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Als der angesehene Zürcher Gastroenterologe Dr. Linard nach einem anstrengenden Tag auf Bitten eines Arztkollegen noch bei einer letzten Patientin eine Magenspiegelung durchführt, kann er nicht erahnen, dass genau diese Patientin ihm zum Verhängnis werden sollte. Der von ihr erhobene strafrechtliche Vorwurf der Schändung beziehungsweise des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen Patientin, trifft ihn unerwartet und bald erkennt er, dass sein Leben nie mehr so sein wird, wie es einmal war. Es kommt zu einem Strafverfahren, obwohl bald erkennbar ist, dass der strafrechtliche Vorwurf nicht stimmen kann. Das Buch beschreibt, welchen zerstörerischen Einflüssen ein Mensch, der in ein Strafverfahren gerät, ausgesetzt ist, und wie schwierig es ist, damit umzugehen. Die Handlung spielt in Zürich und im Engadin. Die Personen sind frei erfunden, die Probleme sind es nicht. Die Autorin ist langjährige Anwältin mit Erfahrung in Strafverfahren.
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Seitenzahl: 255
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Heidi Affolter-Eijsten
Der Fall Linard
Impressum
© 2021 Edition Königstuhl
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Bild Umschlag:
Daniel Affolter, Erlenbach
Gestaltung und Satz:
Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern
Lektorat:
Manu Gehriger
ISBN 978-3-907339-03-9
eISBN 978-3-907339-19-0
www.editionkoenigstuhl.com
Alles könnte sich so abgespielt haben. Die Personen und Handlungen sind jedoch frei erfunden.
«Schapür ün di
Chi voul la sort
Per tai ch’eu
Saja sain da mort
Schi sapchast
Cha que ais destin
La mort nun ais amo la fin»
«Wenn das Los eines Tages möchte,
dass ich deine Todesglocke bin,
dann wisse,
dass es Schicksal ist,
der Tod ist noch nicht das Ende.»
(Gedicht auf der grossen Glocke der reformierten Kirche Scuol von Men Rauch)
Prolog/Epilog
26. November 2018: Die Magenspiegelung
30. November 2018: morgens um 6:00 Uhr
Polizeihauptwache Urania
Staatsanwalt Frieds Einvernahme
Gian Cla und Kathrin
Die Befragung von Jana Kovac
Die Befragung von Ines Pfister
Annas Gedanken
Anna und Gian Cla
Die Reaktion der Praxiskollegen
Tina Holt
Anna
Journalist und Whistleblower
Gian Cla’s einsame Gedanken
Der Staatsanwalt denkt nach
«Schändung in der Arztpraxis»
Kathrin erzählt
Jon Caprez
Besuch bei Gian Clas Mutter
Sorgen und Pläne
Ein einsamer Spaziergang
Jons Geschichte
Maria Linards Geschichte
Gian Cla Linards Weihnachten
Annas Weihnachten
Ines Pfister und Jana Kovac
Anna und der Journalist
Max Pfisters Rachepläne
«Sauhund»
Annas Ängste
Ein Journalist denkt nach
Tina Holts Zweifel
Gian Clas Gedanken
Max Pfisters Nöte
Brief an Marco Levy
Brief an Anna
Das Erlöschen der Sterne
Trauer
Die letzten Briefe
Brief an Jon
Brief an Kathrin
Brief an Seraina und Ladina
Es war vorbei, es war tatsächlich vorbei. Doch es war ein Ende mit Schrecken gewesen.
Noch immer überlief Anna Berger Conti ein kalter Schauer, wenn sie an den Fall Linard zurückdachte. Warum hatte sie mit ihren 20 Jahren Anwaltserfahrung und der Menschenkenntnis, die sie glaubte, dadurch erworben zu haben, so spät gemerkt, wo die Probleme lagen. Ihr siebter Sinn, auf den sie so viel Wert legte, hatte zu Anfang wohl angegeben, aber sie hatte ihn nicht richtig interpretieren können. Sie hatte gespürt, dass da einiges nicht stimmte, war aber zu sehr von den rechtlichen Aspekten des Falles abgelenkt gewesen.
Anna Berger seufzte, während sie dem Zürichsee entlang zu ihrer Anwaltskanzlei fuhr, die sich in der Enge, einem Stadtteil von Zürich befand. Die Fahrt von ihrem Wohnort Thalwil in die Enge dauerte in der Regel etwa 15 Minuten, je nach Verkehr. Heute war es ruhig, aber sie war etwas spät dran. Der Zürichsee war dunkelgrau, fast schwarz. Das war er auch vor drei Monaten im November gewesen und sie erinnerte sich, dass sie dabei ein ungutes Gefühl von kommendem Unheil gespürt hatte. Das kam aber ab und zu vor und sie hatte dem weiter keine Beachtung geschenkt.
