres Wort? Kopfschüttelnd klettere ich von ihm herunter.

Bevor ich aufstehe, greift er nach meiner Hand: „Du hast mich erkannt.“

Seine Hand ist noch immer eiskalt. Inzwischen verstehe ich, warum. Ich habe ihn erkannt. Nähe, Verbundenheit – wenn ich wirklich recht habe, ist das reine Manipulation. Was ist das für ein Spiel?

„Wie kann ich dir trauen?“, frage ich und starre ihm mitten ins Gesicht.

Er blinzelt langsam, als würde er mir blind folgen. „Worauf kommt es dir an? Freiheit oder Gesetze?“

In unserer Realität gibt es keine Freiheit ohne Gesetze, keine Energie ohne Verteilungsplan, keinen Tag mit Sonnenlicht und keinen freien Ort über vier Grad. All diese Kompromisse nur, weil eine Handvoll künstlicher Intelligenzen vor etlichen Jahren Krieg spielen musste. Es geht nicht um Freiheit, sondern ums Überleben.

Das bringt mich auf eine Idee. Noch während ich meine Hand zu meinem Herzen führe, sehe ich Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen. Kann diese kalte Maschine meine Gedanken lesen? Normalerweise läuft das andersherum.

Meine Hand erreicht meinen Brustkorb und ich reiße an dem Port unter meiner Haut. Ein direkter Zugang für Nährstofflösungen, ein Zugang aus Titan zu meinem Herzen, wie wir ihn alle tragen, eine Schwachstelle im System.

Während seine Augen ganz groß werden, sinke ich ins Kissen zurück. Feuchtigkeit rennt mir über den Brustkorb. Eigentlich sehen seine Augen kaum noch wie Augen aus, sondern wie Minifernrohre. Vielleicht eine Halluzination, die mir mein Blutverlust schenkt. Vielleicht auch Realität.

Er schiebt meine Hand unsanft weg, reißt mir den Port aus den Fingern. Es klackert metallisch. Dann endlich liege ich – und atme.

Ich atme immer noch. Er hat mich gerettet, schneller, als es einem Menschen möglich gewesen wäre. Seine Augen beobachten mich, meine Atmung, meinen Herzschlag, als könnte er sogar den Blutfluss durch meinen Port erspüren.

Quietschend öffnet sich eine Tür und eine weibliche Stimme sagt: „Nicht vergessen, hier kann uns nichts passieren.“ Damit entspannt sich endlich sein Ausdruck.

„Was hättest du getan, wenn ich von der zentralen KI gesteuert wäre?“, er klingt aufgebracht. Ist er jetzt wütend?

Ich denke nach. Das Wissen wäre mir in den wenigen Augenblicken nicht von großem Nutzen gewesen. Was hätte es mir gebracht?

„Würdest du dich deiner Vergangenheit stellen, wüsstest du das, Murat.“

Meiner Vergangenheit stellen? Meint er meine fehlenden Kindheitserinnerungen? Oder meinen letzten Auftrag, mit dem ich endlich abschließen soll? Ich muss zur Arbeit! Heute ist …

Seine Worte klangen mir noch in den Ohren, als ich hochschreckte und mir den Kopf stieß. Ich befand mich in meinem Schlafzylinder, hart und dunkel.

In der gewohnten Umgebung rappelte ich mich hoch. Wie kam ich dazu, von Matratzen und künstlicher Intelligenz zu träumen? Der Krieg hatte sich vor 60 Jahren entschieden. Seitdem waren KI in jeglicher Form verboten, damit sie nie wieder existierten.

Als Mitarbeiterin des weltweit einzigen Informationshändlers, In4ma$, wusste ich das zu gut, sogar Automaten und algorithmische Berechnungsverfahren waren strengstens reglementiert. Weil Vorsicht besser als Nachsicht war, gab es zusätzlich eine Aufsichtsbehörde, sogenannte Bibliothekare. Auch deren Arbeit kannte ich gut, denn sie rekrutierten ihre Reihen aus Sehern, wie ich selbst einer war. Für den Job einer Bibliothekarin kam ich zum Glück zu freundlich daher.

Nein, akute Angst vor KI hatte ich nicht. Je weiter der Traum verblasste, umso eher bewegte mich das Motiv dahinter. Dieses Individuum hatte niemandem etwas getan und mich sogar gerettet. Könnte KI tatsächlich Leben retten? Hätte mein letzter Auftrag und das Massaker, in dem dieser geendet hatte, mit ihrer Hilfe anders verlaufen können?

Zum Glück waren diese Fragen rein theoretisch. Der Fall lag in der Vergangenheit und niemand erwartete von mir, dass ich erneut mein Leben aufs Spiel setzte.

„Uhrzeit?“, fragte ich laut. In meinem Blickfeld erschienen die Leuchtziffern: Donnerstag, 18.2.2145, 06:28 Uhr. Gerade noch genug Zeit, um pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Ich kroch rückwärts aus meinem Zylinder und sah die Klamotten, die ich mir gestern rausgehängt hatte. Verdammt. Ich musste nicht ins Büro, ich hatte einen Termin im O – und dafür war eine halbe Stunde echt knapp.

Wegweiser

Natürlich reichte die Zeit nicht mehr für ein Nährstoffpaket und gleichzeitig eine Fahrt mit der Röhrenbahn. Einerseits fuhren sie quälend langsam, um weniger Energie zu verbrauchen, andererseits gab es keine direkte Verbindung zwischen meiner Wohneinheit und dem O. Energetisch war ein Sternverkehr sinnvoll, heute hätte ich jedoch eine Ringlinie gebraucht. Oder eine Drohne. Oder mehr Zeit.

Noch während ich mir den Nährbeutel in meinen Schultergurt schob, trat ich aus dem Kiosk an der Ecke und lief einer Leuchtlinie hinterher. Wie die Uhrzeit war diese eine optische Ergänzung im Blickfeld. Vergleichend zu den Hochleistungsberechnungen als Seherin war das eine der gewöhnlicheren Funktionen meines Chipimplantats. Allerdings schien mir die Routenführung anders als die Uhrzeit nicht besonders akkurat zu sein.

