Anfang und Ziel ist der Mensch - Heinrich Mann - E-Book

Anfang und Ziel ist der Mensch E-Book

Heinrich Mann

0,0

Beschreibung

Heinrich Manns Werk entfaltet eine eigene Kraft und Schönheit. Es ist den Wirrnissen und Verführungen des letzten Jahrhunderts geschuldet. Wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller kämpfte er für Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit. Im Mittelpunkt seiner außergewöhnlichen Prosa steht der Mensch als Persönlichkeit und zerbrechliches Wesen. Als "Mann der Republik" trat er für eine soziale Demokratie und ein vereintes Europa ein, in dem er Frankreich und Deutschland eine Schlüsselrolle zuwies. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus setzte er auf den Kommunismus und verkannte dabei den menschenverachtenden Charakter stalinistischer Herrschaft.So wie durch sein Leben geht auch durch sein Werk ein Riss. Es ist der Riss im Leben eines Verzweifelten, der Halt sucht, ohne ihn zu finden, in einer Welt voller Abgründe. Dieses Lesebuch führt chronologisch in das Leben und Werk Heinrich Manns ein. Es erzählt von seinen Hoffnungen, Träumen und bitteren Enttäuschungen. Es könnten auch die unseren sein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 355

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinrich Mann

Anfang und Ziel ist der Mensch

Texte eines Idealisten

Herausgegeben von Günther Rüther

Inhalt

Einleitung

Kind aus wohlhabender Familie

Jahre der Selbstfindung

Geist und Tat

Lehrmeister der Demokratie

Fremde Heimat

Neubeginn ohne Erfolg

Die Anfänge im Wilhelminischen Reich

Vorbemerkung

Fantasien über meine Vaterstadt L.

Wohin

Haltlos

Bourget als Kosmopolit

Reaction

Kaiser Wilhelm II. und das Gottesgnadentum *

Antisemitismus im Geist der Zeit *

Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten

Die Göttinnen

Die Jagd nach Liebe

Pippo Spano

Zu neuen Ufern im neuen Jahrhundert

Vorbemerkung

Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen

Zwischen den Rassen

Die Branzilla

Der Tyrann

Die kleine Stadt

Geist und Tat

Voltaire und Goethe

Zola

Zu Ehren Frank Wedekinds

Der Untertan

Vorbemerkung

Der Untertan und Seine Majestät der Kaiser *

Die Enthüllung des Kaiserdenkmals *

Die Weimarer Republik

Vorbemerkung

Kaiserreich und Republik

Der hundertjährige Flaubert

Gerhart Hauptmann

Wir feiern die Verfassung

Sie gehen bis zum Verrat

V. S. E.

Anatole France

Kobes

Arm oder reich?

Der Kopf

Liliane und Paul

Der tiefere Sinn der Republik

Mutter Marie

Deutsche Republik

Rede im Palais du Trocadéro

Ein geistiges Locarno

Huldigung für Max Liebermann

Eugénie oder Die Bürgerzeit

Die große Sache

Heinrich Heine

George Sand

Die deutsche Entscheidung

Ein ernstes Leben

Vor der Katastrophe

Leben und Schreiben in Nizza

Vorbemerkung

Der große Mann

Guernica

Kampf der Volksfront

Nietzsche

Der Königsroman

Vorbemerkung

Die Jugend des Königs Henri Quatre

Die Vollendung des Königs Henri Quatre

Fern von Europa in Los Angeles

Vorbemerkung

Der deutsche Europäer

Empfang bei der Welt

Der Atem

Ein Zeitalter im Rückblick

Vorbemerkung

Ein Zeitalter wird besichtigt

Quellen

»Heinrich Mann war nebeneinander ein ausschweifender Ästhet, ein satirischer Erzähler und ein radikaler Tendenzschriftsteller. Er hatte keinen Respekt vor den herrschenden sozialpolitischen oder künstlerischen Konventionen. Er nahm keine Rücksicht auf die Realität, weder als Artist noch als politischer Kopf.«

Hermann Kesten (1959)

Einleitung

»Meinem Geschick bin ich dankbar – nicht weil ich bald oben, bald unten war. ›Wo ich sitze, ist immer oben.‹« Diese trotzigen Worte schrieb Heinrich Mann in seinem ErinnerungsbuchEin Zeitalter wird besichtigt in den frühen Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts in einer kleinen Wohnung einer Durchgangsstraße direkt in Los Angeles. Er brachte damit seinen moralischen Anspruch als Schriftsteller zum Ausdruck, spielte aber zugleich auf seinen wechselvollen Lebensweg an. In den Zwanzigerjahren der Weimarer Republik zählte er zu den einflussreichsten Intellektuellen, die regelmäßig in den großen Tageszeitungen und Journalen präsent waren. Zeitweise blickte sein Konterfei auch von den Litfaßsäulen auf die vorbeiziehenden Menschen der Straßen Berlins. Doch Ruhm ist flüchtig. Schon bald darauf musste er Deutschland verlassen. Als unerbittlicher Streiter für Wahrheit und Gerechtigkeit, die Ideale der Demokratie in einer Republik, zählte er schon unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung zu den Personen, für die im »Dritten Reich« zukünftig kein Platz mehr war. Seine Flucht – zuerst nach Nizza und von dort aus 1940 nach Los Angeles – hinterließ in seiner Seele tiefe Narben und zwang ihn zu einem Leben mit Einschränkungen, das er in seinen letzten Jahren nicht mehr ohne die finanzielle Hilfe seines Bruders Thomas führen konnte. Für ihn war dies eine Schmach, die er mit in den Tod nahm.