In Thalwil wohnte sie seit zehn Jahren im Elternhaus ihres Mannes, Flavio Conti. Flavio war Architekt und hatte seine Geschäftsräumlichkeiten im Erdgeschoss des grossen Einfamilienhauses. Zuvor hatte sie mit ihrer Familie, mit Flavio und den beiden Töchtern Sandra und Mirjam in einer Wohnung in Zürich-Wollishofen gewohnt, noch etwas näher an ihrer Anwaltskanzlei. Als aber Flavios Eltern nach der Pensionierung beschlossen hatten, ins Tessin zu ziehen, waren Flavio und sie noch so glücklich gewesen, das Haus in Thalwil übernehmen zu können. Damals waren Sandra und Mirjam acht und zehn Jahre alt gewesen und konnten den grossen Garten noch als Spielwiese geniessen. Mittlerweile waren die beiden erwachsen. Sandra war 20 und studierte Medizin und Mirjam hatte mit 18 gerade ihre Matura bestanden. Wohl wohnten noch beide zu Hause, waren aber oft abwesend: Zwei junge, moderne Frauen mit grossem sozialem Netz eben. Es war ruhiger geworden für Anna Berger und ihren Mann Flavio. Genau das hatte sie vor drei Monaten gedacht, als sie an diesem dunklen Morgen im November in ihre Kanzlei gefahren war. Es war der 15. November 2018 gewesen, ein Tag bevor der Fall Gian Cla Linard bei ihr gelandet war.
Sie hatte sich auf einige freie Tage mit Flavio gefreut und machte sich Gedanken, wo man im November noch hinreisen könnte. Aus der geplanten Reise war dann nichts geworden, bis heute nicht. Doch jetzt war alles vorbei und ihr war gar nicht nach Ferien. Es war der belastendste Fall ihrer Anwaltstätigkeit gewesen – und sie hatte schon einige schwierige Fälle gehabt. Erschöpft, wie sie sich fühlte, musste sie sich dennoch eingestehen, dass sie ihren Beruf noch immer mochte, wenn auch nicht mehr so sehr wie früher. Vielleicht hatte sie schon zu viel an Hässlichem gesehen. Dennoch, eine vor Gericht auftretende Anwältin war am Puls des Lebens. Jeder Fall ist eine Geschichte, mal eine gute, meist eine traurige oder erschreckende. Die menschlichen Abgründe waren Anna mittlerweile nur zu vertraut. Selbst wenn vieles spannend und herausfordernd war, würde sie sich nie ganz daran gewöhnen können. Abstumpfen wollte sie nicht. Sie arbeitete in den emotionalsten Rechtsgebieten: Eherecht, Scheidung, Kindsrecht, Erbrecht und Strafrecht. Unglaublich die Emotionen, die einem da oft entgegenschlugen, und es war nicht immer einfach, ruhig und professionell zu bleiben. Der mit den Jahren aufgebaute Schutzschild funktionierte zwar meistens, aber nicht immer, zumal sich hinter diesem Schild nicht nur eine Anwältin, sondern auch ein fühlender Mensch verbarg. Das war wohl bei jedem Rechtsanwalt ähnlich, obwohl viele ihrer männlichen Kollegen dies in der Regel nicht zuzugeben pflegen. Als Anwalt ist man besonnen, professionell und nicht emotional. Schon richtig, aber das funktionierte nicht in jedem Fall gleich gut.
Der Fall Gian Cla Linard war von Anfang an besonders schwierig gewesen. Das lag auch daran, dass Anna die Familie Linard gekannt hatte. Die Linards und die Contis waren vor Jahren Nachbarn gewesen, damals in Zürich-Wollishofen. Kathrin, die Frau von Gian Cla, war häufig zu Anna zum Kaffee gekommen, und die Töchter der Linards, Seraina und Ladina, waren ungefähr im gleichen Alter wie Sandra und Mirjam gewesen. Die Mädchen hatten damals viel zusammen gespielt. Anna hatte Kathrin Linard immer gemocht. Sie fand sie eine kluge und warmherzige Frau. Mit Kathrins Ehemann Gian Cla Linard, hatte sie jedoch nur wenig Kontakt gehabt. Er war er nur selten zu Hause gewesen und sie empfand ihn auch als reichlich kühl. Kühl erschien er ihr auch Kathrin gegenüber, doch er war ein engagierter und unerwartet herzlicher Vater für seine Töchter. Gian Cla Linard war ein führender Gastroenterologe in Zürich. Er war im Vorstand der Ärztegesellschaft und hatte in den letzten Jahren angefangen, sich politisch für die Zukunftspartei zu engagieren. Das letzte, was Anna von ihm gehört hatte, war, dass er weit oben auf der Kantonsratsratsliste der Zukunftspartei stand. Auf den Wahlplakaten sah er gut aus, jedenfalls weit besser, als die meisten so verkrampft lächelnden Kandidaten. Gian Cla lächelte nicht. Das brauchte er auch nicht, attraktiv, wie er war. Das ganze Jahr war er schön gebräunt, was wohl nicht zuletzt vom regelmässigen Bergsteigen kam. Kathrin schien seine häufigen Abwesenheiten zu ertragen, jedenfalls beklagte sie sich nie. Seit sie und Flavio nicht mehr in Wollishofen wohnten, war Annas Freundschaft mit Kathrin Linard etwas eingeschlafen. Die Mädchen hatten aber offenbar noch regelmässig Kontakt und waren Freundinnen geblieben. Jedenfalls hörten Anna und Flavio jeweils von ihnen das neuste von den Linards. Noch immer konnte Anna es nicht fassen, dass ausgerechnet Gian Cla Linard in eine solche Situation geraten war. Es war drei Monate her.