Nach dem ersten größeren Wohnblock erkannte ich, dass ich besser durch den öffentlichen Teil im Erdgeschoss gelaufen wäre. Das war der Preis dafür, dass ich weder an die Mauer noch an den Termin in ihrem Hauptquartier denken wollte. Im Gegensatz zu einem belebten Gebäude standen die meisten Abkürzungen hier nicht für Restlichtverstärkung bereit. Schließlich leuchtete niemand rund um die Uhr die ganze Stadt aus. Mustererkennung übernahmen die Chipimplantate, manchmal besser, manchmal schlechter.

Ich bog um die nächste Ecke und fand mich plötzlich in einem Menschenauflauf. Unwillkürlich zuckte ich wieder zurück. Um niemanden zu berühren, musste ich für alle anderen mitdenken. Zum Glück waren Kollisionen vermeidbar, aber der Leuchtstreifen führte weiter quer durch die Menge.

Gesenkten Hauptes versuchte ich den Lärm um mich herum auszublenden. Je stärker meine normalen Sinne überflutet wurden, umso leichter sprang auch mein Sehersinn über, den ich oft mittels Abstand im Zaum hielt. Von Ruhe und Abstand war ich jedoch weit entfernt. Bewusst bewegte ich mich durch die Masse, langsam, um zwischen den Wartenden nicht zu sehr aufzufallen.

Als ich Stockspitzen zwischen den Beinen einzelner Leistungseinheiten sah, schaute ich allerdings hoch. Keine Mistgabeln und Spitzhacken hievten sie in die Luft, sondern Schilder.

„Schrift hervorheben“, flüsterte ich und prompt wurde die Aufschrift von meinem Chip umrandet: Sagt uns die Wahrheit! Weglassen ist auch lügen! Keine Allmacht In4ma$!!! Todesopfer brauchen Konsequenzen!

Sprachen die hier vom Massaker? War das eine Demonstration? Tote gab es immer, das gehörte zum Leben. Eigentlich war es In4ma$ sogar zu verdanken, dass weder Unfälle, noch Gewaltverbrechen zum Alltag gehörten und die meisten Menschen 200 Jahre alt wurden.

Das machte das Massaker umso auffälliger. Insgesamt hatte es dreizehn Leben gekostet – Menschen, die sich zur selben Zeit am selben Ort aufhielten. Bei dieser Gelegenheit hatten wir leider versagt.

Nicht zum ersten Mal wurde mir mulmig. Meine Hand fand den Ring an der anderen und drehte ihn sanft mit den Fingern. Ich hatte versagt. Ich, ich persönlich, hatte das Massaker nicht unterbinden können. Stattdessen zählte ich am Ende zu den wenigen Überlebenden.

Alles, was In4ma$ mit Sicherheit wusste, hatten wir vor einer Woche veröffentlicht: drei Überlebende, davon eine Seherin und ein Springer. Als unsicher galt, dass der Springer als Hülle für ein Wanderwesen fungierte. Natürlich konnte sich nicht jeder den Zugriff auf offizielle und vollständige Informationen leisten.

Die frei zugängliche Version lautete: „13 Tote umfassen auch den Täter“. War das zu wenig?

Die Aufregung würde abebben, hieß es. Was meine Kollegen nicht wussten, war, dass neben uns dreien zwei weitere Seher überlebt hatten.

Sie waren später an den Tatort gekommen und vor allem früher wieder frei gelassen worden, also zählten sie vielleicht wirklich nicht richtig mit. Aber zwischenzeitlich hatten mir die beiden das Leben gerettet.

Da es keinerlei Daten gab, dass sie jemals vor Ort gewesen waren, war es leichter, sie nicht zu erwähnen. Obwohl die Demonstranten das nicht wissen konnten, ihre Anschuldigungen trafen diesbezüglich ins Schwarze.

Schnell lief ich weiter, wenn auch mit kleinen Schritten. Diesen anfeindenden Gedanken musste ich einfach entkommen. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Jetzt ging es nur noch darum, Formalitäten zu wahren. Genau dafür war ich auf dem Weg zum Auftraggeber des ganzen Albtraums: um dieses Kapitel endgültig abzuschließen.

Die Luft schwirrte geradezu um mich herum. In der Menschenmasse war ich gefühlt am dichtesten Punkt angelangt. Ohne konkrete Gedanken zu lesen, spürte ich die Wut der Demonstranten in meinem Körper – trotz aller Versuche, mich abzuschirmen. Ich hielt meinen Blick gesenkt und achtete darauf, niemanden unglücklich anzurempeln. Der Menschenauflauf zog sich länger und länger und je weiter ich mich ihm aussetzte, umso größer wurde die Gefahr einer Überreizung. Ich musste aus dieser Menge ausbrechen. Ein Umweg wäre besser als ein Nervenzusammenbruch.

Schnell schaute ich mich um und sah einen Pfad aus der Menge heraus. Wenige Meter weiter trat mir jemand rücksichtlos in den Weg. Stolpernd kam ich zum Stehen. Dicke Stiefel zeigten in meine Richtung, mein Blick kletterte an ihnen vorbei nach oben.

Wir starrten einander in die Augen, der Fremde und ich, wie eine Explosion hörte ich seine Gedanken: „Das war alles die Schuld von Infourmas. So viele Leben wurden zerstört und die haben nichts dagegen getan. Sie sollen dafür …“

Ich stürzte einen Schritt rückwärts und fiel. Den Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit konnte ich nachempfinden. Er spiegelte meine Selbstvorwürfe der letzten Wochen wider. Aber ich war nicht schuld. Ich hatte mein Bestes getan. Ich schluckte schwer und schüttelte mich. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, mich unterkriegen zu lassen.

Wieso konnte ich diesen Gedankenstrom überhaupt flüssig interpretieren? Vorsichtig schaute ich noch einmal hoch, betrachtete das Gesicht meines Gegenübers und erkannte Wilhelm Trüdo, die gewöhnliche Leistungseinheit unter uns drei Überlebenden.

Er hatte den Axtmörder direkt erlebt, die von einem Springer erschaffene Kapselwelt von innen gesehen und vom Drahtzieher ein Überleben wie eine Strafe verhängt bekommen. Dann hatte er mehrere Tage im Krankenhaus verbracht, damit seine Erinnerung vernebelt wurde. Er hatte gedroht, verrückt zu werden. Was suchte er jetzt zwischen den Demonstrierenden?

