Anja und andere - Dominik Riedo - E-Book

Anja und andere E-Book

Dominik Riedo

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Beschreibung

Sie kommen mit der Gesellschaft nicht klar respektive die Gesellschaft nicht mit ihnen. Oder sie leiden seit Geburt beziehungsweise durch Schicksalsschläge schon früh im Leben an Schmerzen und Behinderungen, die andere Menschen als ‹beschränkend› erleben würden. Dominik Riedo aber widmet acht solchen Persönlichkeiten je ein ganz eigenes Festhalten der Geschichten, die ein spezielles Leben ausmachen. Dabei lässt er die betroffenen Menschen so reden, als würden sie sich direkt an die Leserin und den Leser wenden – in einer je eigenen Sprache, die jeden dieser acht Menschen ausmacht, die hier porträtiert sind. Ein Dokument der Lebenskraft in schwierigen Lebenslagen.

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Seitenzahl: 152

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Dominik Riedo

Anja und andere

Sechs Lebenserzählungen

Der Autor dankt für die Unterstützung:

Der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, die Material zur Verfügung stellte

Seiner Krankenkasse, ohne deren Hilfe er die Gesprächsmenschen – bis auf zwei – nie kennengelernt hätte

Manfred Hiefner für die Übertragung des Mottos

Impressum

© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlag und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Umschlagsbild:

123rf.com/Balint Roxana

Lektorat:

Manu Gehriger

Verwendete Schriften:

Suisse Serif, Suisse Int’l

ISBN 978-3-907146-76-7

eISBN 978-3-907301-23-4

www.muensterverlag.ch

«‹Uf Facebook postet sie die ganz Ziit, wie schlächt’sihre goht und wie chrank sie isch.› –Schomol überleit, dass das en Wäg für sie isch,en Umgang demit z’finde, das alles z’bewältige?»

«‹Sie postet die ganze Zeit auf Facebook,wie schlecht es ihr gehe und wie krank sie sei.› –Schon mal daran gedacht, dass das ein Weg für sie ist,damit umzugehen und das alles zu bewältigen?»

Robin Rehmann(SOS – Sick of Silence / Radio SRF Virus)

Inhalt

Die Wahre

Ich wurde gelebt

Ein Wunder

Ich bin ein Töter

Auf(recht)stehn – oder untergehn …

Grossmueti

Coda: Du wirst diesen Schmerz …

Notiz/Widmungen

Nachweis der Erstdrucke

Hinweis: Das vorliegende eBook umfasst sechs, des ursprünglich auf acht Lebensgeschichten angelegten Werkes.

Die Wahre

Sie weinte und schluchzte und schrie gar in jener Nacht in Genf. Ihre Kameradinnen und Kameraden wussten nicht mehr, was sie tun sollten. Sie richteten sich auf aus ihrem Schlaf, standen auf, umringten ihr Bett und beratschlagten sich. «Ich kann das nicht mehr mit anhören», sagte Pitsch dann – und stiess sie sachte an, bis sie erwachte, aufschreckend zwar aus ihrem Schlaf, aber bald geborgen umgeben von ihren Klassenkameraden, statt in der Gewalt des Einen, jenes … Drei Jahre war es her, seit sie ertragen musste, was sie nicht ertragen wollte. Es gefiel ihr zwar, wahrgenommen zu werden, umworben. Ihre Zähne hatten ihr noch nie gefallen; sie waren zu weit auseinander. Aber deswegen musste noch keiner meinen, sie wollte auch gleich mit ihm im Rossstall … Dabei war sie freiwillig dort, alle ihre Kameradinnen und Kameraden genossen die Ferien, zuhause, in den Ferienlagern. Sie aber wollte sich bilden, wollte besser Französisch reden lernen. Aber dann –

Warum das Tagebuch hier abbricht? Das kannst du dir doch vorstellen?

Ach so, okay. Dann habe ich dich falsch verstanden: Warum in der dritten Person? – Na ja, weil es doch erfunden ist.

– – –

Ich wollte eine Zeit lang mit einer Klassenkameradin einen Roman schreiben. Ich war doch in den Ferien 1991 auf einem Rosshof. Da wurde es mir abends ein wenig langweilig und ich habe schon vorgearbeitet, was ich dann zuhause –

Aber egal: Ich danke dir, dass du die Seite gefunden hast. Wo mag ich die verloren haben?

Was, was mit mir los ist? Nichts.

– – –

Wirklich nichts.

