An der Grasnarbe - Mirjam Wittig - E-Book

An der Grasnarbe E-Book

Mirjam Wittig

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Beschreibung

Jetzt hütet Noa also Schafe. Um ihren Angstattacken in der Großstadt zu entfliehen und aus Sehnsucht nach dem einfachen Leben,ist sie als freiwillige Helferin auf einen Hof nach Südfrankreich gekommen. Hier leben Ella, Gregor und ihre elfjährige Tochter Jade von ihrer Herde und dem, was sie auf den Äckern anbauen. Doch das wird immer beschwerlicher, die Sommer werden heißer. Auch Noa bemerkt die Risse im Boden und wie wenig Wasser der Fluss führt. Das Landleben zeigt sich nicht weniger aufreibend als Noas früheres Leben. Und in der Abgeschiedenheit der Berge holen sie auch die Ängste und inneren Widersprüche ein, mit denen sie bereits zuhause zu kämpfen hatte.

In An der Grasnarbe treffen innere und äußere Landschaften aufeinander, die nicht nur durch die Klimakrise ins Wanken geraten. Mirjam Wittig erzählt davon mit großem Einfühlungsvermögen und starker atmosphärischer Kraft – als ob man die Berge und Täler vor sich sieht, die Schafsglocken hört, Trockenheit und Hitze auf der Haut spürt. Ein aufregendes Debüt!

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Seitenzahl: 241

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Titel

Mirjam Wittig

An der Grasnarbe

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2022Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Nurten Zeren, Berlin

eISBN 978-3-518-77242-3

www.suhrkamp.de

Motto

Unter deiner Führung werden etwa noch verbliebene Spuren unseres Frevels ihre Wirkung verlieren und so die Lande von ständiger Furcht befreien. […] Die Erde muss keine Hacke mehr erdulden, die Rebe keine Sichel; auch der starke Pflüger wird seine Stiere vom Joch befreien. Die Wolle muss nicht mehr lernen, verschiedene Farben vorzutäuschen, vielmehr wird der Widder auf der Wiese sein Fell von selbst bald in lieblich rotem Purpur, bald in krokusfarbenem Gelb erstrahlen lassen; von selbst wird weidende Lämmer Scharlach kleiden.

Vergil, Eclogae

An der Grasnarbe

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

Motto

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Epilog

Dank

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Prolog

In Paris konzentriere ich mich die ganze Zeit auf anderes, um nicht, es wird mir hier nicht, auf dem Weg nicht, es wird diesmal: Ich atme rechtzeitig tief ein und aus, falte die Lunge auf, die Lunge wieder ein wie eine Papiertüte entlang ihrer Knicke.

Wenn ich die Augen einen Moment über das Blinzeln hinaus schließe, sehe ich wieder einen, sehe ihn in die Luft gehen, mich unter einen Sitz klappen, sehe ich die Explosion, den Kopf eingezogen, fühle die Druckwelle, höre, sehe, wie einer ein Zeichen und dann etwas drückt, ein Zeichen macht und etwas schreit, und dann ist alles zerfetzt. Ich öffne die Augen. Als ob ich wüsste, was eine Druckwelle mit dem Körper macht.

Ich atme und atme und konzentriere mich möglichst darauf, ich beachte die Gepäckstücke nicht, die Gepäckstücke von Männern (auf allen Bildern und Audiospuren sind es Männer), ich beachte ihre Tagesrucksäcke nicht, ihre Gürteltaschen, Koffer, Tüten, Reisetaschen. Ich höre die Kofferrollen nicht, die über die Schwellen der Rolltreppen klacken oder über die Platten am Boden. Es klackt ohne mich. Auf die Lungenflügel, meine im Brustkorb eingeknickten Flügel, konzentriere ich mich, auf meine Schritte, auf den Weg. Durch die gewölbten Fenster fällt schon die Dämmerung, in der Halle laufen die Menschen in Feierabendströmen, hunderte Nachhausewege, Pendelschritte in die Bahn, in die Nachbarstädte oder die Banlieues. Alle kennen sich aus in den identisch aussehenden tunnelartigen Passagen, kein Zögern ist zu erkennen, niemand fingert nach wenigen Schritten schon wieder, noch einmal, ein letztes Mal noch die Fahrkarte aus dem Rucksack, als wäre sie ein Kompass.