Etwas stimmte nicht, ganz und gar nicht. Das war der erste Gedanke, der Ines Pfister durch den Kopf ging, als sie aus tiefem Schlaf erwachte und von dem hellen Neonlicht geblendet wurde. Wo war sie eigentlich? Langsam kam die Erinnerung zurück. Sie war im Operationssaal des Gastrocenters Forchstrasse, wo Dr. Linard bei ihr eine Magenspiegelung vorgenommen hatte. Warum war sie allein? Wo war Frau Kovac, die Arztgehilfin? Die war doch vor der Narkose noch dabei gewesen? Ines überlegte. Lange konnte sie nicht geschlafen haben, denn vor dem Eingriff hatte Dr. Linard gesagt, dass eine Magenspiegelung nicht lange dauere, so etwa 20 Minuten. Die Magenspiegelung war offensichtlich vorbei. Ihr schien, als hätte sie viel länger geschlafen und – sie zuckte zusammen – warum blutete sie? Nicht etwa aus dem Mund, dort war ja das Magenuntersuchungsrohr eingeführt worden, nein es blutete unten zwischen den Beinen, so als hätte in dieser Zeit eine starke Monatsblutung eingesetzt.
Unterleibsschmerzen, die sie so nach der Schwangerschaft noch nie gehabt hatte, liessen sie sich zusammenkrümmen. Das hatte sie doch sonst nie. Nur, wenn ihr Mann nach der Geburt versucht hatte, mit ihr zu schlafen, hatte sie jeweils solche Krämpfe und Blutungen bekommen, aber doch nie so starke. Was war geschehen, während sie geschlafen hatte? Und warum war niemand da? Ines begann zu frieren, versuchte aufzustehen, aber ihr Blutdruck machte noch nicht mit, und sie legte sich gleich wieder hin. Da verschob sich der Paravent hinter dem Untersuchungsbett und Dr. Linard kam hervor. Er war also da gewesen, allein mit ihr. Was hatte das zu bedeuten? «Ja, Frau Pfister», sagte er, «Sie sind ja schon wach. Ich wollte Sie gerade aufwecken. Es ist alles gut gegangen, bleiben Sie noch etwas liegen. Frau Kovac kommt in etwa fünf Minuten zurück und bringt Ihnen einen Kaffee. Dann können Sie langsam aufstehen, sich bereit machen und zu mir ins Besprechungszimmer kommen.» Ines schwieg. Wie lange war sie mit Dr. Linard allein gewesen? Warum war sie mit ihm allein gewesen? Ein schwerer Verdacht drängte sich in ihr Bewusstsein. War es möglich, dass …? Nach ein paar Minuten, in denen Dr. Linard beruhigend auf sie einredete, kam tatsächlich Frau Kovac herein mit roten Wangen von der Kälte und teilte ihr mit, dass sie nur kurz gegenüber auf der Post gewesen sei, weil diese um 18:00 schliesse. Sie bringe ihr jetzt gleich den Kaffee. Dr. Linard verliess mit einem «bis später» den Untersuchungsraum.