Was: Ich ein schlechtes Erlebnis gehabt? Nein. Tut mir leid, das bin ich nicht. Wirklich, nicht ich. Nein, das bin ich ganz sicher nicht. Nein, wirklich nicht. Im Sommer 1991, da waren wir ja im Semi.

Nein, also. Ja, ich bin ein Jahr eher im Welschen gewesen. Ich bin im Austausch gewesen. Aber das muss sonst jemand –

– – –

Nein, wirklich, dräng jetzt nicht mehr. Das ist doch schwierig genug.

Warum ich ‹schwierig› gesagt habe? Na ja, ich meine doch nur, für diese … also für sie, die …

Aber wart mal, wer ist denn noch im Welschland gewesen? Das muss doch irgendwie stimmen! Sag rasch, hm …

Was? – Ja.

Das stimmt, ja.

Wirklich speziell.

– – –

Mir geht es gut, ja. Tipptopp, ja. Wirklich.

Weisst du, sonst würde ich doch daran arbeiten, das alles zu beweisen und den zu bestrafen, damit … also weil man ja in der Schweiz das immer noch beweisen muss, dass man da, oder besser und meist: dass frau da –

Nein, macht nichts.

Warum ich darüber so viel weiss?

Weiss ich das?

– – –

– – –

Schau … oder hör: Ich kann dir – also weil das lässt mich wirklich nicht los jetzt, und ich möchte, dass niemand darüber denkt, als ob … als wenn das wirklich passiert wäre. Also ich gebe dir die Nummer meiner besten Freundin, du weisst doch, welche. Die rufst du bitte an und erzählst ihr das. Und dann fragst du, wie das denn damals war, was mir denn passiert ist? Oder eben: Was mir nicht passiert ist?

Was? Wie sie das wissen soll?

Ach so, was nicht passiert ist? – Hm, ja, schon. Aber glaub mir, sie wird dir sagen, dass es das nicht gegeben hat. Dass du mich verwechseln musst.

– – –

Ah, genau, noch was: Mir fällt noch etwas ein: Ich habe nie gesagt, dass ich 120 Jahre alt werden will.

Was? – Nein, wart jetzt. Ich habe gesagt, dass ich 120 Jahre alt werde. Das ist doch ein Unterschied!

Wie ich das mache? Na ja, ein Mal im Tag den Puls hochjagen lassen, gesunde Nahrung, keinen Stress, viel Ruhe, Wasser, sich bewegen, draussen in der Natur, dann reiten und –

Wie? Ja, das schon, das hast du gut in Erinnerung.

Aber nochmals: Du musst mich verwechseln! Wirklich. Ich war das nicht. – Also ich bin das nicht. Wirklich.

Das muss jemand erfunden haben.

Das mache ich doch nicht.

Als Schutz?!

Nein!

Ich wurde gelebt

Schreib, mein Leben begann mit dem Tod. Schreib, der Tod hat meine Familie ausgelöscht, bevor ich fähig war, selber für mich zu sorgen. Schreib, dass nur der Vater übrigblieb. Er hat mich missbraucht. Jeden Tag.

Hast du das? Gut.

Schreib, dass er mich in ein Kinderheim einweisen liess. Ich wollte halt nicht mehr alles ruhig über mich ergehen lassen. Nicht mehr jeden Tag leiden. Nein, ich weiss nicht, wie das gegangen ist, dass er mich einfach einweisen konnte. Er musste auf jeden Fall erst später ins Gefängnis. Das habe ich dann noch gehört, irgendwo. Also frag nicht.

Schreib, dass das Kinderheim wegen schlechter Führung einige Jahre später geschlossen wurde. Wir Kinder haben dazu nichts mehr gesagt. Es war ja doch alles geschehen. Und die Tränen konnte man nicht mehr wieder reinpressen. Aber immerhin leidet jetzt dort niemand mehr.

Vom Kinderheim kam ich in ein Töchterheim in Zürich. Das war eine Art Ersatzfamilie. Dort lernte ich, wie man Heroin zubereitet und wie man es einnimmt. Und glitt eben in eine Sucht ab. Wie das halt so kommt. Du weisst, wie das ist.

Ne, vermutlich weisst du es nicht, entschuldige.

Im Töchterheim ging es also einige Zeit ganz gut. Ich lernte ein bisschen was, hatte Kameradinnen, die mir auch mal zuhörten, und fiel nach aussen nicht gross auf. Damals liefen ja fast alle mit gefärbten Haaren rum und überhaupt.