Es funktioniert. Ich kann die Ordnung halten. Ich beachte das helle Rattern der Gepäckwagen nicht (Gepäckwagen, wie sie auf den Aufnahmen des Brüsseler Flughafens zu sehen waren, einer darauf trug einen Fischerhut, schlimm genug, ein Hütchen war das, ein unfassbar banales Detail). Ich sehe niemanden lang genug an für einen echten Verdacht, einen unerträglichen Verdacht, den ich nie wiedergutmachen kann. Wie ich keine dieser Situationen wieder einholen kann, zurückdrehen, ich kann nicht einfach zu einem hingehen und sagen: Es tut mir leid. Tut mir leid, wirklich, dass ich einen wie dich, nein, konkret dich für einen Mörder halte – das ist mein Fehler. Stattdessen sehe ich die Platten am Boden an und Pfeile darauf, die mir den Weg zum Bahnsteig weisen. Durch die Passage und hinunter, zur Metro, einen der Schächte hinunter, tiefer gelegen und wärmer ist es hier, hier unten in den U-Bahn-Schächten, den U-Bahn-Gedärmen.

Am Bahnsteig ist die Wasserflasche in meiner Hand wie ein Baseballschläger aus Alu, das denke ich nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ein wenig Beruhigung liegt trotzdem darin. Ich trinke in kleinen Schlucken, um mich heben und senken die anderen die Brustkörbe, eng an mir, nah, fast nackennah, ihre Atemwolken. Im Gedränge ist das nicht einzuschätzen, ob einer in meiner Nähe so einen Gürtel umgeschnallt oder etwas in seiner Sporttasche – ob da einer nervös aussieht, übernächtigt, wie einer, der gleich eine Pistole zieht.

Den blanken Boden kann ich am Gleis nur selten sehen, so viele Schuhe stehen darauf.

Die Bahn fährt ein, Luft kommt mit ihr aus dem Schacht und reißt an den Bändern meines Rucksacks, der Wind macht ein Geräusch, als er so aus dem Tunnel platzt. Ich muss die Schultern erst wieder entkrampfen. Vor mir stößt eine aus der U-Bahn, eine junge Frau stößt zu einem hin, als sich die Türen öffnen, wird von ihm begrüßt. Ich drehe den Kopf zu ihnen hinüber, um den Moment der aufkommenden Münder nicht zu verpassen, ihr großes Lächeln vorher und dann die Gesichter, wie sie an den Lippen heftig aufschlagen.

1

Es war kalt am Rand der französischen Landstraße, deren Asphalt unter einer einzelnen Laterne glänzte, und es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis überhaupt das erste Auto auftauchte, ein Citroën, der irgendwann einmal weiß gewesen sein musste. Er hielt direkt vor mir, und bevor ich in Panik ausbrechen konnte, stieg die Fahrerin aus und war Ella, die freundlich lächelte und gekommen war, um mich abzuholen.

»Damit fahren wir manchmal auch Schafe zum Schlachter«, sagte Ella und warf mein Gepäck in den hinteren Teil des kleinen Transporters. »Na ja, oder zu einer anderen Weide. Einmal sind uns ein paar Böcke ausgebrochen, die wir dann einzeln von der Landstraße sammeln mussten. Die waren vielleicht gestresst, die Armen.« Ich lächelte höflich. Im Auto war es dunstig und warm, es roch nach Stroh, Schafskot und Plastik.

Die Scheinwerfer erlaubten mir nur einen eingeschränkten Blick in die Umgebung. Alles war spitz, die Felskanten, die sich rechts bis an den Straßenrand zackten, das Gestrüpp, das dazwischen hervorragte. Die ganze Busfahrt über hatte es geregnet, hier hing nun die Feuchtigkeit über der Fahrbahn. Nebel stand in den Kurven, und ich konnte nicht sehen und nicht ahnen, was dahinter lag. Als irgendwann ein paar wenige erleuchtete Fenster im Dunkel zu erkennen waren, zeigte Ella darauf und sagte, dass sie dort wohnten. Sie lenkte den Wagen routiniert, nur die Kupplung klang, als würde sie direkt über den Asphalt kratzen.

»Gregor hat hoffentlich schon gekocht. Bist du Vegetarierin?«

Ich nickte.

»Ich hoffe, nicht zu streng. Unsere Tochter ist im Moment krank, da können wir unmöglich was ohne Fleisch machen.« Sie lachte. »Na, mal sehen, wie die Stimmung ist.«

Ich suchte nach etwas, das ich sagen könnte. Schweigend sah ich in die Dunkelheit, mit einem Gefühl, als stünde ich noch allein an der Straße.