Die Brüder verband von dem Tag an, wo sich beide berufen fühlten, Schriftsteller zu werden, ein schwieriges, von Rivalität und zeitweise Missgunst geprägtes Verhältnis. Zunächst schaute Thomas, der Jüngere, voller Achtung und Wertschätzung auf Heinrich. Er bewunderte sein Talent und seinen unbekümmerten Lebensstil. Als Kinder hatten sie sich im Elternhaus in der Lübecker Beckergrube fern der Wirklichkeit gemeinsam in eine Märchenwelt hineingeträumt, in einen »Zustand freien Schwebens, der Enthobenheit aus Zeit und Raum« (Hans Wysling). Beide berichteten in ihren Lebensrückblicken über die Bindungskräfte, die diese Kindheitserlebnisse auslösten. Noch Jahre später, als Thomas seinen Bruder Ende der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts in Rom und dem nahegelegenen Städtchen Palestrina besuchte, verlebten sie glückliche Tage der Brüderlichkeit, obwohl sich schon damals die Lebenslinien der beiden zu trennen begannen. Sie genossen den Sommer in den Sabiner Bergen, wanderten, lobten die einheimische Küche und ließen es nicht an gutem Wein fehlen. Im Winter verweilten sie in Rom. Sie diskutierten, lasen und fassten Pläne. Sie haben wohl sogar daran gedacht, es den Brüdern Edmond (1822–1896) und Jules de Goncourt (1830–1870) in Frankreich gleichzutun und gemeinsam einen Roman zu schreiben. Heinrich entfaltete in diesen glücklichen Tagen neben seinen schriftstellerischen Ambitionen auch sein Talent als Maler. Die monatlich eintreffende Zuwendung aus dem väterlichen Erbe gewährte ihnen den kleinen Wohlstand, dessen es bedurfte, um ein Künstlerleben zu führen. Das Erscheinen von Thomas’ Buddenbrooks wenige Jahre später führte zu einer tiefgreifenden Veränderung des Verhältnisses der beiden Brüder. Heinrich fühlte sich herausgefordert, was sich weiter verstärkte, je mehr diese Familiengeschichte des Verfalls der bürgerlichen Gesellschaft Furore machte. Als Reaktion darauf veröffentlichte er binnen weniger Jahre mehrere Romane. Es kam zum Zerwürfnis. Thomas warf ihm vor, eine »Blasebalg-Literatur« zu schreiben, die vor allem auf Wirkung und Erfolg setze und nicht genug Wert auf Stil, Sorgfalt, innere Ordnung, inhaltliche Konsequenz und Geschlossenheit, Tiefe und Strenge lege. Heinrich war schockiert. Ihm fehlten die Worte. Er schwieg. Das enge brüderliche Band war vorerst zerschnitten; die noch verbleibende Verbindung lebte fortan vor allem aus den Tagen der Kindheit. Auch wenn es zu Beginn der Zwanzigerjahre zu einer Versöhnung der Brüder kam, fanden sie nicht zu der Unbekümmertheit früherer Tage zurück. Sie lebten ein jeweils anderes Leben: Heinrich das Leben eines Bohemiens, Thomas ein bürgerliches Leben in einem fest gefügten sozialen Rahmen. Für Heinrich änderte sich dies vorübergehend, als er 1914 die Prager Schauspielerin Maria Kanová heiratete. Die Brüder schauten mit anderen Augen auf die Welt. Ihre Bücher sprachen, augenfällig von Heinrichs Roman Im Schlaraffenland und Thomas’ Buddenbrooks an – sie erschienen kurz nacheinander – von dieser Verschiedenheit, das Leben zu betrachten und es in Literatur zu formen. Beide feierten große Erfolge. Thomas erhielt sogar 1929 den Literaturnobelpreis. Heinrich genoss in der Weimarer Republik höchstes Ansehen. Er wurde zum »Mann der Republik«. Aber mit seinen Büchern war ihm insgesamt nicht annähernd ein so anhaltend großer Erfolg vergönnt wie seinem jüngeren Bruder. Darunter litt er.

Als Schriftsteller in der »Bonner Republik« am Ende der Sechzigerjahre danach gefragt wurden, welche Romane sie von Heinrich Mann gelesen hätten, stellte sich heraus, dass nur wenige von ihnen tiefergehende Kenntnisse seines Werkes besaßen. Das mag sich heute geändert haben. Doch noch immer lasten auf seinem Werk zwei Schatten. Der Ruhm und literarische Erfolg seines Bruders Thomas und die deutsche Teilung, die Heinrich Mann als Vorzeige-Autor der DDR in der Bundesrepublik die verdiente Anerkennung versagte. Er hat sie bis heute nicht gefunden.

Kind aus wohlhabender Familie

Heinrich Mann wurde am 27. März 1871 als erstes Kind von Thomas Johann Heinrich Mann und dessen junger Ehefrau Julia, geb. da Silva-Bruhns, in der Freien Hansestadt Lübeck geboren. Bei diesem Ehepaar handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Bürgerfamilie, sondern um junge Leute gehobenen Standes. Mitte der Siebzigerjahre flüsterte die stolze Mutter ihrem gerade einmal vierjährigen Sohn Heinrich ins Ohr: »Wir sind nicht reich, aber sehr wohlhabend.« Und das traf es auf den Punkt. Lübecker, die etwas auf sich hielten, protzten nach alter Hanseatischer Tradition nicht mit ihrem Wohlstand. Sie versteckten ihn aber auch nicht, vielmehr wussten sie damit behutsam umzugehen. Dies galt insbesondere für die alten Kaufmannsfamilien. Und dazu zählte die Familie Mann.

Heinrichs Vater führte ein seit Jahrzehnten einträgliches Kommissions- und Speditionsgeschäft, das vor allem auf dem Getreidehandel basierte. Die Familie erwarb damit so viel Ansehen, dass ihrem »Oberhaupt« der Titel eines »Königlich Niederländischen Konsuls« verliehen wurde. Thomas Johann Heinrich Mann wurde zudem 1877 zum Senator auf Lebenszeit berufen. Er zeichnete in Lübeck für das Finanz- und Steuerwesen verantwortlich. Auch seine elf Jahre jüngere Frau Julia da Silva, Heinrichs Mutter, mehrte das Ansehen der Familie. Sie hatte deutsch-portugiesische Wurzeln. Ihre Eltern lebten in Brasilien. Sie brachte gelebte Weltoffenheit nach Lübeck und verzauberte mit ihrem Charme und ihrer Anmut das familiäre Umfeld. Besonders begehrt waren ihre Einladungen zum Maskenball. Heinrich erinnerte in seiner Novelle Das Kind an diesen Ballzauber, der vom Kaiserlichen Hof Napoleons III. schließlich auch den Weg nach Lübeck fand. Er schrieb: »Man spielte Scharaden, gab Rätsel auf, die Damen bemalten die Fächer ihrer Freundinnen mit Aquarellen, Herren, die sie verehrten, schrieben ihre Namen darauf.« Diese Sitten und Gebräuche fanden ihren Höhepunkt im Maskenball, dessen Faszination nicht nur die Höflinge in Paris erlagen, sondern auch die braven Lübecker. Heinrich wuchs in einer behüteten Welt des Wohlstands, der sozialen Anerkennung und in gewissem Maße des Exotischen auf. Im Maskenball fand dies seinen kultivierten Ausdruck.

Wie sich alsbald zum Leidwesen seines Vaters herausstellen sollte, fühlte Heinrich sich mehr vom Exotischen angezogen als vom Kaufmannswesen. Alle Versuche, ihn für Letzteres zu gewinnen, scheiterten. Ihn begeisterten Bücher, Schriftsteller und das ganz in der Nähe des elterlichen Hauses gelegene Theater. Die Gedichte von Heinrich Heine, Theodor Storm und Emanuel Geibel, die Balladen und Romane von Theodor Fontane hatten es ihm mehr angetan, als das Zahlenwerk des Kommissionshandels und die Verhandlungen mit den Getreidebauern. Schon als Schüler fing er an zu schreiben. Das Gymnasium trat dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Zuerst ein vortrefflicher Schüler, ließen seine Leistungen allmählich nach. Das Abitur zu machen, wozu es ihm keineswegs an Fähigkeiten mangelte, reizte ihn nicht. Er sah seine Zukunft nicht in Lübeck. Es zog ihn nach Dresden. Durch den Beginn einer Buchhandelslehre glaubte er, zusätzlich zur Profession des Schreibens auch noch das Lesen zum Beruf machen zu können. Doch schon schnell zeigte sich, dass von ihm anderes erwartet wurde, als Bücher zu studieren. Von seiner Mutter zum Freigeist erzogen, missfiel ihm die soziale Unterordnung in dem feinen aber kleinen Unternehmen Zahn und Jaensch. Um die Enge zu verlassen, kündigte er und suchte im S. Fischer Verlag in Berlin sein Glück. Dort begann er im April 1891 ein Volontariat. An der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität schrieb er sich als Gast ein. Damit eröffnete sich ihm die Möglichkeit, die dort versammelten Geistesgrößen von Wilhelm Dilthey, über Heinrich von Treitschke bis Hermann Grimm zu hören. Doch auch der streng geregelte und lebensferne Universitätsbetrieb entsprach anscheinend nicht ganz seinem inneren Wesen. Er tummelte sich lieber in der Berliner Theaterszene und den Etablissements der Berliner Nacht. Der frühe und unerwartete Tod seines Vaters im Oktober 1891 bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben der Familie. Die Mutter zog bald darauf mit ihren Kindern nach München. Gerade 20 Jahre alt, musste Heinrich auf eigenen Füßen stehen. Fortan stand für ihn fest, Schriftsteller zu werden.