Da packte mich jemand am Oberarm. Die Umgebung wurde kurz still, wie durch einen unerwarteten Tinnitus. Ich wurde auf die Beine gezogen. Neben mir schrie die Leistungseinheit irgendetwas in die Menge, ich hörte es kaum.

Stattdessen sah ich den Menschenauflauf plötzlich mit anderen Augen. Das Schild in der Hand meines Retters trug einen harmlosen Schriftzug: „Faire Ressourcenverteilung! Jetzt!“ Gleichzeitig schrie er, die Menge hörte ihm zu, und wie durch andere Ohren hörte ich ihn jetzt rufen: „Da ist ein Presseteam. Passt auf die Kameradrohnen auf!“

Tatsächlich waren es nicht meine Ohren, sondern seine. Neben mir stand Christian Falter, Seher und einer der Zwillinge, die ungenannt dem Massaker entkamen. Während ich mich fragte, was er hier wollte, setzten sich alle anderen um uns herum in Bewegung und strömten an uns vorbei.

„Es geht weiter!“, brüllte Trüdo wie zum Schlachtruf und hielt mit der Masse mit.

Ob es ein Presseteam gab oder nicht, mein Weg zum O war wieder frei. Das hochgebogene Gebäude strahlte mir mit seiner gläsernen Fassade entgegen. Jetzt musste ich schnellstens dort ankommen.

Ich lief los, doch Chris hielt mich unverändert am Oberarm fest, richtig fest. Losreißen klappte nicht, da gab es genau eine Alternative: So schnell ich konnte erhöhte ich meine neuronale Geschwindigkeit, um diesen Seher daran zu hindern, meine Gedanken zu lesen.

Das feuerte die Standleitung zwischen Chris und mir erst richtig an. Plötzlich offenbarte sich mir eine nahezu 360-Grad-Sicht, ich hörte gezielter, roch stärker und fühlte meinen eigenen Arm durch die Nerven in seiner Hand.

Auch er strauchelte kurz, sofort riss ich mich los. Doch sogar ohne direkten Körperkontakt blieb die Verbindung bestehen. Wieso passierte das hier und heute? Es war schon seltsam genug, dass mein Chip dieses Übermaß an Eingangssignalen übergangslos zusammensetzen konnte, aber warum ausgerechnet mit Chris?

Bei Nik hätte ich das eher erwartet. Mit ihm hatte ich in den vergangenen Wochen viel Zeit verbracht – oder besser gesagt mit Nico, der aus der Zukunft zurückgereist war und einen anderen Namen vorzog. Dieselbe Hülle, die erst mein Mentor gewesen war, hatte am nächsten Tag wie ausgewechselt gewirkt, reservierter und mit dem Wunsch, Nik gerufen zu werden.

Am liebsten hätte ich Chris laut angeschrien oder gefragt, ob er etwas von Nico gehört hatte. Dafür war jetzt nicht die richtige Zeit. Ich hatte einen Termin und den Rest einer Chance, pünktlich zu kommen.

„Danke“, sagte ich knapp und machte mich endgültig auf den Weg.

Einige Meter weiter erkannte ich, dass Chris mir trotz meines Tempos folgte. Schlimmer noch: dafür musste ich mich nicht einmal umdrehen. Ich sah mich dank der Standleitung durch seine Augen und der Abstand zwischen uns wurde nicht größer.

Warum gab es eigentlich keine Behörde, um Beschwerden einzureichen, die andere Seher betrafen? Wahrscheinlich wäre das Postfach dauerhaft überlaufen. Seher waren eine anstrengende Zunft. Außerdem hätte ich für eine Beschwerde über die Standleitung erstmal von ihr berichten müssen, eine unangenehme Vorstellung. Ich war mir nicht sicher, ob diese Praktik geächtet oder sogar verboten war.

Mit Sicherheit wusste ich jedoch, dass ich keine zusätzliche Überwachung wollte oder brauchte. Dank meines Jobs war ich weitgehend unabhängig. Ich brauchte niemanden: keine Berater, keine Eltern und erst recht nicht andere Seher. Das konnten nicht viele von sich behaupten. Diese Form von Freiheit war mir viel wert.

Wenigstens sagte Chris nichts, wenn er mich schon verfolgte. Die Straße lief inzwischen klar auf das O zu. Der Bürostandort der Versicherung Graue Mauer, ein erleuchtetes, in die Luft ragendes Symbol inmitten der dunklen Stadt.

Wollte Chris wissen, woran ich arbeitete? Ich prüfte meine Gedankengeschwindigkeit. Es gab keine Chance, dass er mehr als die geteilten Sinneseindrücke aus meinem Kopf mitbekam. Warum fragte er mich dann nichts? Viele Seher werteten Reden als Eingeständnis von Schwäche. Chris hatte ich offener kennengelernt, alleine, weil er meistens gemeinsam mit seinem Zwilling auftrat.

Kurz bevor ich das Gebäude erreichte, blieb Chris schließlich zurück. Erstaunt drehte ich mich um. Er nickte zum Abschied, dann ging ich durch eine der Drehtüren. Ich spürte, wie er sich von mir entfernte, als hätte er nicht mehr getan, als mich sicher zu meinem Zielort zu begleiten. Ein Schelm, wer dabei Böses dachte.

Schlussstrich

Der Eingangsbereich des Bürokomplexes bot eine Welt voller Graustufen. Der Sockel des Gebäudes hielt eine saubere Reihe von Terminals bereit. Links und rechts führte jeweils ein Treppenhaus mit mächtigen Doppelrolltreppen hoch in die beiden Arme des Os.

Ich hatte es geschafft, eine Minute vor sieben einzutreffen, ohne jedoch eine Ahnung zu haben, wo ich genauer hinmusste. Um nicht die falsche Seite zu nehmen – es gab keine Querverbindung am Bauche des Os – ging ich auf eins der Abfrageterminals zu. Dieser Bau war vielleicht gläsern und inhaltsleer, aber wehe, man bog falsch ab.