Mit leiser, etwas rauer Stimme brachte Ines ein «war ich denn allein?», hervor. «Aber nein», meinte Frau Kovac, «Dr. Linard war doch in der Aufwachphase bei Ihnen.» Frau Kovac holte den Kaffee und als sie reinkam, versuchte Ines aufzusitzen. Sie schaute Frau Kovac an. «Ich blute», sagte sie vorwurfsvoll, «ich blute ganz stark, was ist denn passiert?» Frau Kovac schaute sie fragend an und meinte, «nun, der Stress der Untersuchung kann vielleicht eine Monatsblutung ausgelöst haben». «Ich hatte bisher nach der Geburt noch keine spontane Periode», meinte Ines. «Das kann nicht sein.» «Ich bringe Ihnen Binden», meinte Frau Kovac und verliess kurz den Raum, um gleich wieder mit einem Paket Damenbinden zurückzukommen. Ines versuchte, sich anzuziehen. Das Untersuchungsnachthemd, das man ihr vor dem Untersuch gegeben hatte, war rauf gerutscht, ihre Unterhose dafür etwas runtergeglitten. Wie das denn? Und dann die Blutungen. Hastig steckte sie sich zwei Binden zwischen die Beine und zog sich an. Dann verliess sie den Raum und eilte ohne ein Wort des Abschieds an Frau Kovac vorbei, die der aus der Praxis eilenden Patientin kopfschüttelnd nachsah. Was sollte das denn? Kurz darauf öffnete sich die Tür zum Behandlungszimmer von Dr. Linard. Dr. Linard stand in der Türe und fragte, «ist Frau Pfister schon bereit, dann kann sie jetzt kommen.» «Sie hat soeben fluchtartig die Praxis verlassen», antwortete Frau Kovac, «irgendetwas hat sie enorm aufgeregt.» Linard runzelte die Stirn. «Was denn?», fragte er. «Nun», sagte Frau Kovac», «sie hatte Blutungen, wahrscheinlich hat der Eingriff bei ihr eine Monatsblutung ausgelöst». «Ich werde sie später anrufen», meinte Linard besorgt und ging zurück ins Behandlungszimmer. Das ungute Gefühl, das ihn beschlich, unterdrückte er. Er schüttelte etwas ratlos den Kopf und machte sich an die nächste Patientenakte. Draussen am Empfang sass eine nachdenkliche Jana Kovac. Sie überlegte eine Weile und griff dann zum Telefonhörer.
Anna schreckte auf, als ihre Tochter Sandra ihr den Telefonhörer hinhielt. «Wie spät ist es denn?», brummte sie noch völlig verschlafen. «Du meinst, wie früh», antwortete Sandra, «kurz nach 6:00 Uhr. Kathrin Linard sucht dich.» «Was? Kathrin Linard? An einem Freitagmorgen um 6:00, wenn alle noch im Bett sind?» Das konnte nichts Gutes bedeuten. Anna war plötzlich hellwach. Sie nahm den Hörer und versuchte, aus den aufgeregten Worten von Kathrin Linard zu verstehen, was los war. «Fünf Polizisten», sagte Kathrin Linard. «Jawohl, in der Wohnung. Und sie wollen Gian Cla festnehmen. Wo leben wir denn? Morgens um 6:00? Und sie sind mit einem Polizeiauto da, sodass die ganze Nachbarschaft daran teilhaben kann – was soll ich tun?» «Kannst du mir Gian Cla kurz ans Telefon geben?», fragte Anna. Es rumorte im Hintergrund. Dann kam zwar ein Mann ans Telefon, aber es war nicht Gian Cla. Er stellte sich als Polizeiwachtmeister Lerch vor. Anna stellte sich auch vor. «Ich bin Rechtsanwältin Anna Berger Conti und Frau Kathrin Linard hat mich gebeten, festzustellen, was los ist. Darf ich Sie fragen, ob Sie einen Haft- und Durchsuchungsbefehl haben und was darauf steht?» Lerch zögerte. «Nun», meinte Anna, «Sie müssen es mir sagen, Sie müssen es vor allem auch Herrn Dr. Linard sagen.» Lerch räusperte sich und meinte, «Ja natürlich haben wir einen Haftbefehl, sonst wären wir wohl kaum da.» Die Art und Weise, wie er antwortete, erstaunte Anna nicht. Viele Polizisten kamen bei Zwangsmassnahmen sofort in einen Abwehrmodus, wenn sie mit einem Anwalt oder einer Anwältin sprachen. «Gut», meinte Anna, «und dann teilen Sie mir doch bitte mit, was im Betreff auf dem Haftbefehl steht und warum Sie Dr. Linard festnehmen wollen.» «Vertreten Sie Dr. Linard?», fragte Lerch misstrauisch. «Ja», antwortet Anna, die das bisher auch noch nicht gewusst hatte, aber nur so bekam sie die Antwort, die sie wollte. «Fragen Sie Dr. Linard.» Sie hörte wie Kathrin, Gian Cla und Lerch miteinander sprachen. Dann kam Lerch zurück an den Apparat. «Es steht Verstoss gegen Art. 191 StGB darauf.» Anna zuckte heftig zusammen. «Bitte nicht», dachte sie. «Haben Sie das Herrn Dr. Linard erklärt?» «Wir haben es versucht», meinte Lerch «aber er scheint es nicht verstehen zu wollen.» «Natürlich will und kann das keiner verstehen, schon gar nicht morgens um 6 Uhr. Wo bringen Sie ihn denn jetzt hin?» «Zuerst fahren wir in seine Praxis, um eine Patientenakte zu beschlagnahmen, und dann bringen wir ihn auf die Hauptwache.» «Wann und wo werden Sie ihn befragen?» «Natürlich auf der Hauptwache.» «Wann wird das in etwa sein? Können Sie mich dann anrufen?» Anna gab Lerch ihre Kanzleitelefonnummer und sagte dann «und jetzt geben Sie mir trotzdem noch kurz Herrn Linard an den Hörer». «Das kann ich nicht», meinte Lerch. «Doch, das können Sie. Sie werden ihn hoffentlich schon darauf hingewiesen haben, dass er ein Anrecht auf eine Verteidigung hat und die Aussage jederzeit verweigern darf?» «Wir sind dran», antwortete Lerch zögerlich. «Bereits etwas spät, finden Sie nicht?», bemerkte Anna. «Und jetzt geben Sie Herrn Dr. Linard bitte den Hörer.» Lerch zögerte wieder. «Aber nur ganz kurz.»