»Ach, ihr habt eine Tochter?«, sagte ich dann. »Das hab ich in den E-Mails gar nicht verstanden.« Nur einmal hatte sie eine Jade erwähnt, da hatte ich gedacht, was für ein exzentrischer Name für einen Hund.

Jade trug einen blauen Pullover, das war alles, was ich von ihr sehen konnte. Sie lag auf dem Sofa in der Wohnküche, als wir ankamen, und beachtete mich erst einmal nicht. Sie rief nach Ella, die sich sofort zu ihr setzte, ohne nur ihre Tasche abzulegen oder ihre Schuhe auszuziehen. Die beiden begannen, miteinander zu flüstern. Der Mann, Gregor, stand mit dem Rücken zu mir über die Spüle gebeugt. In der Sekunde, in der Ella in den Raum gekommen war, hatte er angefangen, mit ihr zu sprechen. Er drehte sich dafür nicht um und bemerkte offenbar nicht, dass Ella mit ihrer Tochter beschäftigt war. Ich stand an der Schwelle und musste immer wieder zum Telefon schauen, das in Griffweite neben mir auf dem Computertisch lag. Ich wollte es gern nehmen. Ich wollte es unbedingt nehmen und andere Stimmen hören als die, die dieser Raum bot, Lukas, Aseel und Mejet, Merle. Die Autofahrt mit Merle, noch in Stunden zählbar lag die zurück, als ich neben ihr saß und sie fragen wollte, ob sie vielleicht den ganzen Weg mit mir kommen, mich abends ins Hostel und morgens zum Bahnhof tragen könnte: Kannst du für mich im Restaurant bestellen und mir das Essen in den Mund schieben, unter das Tuch, das ich von jetzt an über meinen Kopf legen will? Kannst du den Menschen an der Rezeption erklären, warum du mich auf dem Rücken hast und mein Vormund bist und warum ich dieses Tuch vor dem Gesicht tragen muss?

»Hallo Noa«, sagte Gregor und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er hatte die Hände noch voller Schaum, als er zur Begrüßung mich und den Rucksack umarmte und ich endlich ganz in den Raum gekommen war. Er nahm mir den Rucksack ab, zögerte kurz und stellte ihn dann doch nach draußen in den Flur. »Hier ist nie genug Platz«, sagte er. Ich durfte mich an den Tisch setzen, nein, ich solle nicht helfen, sondern mich ausruhen. Ich sah mich möglichst unauffällig um. Die Wände der Stube waren an vielen Stellen von Ruß oder etwas anderem dunkel verfärbt. In der Nische, in der früher der offene Kamin gewesen sein musste, stand ein kleiner Holzofen, die Wand dahinter zeigte die Steine der Außenmauer. Der Kaminsims war vollgestellt mit Zeug, manches konnten Tierknochen sein, anderes war vor Staub unkenntlich, ein paar ausgeblichene Plastikfiguren aus Überraschungseiern waren dabei.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Die Holzbohlen der Zimmerdecke bildeten wahrscheinlich gleichzeitig den Fußboden des oberen Stockwerks. An manchen Stellen sah das dunkle Holz angegriffen aus, hatte weiße Spuren, ich konnte nicht sagen, ob von Feuer oder von Schimmel. Als ich mich weiter umschaute, traf mein Blick den Blick des Kindes. Jade hatte aufgehört zu flüstern und musterte mich, nicht lauernd, aber sehr aufmerksam für ein krankes Kind. Ella saß nicht mehr bei ihr.

»Hallo.« Ich lächelte, aber mein Kiefer war ganz angespannt.

»Hallo.«

Dass ihre Augen mir derart grün auffielen, lag vielleicht am Licht. Sie musste diese ersten Abende gewohnt sein und übernahm die Unterhaltung für mich.

»Bist du gut angekommen?«

Ich nickte sofort.

»Ja, es hat nur sehr lang gedauert, aber war okay, habe ja eine Nacht Zwischenstopp gemacht.«

»Mir geht’s nicht gut heute, ich hab Bauchschmerzen«, sagte sie schwach und lehnte den Kopf zurück.