„Hey, Mira“, rief mir jemand zu. Auf den zweiten Blick erkannte ich Tristan. In seinem grünen Blazer erschien er mir wie ein Hoffnungsschimmer, völlig untypisch für Angestellte der Mauer.

Tristan Wehrig war mir aus unserer Schulzeit bekannt, richtig kennengelernt hatte ich ihn jedoch erst im Laufe des letzten Auftrags. Er war der erste Teil der Grauen Mauer, dessen Persönlichkeit zwar wie gewohnt untergegangen war, aber tatsächlich wieder zurückkam. Leider war es nicht er, bei dem ich den Termin hatte.

„Hey Tristan, ich bin heute spät dran. Vielleicht sehen wir uns demnächst? Gemeinsam mit V?“, schlug ich vor.

Veronika war eine Freundin aus unserer Schulzeit. Zu ihr hatte ich den Kontakt nie verloren. Ihr Schadenfall, versichert durch die Mauer, war es, der den Kontakt zu Tristan hatte aufleben lassen.

„In zehn Tagen ist die Premiere. V meinte, ihr wartet nach der Vorstellung auf mich“, er grinste mit zusammengepressten Lippen, „Lass mich dich zu deinem Termin begleiten.“

„Da sage ich nicht nein. Wenn sich bloß alles so leicht lösen ließe“, stimmte ich zu und folgte ihm auf die untere Schleife der Rolltreppe im linken Arm des Gebäudes.

„Also geht der Auftrag endgültig zu Ende“, seufzte er, während wir hochfuhren.

Ich nickte. Darüber konnte ich mich tatsächlich freuen. Es war gut, ein Thema abzuhaken. „Nachdem nahezu alles erledigt ist, war der Morgen bereits aufregender als gedacht.“

„Echt, wie das?“, fragte Tristan.

„Erst habe ich glorreichen Mist geträumt, dann hat mich die Routenführung quer durch eine Demonstration geführt und zuletzt bin ich Chris in die Arme gelaufen.“ Das war ein größeres Tohuwabohu, als mir lieb war. Neben Tristan konnte ich durchatmen.

„Chris? Wer ist das?“, fragte Tristan und warf mir einen skeptischen Seitenblick zu.

„Das ist der Zwilling von Niklas, ein Freund von V. Beide sind Seher. Und trotzdem konnte Chris mich problemlos aus der Menschenmenge retten.“

Tristan kicherte: „Oh nein, die starke Mira braucht auch einmal Hilfe. Du kannst ihn ja ins Theater mitbringen.“

Das würde ich sicherlich nicht, aber ich lächelte gespielt freundlich. Das hatte schließlich nichts mit Tristan zu tun. Im Gegenteil, seinen ersten Auftritt seit Kindertagen wollte ich einfach genießen können.

Auf halber Höhe des Bauwerks mussten wir eine entgegengesetzte Rolltreppe nehmen, um weiter hoch zu gelangen. Im achten Stockwerk stieg Tristan seitlich von der Rolltreppe ab und hielt mir anschließend eine Glastür auf. Wir befanden uns wenige Stockwerke unter dem Scheitel. Hier oben hatte bisher kein einziger Termin mit mir stattgefunden.

„Hast du in letzter Zeit Jan gesehen? Ist dir an ihm etwas aufgefallen?“, fragte Tristan und klang dabei betont gleichgültig.

War ihm aufgefallen, dass Jan, überlebender Springer und neue Hülle des Strippenziehers, höchstens noch wie Jan aussah? Der Parasit hatte viele Namen und soweit ich wusste, war keiner davon sein eigener. Wie nannte man jemanden, den man nicht sehen konnte und der gleichzeitig ein bekanntes Gesicht präsentierte? Vom echten Jan war nichts weiter übrig, daran war ich nicht unschuldig. Die Entscheidung war er oder ich gewesen. Sein Gesicht würde mich für immer daran erinnern.

„Findest du, Jan hat sich verändert?“, fragte ich nach, ebenfalls möglichst gelassen. Ich wollte weder Tristan in eine Geschichte mit Springern und Wanderwesen hineinziehen, noch öffentlich Hinweise hinterlassen, dass ich Jan für etwas anderes als ihn selbst hielt.

Wir liefen zwischen etlichen Glaswänden entlang. Das hier war wohl die Etage für Besprechungen. Doch die Räume erschienen einer nach dem anderen leer.

„Vielleicht“, murmelte Tristan und blieb vor einer der Glastüren stehen, „Viel Erfolg, Mira, und … pass bitte gut auf dich auf.“

Tristan öffnete mir die Tür, drinnen erhob sich Henker zum Gruß. Der Schein von außen trog, von wegen hier war alles gläsern. Mit der Hand wies Tristan mich in den Raum und sagte: „Die Verspätung geht auf meine Kappe.“

Bei Michael Henker, einem der inoffiziellen Vorstände des Unternehmens, war das keine Kleinigkeit. Henker verfolgte wortlos, wie ich den Raum betrat und Tristan die Tür wieder schloss.

Wir setzten uns, dann erst begann Henker zu sprechen: „Dem Auftrag 4820 zur Erzeugung voller Transparenz über alle verfügbaren Ressourcen zum 8. Februar 2145 zu 39°46’29.6’’ Nord und 30°31’22.3’’ Ost wurde durch Sie, Frau Nielsson, umfänglich nachgekommen. Es liegen ein vollständiger Bericht und ergänzende interne Beschreibungen vor. Es ist …“

Ich konnte diesem Monolog nicht weiter zuhören. Mit einer schnellen Bewegung griff ich nach seiner Hand auf dem Tisch zwischen uns und schaute ihm in die Augen. Umgehend verstummte er, gefangen in seinem eigenen Kopf, dort den Sermon ungestört fortführend.

Ich atmete erstmal tief durch. Jetzt musste ich lediglich darauf achten, ihn pünktlich zurückzuholen. Ich beobachtete Henker genau, während ich die Ruhe im Raum genoss. Solche Tricks verwendete ich nicht oft. Tatsächlich hatte ich nie zuvor Henkers Gedanken gelesen, für Gewöhnlich eine notwendige Voraussetzung. Der Haken war allerdings, dass mir sein Gedankenmuster trotzdem vertraut war, da ich das seiner Kollegen kannte.