Jahre der Selbstfindung

Nach dem Tod seines Vaters führte er ein rastloses Leben. Von einer systematischen schriftstellerischen Arbeit konnte zunächst nicht die Rede sein. Aber er bereitete sich darauf vor; er las viel, hörte den einen oder anderen Vortrag und vertiefte sich in die Lektüre zeitgenössischer Autoren. Besonders Friedrich Nietzsche, dieser »Aufwühler des Zeitgeistes«, hatte es ihm angetan. Seine Werke wurden zu seiner Hauptlektüre. Hinzu kam der aufregende Prophet der Moderne, Hermann Bahr. Er nahm einen nachhaltigen Einfluss auf sein Denken und Schreiben. Bahr beschäftigte, wie die Hektik der Tage, die Industrialisierung und Landflucht, auf die innere Verfassung der Menschen einwirke, wie die rastlose Zeit deren Nerven und Seele bestimme, sodass schließlich sie – nicht die Vernunft – zum bestimmenden Wesenszustand des Menschen würde. Nach einem Blutsturz musste Heinrich sein Volontariat beim S. Fischer Verlag aufgeben und zu seiner Genesung längere Zeit in Sanatorien verweilen. Nachdem er seine Krankheit überwunden hatte, zog es ihn nach Italien; nach Florenz, Rom oder an den Gardasee nach Riva, das damals noch zum Habsburger Reich gehörte. Nur selten kehrte er nach München zu seiner Familie zurück. Italien galt in den Neunzigerjahren als Sehnsuchtsland der europäischen Oberschicht.

Heinrich führte zur Jahrhundertwende ein Künstlerleben. Hier und da gelang es ihm, einen Artikel zu schreiben, der in der Monatsschrift Die Gesellschaft und bald darauf auch in Die Gegenwart veröffentlicht wurde. Mitte der Neunzigerjahre gab er die Berliner Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert heraus und schrieb dafür zahlreiche Beiträge im Geiste der Wilhelminischen Zeit. Sein Lebensstil änderte sich erst, als er 1914 nach München zurückkehrte und Maria Kanová heiratete. Aus der Ehe ging die gemeinsame Tochter Leonie hervor, genannt Goschi.

Bedeutende Köpfe der Philosophie und Literatur beeinflussten Heinrich Manns schriftstellerische Arbeit. Über Bahr fand er zu dem französischen Schriftsteller Paul Bourget. Ihm widmete er seinen ersten Roman In einer Familie, der mit finanzieller Hilfe der Mutter bereits 1894 erschien. Bourget öffnete ihm den Blick in die Welt der heimatlosen Oberschicht, die ein ausschweifendes, genusssüchtiges Leben führt und das Wohl des Einzelnen über die gesellschaftliche Verantwortung stellt. Bourgets radikaler Individualismus, seine konservative Weltanschauung, seine Stoffauswahl und psychologisierende Darstellungsweise prägten ihn. Auch Heinrich Manns in den Neunzigerjahren entstandene Novellen atmen den Geist dieses französischen Meisters. Bourgets Weltanschauung formte sein Bewusstsein. Heinrich Mann war in den Neunzigerjahren ein patriotischer Monarchist. Seine Beiträge in der Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert weisen ihn als Gefolgsmann Wilhelm II. aus. In seinen politischen Essays verteidigte er nicht nur den Kaiser, die Monarchie und das Gottesgnadentum; er polterte zugleich gegen das Parlament und die Juden. Obwohl er sich mit Nietzsche schon lange beschäftigt hatte, wiesen dessen Schriften ihm erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weg zu einer literarischen Neuorientierung. Vor allem machte er sich Nietzsches Kritik am Wilhelminischen Reich zu eigen und fühlte sich von dessen Verständnis des Künstlerdaseins inspiriert. Im Künstler sah Nietzsche einen »Philosophen der Macht«, der ohne Rücksicht auf sein eigenes Lebensglück tätig sei. Die Romane Im Schlaraffenland, Jagd nach Liebe und die Trilogie Die Göttinnen, die alle in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, verweisen auf ihn. In Die Jagd nach Liebe schildert er, wie die Kunst den Zugang zum Leben verschließt. Die Schauspielerin Ute kanzelt ihren Jugendfreund Claude mit den Worten ab: »Eine Künstlerin, die sich verliebt, wirklich und ganz verliebt – das war nie eine.«

Im Eingangszitat offenbart sich Nietzsches Einfluss auf Heinrich Mann bis ins hohe Alter. Zweifellos ließ er sich von ihm am Anfang seines Lebens als Schriftsteller begeistern. An dessen Bild vom Künstler, dessen Sendungsbewusstsein, Ausnahmestellung in der Gesellschaft und dessen Glaube an die Macht des Wortes hielt er fest, auch wenn die Wirkungsmacht dieses »Aufwühlers des Zeitgeistes« auf ihn insgesamt im Laufe der Jahre abnahm. Mit der Machtübernahme der Nazis bekam sein Nietzsche-Bild Risse, je mehr diese sich auf ihn beriefen und sein Werk missbrauchten. 1939 schrieb er in seinem Nietzsche-Essay: »Was haben Eingeweihte ihm geglaubt?« Er fügte an: »Vieles, aber nicht alles.«