»Kommst du jetzt trotzdem mal an den Tisch, bitte.« Gregor stellte die dampfende Auflaufform vor mir ab. »Wir werden nicht essen, während du da wehleidig auf der Couch liegst.«

Ella, die in seinem Rücken stand, schüttelte den Kopf und machte, zu Jade hin, eine Grimasse. Sie streckte die Hand aus: »Na komm, du kannst auf meinem Schoß sitzen.«

Vor dem Haus wuchs eine Zeder. Vom Kinderzimmer aus, in dem ich die erste Nacht geschlafen hatte, konnte ich den Tau in ihren Zweigen hängen sehen und wie weit ihre Äste in die Luft griffen, mehr nicht. Die Gegend blieb verdeckt. Unter der Zeder stand der Citroën C15, mit dem Ella mich abgeholt hatte. Ein Modell, das nicht mehr hergestellt wurde, aber es hatte sich hier ein Schwarzmarkt um die letzten Exemplare gebildet. Anstatt es wieder in Produktion zu nehmen, Gregor hatte das mit einer abfälligen Handbewegung gesagt, Franzosen nachgeschoben.

Im Kinderzimmer konnte ich meinen Atem sehen, so kalt war es. Ich zog mich in verkrampfter Haltung an, mein Blick fiel auf den Spiegel. Es hatte etwas Komplizinnenhaftes, ich hätte meinem Gegenüber-Ich zuzwinkern können, aufmunternd, als wäre eine von uns Merle, die mir sagte, dass hier alles leichter und morgen schon besser sein würde.

Ich würde heute als Erstes mit Jade und Gregor die Schafe auf den Bergrücken bringen und dort ein paar Stunden hüten. Demnächst solltest du das dann allein machen, hatte Ella vor dem Schlafengehen gesagt.

Ich kam in die Wohnküche, niemand war dort, der Raum kahler als am Abend, es stach viel stärker ins Auge, dass die Wände nicht verputzt waren. Eine Almhütte mit karierter Tischdecke haben wir hier nicht, gell, ich hatte diesen Satz aus Ellas letzter Mail nicht deuten können, ob darin Witz lag oder Aggression.

Ich fand die kleinen Schüsseln, schnitt mir eine Banane in Haferflocken und goss Milch aus einer Plastikflasche vom Discounter dazu. Um sie dann nicht essen zu können, weil mein Magen ein Knoten blieb.

Ella würde erst mittags aus dem Gemeinschaftsladen nach Hause kommen, in dem Produkte der kleinen Höfe aus allen umliegenden Tälern verkauft wurden. Gregor und Ella boten dort Konserven an, vor allem aber Marmeladen, hin und wieder ein Chutney. Im Kühlschrank entdeckte ich angebrochene Gläser, ich würde sie aufschrauben und daran riechen, wenn die Übelkeit überwunden wäre.

Ich war zu früh aufgestanden. Eine Stunde lang hörte ich der Uhr zu, die man von der Wand nehmen und als Küchenwaage benutzen konnte, ich blätterte in Werbeprospekten, die sich auf dem Couchtisch stapelten, und begann, Messbecher und Schöpfkellen zu spülen. Ich wagte mich nicht aus dem Raum. Am Ende müssten sie mich suchen, und dann wäre ich schuld an einer Verspätung. Das Müsli wollte ich nicht wegwerfen und nicht stehen lassen. Ich stellte es schließlich hoch in die Kühlschrankkälte des Kinderzimmers und hätte lachen können über diese Peinlichkeit oder Merle davon erzählen oder mir in die Hand beißen.

Endlich kam Jade die Treppe nach unten gewankt, Schlaf in den Augen und in einem ganz verdreckten Sweatshirt.

»Papa ist schon draußen, glaub ich.«

Als wir uns die Schuhe anzogen, fragte ich sie erst, ob es ihr besser gehe, und dann, wie ihr Name richtig ausgesprochen würde. Wir hatten kaum Blickkontakt. Ich musste zu leise gesprochen haben, sie verstand erst beim zweiten Anlauf. Schon am Abend hatte ich ständig etwas wiederholen müssen, mit angestrengter Stimme. Diese Kleinheit an mir war schwer auszuhalten. Merle hätte gesagt, dass man geduldig sein müsse mit einem ersten Tag.

»Du musst es französisch sagen.« Jade machte es ein paarmal vor, französisch weiches s-c-h und dann am Ende das kaum hörbare e.

»Wenn man das deutsch aufschreibt, würdest du Schade heißen!« Ich wollte sie angrinsen, aber sie war schon los und sprang die Treppe hinunter. Immerhin konnte ich hören, dass sie lachte, als sie Hä, Quatsch rief.