Gruselig, wenn sich Kollegen immer ähnlicher wurden. Bei der Mauer hatte das System, in der Form einer großen Gedankencloud. Nicht mehr selbstständig denken zu müssen, erhielt da eine ganz neue Dimension. Ob die Leistungseinheiten das wohl verstanden? Ein Albtraum.

Obwohl die Stille eine deutliche Verbesserung war und meine Anspannung abklang, konnte ich nicht lange untätig herumsitzen. Die Gelegenheit, mitten im Herzen der Mauer zu operieren, kam hoffentlich nicht wieder. Denn auch, wenn ich als Seherin die Gedankencloud über alle Angestellten anzapfen konnte, war es schwer, sich in diesem Irrgarten aus Steinen zurechtzufinden. Mit Henker sollte ich dichter am Zentrum des Labyrinths sein. Mich interessierte der Initiator des Auftrags 4820.

Ich starrte in seine offenen Augen und … nichts passierte? Wie konnte das sein? Normalerweise fühlte es sich kurz an, als würde ich fallen, um dann mental in der Realität meines Gegenübers zu landen. Wenn ich bereits eine Verbindung zu der Leistungseinheit herstellen konnte, wie hier, sollte das umso einfacher gehen. Stattdessen kam ich überhaupt nicht durch.

Widerstand gegen das Lesen von Erinnerungen war eine Leistung, die auf eine besondere Veranlagung deutete. War Henker ein Springer? Das bezweifelte ich, sonst hätte der erste Trick nicht funktionieren dürfen. Wieder beobachtete ich seine Regung genau, nichts Auffälliges. Eine Seherausbildung war ebenso auszuschließen. Wir waren wirklich wenige, Seher kannten einander.

Besaß er vielleicht ein latentes Talent? Sowas war in der Gedankencloud sicher hilfreich. Vielleicht war Henker auf diese Weise überhaupt erst an seine Position gekommen. Um weder ihn noch andere Kräfte in der Cloud auf mich aufmerksam zu machen, lehnte ich mich nach hinten und holte Henker zurück.

„… Wechsel spielten Nanobots eine unersetzliche Rolle. Bedenkt man die Vorbereitung, die alle Mitarbeitenden durchlaufen, schuf sich unser Gründervater quasi einen stetig wachsenden Pool an möglichen nächsten Hüllen“, fuhr Henker fort.

Mir stockte der Atem. Er sprach von Michael Grau als Wanderwesen? Das war interessant, denn eben dieses Wanderwesen bewohnte aktuell Jan. Was hatte Henker gerade gesagt? Woher kamen die Nanobots? Hatte die Vorbereitung etwas mit der Gedankencloud zu tun? Ich traute mich nicht, Henker zu unterbrechen, zu frisch war der Übergang meines Eingriffs.

„Hier, jetzt, ist es sicher zu reden“, sagte er in übernatürlicher Klarheit, „Je älter man ist, je weniger Fähigkeiten man hat, umso uninteressanter ist man als Hülle. Echte Sicherheit ist schwer. Die Herstellung der Nanobots ist sehr aufwändig. Es gibt verschiedene Arten für verschiedene Zwecke. Grau achtet darauf, genau eine Art zu sich zu nehmen, die dauert in der Herstellung und Programmierung am längsten. Jetzt gerade besitzt er keine von dieser Art. Sind Sie interessiert daran, eine Probe davon zu erhalten, sobald eine fertig ist?“

Eine Frage, das irritierte mich. Natürlich war ich interessiert daran, an allem, was sich gegen Jan einsetzen ließ. Aber ein paar Nanobots belasteten ihn nicht sofort und wenn ihre Herstellung derartig herausfordernd war, lag ihr Design wahrscheinlich längst in unseren Archiven.

„Zunächst bin ich daran interessiert, den Auftrag offiziell abzuschließen“, antwortete ich ausweichend.

Henker nickte, aktivierte ein holografisches Display und wickelte den Abschluss mit seiner Unterschrift ab. Das Display leuchtete auf meinen Augen noch nach, da erschien eine weitere Leistungseinheit im Raum wie aus dem Nichts: eine Springerin.

Wie viele gab es davon und warum zeigten sie sich mir, einem Seher und klassischem Erzfeind, immer öfter ohne besonderes Aufheben?

„Er will Sie sehen“, sprach Henker. Erst im Kontrast fiel mir auf, wie enthusiastisch er eben geklungen hatte. Weiterhin sachlich fügte er hinzu: „Denken Sie über das Angebot nach.“

„Man wirbt doch keine Mitarbeiterin von Inviermas ab“, sagte die Springerin und reichte mir ihre Hand.

Henker legte den Kopf schräg. Hier konnte ich ihm definitiv nicht antworten. Wie sollte ich ihn später erreichen, ohne den Rest der Mauer inklusive Jan davon in Kenntnis zu setzen?

Ich drehte mich von Henker fort und starrte auf die offene Handfläche der Springerin. Ich wollte nicht mit Jan reden, seine Antworten hatten stets einen Preis. Noch weniger wollte ich Jan jedoch gegen mich aufbringen.

Ein Gespräch konnte eine Gelegenheit sein, ihn persönlich über die treibende Kraft der Beauftragung zu befragen, solange ich vorsichtig war.

Wünsche

Nach einem Moment in Dunkelheit setzte mich die Springerin in einem Gang ab. Mein Blick fand einen rotblättrigen Baum, umgehend löste sich die Frau wieder auf. Zwischen den verglasten Stockwerken gefüllter Bücherregale lief ich auf den Baum zu, das Herzstück dieser Bibliothek. Ich befand mich im Springermuseum.

Die Welt und insbesondere Seher, glaubten in weiten Teilen, Springer gehörten der Vergangenheit an. Da ergab ein Museum Sinn. Die letzten Wochen hatten mich allerdings an zu vielen Springern vorbeigeführt, um dieses Märchen weiterhin zu glauben. Es ging mir nicht einmal um das Dimensionswandeln. Wirklich mächtige Springer hatten mich mit Kapselungen, also einem eigenen Taschenuniversum, oder dem Hervorzaubern diverser Gegenstände das Fürchten gelehrt.