Geist und Tat

Eine zentrale Figur in Nietzsches Philosophie ist der zur Tat schreitende, geistige Mensch und die »Verachtung der dumpfen, unsauberen Macht«, wie es in Heinrich Manns Essay Geist und Tat heißt. Doch bevor Heinrich Mann von 1910 an mehr und mehr in die Rolle des intellektuellen Wortführers zur Gestaltung einer besseren Gesellschaft hineinwuchs, verfasste er mit Professor Unrat, Zwischen den Rassen und vor allem dem Roman Die kleine Stadt, der 1909 erschien, gesellschaftskritische Werke, die sich vom Kult des Individualismus und Ästhetizismus abwandten und mit kritischem Blick auf die Gegenwart schauten. In seinem Roman Die kleine Stadt inszenierte er am Beispiel italienischer Lebenskultur einen Gegenentwurf zur wilhelminischen Untertanengesellschaft. In Gestalt der Mitglieder einer fahrenden Theatertruppe und der Bürger der kleinen italienischen Stadt, in der die Schauspieler gastieren, treffen zwei Welten aufeinander, sind Kunst und Leben Teil eines vielfältigen Reigens. Die Kultur, besonders deren musikalische Form, spielt im Roman wie in Heinrich Manns Leben eine zentrale Rolle; sie wird für ihn nicht nur im Roman zum prägenden Element des gesellschaftlichen Fortschritts. Von ihr geht der Impuls zu einer demokratischen Lebensform aus. Heinrich Mann selbst schrieb über Die kleine Stadt: »Was hier klingt ist das hohe Lied der Demokratie. Es ist da, um zu wirken in einem Deutschland, das ihr endlich zustrebt.« Den Weg zur demokratischen Lebensweise zeigte er in dem Zola gewidmeten Essay auf. In der Spiegelung von dessen Lebensgeschichte erklärte er auch seine eigene. Der Essay Zola erschien 1915. Er ist ein wahres Kunstwerk des Versteckens und Anklagens. Zolas Leben und das des Autors, deren Gedanken fließen hin und her und verschränken sich, sodass die Vergangenheit in die Gegenwart rückt und umgekehrt. Allein diese kunstvolle Form der Verhüllung ermöglichte es, dass diese Anklageschrift während des Krieges erscheinen konnte. Am Scheidepunkt des Wilhelminischen Reiches sprach Heinrich Mann sich darin im Namen Émile Zolas gegen die Monarchie, den Krieg und für die Republik, ihre Ideale der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aus. Zwei Schlüsselsätze aus diesem Manifest der Freiheit lauten: »Die Wahrheit und die Gerechtigkeit siegen trotz allem, nur darf es nicht verlauten. Der Sieg muß zweifelhaft bleiben.« Er musste zweifelhaft bleiben, weil die Stunde des Tages es erforderte. Die Stunde der Wahrheit und Gerechtigkeit war im Wilhelminischen Reich noch nicht gekommen, aber sie kündigte sich für kritische Zeitgenossen wie Heinrich Mann an. Da es zu den Eigenschaften der Vernunft gehört, zeitweilig zu ermüden, muss ständig um sie gerungen werden. Nur dann kann sie sich auch nach einer Phase der Erschlaffung kraftvoll zurückmelden. Sie ist mehr Hoffnung als Erfüllung. Dies erklärt der zweite Schlüsselsatz: »Wir können nichts tun, als kämpfen für die Ziele, die nie erreicht werden, aber von denen abzusehen schimpflich wäre, – kämpfen und dann dahingehn.«

Als er diese Zeilen schrieb, hatte er bereits sein nach dem Ersten Weltkrieg Furore machendes satirisches Meisterwerk Der Untertan abgeschlossen, das zunächst 1914 der Zensur zum Opfer fiel. Darin thematisiert er die fatale Neigung der Deutschen nach oben zu buckeln und nach unten zu stoßen. Oberflächlich betrachtet schien dieser menschenverachtende Untertanengeist mit dem Ende der Monarchie und der Niederlage des deutschen Militarismus 1918 überwunden. Doch Heinrich Mann zweifelte nicht daran, dass er in Wahrheit in den Tiefenstrukturen der Weimarer Republik fortleben würde. In dem Essay Kaiserreich und Republik entwickelte er, in welchem Maße die noch junge Demokratie auf den Trümmern des Kaiserreiches und seines missratenen Geistes fußte. Ihm war bewusst, dass es nicht ausreiche, die Republik auszurufen und in der Verfassung zu verbriefen; die Republik brauche Zeit, damit sie im Innern der Bürger wachsen könne.

Lehrmeister der Demokratie

Zu Beginn des Großen Krieges sorgte sich Heinrich Mann, ob er nach dessen Ende – er rechnete mit einer Niederlage der Mittelmächte –die Familie als Schriftsteller ernähren könne. Doch seine düsteren Vorahnungen trafen nicht ein. Er wurde einer der einflussreichsten und angesehensten Intellektuellen im Land. Sein Bruder Thomas nannte Gerhart Hauptmann anlässlich dessen 60. Geburtstags »König der Republik«. Heinrich Mann wurde ihr Lehrmeister. In zahlreichen politischen Essays, die manches Mal die Titelseiten der großen Tageszeitungen zierten, warb er für ihren Erhalt. Zugleich zählte er aber auch zu ihren engagiertesten Kritikern. Am vierten Verfassungstag hielt er in der Dresdner Semperoper im August 1923 eine flammende Rede zur Weimarer Verfassung. Die Zeiten waren schwierig; die Inflation führte zur Verarmung der Gesellschaft, die Ruhrkrise stellte die Einheit der Republik in Frage, politische Morde von Rechtsextremisten und Putsche von links und rechts forderten die Wehrhaftigkeit der Republik heraus. Ihr Zerfall drohte. In dieser schweren Stunde rief Heinrich Mann den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Medien entgegen: »Anfang und Ziel ist der Mensch. Der Staat, die Wirtschaft sind tauglich oder verfehlt, je nachdem sie den Menschen fördern oder hemmen. Humanität im Sinne Weimars sollte der Kern der Politik sein.« In diesem Sinne plädierte er für Vernunft, Gerechtigkeit und Frieden. Er trat dafür ein, die Weimarer Verfassung in Ehren zu halten. Reichskanzler Gustav Stresemann riet er in einem offenen Brief zu einer Diktatur des Rechts und der Vernunft, um die Republik vor ihren Feinden zu schützen. Er sah sie durch Kommunisten und Nationalsozialisten in ihrem Inneren bedroht. Zum deutschen Volk sagte er: »Dieses Volk ist immer dort, wo nichts zu holen ist als Wahnsinn, wo nichts zu finden ist als Nacht.« Ein Menetekel für alle Deutschen, ein Warnruf, dessen Berechtigung erst zehn Jahre später in seiner ganzen Tragweite erkennbar wurde. Auf dem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei 1927 in Hamburg appellierte er als Festredner an alle Demokraten, im Kampf des Tages den Gemeinsinn nicht aus dem Auge zu verlieren. Denn Demokratie heißt Güte, heißt Zusammenhalt, alle sind für einander verantwortlich. Ihr Gegenteil sei Ideenhass und die Verweigerung des Rechts.

Heinrich Mann trat für eine Versöhnung der europäischen Staaten ein. Dabei wies er Frankreich und Deutschland eine Führungsrolle zu, weil ohne sie Europa nicht zusammenwachsen könne. Er plädierte für eine deutsch-französische Konföderation. Sie sollte den Nukleus für die Vereinigten Staaten von Europa bilden. Im europäischen Gedanken erkannte er die Chance, dem aufkommenden Nationalismus die Stirn zu bieten und einen nochmaligen europäischen Bürgerkrieg wie die Heimsuchung von 1914 zu verhindern. Seine politischen und kulturellen Essays in der Weimarer Republik weisen ihn als einen Brückenbauer zwischen den Nationen und Friedensstifter zwischen den gesellschaftlichen Kräften aus, die die Republik erhalten wollten. Zugleich wies er die geistigen Brandstifter, die Kommunisten und Nationalisten, aber auch die skrupellosen Wirtschaftsbosse in die Schranken. Er war bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 davon überzeugt, dass die sittliche Idee der Republik, ihr geistiges Fundament und ihre in der Verfassung garantierte politische Ordnung den Stürmen der Zeit standhalten würden. Zunächst als Mitglied der Akademie der Künste und später als Präsident der Sektion Dichtkunst in Berlin versuchte er, die Demokratie vor ihren Feinden zu schützen. In den Dreißigerjahren erlebte er, wie der Verfassungskonsens von den widerstreitenden zentrifugalen Kräften ausgezehrt wurde. Die Republik zerfiel, weil die staatstragenden Kräfte vom Reichspräsidenten, über den Reichstag bis zu den Parteien der Mitte kurzsichtige Interessen über das nationale Wohl stellten. Hitler hatte deshalb leichtes Spiel, die Macht an sich zu reißen und die Verfassung außer Kraft zu setzen.