Gregor stand mit den beiden Hunden an der Weide auf der anderen Seite der Straße und winkte uns zu sich. Den Namen der älteren Hündin hatte ich mir nicht merken können. Der Große, WolfZwei, reichte Gregor bis über die Hüfte, wenn er saß. Gregor öffnete das Gatter und schüttelte einen Eimer mit Körnern. Die Weide lag am Hang, und über die abschüssige Wiese bewegten sich die Tiere nur langsam in unsere Richtung, immer wieder blieben sie stehen, um vom kurzen Gras zu fressen. Es regnete leicht, und sie kamen mir schmutzig vor, fast grau.

»Normalerweise lassen wir sie den ganzen Winter über allein auf dem Berg, hierher kommen sie eigentlich erst viel später. Wir bringen sie im November einmal rauf, und dann ist gut«, sagte Gregor. Jade war auf die Weide verschwunden. Als ich sie wieder sah, lief sie hinter den Schafen her und trieb sie an.

»Die laufen selbstständig die Hänge ab und fressen die Kastanien vom letzten Jahr. Wir fahren nur einmal am Tag hoch, um ihnen Wasser zu geben und selten mal einen neuen Salzstein.«

Gregor drehte sich um und ging vorweg, mitten auf der Straße. Ich hielt mich neben ihm, einige Meter hinter uns folgten die Tiere, die Hunde liefen neben Jade. Für einen kurzen Moment konnte man zwischen den Bäumen über uns das Haus sehen, wie es sich langgestreckt vom Berg abhob, steinern und nur um die Fenster herum hell verputzt. Es mussten noch andere Menschen darin wohnen, bisher hatte ich weniger als die Hälfte des Hauses gesehen. Ich kam nicht dazu, Gregor danach zu fragen – ich war damit beschäftigt, den Kopf zu drehen und zurückzuschauen: die wackelnden Schafskörper, dicht gedrängt hinter uns, absurd und schön.

»Wir haben Winter- und Sommerweiden. Eigentlich ist, was wir machen, eine halbe transhumance.«

Er bemerkte, dass ich schwieg.

»Der Wechsel der Herde von einem an den anderen Ort. Es gibt einen großen Umzug hier jeden Sommer, vergleichbar mit dem Almauftrieb in Deutschland. Tausende Tiere ziehen mit. Von hier aus sind es zu Fuß immer noch zwei Wochen bis auf die Hochebenen. Ella findet es albern, sie nennt das Schäferromantik. Hat sie vielleicht recht. Aber es muss atemberaubend sein, mitzumachen.«

Ich nickte und konnte es mir doch nicht vorstellen. Schon das hier, mit fünfzig Tieren mitten auf der Landstraße zu gehen, kam mir unlogisch vor, als ob es nicht wahr wäre, wie zu lange her. Mir froren die Füße. Eine Weile ging es bergauf, es kam nicht ein einziges Auto, das für uns hätte anhalten müssen. Auf der linken Seite begrenzte eine Mauer die Straße, dahinter musste es weit in die Tiefe gehen, es waren nur die Spitzen der Bäume zu sehen, die viel weiter unten wurzelten. Aus dem Talkessel stieg vielleicht Nebel auf, vielleicht waren es Wolken, ich wusste nicht, was den Unterschied ausmachte.

Rechts von uns wuchsen Gestrüpp und geduckte Bäume am Hang, die ich für Olivenbäume hielt, ich konnte den Arm ausstrecken und nach den festen Blättern greifen. Am Boden darunter ragten Felsen und Steine hervor.

»Die sind südeuropäisch, winterhart, die behalten ihr Laub das ganze Jahr. Heißen Grüneichen, wahrscheinlich kennst du sie nicht, oder? Die kommen in Nordeuropa nicht vor, na, zählen wir Deutschland mal zu Nordeuropa. Die Hälfte des Kontinents, die Sachen geregelt kriegt.« Gregor griff plötzlich nach einem Grüneichenstamm, setzte den Fuß auf einen Felsvorsprung und fing an, den Hang hochzuklettern. Ich folgte ihm. Ich kannte Gregor noch nicht genug, um eine Diskussion über den Preis für oder seine Definition von etwas geregelt kriegen anzufangen – aber wann kannte ich überhaupt jemanden genug für eine Diskussion: Ich schwieg wieder und schämte mich, als wäre das ein legitimer Beitrag.