Nun schlenderte mir der Lehrmeister dieser Lektion entgegen: Jan. Jemand mit derart viel Macht und Kontrolle war äußerst gefährlich. Anstatt sich zu verstecken, umgab er sich sogar mit Geschichten und Geschichte zu Springern. Er war stark genug, dass andere Springer seine Handlanger waren, und traute sich, an diesem über alle Etagen einsehbaren Verbindungsflur in Springermanier aufzutauchen.

Zur Begrüßung platzierte er Luftküsse rechts und links von meinen Wangen. Er vermied Hautkontakt, obwohl sich Springer von Natur aus dem Seherblick entzogen. Ihre permanente Existenz in mehr als drei Dimensionen konnten Nicht-Springer einfach nicht fassen – oder uns fehlte die Übungsgrundlage.

„Ich habe gehört, du suchst Verantwortung, Mira“, begrüßte er mich.

Er sprach von Verantwortung, als würde er es gut meinen. Als Parasit, der davon lebte, andere als Hülle zu missbrauchen, war es lachhaft, dass er annahm, mich könnte die Suche nach Verantwortung ausgerechnet zu ihm treiben. Zum Glück war es keine Frage.

„Hallo, Jan“, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab.

Ihn wollte ich nicht als Feind haben. In seiner letzten Hülle, Hu Hei, war ich über eine Spiegeltechnik mit ihm zurechtgekommen. Solange ich ihn nicht belog oder angriff, hatte er das ebenfalls unterlassen.

Jan schaute mich erwartungsvoll an: „Hast du keine Fragen?“

Da war es, eine direkte Aufforderung. Ich musste antworten, um den Spiegel zwischen uns zu erhalten. Fragen an ihn hatte ich zur Genüge. Hier ging es jedoch um Kontrolle. Nichts entzog sich seiner Kontrolle, diesen Schein musste auch ich bedienen und konnte ihn nicht offen herausfordern. So etwas endete tödlich.

„Es ist interessant, dass du von Verantwortung sprichst“, nahm ich seinen Wink auf, „Weißt du, wer den Auftrag initiiert hat?“

„Jeder von uns hat eine Entstehungsgeschichte“, meinte Jan, „und irgendwann müssen wir uns alle unserer Vergangenheit stellen.“

„Und das Blutbad in der Kapselung war deine Form davon?“, hakte ich nach, seinen jovialen Tonfall imitierend.

Besser wir redeten von ihm, anstatt von mir. Wie sollte ich mich meiner Vergangenheit stellen, wenn ich an meine ersten sechs Lebensjahre keine Erinnerung hatte? Aber was dachte ich da? Es war kein Vergleich, wenn ein Wanderwesen von Vergangenheit sprach. Bei ihm konnte das Jahrhunderte heißen.

„Etwas vielleicht, unbedeutend. Viel interessanter ist es, die Beweggründe eines Sehers zu verstehen, deines Lehrmeisters“, sagte er ohne zu stocken. Mit absoluter Gelassenheit starrte er mir in die Augen.

Was hatte das zu bedeuten? Was hatte Jan mit Nico zu tun? Die beiden waren sich nie begegnet. Auch andere Hüllen des Parasiten kannten Nico nicht, oder doch?

Nico hatte mich angeleitet, wahrscheinlich um das von Jan orchestrierte Blutbad überhaupt überleben zu können. Er hatte das Undenkbare möglich gemacht und war aus der Zukunft zurückgereist. Die Geschichte hatte er mir jedenfalls als Erklärung angeboten.

Wusste Jan, dass Niklas Falter jetzt nicht mehr Nico war? Laut der Zwillinge hatte Nico seinem gegenwärtigen Ich wieder den eigenen Körper anvertraut und war in eine andere Hülle weitergezogen. Das war nicht unähnlich zu einem Wanderwesen. Seiner neuen Gestalt musste ich erst noch begegnen.

Ich holte Luft, stockte aber im Atemzug. Diesmal hatte Jan keine Frage gestellt. Meine Mimik war schnell und für jemanden wie Jan leicht zu lesen, ich musste nicht obendrein den Mund aufmachen. Stattdessen atmete ich langsam aus.

„Weshalb wolltest du mich sprechen?“, fragte ich, sobald ich mein Gesicht neutral halten konnte.

Ein Grinsen bewohnte seins: „Ich möchte, dass du einen alten Freund für mich aufspürst.“

„Wozu braucht das mich?“, fragte ich ehrlich verwirrt, „Außerdem ist es–“

„Dazu kommen wir gleich“, fiel er mir ins Wort, „Wichtiger: Ich brauche ein Orakel von dir.“

„Wie soll ich …“

„Das schaffen? Indem du dein Talent einsetzt, was auch sonst. Darin bist du nicht nur ausgebildet, sondern auch ausgesprochen begabt“, er nickte entschieden, „Was das Aufspüren angeht, wirst du mit Lisa zusammenarbeiten.“

„Wie soll ich das alles schaffen? Ich habe einen anspruchsvollen Job, da bleibt kaum Freizeit“, sagte ich, noch bevor ich mich an die Spiegeltechnik erinnern konnte.

„Es ist ganz einfach. Heute lernst du Lisa kennen. Dann machst du ein paar Abfragen, das kannst du meinetwegen Arbeitszeit nennen. Geht gemeinsam auf die Pirsch und bringt Murat zu mir. Beeilt euch, dann bekommst du auch kein Zeitproblem“, er klang gelangweilt und schaute bereits auf fernere Ziele.

Dass er meinen Widerspruch nicht ernst nahm, hieß wenigstens, dass ich ihn mir nicht zum Feind gemacht hatte. Ich seufzte, das würde ich nicht ewig durchhalten. Wieso konnte nicht wenigstens ein einziges Mal ein Gespräch mit ihm ohne Überraschungen verlaufen?

Schließlich folgte ich seinem Blick und sah eine Frau auf uns zukommen. Sie kam mir vage vertraut vor, ich öffnete meinen Geist für meine Umgebung und um ihr Gedankenmuster erkennen zu können.

Drei Meter von uns blieb sie stehen. Sie fühlte sich nicht besonders an und ihre Gedanken blieben mir verborgen, ein sicheres Zeichen, dass ich sie noch nie gelesen hatte. Gleichzeitig erfasste mich eine Müdigkeit, als würde ein Gewicht oder Schatten an meinen Gedanken ziehen.