Seit 1926 lebte Heinrich Mann überwiegend in Berlin. Ihn zog es in die Hauptstadt, weil dort die Kultur aufblühte. Immer mehr namhafte Künstler, Maler, Musiker, Schriftsteller und Schauspieler verließen die Großstädte in den Ländern, um in dem gärenden Musentempel Berlin dabei zu sein, wenn nahezu täglich eine neue Sensation die Gemüter erregte. Berlin schickte sich an, zum Babylon der Moderne zu werden und Paris als europäische Kulturmetropole den Rang abzulaufen. Einen Beitrag dazu leistete auch die Verfilmung seines 1905 erschienenen Romans Professor Unrat. Er wurde unter dem Titel Der blaue Engel mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen zu einem Welterfolg und machte Heinrich Mann zum Star der frühen Dreißigerjahre. Aber nicht nur die Produktion dieses Films erforderte seine Anwesenheit in Berlin. Vor allem war es sein neues Amt in der Preußischen Akademie der Künste in der Sektion Dichtkunst. Hier prallten die wachsenden geistigen und politischen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre in wachsender Härte aufeinander. Trotzdem wurde er 1931 zu ihrem Präsidenten gewählt. Seine Bekanntheit und seine Persönlichkeit halfen den Mitgliedern der Sektion offensichtlich dabei, über seine ebenso entschiedene wie streitbare Haltung zur Weimarer Republik hinwegzusehen. Er wurde einvernehmlich per Akklamation gewählt. Seine häufige Anwesenheit in Berlin ließ ihm immer weniger Zeit, sich um seine Familie in München zu kümmern.

Seine Ehe ging in die Brüche. Zuerst verliebte er sich in die Kabarettistin und Filmschauspielerin Trude Hesterberg, danach in die Bardame Nelly Kröger, die er 1939 im Exil zu Beginn des Zweiten Weltkrieges heiratete. Seine vielfältigen Verpflichtungen hinderten ihn nicht, neben seiner umfangreichen essayistischen Tätigkeit auch weiterhin Romane zu schreiben. Zeit für Novellen fand er nur noch selten. Hervorzuheben ist vor allem seine Generalabrechnung mit dem Kaiserreich in dem Roman Der Kopf, der 1925 erschien. Immer wieder kommt Heinrich in seinen Romanen auf die schmerzhafte Kontroverse mit seinem Bruder zu sprechen. Nirgendwo geschieht dies jedoch so ausführlich und unverhüllt wie hier. In den Figuren Terra und Mangolf schilderte er die Hintergründe und Rivalitäten. Terra, dem selbstlosen Gesellschaftskritiker steht Mangolf gegenüber, der Strebsame, Erfolgshungrige, dem es nicht schwerfällt, mit der Zeit zu gehen.

Von dieser Kontroverse ist in den darauf folgenden sogenannten »Republik-Romanen« Mutter Marie, Eugénie oder Die Bürgerzeit und Die große Sache nichts mehr zu spüren. Darin ging es Heinrich vor allem darum, der entgleisenden Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Seine moralische Lehre lautete: »Lernt verantworten«, »lernt ertragen« und »lernt euch freuen«. Dieser Dreiklang verbindet die ansonsten thematisch sehr unterschiedlichen Handlungen und Begebenheiten der Romane.

An seinem 60. Geburtstag 1931 befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er wurde in den Medien als Intellektueller gefeiert, der die Abgründe der Zeit aufgreift. Er schilderte sie, ermutigte die Zeitgenossen aber auch, nicht in sie hinabzusinken, sondern sich ihrem Sog zu erwehren.

Eine Ausnahmestellung seiner Romane in der Weimarer Republik nimmt das Sozialdrama Ein ernstes Leben ein. Darin erzählt er die schillernde Lebensgeschichte seiner späteren Frau Nelly Kröger, die aus einfachsten Verhältnissen kommend ein Leben zwischen familiärer Fürsorge, Kriminalität und Bordell führt. Der Roman erschien am Ende der Republik; ihm blieb es nicht zuletzt deshalb versagt, eine Breitenwirkung zu erzielen. Mit Beginn des Nationalsozialismus fiel er in Vergessenheit. Heinrich Mann stellte mit Marie Lehning eine Frau in den Mittelpunkt der Handlung, die es wegen ihrer Authentizität, Originalität, Menschlichkeit und Ausstrahlungskraft verdient mit anderen großen Frauengestalten der Weltliteratur verglichen zu werden. Im Geist seines großen Lehrmeisters Honoré de Balzac inszenierte er mit Marie eine Frauenfigur, deren Kriminalität nicht einer Charakterschwäche, sondern den Zumutungen einer entgleisenden Gesellschaft entspringt, einer Gesellschaft, die den Armen die Möglichkeit nimmt, ein Leben in Anstand und Würde zu führen. In keinem anderen Roman gelingt es dem Autor eine ebenso plastische, authentische und ergreifende weibliche Romanfigur zu schaffen, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zu überzeugen weiß und die Möglichkeit wertvoller Menschlichkeit trotz Kleinkriminalität aufzeigt. Wie bei Balzac ist es auch hier eine magische Macht in Gestalt eines Polizeikommissars, die Marie vor dem Abgrund rettet.

Fast zeitgleich zu diesem Roman erschien der Essayband Das öffentliche Leben. Nach Macht und Mensch, Diktatur der Vernunft, Sieben Jahre und Geist und Tat war es der fünfte und letzte in der Weimarer Republik. Geist und Tat nimmt unter ihnen insofern eine Sonderstellung ein, da in ihm biografische Portraits französischer Schriftsteller vorgestellt werden. Das öffentliche Leben vereinigt politische und kulturelle Beiträge der letzten Jahre unterschiedlicher Art. Rückblickend sticht seine Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Nationalsozialismus hervor. Heinrich Mann mutmaßte, dass der Nationalsozialismus zur Herrschaft gelangen könne, weil die Deutschen wieder einmal in sich den »Ruf des Abgrunds hören«. »Die Deutschen hören ihn reichlich oft«, stellte er fest. Doch noch schien es offen, ob sie ihm wirklich folgen würden. Heinrich Mann hoffte, dass die vorangegangenen Katastrophen das Volk belehrt hätten. Er hoffte vergebens, wie wir heute wissen.