Plötzlich hörte Anna ein trockenes «Ja?» Es war Gian Cla Linard. «Hören Sie Gian Cla, Kathrin hat mich soeben angerufen. Die Polizei wird Sie verhaften wegen Verstosses gegen Art. 191 StGB. Hat man Ihnen erklärt, was in diesem Artikel steht?» «Ja», meinte Linard. „Sexueller Missbrauch an einer Patientin.» «An einer wehrlosen Patientin», verdeutlichte Anna, «im Gesetz steht sogar Schändung, ein hässliches Wort, ich weiss, und ein ziemlicher Knall so am frühen Morgen. Sollten Sie ohne meine Anwesenheit befragt oder auch nur etwas gefragt werden, verweigern Sie die Aussage und verlangen Sie nach Ihrer Anwältin. Sagen Sie vorerst einfach nichts. Noch weniger als nichts. Ich werde bei der Einvernahme, die nach der Durchsuchung der Praxis stattfinden wird, dabei sein.» Gian Cla brummte etwas Zustimmendes und es wurde aufgehängt.
«Was ist los?», fragte Flavio, die verschlafene Stimme aus dem Bett. «Das tönte aber gar nicht gut. Schändung? Wird jetzt wohl nichts mit unserer Ferienwoche.» «Warten wir’s mal ab», antwortete Anna. «Ich kann mir wohl Schänder vorstellen, aber ganz bestimmt nicht Gian Cla Linard». «Sicher nicht», meinte Flavio, «ich kann’s mir auch nicht vorstellen, aber wir wissen schliesslich, dass alles möglich ist.» «Trotzdem», meinte Anna, «nicht Gian Cla.»
Das Telefon klingelte wieder. Es war nochmals Kathrin. Anna hörte, dass sie weinte. Im Hintergrund die aufgeregten Stimmen von Seraina und Ladina. «Schau Kathrin», sagte Anna ruhig, «ich weiss nicht, was passiert ist. Ich weiss auch noch nicht genau, worum es genau geht, aber wir werden Gian Cla die beste Verteidigung zukommen lassen und ich werde bei der ersten Einvernahme dabei sein. Versuche, Dich zu beruhigen. Du wirst alle Kraft benötigen, auch für Seraina und Ladina. In welcher Verfassung war er, als sie ihn abholten?» «Er war sehr ruhig», meinte Kathrin, «aber das ist er immer, das heisst nichts.» «Gut Kathrin, ich muss mich jetzt bereit machen, wir hören uns wieder». Anna legte auf.
Sandra, die alles mitbekommen hatte, schaute ihre Mutter fragend an. «Wie geht das dann, morgens um 6:00 Uhr anständige Leute festzunehmen? Und das in einem Rechtsstaat wie die Schweiz?» «Nun», antwortete Anna, «Festnahmen und Hausdurchsuchungen werden meistens am frühen Morgen angesetzt. Die Leute sind dann noch zu Hause, meist verschlafen, und wehren sich daher auch weniger. Das Dumme ist nur, dass am frühen Morgen meistens auch die Nachbarn noch zu Hause sind und alles mitbekommen, vor allem in einem Mehrfamilienhaus. Linards haben zwar ein Einfamilienhaus, aber in einem sehr ruhigen Quartier und offenbar ist die Polizei mit einem polizeilichen Einsatzwagen gekommen. Du kannst sicher sein, dass alle Nachbarn es mitbekommen haben und die Gerüchteküche bald anläuft.» «Na prima! Ich finde es auch sehr problematisch», meinte Flavio, «wenn in einem Rechtsstaat ein unbescholtener Bürger morgens um 6:00 Uhr von fünf Polizisten abgeholt wird.» «Da hast du recht», meinte Anna. «Churchill hat mal gesagt, «Wenn es morgens um 6:00 an der Haustüre klingelt, dann ist es in einem Rechtsstaat der Milchmann». Aber auch in einem Rechtsstaat, da irrte Churchill ausnahmsweise, kann es die Polizei sein. Hör mir zu Sandra, du darfst über das, was jetzt geschehen ist und du gehört hast, niemandem etwas erzählen.» «Weiss ich doch langsam nach all den Jahren», brummte Sandra. Als Mirjam verschlafen hinter Sandra erschien, sagte Anna es auch Mirjam. Es war nicht einfach, das Anwaltsgeheimnis zu wahren, wenn man zu Hause im Beisein der Familie morgens um sechs Uhr telefonisch über eine Verhaftung informiert wurde, vor allem dann nicht, wenn der Verhaftete noch allen Familienmitgliedern bekannt war.