Der Berghang stieg steil an, und der Nieselregen ließ den Boden seifig werden, einmal rutschte ich aus. Ich sah mich wieder um, die Schafe kamen uns ohne Probleme nach. Schafe seien erstaunlich gute Kletterer und auch mit Gämsen verwandt. Gregor keuchte.

»Wir haben sie eigentlich gerade erst runtergebracht. Aber jetzt will Ella doch, dass die Hänge noch einmal systematisch abgefressen werden. Die Wiese muss noch ein bisschen wachsen. Ich hätte sie gleich oben gelassen, das hätte Zeit gespart. Andererseits, so siehst du direkt, wo du hier bist, kannst dich auf oben freuen.«

Es dauerte eine Weile, bis fast kein Tier mehr auf der Straße ging. Nur eines blieb einfach stehen. Jade, nicht viel größer als das Schaf, packte zu, grub ihre kleinen Hände in die Wolle und stemmte sich dagegen, bis das Tier nachgab und den anderen folgte.

»Wie stark du bist«, rief ich ihr zu, sie zuckte mit den Schultern und wirkte trotzdem zufrieden.

Der Aufstieg erforderte nun Konzentration, und auch Gregor sprach nicht mehr. Irgendwann lichtete sich der Wald, die Grüneichen wurden von Kastanien abgelöst, zwischen deren Stämmen mehr Platz war. Die Steigung nahm ab, es ließ sich bequem gehen. Gregor hielt an.

»Jetzt lassen wir sie einfach ein, zwei Stunden laufen und nehmen sie später wieder ein Stück mit nach unten. Da gibt es eine Stelle, an die wir ihnen das Wasser mit dem Auto bringen können.« Er stützte sich auf den Stab, den er unterwegs benutzt hatte, um einzelne Tiere zurückzuhalten, die sich an ihm vorbeidrängten. Die Herde zerstreute sich, man hörte sie, das einzige Geräusch, überall im Laub wühlen. Ich hockte mich hin und streckte die Hand nach einem dicken Schaf aus, das auf einer Kastanie kaute. Bevor ich es berühren konnte, lief es weg, das versetzte mir einen Stich, und ich hoffte, dass weder Gregor noch Jade es gesehen hatten. Jade blieb weiter unten, außerhalb meiner Rufweite, vielleicht mit Absicht, vielleicht, um in Ruhe mit den Hunden zu spielen.

Ich richtete mich auf und streckte den Rücken. Ich müsste mir nur Zeit geben, ich müsste mir nur sagen, dass ich viele Tage, sogar Wochen zur Verfügung hatte. Außerdem konnte ich von hier aus zum ersten Mal das ganze Tal sehen. Nass zwar, von hellen Wolken durchzogen, anschraffiert, halb verborgen, aber die vereinzelt stehenden Häuser waren aus Stein und alt, und die Bäume standen trotz des Winters ganz grün, als wäre die Zeit hier anders sortiert.

Mittags aßen wir helles Brot, das Ella nach der Arbeit vom Bäcker mitgebracht hatte, und einen salzigen Salat aus Oliven, Zwiebeln und Schafskäse. Ich setzte mich auf den Platz neben Gregor, weil man von hier aus das Fenster und dahinter das Tal sehen konnte. Der Nebel hatte sich mit einem leichten Wind aufgelöst, war nach oben wie durch einen Schornstein abgezogen: Ich hatte es nicht mitbekommen. Blass schien die Sonne über die Kuppe auf der anderen Talseite, unten erahnte ich die Kurven des kleinen Flusses.

»Oh, das ist Jades Platz«, sagte Ella, aber Jade, die von unserem Ausflug noch rote Wangen hatte, zuckte nur die Schultern und schob sich auf den Stuhl mir gegenüber.

»Ist egal.«

»Na gut, aber so bleiben wir jetzt, nicht jedes Mal umsetzen, ja?« Ella sagte das in meine Richtung, und ich musste erst in ihr Gesicht und sie lächeln sehen.

Ich riss etwas vom Brot ab und tat mir viel Salat auf, endlich ein Hunger wie nach dem Schwimmen und kein Knoten mehr.

»Schau, am besten ist es so.« Jade tunkte ein Stück Brot in die ölige Sauce unten im Teller. Wir grinsten uns an, als ich es ihr sofort nachmachte. Wir aßen, und bis auf einige Absprachen zwischen Ella und Gregor, die unsere Arbeit am Nachmittag betrafen und die ich kaum verstand, redeten wir wenig. Ich hielt es schwer aus, dass es kein Tischgespräch gab: Das musste etwas bedeuten, es musste an mir liegen, dass sie mir keine Fragen stellten.