Im Februar 1933 wurde er von den Nazis aus der Akademie der Künste ausgestoßen, ebenso wie unter anderen auch Käthe Kollwitz. Nach einem mahnenden Hinweis des französischen Botschafters und wohl auch anderer verließ er wenige Tage später das »Dritte Reich«. Er glaubte an eine Abreise auf Zeit, nicht an einen Abschied für immer.

Fremde Heimat

Heinrich Mann fühlte sich in Nizza wohl. Schon in früheren Jahren hatte er diese wunderbare Metropole an der Grenze zwischen Italien und Frankreich, zwischen dem Glitzern des Mittelmeeres und der Kühle der nahen Berge schätzen und lieben gelernt. In Nizza erlebte er nicht die Bitternis des Exils. Frankreich empfand er als »Vorposten der menschlichen Freiheit«. Aber fern von seinen Lesern in Deutschland hafteten Nizza und der Côte d’Azur auch etwas Fremdes an. Es war ein Unterschied, ob er dort Urlaub machte und ausruhte, oder ob er als Schriftsteller dort sein Leben bestreiten musste. Die »Côte« konnte trotz ihrer unbestreitbaren Reize seine Heimat nicht ersetzen und es kam noch hinzu, dass Deutschland ihm während der nationalsozialistischen Diktatur immer fremder wurde.

Nelly und Heinrich lebten gut sieben Jahre in Nizza, stets in der Nähe des Boulevard des Anglais. In dieser Zeit veröffentlichte er drei Essaybände. Der erste kam bereits Ende 1933 heraus, der letzte im Kriegsjahr 1939. In allen drei Büchern stand die Auseinandersetzung mit Hitler und seinen Helfershelfern im Vordergrund. Den schärfsten Ton schlug Heinrich Mann gegen sie in seinem ersten Band Der Haß an. Die Wunde der Flucht und die seelischen Folgen der Erniedrigung verleiteten ihn dazu, dem Regime mit blanker Verachtung und Hass zu begegnen. So nachvollziehbar dies nicht nur aus seiner persönlichen Situation heraus war, entsprach seine radikale Darstellung nicht der Wahrnehmung vieler Deutscher, Franzosen und der Einschätzung im europäischen Ausland. Sie sah darüber hinweg, dass es Hitler gelang, weite Teile der deutschen Bevölkerung für seine Politik einzunehmen und das Ausland zunächst zu beruhigen. Die Olympischen Spiele 1936 in Berlin wären nicht zu einem internationalen Festival des Nazi-Regimes geworden, wenn es auf breite Ablehnung im Deutschen Reich und seitens der bei den Spielen versammelten Welt gestoßen wäre. Heinrich Manns Schriften blendeten dies weitgehend aus. Zudem zog er einen dicken Trennungsstrich zwischen dem deutschen Volk und seinen Verführern, ohne zu erkennen, dass es ihnen allzu bereitwillig folgte. Auch wenn er in den beiden Folgebänden seinen hasserfüllten Ton milderte, hielt er an seinem Ziel fest. Er wollte das europäische Ausland, insbesondere Frankreich, vor den deutschen »Schreckensmännern« warnen und die Wachsamkeit und Solidarität gegen das »Dritte Reich« fördern. Zweitens kam es ihm darauf an, die in der Emigration lebenden Deutschen über weltanschauliche Gräben hinweg zu einen. Beide Ziele erreichte er mit seinen politischen Essays, wenn überhaupt, nur ansatzweise. Sie stießen weder in Frankreich noch im erweiterten europäischen Ausland auf eine breite Resonanz. In den Kreisen der Emigranten fanden sein Mut und seine Unerschrockenheit breite Anerkennung. Erst seit Mitte der Dreißigerjahre, als die Nazis ihr Regime gefestigt hatten, traten Heinrich Manns schlimmste Befürchtungen für alle, die es sehen wollten, ein. Trotzdem scheiterte sein Bemühen, eine Volksfront gegen Hitler zu schmieden. Schon am Ende der Weimarer Republik hatte er Sozialdemokraten und Kommunisten aufgefordert, sich zusammenzuschließen. Daran knüpfte er wieder an. Jedoch wollte er den Kreis nunmehr um alle diejenigen erweitern, die bereit waren, gegen die Hitler-Diktatur ihre Stimme zu erheben. Das Vorhaben scheiterte, weil die Kommunisten einen Führungsanspruch erhoben und sich weigerten, ein Bekenntnis für ein freies republikanisches Nachkriegsdeutschland abzulegen. Heinrich Manns Vermittlungsversuche liefen ins Leere, obwohl er den Kommunisten weit entgegenkam. Er trat für ein enges Einvernehmen mit der Sowjetunion und ihren – seiner Meinung nach – glorreichen Führern Lenin und Stalin ein. Ohne die Sozialistische Sowjetunion könne es keinen Frieden und auch keinen deutschen Volksstaat geben, schrieb er. In seinen Lebenserinnerungen bekräftigte er diese Position und sah in Stalin einen genialen Weltenlenker, und in der Sowjetunion ein Modell der Zukunft für die Welt. Diese Sichtweise irritiert. Dabei bleibt zu bedenken, dass die Welt erst später vom ganzen Ausmaß des stalinistischen Terrors erfuhr.

Neben den Essaybänden beschäftigte ihn die Niederschrift seines Doppelromans Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Die Arbeit daran füllte nahezu die ganze Zeit seines Aufenthalts in Frankreich aus. Es entstand ein historisches Epos mit vielen Bezügen zur nationalsozialistischen Diktatur. Es hat Shakespear’sches Format. Im Mittelpunkt der Handlung steht Heinrich IV., der vom König von Navarra zum König von Frankreich während der Zeit der Religionskriege aufstieg. Heinrich Mann diente die historische Vorlage vor allem als Quelle der Inspiration. Er schrieb kein Geschichtswerk, sondern einen Roman, der sich vom Leben dieses sagenumwobenen Königs leiten ließ. Der Kristallisationspunkt der Handlung ist die Bartholomäusnacht im August 1572 in der tausende Protestanten niedergemetzelt wurden. Heinrichs Gefolgsleute hielten sich in Paris auf, um die Hochzeit der Versöhnung Heinrichs, dem Hugenotten, mit der Katholikin Margarete von Valois zu feiern. Sie zahlten mit dem Tod, Heinrich IV. überlebte.