Um Viertel nach sieben machte sich Anna auf den Weg zu ihrer Kanzlei. An Schlafen war nicht mehr zu denken gewesen und sie wollte möglichst früh noch einige Vorbereitungen treffen, da sie nicht wusste, wie der Tag durch die Einvernahme Gian Cla’s verlaufen würde. Wie immer im November war der See sehr dunkel, zu dunkel erschien er Anna. Es würde ein grauer Tag werden. Doch der Tag hatte schon düster begonnen. Während sie in die Enge fuhr – es hatte wie immer in der Region Zürich um diese Zeit schon viel Verkehr – überlegte sie, was vorgefallen sein mochte. Es war für einen Mann etwas vom Schlimmsten und Gefährlichsten, mit einem Sexualdelikt in Verbindung gebracht zu werden. Schändung war dann auch noch das Delikt, das am schlimmsten klang. Schändung ein Begriff, der im Strafgesetzbuch so nicht hätte stehen dürfen, weil er stark wertend ist. Warum hiess es nicht sexueller Missbrauch einer urteils- oder widerstandsunfähigen Person? So stand es nämlich in der französischen und italienischen Ausgabe des Strafgesetzbuches – das war schon schlimm genug. Das waren sachliche Umschreibungen eines schlimmen Tatbestandes, aber Schändung – da war das Wort für sich allein schon schlimm? Schändlich. Schande. Ein Vorwurf wie ein Donnerschlag. Wie fühlte man sich, wenn man einer Schändung bezichtigt wurde? Nicht auszudenken – und der Tatbestand passte überhaupt nicht zu Gian Cla Linard. Es war zu hoffen, dass bald Klarheit in den Fall gebracht werden konnte oder auf den Fall gar nicht erst eingetreten oder der Fall wenigstens bald eingestellt würde. Doch Anna wusste, dass das illusorisch war. Sexualdelikte werden heute bis zum bitteren Ende – wie dieses denn auch aussah – untersucht. Der Zeitgeist und die «me too» Debatte hatte da Einiges bewirkt. Differenzieren war zum Problem geworden. Heute ist die Öffentlichkeit mit Vorverurteilungen schnell zur Hand. Bei den Sexualdelikten wurde es immer schwieriger, sachlich und unvoreingenommen nach der Wahrheit zu suchen. Es galt oft gegen Ideologien und vorgefasste Meinungen anzukämpfen. Anna hatte schon Beschuldigte und Opfer vertreten. Beides war zermürbend.
Es war zu hoffen, dass Gian Cla’s Fall nicht in die Öffentlichkeit durchsickerte. Gian Cla Linard war eine Persönlichkeit, die man aus der Ärztepolitik und neuerdings auch aus der Kantonspolitik kannte. Wenn nur das Geringste publik wurde, würde ihm das enorm schaden. Selbst dann, wenn nichts am Schändungsvorwurf dran war und er sich am Ende als unschuldig erweisen sollte. War der Vorwurf mal draussen, dann galt die Unschuldsvermutung nichts mehr. Wie oft hatte sich Anna schon über Berichterstattungen in den Medien geärgert, wo detailgetreu und genüsslich die Vorwürfe aufgezählt wurden, um am Schluss ein scheinheiliges «für den Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung» anzufügen. Das interessierte dann doch niemanden mehr. Dieser Satz war höchstens noch ein Feigenblatt gegen den Vorwurf der falschen Medienberichterstattung, oder, wie ihr Kanzleikollege Georg Dreher es nannte, ein «cover my ass» gegen allfällige Klagen. Durch das Beschreiben der behaupteten Tat war das Dynamit gelegt und der Betroffene in der Öffentlichkeit exponiert. Den Geruch der ruchlosen Tat würde er nie mehr ganz loswerden. Die Medien waren der neuzeitliche Pranger, schlimmer noch: Der mittelalterliche Pranger war wenigstens örtlich begrenzt wirksam gewesen. Doch durch die Medien verbreitet sich heute ein Verdacht – und am Anfang eines Strafverfahrens stand erstmal ein Verdacht – über das ganze Land und darüber hinaus.
Strafverfahren gegen bekannte und erfolgreiche Persönlichkeiten wurden zudem besonders ausgeschlachtet. Da spielte einiges an Schadenfreude und Neid mit. «Seht nur her, die Reichen, Mächtigen, Erfolgreichen. Haben wir’s nicht immer gesagt? Die sind auch nicht besser als wir.» Der Spruch, der früher immer wieder zu hören gewesen war, und vielleicht in früheren Zeiten auch zugetroffen hatte, nämlich: Die Kleinen hängt man und die Grossen lässt man laufen, hatte sich schon lange in sein Gegenteil verkehrt. Das Vorurteil in diesem Spruch war eine grosse Gefahr für die Rechtsprechung, denn kein Richter wollte sich vorhalten lassen, dass er die «Grossen» besser behandle. Die Zürcher Richter hatten sich bisher als ziemlich resistent gegen Vorverurteilungen in den Medien erwiesen. Immerhin das, denn der Beschuldigte war im Grunde genommen oft durch Negativschlagzeilen schon bestraft genug.