»Wie kam es, dass ihr hergezogen seid?«

Ella schnitt die Rinde von einem Stück Käse herunter, steckte es sich in den Mund und nickte zu Gregor hinüber, der das als Aufforderung verstand.

»Wir waren etwa dreißig. Vor allem ich hatte den Wunsch, herzukommen. Ich mochte die Gegend schon, bevor wir uns kennengelernt haben. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier am Anfang aussah!« Wenn Gregor lachte, war seine Stimme viel höher, als wenn er sprach. Ein hohes Kichern, aus dem etwas klang, das vielleicht Scham über das eigene Lachen war.

»Wie meinst du?«

»Das hier war mal ein Schloss.« Während Gregor weitersprach, wischte ich mir verstohlen Öl vom Kinn. »Hier haben lange Zeit wohlhabende Familien gelebt, wegen der Aussicht wahrscheinlich. Das letzte Mal, dass das Land bewirtschaftet wurde, muss aber mehrere hundert Jahre her sein. Im achtzehnten Jahrhundert lebten Mönche hier.« Er wies unbestimmt mit dem Finger hinter uns, ich drehte den Kopf mit, sah aber natürlich nur die Wand der Wohnküche. »Schau dir die anderen Hausflügel genauer an, wenn du später rausgehst. Hier haben bis zu zwanzig Leute gewohnt.«

Ich verzog das Gesicht: »Wie alt die Mauern sein müssen. Gruselig.« Ella nickte.

Ich drehte mich noch einmal um und blickte auf die Wand, der man doch etwas davon ansehen, die von so vielen Jahren Behaustheit doch etwas ausdünsten müsste, eine Wärme vielleicht oder einen Geruch. Jade summte vor sich hin. Ich hätte gern etwas Originelles gefragt, um mich von den Helferinnen vor mir abzuheben.

»Jedenfalls«, sagte Gregor, »mussten wir an einigen Stellen roden, weil gegen die Brombeeren nichts anderes geholfen hat. Ungelogen, es waren Wälder aus Dornen. Wir haben damals wochenlang gearbeitet, wie die Ochsen, an allem gleichzeitig. In meiner Erinnerung haben wir nie mehr als drei Stunden geschlafen. Wir mussten das Haus bewohnbar machen. Und vor allem draußen die Felder vorbereiten. Das war pure Glaubenskraft. Das Land überhaupt nutzbar zu machen hat Monate gedauert. Ella wurde bald danach schwanger, und als Jade kam, hatten wir gerade das erste Mal geerntet.«

Ellas Gesicht öffnete sich, wie wenn man einen Vorhang zurückzog: »An die ersten Auberginen kann ich mich wahrscheinlich kurz vor dem Sterben noch erinnern, die in der Hand zu haben und die ersten Kartoffelkisten vollzumachen.«

Es war, als könnten Jade und ich den beiden dabei zusehen, wie sie zu früheren Versionen wurden, die die Splitter von Dornen in der Haut an Armen und Händen nicht bemerkten, weil sie alles bereit machen mussten. Ganz stark waren sie und flirrten sich über den Tisch hinweg an.

Dann nahm Ella die Teekanne in beide Hände und stand auf. »So lange her. Wenn ich jetzt nur drei Stunden schlafe, dann gute Nacht.«

Das Glühen war aus der Luft, nach oben abgezogen wie der Nebel. Jade sprang vom Stuhl.

»Ich mag jetzt Videos schauen, könnt ihr woanders Mittagspause machen? Und was ist mit heute Nachmittag, muss Noa noch Zwiebeln setzen? Ich hab keine Lust mehr, ich war schon stundenlang draußen, Mama, ich bin crevée.«

Ich lehnte mich nach vorn und erhöhte den Druck. Während es sich auf allen Autobahnen zu stauen schien, presste meine Hand eine Knolle Knoblauch zusammen, bis die dünnen Häutchen rissen und ich die einzelnen Zehen besser auslösen konnte. Gregor rührte im Topf, eher ein Kessel, in dem kiloweise Auberginen auftauten.

»Was hab ich Zeit auf der A9 vergeudet.« Er sah nach draußen und schien vergessen zu haben, wovon er gerade eigentlich erzählte. Es stürmte so stark, dass die Zeder sich bis vors Küchenfenster beugte und wir nach wenigen Minuten das Pflanzen abgebrochen und uns zur Sicherheit auf Hausarbeit verlegt hatten – nicht ohne vorher einige Minuten vom Kellereingang aus über das Tal zu schauen, Gregor mit tief gefurchter Stirn: Im März stürmt es hier nicht.