Irgendwann ging es dann aber doch nicht mehr. Irgendwann hältst du das ganze Schauspielern einfach nicht mehr aus. Irgendwann hast du genug.

Schreib, dass ich also abgehauen bin. Weg von den Lebenslügen der Menschen. Vom Lehrer, der immer so freundlich tat, aber den Mädchen ständig in den Ausschnitt glotzte. Vom Hausverwalter, dessen Frau sadistisch veranlagt war. So kam er manchmal abends zu uns, was aber die Mädchen wieder störte. Man will ja auch mal allein sein, nicht? Die Bücher hat er uns aber dennoch weggenommen, jene, die wir nicht lesen sollten. Na ja, wir waren uns alle schon lange Schlimmeres gewohnt.

So bin ich also abgehauen.

Hast du das?

Und da kam ich nach Luzern. Hier lebte ich zuerst mal auf den Gassen. Schlief in der Nacht auf einem Karton am Boden oder auf der Bank. Den Platz unter der alten Langensandbrücke hab ich gemocht. Da trösteten mich die Züge darüber hinweg, dass ich eigentlich alleine war. Ich hatte das Gefühl, noch irgendwie zur Welt zu gehören. Aber meist sitzt du doch nur auf dem Boden und sprichst plötzlich zu den Ameisen, die auf dir rumkrabbeln. Aufpassen musst du bei den Ratten. Die können dir ganze Ohren abfressen. Oder die Nase. Ich hatte wenigstens damit Glück.

Etwas besser waren besetzte Häuser. Da hast du wenigstens eine Zeit lang dieselbe Adresse. Die kannst du dann angeben, wenn du mal Hilfe brauchst. Versuch mal bei einem Arzt was zu bekommen, wenn du nicht mal eine Adresse hast! Dafür gibt’s da immer Stunk mit den Besitzern und der Polizei. Die verstehen einfach nicht, dass wir diese Häuser brauchen. Wie soll man sich denn eine Wohnung mieten, wenn man gesucht wird? Keinen Job hat. Und Geld sowieso keins. Ich musste ja immer sehen, dass ich zu meinem Stoff komme. Und dann klauen ihn dir auch noch die Mitbewohner ab und zu.

Das war eh ein Mist. Einigen Kumpels musste ich mich, also ich musste mich hingeben. Ich mein, ich hab das sonst nie gemacht. Ich hab mich nie gegen Geld verkauft. Die Selbstachtung hab ich bis heute. Die fetten Familienschweine sollen gefälligst zuhause ihre Frauen vögeln. Aber nein, sie schimpfen auf die Hausbesetzer, um dann abends ums Haus zu schleichen auf der Suche nach billigem Sex. Diese Würste. Manchmal frage ich mich schon, ob eigentlich ich krank bin. Was meinst du?

Ach, ist egal.

Die Gesellschaft urteilt sowieso, wie sie urteilt. Wenn du in ihr leben willst, musst du dich anpassen. Aber das andere macht dich eben auch fertig.

Ich wollte dir von den Kumpels erzählen. Also, die leisten ja da ganz schön was. Die beschützen dich vor den blöden Typen, die aufkreuzen, auch vor der Polizei, wenn die dich mal so richtig belästigt und vor anderen Dingen. Was halt so abgeht.

Dafür darfst du dann mit ihnen schlafen. Ist natürlich zynisch gemeint. Du musst quasi. Sonst schmeissen sie dich in der Nacht raus, wenn sie schlecht drauf sind. So aber darfst du sogar mitessen, wenn sie wieder mal was aufgetrieben haben. Obwohl du es besser gleich selber kochst. Man will schliesslich wissen, was auf dem Teller so alles drin ist. Und die Kumpels können meist gar nicht kochen. Zumindest nicht richtig. Aber das ist auch noch so was, was ich im Töchterheim gelernt habe. Immerhin.

Hast du das? Ich könnte das nicht so schnell. Aber das ist ja dein Beruf. Also.

Dann kommt da noch die Scheisse mit den Deppen, die sich zu viel spritzen. Dabei ist es gar nicht so schwer. Selbst wenn du mischst. Man hat doch das Gespür dafür, wie viel man verträgt. Hat man doch. Aber eben. Die eben nicht. Die Typen. Es sind immer wieder dieselben. Und dann hast du den Stress am Hals. Musst sie zu retten versuchen, oder gleich die Ambulanz rufen. Aber die machen dann wieder Ärger. Zumindest hinterher. Kommen da mit Fragebogen angerannt. Packen die einen in jenes Heim, andere in dieses. Ich bin ein paar Mal so hin- und hergeschoben worden. Hab einiges gesehen. Auch Gefängnis, natürlich. Aber so richtig was hatten sie gegen mich ja nie in der Hand. Hab ja nie was gemacht. Nichts Schlimmes. Bisschen was geklaut im Laden. Oder mal etwas Geld mitlaufen lassen.