In letzter Zeit waren viele «Grosse» in Strafverfahren gelandet. Alle Verwaltungsräte der Swissair damals, oder kürzlich der CEO einer bekannten Bank, ein Bundesanwalt und ein hoher FIFA-Funktionär. Von aussen war nicht immer erkennbar, ob sie wirklich gefehlt hatten oder ob der Fall einfach aufgebauscht wurde. Manchmal konnte man monatelang über ein Strafverfahren lesen – und ein Jahr später erschien in den Zeitungen eine kurze Zeile unter «Diverses», dass das Strafverfahren gegen den X eingestellt worden sei. Das interessierte dann niemanden mehr. Aber X würde sich nie mehr vom Verdacht befreien können und auch seinen Job war er für immer los. Mitleid durfte er auch nicht erwarten. Das Erstatten von Strafanzeigen war ein wirksames Mittel geworden, jemandem zu schaden, ihn gar loszuwerden. Es gab berühmte Beispiele, vor allem aus den Vereinigten Staaten. Am schlimmsten war es ohnehin bei den Sexualdelikten, dann kamen die Korruptionsund Wirtschaftsdelikte. Bei den «Kleinen» waren die nicht spannend, aber wenn es einen der «Grossen»» traf: welch wunderbare Schlagzeile. Oft waren die «Täter» schon von einer gnadenlosen Presse vorverurteilt worden und es schien egal, ob eine gerichtliche Verurteilung nachfolgen würde. Der amerikanische Schauspieler Kevin Spacey war von der Öffentlichkeit jedenfalls völlig zerstört und aus seinen erfolgreichen Rollen gedrängt worden, und es hat am Ende niemanden mehr gross interessiert, als bekannt wurde, dass strafrechtlich gesehen offenbar kein Fleisch am Knochen der Vorwürfe war. Der Vorwurf genügte und ein Heiliger war er wohl nicht. Es war fatal, wenn man nur schon in den Dunstkreis eines solchen Deliktes kam. Anna hasste solche Fälle. Sie bedeuteten auch für die Verteidigung grossen Stress, aber sie hatte es heute Morgen nicht übers Herz gebracht, Kathrin abzuweisen. Zudem wusste Kathrin, dass sie Erfahrung hatte in solchen Fällen und sich für ihre Klienten einsetzte. Zeit hatte sie nun jetzt auch, wo sie den Pendenzenberg in ihrer Kanzlei abgebaut hatte und sich eigentlich eine schöne Woche mit Flavio hatte gönnen wollen.
Um 9:00 Uhr erhielt sie den erwarteten Anruf von der Polizeihauptwache Urania. Man habe jetzt Gian Cla Linard gerade dorthin gebracht und er würde gegen 10:00 Uhr polizeilich einvernommen werden. Anna machte sie bereit und nahm die notwendigen Unterlagen wie Vollmachtsformulare und Merkblätter mit. Kurz vor 10 Uhr war sie bei der Hauptwache Urania, die in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofes liegt.
Als Anna die Hauptwache Urania betrat, die Regionalwache der Stadtpolizei Zürich, bewunderte sie einmal mehr die Eingangshalle mit den Malereien von Augusto Giacometti. Das erwartet man nicht, wenn man die Eingangshalle einer Polizeiwache betritt. Die Giacometti-Halle wird im Volksmund auch «Blüemlihalle» genannt. Der Eingang der Hauptwache Urania macht diese wohl zur schönsten Polizeiwache der Welt. Eigenartig, fand Anna.
Sie musste sich zuerst zu Gian Cla durchfragen. Polizeiwachtmeister Lerch schien sie erwartet zu haben. «Wo ist mein Klient?», fragte Anna. «Im Raum nebenan», antwortete Lerch. «Darf ich zu ihm?» Lerch zögerte schon wieder. «Für eine sinnvolle Verteidigung muss ich mit meinem Klienten reden können.» «Also gut», gab Lerch nach, «aber kurz, wir fangen schon bald mit der Einvernahme an.» «Ich will die Zeit, die ich benötige, ansonsten Dr. Linard einfach schweigen wird. Eine Verdunkelungsgefahr besteht wohl kaum mehr.» «Um 14:00 Uhr wird der zuständige Staatsanwalt Peter Fried eine weitere Befragung vornehmen», fuhr Lerch fort. «Er wird entscheiden, ob noch Verdunkelungsgefahr besteht. Wir bringen Herrn Linard dann zur Staatsanwaltschaft.» «Warum diese Doppelgleisigkeit?», fragte Anna. «Kann Staatsanwalt Fried nicht direkt die erste Einvernahme vornehmen? Und was geschieht mit Herrn Linard zwischen diesen beiden Einvernahmen? Bleibt er in Haft oder darf er mit mir zum Mittagessen gehen? Fluchtgefahr besteht mit Sicherheit keine.» «Er bleibt sicher in Haft bis nach der Einvernahme durch Staatsanwalt Fried. Dann wird Staatsanwalt Fried über eine weiter Haft entscheiden.»