Niemand wusste, was Sturm im März bedeutete, wie solche Zeichen überhaupt zu deuten waren. Ich nahm sie ratlos zur Kenntnis, Gregor oder Ella bereiteten sie Sorge. Aber über ein allgemeines Alles ist bereits durcheinander kamen auch sie nicht hinaus.

Als Gregor und ich in die Wohnküche gekommen waren, lief das Internetradio noch. Nicht einmal zur Verkehrsdurchsage stellten wir es leiser. Meine Hände klebten vom Knoblauch, Gregor hatte begonnen, eine Chili zu hacken. Bei Nürnberg standen die Menschen beinahe eine Stunde.

»Ich war viel unterwegs in der Zeit vor unserem Umzug, auch für Bekannte, für die ich Tiertransporte oder den Transport anderer schwerer Lasten übernommen habe. Damals habe ich eigentlich noch am Institut gearbeitet. Aber außer dem Fahren und Umzugsvorbereitungen konnte ich mich zu nichts durchringen. Ich war eh schon lange quasi arbeitsunfähig.«

»Das wusste ich nicht. Aber ich kann mir auch nur schwer vorstellen, dass es euch schon vorher an einem anderen Ort gegeben hat.« Die Knoblauchschalen vor mir raschelten von meinem Atem, sobald ich sprach. »Was heißt, du konntest dich zu nichts durchringen?«

Auf dem Tisch vibrierte kurz mein Handy, vielleicht eine Nachricht von Aseel. Von ihr und Mejet hatte ich seit meiner Abreise noch nichts gehört. Vielleicht könnte sie mir später ein bisschen vom Kicken erzählen, ich sah sie und Mejet vor mir, wie jeden Mittwoch ein paar Bälle spielen, vielleicht mit den anderen, jedenfalls ohne mich.

»Eine Art Blockade. Ich wusste längst, dass wir den Umzug machen würden. Aber sobald es um meine eigentliche Arbeit ging, Korrekturen oder ein Seminar vorbereiten – ich weiß nicht mehr, ich war einfach so müde, dass ich eingeschlafen bin, ohne Scheiß. Alles andere war kein Problem: Schafherde aufbauen, den Haushalt auflösen, ganze Nächte durch fahren, um Papiere zu unterschreiben. Nur sobald ich an den Schreibtisch kam: alles weg. Ich weiß nicht, was mein Körper da gemacht hat.«

»Vom Roden und so weiter habt ihr ja erzählt.«

»Ja, ich war also eigentlich schon noch arbeitsfähig, nur eben nicht dort oder auf die Weise.«

Ich sah aus den Augenwinkeln, dass er den Kopf zu mir drehte, aber wie hätte ich darauf reagieren sollen? Ich schnitt verholzte Stellen von den Zehen. Die Schüssel vor mir quoll bereits über. »Der Ortswechsel hat gereicht?« Ich stand auf.

»Es war ja mehr als das, eher ein ganzer Zusammenhang, den wir verlassen haben.«

Einen Moment lang konzentrierte ich mich auf den Mixer: den Mahl-Grad einstellen, Knoblauch einfüllen, Maschine einstecken.

»Es muss doch nicht immer darum gehen, ob man noch arbeiten kann, oder?«

Gregor hob die Schultern. »Klar. Wir sind ja auch nicht deshalb umgezogen. Das stand schon vorher fest. Ich bin da nicht so geschult, wollte auch nie wissen, was ich eigentlich hatte. Zu einem Psychiater geh ich nicht. Es ging dann ja auch ohne wieder.«

Ich erschrak über die Lautstärke des Reißens, das aus dem Gerät drang, sobald die weißen Zehen auf das rotierende Messer trafen.

»Ich glaube aber, so ein Kontextwechsel ist für viele Situationen gut.« Er sah mich erneut an. »Würde das gerade wieder gern machen, ich bin also ein bisschen neidisch auf dich.« Er lächelte.

Ich fand einen guten Rhythmus, immer gerade genug Zehen in den Schacht zu drücken, dass das Mahlwerk nicht hohldrehte. »Das Atelier, in dem ich angestellt bin, sucht gerade eine Aushilfe. Kleiner Tausch?«