Margarete war die Tochter des bösen Geistes im Louvre, Katharina von Medici, die im Hintergrund die Strippen dieser Bluttat zog. Die Bluttat stellt den zivilisatorischen Tiefpunkt der Religionskriege in Frankreich dar. Nach seiner Flucht aus dem Louvre versuchte Heinrich IV., der inzwischen zum Katholizismus konvertiert war, das Land zu befrieden, was ihm schließlich mit dem Edikt von Nantes 1598 als König von Frankreich gelang. Es garantierte die Gewissens- und Religionsfreiheit. Von der Bartholomäusnacht bis zum Edikt vergingen über 20 Jahre, in deren Mittelpunkt Henris Kampf gegen die immer einflussreicher werdende katholische Liga stand. In ihrer Radikalität und menschenverachtenden Herrschaft entdeckte Heinrich Mann Parallelen zur nationalsozialistischen Diktatur. Mit der Darstellung ihrer Führer und deren Wortwahl verwies er auf ihren gewaltsamen Weg zur Macht. In der Gestalt des Predigers Boucher skizzierte er das Portrait von Joseph Goebbels. Als Kontrast zu den Gewaltmenschen zeichnete er mit Henri einen Herrscher, der seine Macht auf Güte und Ausgleich gründete, der versuchte, in seiner Amtszeit den Menschen ein guter König zu sein. Heinrich Mann schildert seine Entwicklung vom kämpfenden Heerführer zum volksnahen Herrscher, der dafür eintritt, dass seine Untertanen ein auskömmliches Leben in Freiheit führen können. Am Ende des Romans zieht Henri die Bilanz seines Lebens: »Ich habe viel geliebt. Ich habe mich geschlagen und die Worte gefunden, die packen. Französisch ist meine Lieblingssprache: selbst die Fremden möchte ich daran erinnern, dass die Menschheit nicht dazu erschaffen ist, ihren Träumen zu entsagen, die nichts anderes sind als wenig bekannte Realitäten. (…). Das Glück, es gibt es. Erfüllung und Überfluß sind in Reichweite. Und die Völker kann man nicht erdolchen. Habt keine Angst vor den Messern, die man gegen euch aussendet. Ich habe sie nie gefürchtet. Macht es besser als ich. Ich habe zu lange gewartet. Die Revolutionen kommen nie zur rechten Zeit: deshalb muß man sie zu Ende führen, und zwar gewaltsam.«

Im Angesicht des Nationalsozialismus trat Heinrich Mann für einen kämpferischen Humanismus ein, um die Freiheit zu verteidigen. Er war ein Idealist, der spürte, dass in der Stunde der Not die Ideale nicht allein mit Ideen und Worten verteidigt werden können. Im zweiten Teil des Romans heißt es: »Unser König ist kein Künstler, sondern ein Soldat«.

Neubeginn ohne Erfolg

Als die nationalsozialistischen Truppen Paris besetzten, konnten Nelly und Heinrich nicht länger in Frankreich bleiben. Sie flohen über die östlichen Ausläufer der Pyrenäen nach Lissabon und von dort mit dem Schiff nach New York. Nach einem kurzen Aufenthalt bei seinem Bruder Thomas in Princeton zog Heinrich mit seiner Frau nach Los Angeles. Dort versammelten sich – wie einst in Nizza – viele deutsche Migranten. Auch sein Bruder Thomas ließ sich bald darauf in Pacific Palisades nieder, wo er eine geräumige Villa baute, das sogenannte »Weiße Haus«. Ein Jahr erhielt Heinrich eine großzügige Unterstützung von der Filmgesellschaft Warner Brothers. Doch ihm fehlte das Talent, Drehbücher à la Hollywood zu schreiben. So war er fortan darauf angewiesen, von seinen Büchern zu leben. Im amerikanischen Exil gelangen ihm noch drei Romane und sein Memoirenbuch Ein Zeitalter wird besichtigt. Bei den Romanen handelt es sich um Lidice, Der Atem und Empfang bei der Welt. In diesen Arbeiten schlug er einen neuen Ton an. Sein Bruder Thomas sprach von einem »Greisen-Avantgardismus«, ohne genau zu erklären, was er damit meinte. Heinrich jedoch fühlte sich geehrt. Neben der politischen Dimension dieser zum Teil sehr aufwändigen Arbeiten lag es vielleicht auch an dem neuen poetischen – teils extravaganten, teils geheimnisvollen, surrealistischen – Ton, dass es nicht gelang, einen Verlag in den USA dafür zu finden. Mit großen Hoffnungen gestartet, gerieten seine Frau Nelly und er in Not. Nur mit finanzieller Hilfe seines Bruders und anderer Migranten konnte sich das Paar über Wasser halten. Nelly versuchte mit verschiedenen Tätigkeiten ihre schwierige wirtschaftliche Lage zu verbessern. Ihrer labilen Befindlichkeit war dies nicht förderlich. 1944 starb sie beim fünften Versuch, sich das Leben zu nehmen. Heinrich Mann fiel in tiefe Trauer und vereinsamte. Nur noch wenige Freunde besuchten ihn. Lion Feuchtwanger und seine Frau, Ludwig Marcuse und dann und wann der eine oder andere der in Los Angeles lebenden Migranten. Mit seinem Bruder telefonierte er fast täglich. Einmal in der Woche wurde er ins »Weiße Haus« eingeladen. Vor allem das Schreiben gab ihm Halt. Besucher berichteten, dass die ihn im Alltag begleitende Melancholie Heinrich nicht davon abhielt, im Gespräch seinen Witz und Geist aufblitzen zu lassen. Aufmerksam verfolgte er bis zuletzt das Weltgeschehen.

Heinrich Mann verstarb am 11. März 1950 in Santa Monica. Sein Tod kam überraschend, obwohl er seit Längerem krank war. Am Tag zuvor hatte sein Bruder ihn noch gemeinsam mit seiner Frau Katia nachmittags in seiner kleinen Wohnung besucht. Noch lange Musik hörend, verbrachte Heinrich den Abend. Es ging ihm den Umständen entsprechend gut. Spröde vermerkte Thomas zu Heinrichs unerwartetem Ableben in seinem Tagebuch: »Gehirntod, bei noch schwach fortarbeitendem Herzen. K. dort. Das Ableben eine Frage von Stunden. Natürliche Erschütterung ohne Widerstand gegen dies Geschehen, da es nicht zu früh kommt und die gnädigste Lösung ist.« Die Trauerfeier fand in kleinem Kreis statt. Die DDR rühmte ihn als großen deutschen Dichter, Freund des Friedens und der Sowjetunion. Sie förderte sein Werk, benannte Straßen und öffentliche Plätze nach seinem Namen und ehrte sein Gedenken mit einem Heinrich-Mann-Preis, der bis heute jährlich an seinem Geburtstag verliehen wird. Zu den frühen Preisträgern zählten u. a. Stefan Heym, Franz Fühmann und Christa Wolf. Aus der Bonner Republik trafen keine offiziellen Reaktionen ein. Dort galt Heinrich Mann als Kommunist und Stalin-Verehrer. Als Walter Ulbricht bei der Beisetzung seiner Urne – nach diplomatischem Tauziehen kam sie aus Los Angeles nach Berlin – auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof im März 1961 kurz und bündig formulierte: »Heinrich Mann ist unser«, instrumentalisierte er sein Werk. Diese Vereinnahmung trug dazu bei, dass der S. Fischer Verlag erst Mitte der Achtzigerjahre damit begann, es nach und nach in einer Taschenbuchausgabe einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Noch heute haftet Heinrich Mann das Stigma an, ein Parteigänger des Kommunismus gewesen zu sein. Doch er stand auf der Seite der Freiheit. Als er gebeten wurde, ein Vorwort zum Verfassungsentwurf der DDR zu schreiben, notierte er der SED-Führung ins Stammbuch: »wer die ganze Wahrheit wünscht, rechnet mit der Verschiedenheit der Meinungen.«