Eine Gruppe ging zwischen uns durch. Bis eben hatte ich keine Besucher bemerkt. Hatte das Museum jetzt erst geöffnet? Es war mitten am Tag. Hatte Jan den Gang vorher blockiert? Fragen über Fragen.

Die Gruppe zog weiter und die Augen der Frau haftete wieder auf mir. Sie wirkte mürrisch, obwohl sie lächelte. Sie kam mir bedrohlich vor, obwohl sie neben Jan stand. Mindestens der Kontrast zu ihm hätte sie positiv zeichnen müssen. Stattdessen kam sie mir immer düsterer vor. Das ergab keinen Sinn … außer ich sah mit mehr als meinen Augen. Konnte es sein …?

„Du bist ein Lauscher“, stieß ich hervor, obwohl ich vermutete, dass ich nicht laut sprechen musste, damit sie mich hören konnte. Sie war es, die mir die Energie entzog, ein Klotz an meinem mentalen Bein.

„Lisa“, korrigierte sie mich mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen. „Du bist aufmerksam.“

„Ihr ergänzt euch ausgezeichnet“, bemerkte Jan, „Lisa kennt meinen Freund und kann dir ein Bild vermitteln, damit du ihn schneller findest, Mira.“

Ein Bild vermitteln? Das würden wir ja sehen. Jetzt, da ich verstand, mit was ich es hier zu tun hatte, wusste ich mir zu helfen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Lisa und dachte so laut ich auf die Schnelle konnte: Probiere es nur, wenn du dich traust.

Sie zuckte zurück, als hätte sie jemand geschlagen. Kurz wirkte es sogar, als würde sie zusammensacken. Sie fing sich wieder und nuschelte: „Verdammte Seher.“

„Soll ich lauter aufdrehen?“, fragte ich und ging einen Schritt auf sie zu, „Ich glaube, ich habe noch kein vollständiges Bild erhalten.“

Sie drehte ihren Kopf, bis es knackte, bleckte die Zähne und zischte: „Gerne, beschwer dich nur nicht, wenn ich mich dadurch an dir sattsaufe.“

Die klassische Ausrede dieser Sauger: ein immerwährender zellulärer Hunger, weswegen sie gar nicht anders konnten, als anderen Energie abzuzwacken. Fremde Gedanken belauschen und dabei Lebensenergie stehlen, wie unsympathisch. In der heutigen Welt hatte jeder Hunger. Sauger spürten den vielleicht deutlicher, doch wir alle lebten in einer Energiekrise. Sich an Schwächeren zu bereichern, war schlichtweg widerwärtig und falsch.

„Kinder“, rief Jan und reichte uns eine Hand, „es geht nicht um einen dahergelaufenen Bengel, sondern um Murat. Murat ist ein sehr alter Freund von mir. Die letzten 30 Jahre habe ich sein Versteckspiel geduldet, das reicht jetzt. Er soll wiederauftauchen, ihr liefert ihm dafür die Motivation.“

Alter Freund, 30 Jahre verschollen, geschickt darin unterzutauchen. War das ein weiteres Wanderwesen? Wenn jemand wie er keine Chance hatte, Jan zu entkommen, wie sollte mir das gelingen? Da mir die Kraft fehlte, um mich zu widersetzen, blieb mir lediglich zu beeinflussen, wie ich weiterkam.

„Nicht mit ihr“, sagte ich und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Lisa.

Jan hob die Hände und sagte: „Klärt das unter euch. Du kannst selbst eine Spur finden“, dabei schaute er mich an, „aber ihr arbeitet nicht gegeneinander.“

Mit diesem Schlusswort war er verschwunden. Mir blieb nichts, außer Lisa unverhohlen anzustarren. Murat, ein Kumpel von Hu Hei oder sogar einer noch weiter zurückliegenden Hülle von Jan. Das machte eine traditionelle Schürfung verdammt schwer.

Trotzdem könnte ich es erstmal versuchen. Das wäre definitiv besser, als mich mit dieser Saugerin einzulassen. Außerdem war meine Stelle bei In4ma$ zweifellos der Grund, weshalb Jan mich mit dieser Suche beauftragte.

Überhaupt war es vielleicht geschickter, nicht zu schnell ein Ergebnis zu liefern. Solange ich für ihn einen Nutzen besaß, war ich relativ sicher. Wie skrupellos er sich von überflüssig gewordenen Beratern trennte, hatte er während des Massakers bewiesen. Verrückt genug hatte Schmidt stillgehalten und Suppa sich und ihn ermordet.

„Was weißt du von Familie?“, fragte Lisa.

„Du sprichst von Familie? Glaubst du, er würde dir auch nur eine Träne nachweinen?“, entgegnete ich, „Was trägst du schon zu der Suche bei?“

Lisa zuckte mit den Schultern, drehte sich ins Profil und konterte: „Ach, nichts, außer zu kontrollieren, dass du nichts unter den Tisch fallen lässt.“

Das auch noch. Natürlich umgab sich Jan mit Ganoven der Spitzenklasse und Lisa bildete keine Ausnahme. Sie war nicht der übliche Sauger, der irgendwann an Zelltod starb. Nein, sie hatte selbstverständlich das überaus spezielle Talent, Wahrheit und Lüge in ihren Opfern zu schmecken.

Deshalb hatte sie mich vorab treffen sollen: nicht um ein Bild auszutauschen, sondern um meine Energiesignatur im Ruhezustand zu messen. Zum Glück ließ mich Jans Gegenwart sicherlich niemals in Ruhe. Und obwohl ich ungern unter Beobachtung stand, war es doch ein Zugeständnis von seiner Seite: Er hatte keine andere Möglichkeit, als mich von außen zu kontrollieren.

Allein, dass er es für notwendig hielt, meine Ehrlichkeit zu überprüfen, verwunderte mich jedoch. Was hieß das für den Spiegel, der zwischen uns hing? Drohte er zu zersplittern oder waren diese Spielregeln etwas Unterbewusstes bei Jan? In unserer Beziehung hatten Fairness und Ehrlichkeit von Anfang an einen besonderen Status genossen. Das schloss miese Tricks zwar nicht aus, aber wenigstens war der Rahmen geklärt. Dadurch war ich bisher unversehrt geblieben. Dachte ich.