Anna ging ins Nebenzimmer. Gian Cla sass auf einem Stuhl beim Fenster und schaute hinaus. Es war schwierig, seine Miene zu deuten. Er wirkte sehr ruhig, zu ruhig. «Wissen Sie schon mehr?», fragte Anna. «Waren wir nicht mal beim Du?», fragte Gian Cla. «Nur Kathrin und ich waren per Du, aber wenn das alles vorbei ist, können wir uns sehr gerne duzen. Bis dahin ziehe ich es vor, Sie weiter zu siezen. Unterhalten wir uns zuerst darüber, was Ihnen vorgehalten wird. Ahnen Sie den Vorhalt?» «Ja», seufzte Gian Cla. «Die Polizei hat heute Morgen die Patientenakte von Ines Pfister, einer 28-jährigen Patientin, mitgenommen. Ines Pfister war vorgestern Mittwoch in meiner Praxis für eine Magenspiegelung. Ihr Hausarzt hatte sie als dringenden Fall angemeldet. Frau Pfister hatte seit der Geburt ihres ersten Kindes immer wieder erhebliche Refluxbeschwerden mit Magenkrämpfen gehabt. Ich hatte sie noch entgegenkommenderweise an einen langen Terminplan angehängt, um 17:00, als letzte Patientin des Tages. Die Untersuchung, eine Magenspiegelung, verlief gut, jedenfalls, bis sie aufwachte. Ich hatte ein paar Gewebeproben entnommen, die ich gerade am Beschriften war, als sie aufwachte. Die Praxishilfe, Frau Kovac, war unmittelbar nach dem Untersuch, als die Patientin noch schlief, kurz auf die Post gegenüber gegangen. Den ganzen Tag waren wir mit Untersuchungen so beschäftigt gewesen, dass es vorher nicht möglich gewesen war. Die Post schliesst um 18 Uhr, Frau Kovac war keine 10 Minuten weg gewesen. In dieser Zeit ist die mit Propofol narkotisierte Patientin wie erwartet aufgewacht. Sie war sehr unruhig, wähnte sich zuerst allein, obwohl ich hinter dem Untersuchungsbett sass und die Proben beschriftete. Als ich bemerkte, dass sie aufwachte, sprach ich sie an und erklärte ihr, dass alles gut gegangen war und Frau Kovac ihr gleich einen Kaffee bringen würde. Sie schaute mich mit einer Mischung von Erstaunen und Entsetzen an, was ich mir nicht erklären konnte. Frau Kovac erzählte mir später, dass Ines Pfister gefragt hatte, ob ich mit ihr allein gewesen sei. Dann habe sie ihr, Kovac, mitgeteilt, dass sie schwere Blutungen habe. Frau Kovac habe sie zu beruhigen versucht, der Stress des Untersuchs habe bei ihr wohl eine Monatsblutung ausgelöst. Kurz darauf verliess Frau Pfister fluchtartig die Praxis zum Erstaunen von Frau Kovac und mir.» «Sie können sich vorstellen, was die Patientin Ihnen vorwirft?» fragte Anna. Gian Cla sah sie ruhig und gefasst an: «Ja, das kann ich. Ich habe aber gar nichts in diese Richtung getan. Das würde und könnte ich nie tun. Bedeutet der schnelle Zuzug des Staatsanwaltes, dass man von einem schweren Fall ausgeht?» «Nicht unbedingt», meinte Anna, «warten wir ab. So oder so bleiben Sie so ruhig, wie Sie es jetzt sind. Antworten Sie auch ruhig, nie aufbrausend oder überheblich. Reden Sie nicht drein und weisen Sie den Polizisten oder den Staatsanwalt nie zurecht. Ich sage Ihnen das nicht, weil ich Ihnen misstraue, aber weil es eben oft vorkommt und sich ein solches Verhalten negativ auf das Verfahren auswirken kann. Polizisten und Staatsanwälte sind oft empfindlich. Bestreiten Sie den Vorwurf dezidiert, ohne die Patientin zu kritisieren. Auch Letzteres ist psychologisch wichtig. Die Patientin darf nicht runtergemacht werden, auch nicht, wenn sie offensichtlich lügt. Antworten Sie nicht auf Suggestivfragen, die Ihnen etwas unterstellen, oder auf Fragen, die Sie nicht beantworten wollen. Dieses Recht haben Sie. Und schliesslich werde ich auch dabei sein, falls etwas nicht richtig läuft.»