In dem nachfolgenden »Lesebuch« werden Ausschnitte aus Heinrich Manns Romanen, Novellen und Essays dokumentiert. Sie eröffnen dem Leser die Möglichkeit, seine literarische und zeitkritische Entwicklung nachzuvollziehen. Sie bieten nicht nur Einblicke in das Werk Heinrich Manns, sondern ermöglichen auch, sich in den Menschen Heinrich Mann und seine Zeit hineinzufühlen. Dennoch vermitteln sie nicht mehr als einen ersten Eindruck. Sie sollen zu einer vertiefenden Betrachtung einladen. Nicht alle Romane, noch weniger alle Novellen und schon gar nicht die Vielzahl seiner Essays fanden hinreichend Erwähnung. Auf Auszüge aus seinem nicht unbedeutenden dramatischen Werk musste aus Platzgründen ganz verzichtet werden. Zur Illustration wurden drei Gedichte zitiert; es gibt gut 200 Gedichte von ihm. Sie entstanden zum größten Teil in seinen jungen Jahren; einige finden sich aber auch in seinem Werk verstreut. Bis heute fehlt es an einer Sammlung. Das erste zitierte Gedicht und die sich anschließende Novelle verraten viel über seinen Orientierungsnotstand zu Beginn der Neunzigerjahre des 19. Jahrhunderts. Die beiden Gedichte aus dem Doppelband Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre verweisen darauf, wie Heinrich Mann Prosa und Lyrik zu verflechten weiß.

Bei der Zusammenstellung ließ der Herausgeber sich davon leiten, inwieweit die Texte repräsentativen Charakter für den Roman, die Novelle und den jeweiligen Essay des Werkes insgesamt haben. Zudem kam es ihm darauf an, dass sie in sich abgeschlossen und damit gut verständlich sind. Drei Bücher wurden aufgrund ihres besonderen Stellenwertes herausgestellt: Der Untertan, der Doppelroman Die Jugend des Königs Henri Quatre und Die Vollendung des Königs Henri Quatre sowie das Erinnerungsbuch Ein Zeitalter wird besichtigt. Die mit * gekennzeichneten Überschriften stammen nicht von Heinrich Mann, sondern vom Herausgeber.

Günther Rüther, Euskirchen im Sommer 2020

Die Anfänge im Wilhelminischen Reich

»Ein Visionär, dem seine Höhle in Flammen steht, dem jedes Schneckenhaus zum Feenpalast aufschießt, hinter jedem Felsblock Satan hervorschnellt und lechzende, schwarze Blicke aus allen Morgennebeln brechen, das war er sieben Jahre, aber dann – : Dann fand er heim in das Reich, in dem er sich selbst erkannte in den Bildern, die alle auf Größe und Lust aus waren, zu den Gefilden der Helden, worin keine Träne lange hängen blieb, zu dem ewig jünglinghaften Volk, – heim zu jenen Werken, jenen weiten Ländern, die er bevölkerte mit seinen Halbgöttern, verschlossen, langsam, stark und ohne Lachen – : die italienischen Romane.«

Gottfried Benn über Heinrich Mann (1930)

Vorbemerkung

Nach dem unerwartet frühen Tod seines Vaters 1891 fühlte Heinrich Mann sich im eigentlichen Sinne des Wortes frei. Frei, Schriftsteller zu werden. Er machte sich auf, das Leben kennenzulernen. Er schöpfte die Tiefen und Untiefen des Seins aus. Italien wurde zu seinem Lebensmittelpunkt. Zu Beginn der Neunzigerjahre schrieb er seinen ersten Roman und verfasste die ersten Novellen. 1895/96 leitete er das monatlich erscheinende Journal Das Zwanzigste Jahrhundert, in dem er zahlreiche publizistische Beiträge veröffentlichte. Hier entstanden auch seine ersten politischen Essays im Geist des Wilhelminischen Zeitalters. Literarisch wandte er sich zunächst der Neuen Romantik und dem französischen Schriftsteller Paul Bourget zu, dessen psychologische, in einer mondänen Welt spielenden Romane und geistreichen Abhandlungen ihn tief beeindruckten. Nach Bourget wurde Nietzsche sein großer Lehrmeister. Mit Nietzsche wandte er sich auch vom Wilhelminischen Zeitalter ab. Heinrich Manns Romane Im Schlaraffenland und Die Göttinnen zeigen ihn in seinem Geleit. Sie schildern eine Welt des hysterischen Individualismus und der Dekadenz im Zuge des sich zur Jahrhundertwende ausbreitenden Renaissancekults. Sie weisen aber auch bereits darauf hin, warum in dieser Kultur ihr Scheitern angelegt ist.

Fantasien über meine Vaterstadt L.

Halten Sie sich nicht das Näschen zu, mein Fräulein, wenn Sie, zum ersten Mal die Straßen meiner geliebten Vaterstadt durchschreitend, durch den in einigen derselben herrschenden, Fremde mehr oder weniger beleidigenden Unwohlgeruch unangenehm berührt werden sollten. Das ist nämlich kein gewöhnlicher Gestank, das ist ein Gestank, wie ihn nicht jede Stadt besitzt, das ist ein Millionengestank.

Sie schauen mich mit Ihren schönen Augen fragend an?

Oh, mein Fräulein, ich muß suchen, Ihnen verständlich zu werden. Wenn ein Mensch nach Petroleum oder Leder duftet, so werden Sie sicher neben andern, weniger liebenswürdigen Gedanken auch den haben, dieser Mensch handle mit Petroleum oder Leder.

Wenn dieser Mensch stark nach den erwähnten Handelsartikeln duftet, werden Sie die gewiß nicht unbegründete Vermutung aufstellen, er mache gute Geschäfte; wenn er aber nun sehr stark, sehr eindringlich jene merkantilen Gerüche ausströmt, – werden Sie nicht willkürlich zu der Annahme gelangen, dieser Mensch müsse sehr, ja außerordentlich reich sein, vielleicht Millionär – – mein Fräulein, Sie verstehen jetzt den Ausdruck »Millionengestank«. Mit einer Stadt liegen die Sachen natürlich gerade so wie mit dem einzelnen Manne, – und ich kann es zur Ehre meiner Vaterstadt sagen – dieselbe riecht wahrhaft wohlhabend, stinkt sozusagen behäbig .

Immerhin gibt es selbst in L. einige Straßen, welche an einer wahrhaft armseligen Geruchlosigkeit leiden, so besonders die Straße, in welcher das Theater liegt. Welch ein bedauerliches Institut! Wer verdient denn etwas dabei? Kaum der Direktor; denn die weit einträglicheren und erfolgreicheren Geschäfte, welche gewisse Damen vom Theater zuweilen mit wohlaccreditierten L.’er Herren eingehen, sind viel zu diskreten – Geruches um hier erwähnt zu werden. Aber das Theater mitsamt der ganzen pöbelhaft geruchlosen Straße sind eigentlich nur ein großes Siegesdenkmal, ein Denkmal des siegreichen Verstandes der unübertrefflichen L.’er.

Oder ist es nicht ein wahrhaft genialer Gedanke, gerade in diese Straße und in unmittelbarster Nähe des Theaters ein Institut zu legen, welches die schlechten und geruchlosen Eigenschaften der Kunsthalle wenigstens einigermaßen zu heben im