Vielleicht war sein Rezept auch viel einfacher: außergewöhnlich talentierte Leistungseinheiten um sich scharen und für sich arbeiten lassen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wäre es wohl genau solche Macht: Einfach andere beauftragen zu können. Eigentlich würde es mir genügen, stets eine Antwort auf meine Fragen zu lesen. Das wünschten sich wohl alle Datenschürfer.

Lisa drehte sich um, winkte mit den Fingern über die Schulter und verschwand in dem Treppenhaus auf der rechten Seite des Gangs. Warum spielte sie mit? Als Lauscher war sie ein schlechterer Seher, doch einen Springer könnte sie ebenso aussaugen wie jeden anderen. Wenn sie Jan als Familie beschrieb, wollte ich sie umso weniger berühren.

Findling

Den restlichen Tag verbrachte ich wie jeden gewöhnlichen Donnerstag im Büro, wo ich endlich auch das nächste Nährstoffpaket für mich fand. Eine schnelle, grundlegende Suche nach Murat blieb im ersten Versuch erfolglos. Der Name war einfach zu weit verbreitet.

Mehr als einmal kam mir in den Sinn, Nico bei diesem Sonderwunsch um Hilfe zu bitten. Da ich nicht wusste, wo er aktuell war, geschweige denn wie er aussah, musste ich darauf warten, dass er sich aus eigenem Antrieb meldete.

Ohne größeren Auftrag blieb mir nichts, außer mich in die Beantwortung von Standardanfragen einzuhängen. Die häufigste Frage: Welche Tätigkeit ist für mich verfügbar? Da galt: Standort abrufen, Aufträge abfragen und mit dem Fähigkeitenkatalog der Leistungseinheit abgleichen – für eine nicht enden wollende Anzahl an Anfragen. Dazwischen waren Anleitungen, beispielsweise für besondere Tätigkeitsschritte, willkommene Exoten.

Gerademal einen Tag später war ich verzweifelt genug, Niklas’ Bewegungsprofil aufzurufen. Er hatte einer Live-Überwachung zwar widersprochen, die Historisierung seiner Daten jedoch nie deaktiviert. Damit konnte ich mir seine vergangenen Aufenthaltsorte anschauen. Ich brauchte jetzt einfach Nicos Hilfe.

Auf der Suche nach einer ausreichend langen Begegnung, bei der Nico die Hülle gewechselt haben könnte, hatte ich keinen Erfolg. Ohne offiziellen Auftrag kam ich nicht an die tieferliegenden Datenschichten heran. Wie schön wäre es, einmal ohne Hindernisse an eine Lösung zu kommen.

Sollte Jans Geduld einbrechen, wollte ich nicht mit leeren Händen dastehen und ohne Nicos Hilfe kam ich wirklich nicht weiter. Mir blieb genau eins: Niklas anzurufen.

Es klingelte in der Leitung. Einmal, zweimal, dreimal. Es war Freitagvormittag, warum ging Nik nicht ran? Er sollte mir nur kurz erzählen, woran er sich bei dem Körperwechsel erinnerte und was er über die neue Hülle von Nico wusste. Zumindest das musste er gesehen haben.

Ich schloss meine Augen. Bitte geh ran.

„Moin Mira“, Nik klang völlig außer Atem, „Wie … wie geht es dir?“

Meine Augen flogen auf: „Hallo Nik. Ich suche jemanden und hoffe, du kannst mir eine Beschreibung geben.“

„Gut, danke der Nachfrage“, sagte er trocken. Jetzt drang auch sein Kamerabild zu mir durch, er schaute mir mit hochgezogener Braue entgegen. „Suchst du meinen Rat als Seher, Kollege oder eine nette Stimme?“

Das war nicht mein Nico. Er hätte niemals ein Wort wie nett verwendet. Das war Niklas Falter. Derselbe Mensch wie Nico, angeblich wenige Jahre jünger. Es klang eher nach Jahrzehnten. Und derselbe Mensch, der mir mit seinem Zwilling, Chris, in der Kapselung geholfen hatte.

„Als Individuum. Weißt du, wie …“, ich stockte.

Wie fragte man jemanden, ob er wusste, wo sein zukünftiges Ich gerade steckte? Soweit ich Niks Reaktion bisher einschätzte, besaß er kaum Erinnerungen an die Wochen als Nico. War Nico längst zurück in der Zukunft?

Nein, ohne den Mechanismus im Detail zu verstehen, war klar: Eine Zeitreise benötigte viel Energie. Wenigstens klang die Zukunft, als gäbe es irgendwann wieder genug Saft für alle.

„Hallo?“, fragte Nik und winkte im Kamerabild.

Ich schüttelte mich: „Du weißt ja, dass wir uns bereits vor ein paar Wochen getroffen haben und ich von dir einige Sehertechniken gelernt habe.“

„Habe ich von gehört“, bestätigte Nik knapp. Er sah nicht glücklich aus.

„Das war ein Mentor für mich. Ich suche ihn. Hast du eine Ahnung, wie ich ihn finden könnte?“, fragte ich schnell.

Nik pfiff durch seine Zähne: „Das ist mal direkt. Da kann ich dir nicht viel erzählen. Nach dem Wirtswechsel hat Chris mich gefunden. Überhaupt, warum fragst du mich? Gibt nicht viele Seher, die sich mit dem Dunklen zweier Seherzwillinge abgeben würden.“

„Chris? War ja klar“, diesem Retter in weißer Rüstung würde ich sicher nicht hinterherlaufen. Da war mir der selbsterklärte Dunkle viel lieber. Zu Nik sagte ich stattdessen: „Lass dich von den alten Meistern nicht runterziehen, die sind nur eifersüchtig auf das, was du kannst. Wo hat Chris dich gefunden?“

„Meister“, brummte Nik, dann schien er etwas nachzuschlagen und antwortete gedehnt: „Auf der Löwenstraße.“

„Okay. Ist das etwas Besonderes?“, hakte ich nach, weil ich seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten wusste.