Ach ja, das war noch.

Einmal haben sie mich von der Strasse wieder in eine überwachte Notschlafstelle gebracht. Da zahlst du was, damit sie dich überwachen können. Na ja, ganz so ist es zwar nicht. Sie meinen es schon gut. Aber warum man da noch zahlen muss, wo doch all die reichen Säcke Geld genug haben. Und wenn auch einige hart arbeiten, gibt es doch solche, die müssen fast nichts tun. Nicht alle haben im Leben so ein Schwein. Denen gelingt es einfach, während solchen wie mir die Mutter stirbt, wenn man ganz klein ist.

Also von der Notschlafstelle aus hab ich in einem Kino gearbeitet. So die Eintrittstickets kontrolliert, Platz angewiesen, vor allem, wenn sie verspätet eintreffen. Oder in der Pause Getränke verkauft hinter der Bar. Und anderes.

Das ging eine Weile ganz gut. Aber dann wurde es mir eines Tages zu blöd, weil ich doch viel zu wenig verdiente, während der Chef bloss einmal am Tag kurz reinschaute, ob man auch alles richtig mache. So hab ich denn das Geld von den Pausenverkäufen fast jeden Abend zur Hälfte behalten. Man musste nur die Deckelchen der Flaschen nicht richtig abzählen. Denn so zählten wir, wie viel wir wovon verkauft hatten. Wenn du die aber einfach wegschmeisst, merkt das lange keiner.

Aber am Jahresende haben sie dann Inventur gemacht. Alle Rechnungen, die der Chef bezahlt hat verglichen mit dem, was reingekommen ist. Und dann haben da halt viele Flaschen gefehlt. Und natürlich haben sie zuerst an mich gedacht. Gleich an mich. So ist es immer. Okay, hier war ich ja schuldig. Trotzdem.

Danach hab ich echt gedacht, ich mag nicht mehr. Bist da in einem harten Leben aufgewachsen, nichts lief, wie es den anderen läuft, aber dennoch wird man immer als Dreck behandelt.

Na gut, da war ich schon längst selber schuld. Zumindest ein wenig. Aber es ist halt hart, weisst du.

Also bin ich da nochmals so richtig in ein Loch gestürzt. Hab nochmals geraucht, gekifft, Heroin und Koks genommen, auch Aufputscher, damit du am Morgen wenigstens mal aufstehst, wenn kein Koks mehr geblieben ist. Hing ich also wieder auf den Strassen rum. Und bald wär ich doch noch auf dem Strich gelandet. Na ja, einmal hab ich für ein bisschen Stoff mit so einem Typen gepennt. Wenn man es wirklich braucht, bleibt dir nicht viel übrig.

Aber davon hatt ich dann wieder so was, du weisst schon, so was, wo man zum Arzt muss. Immerhin durfte ich die behandeln. Und weh tat es auch nicht. Im Gegensatz zum Auskratzen.

Was, dir sagt das nichts? Echt? Ach so.

Na, eben, auskratzen sagen wir halt. Wenn du ein Kind bekommen würdest, aber das nicht haben kannst, natürlich. Geht ja auch nicht. Wie soll das gehen? Einige versuchen es zwar. Aber die nehmen sie dann gleich in ein Pflichtprogramm, da kannst du gar nichts mehr selber bestimmen. So kann ich wenigstens schlafen, wo ich will.

Und dann war ich irgendwann ganz unten. Schreib, vor vier Monaten. Da war ich ganz tief unten. Also tiefer kannst du eigentlich nicht mehr gehen. Nein, das geht nicht, denke ich.

Da blieb ich also in der Nacht einmal auf der Strasse liegen. Einfach so. War mir auch egal. Aber die Bullen, also die Polizei, hat mich aufgelesen, und weil ich wieder mal keine Adresse hatte, brachten sie mich in die Geschlossene. Da kam ich noch voll auf den Entzug. Schüttelte mich durch. Also bin ich auch da wieder abgehauen. In der Nacht, Fenster aufgebrochen, Gitter auseinandergeklemmt, das hab ich vom Tomü gelernt, wie man das macht, und dann ab.

Doch nach einigen Tagen habe ich es mir anders überlegt. Hab mich gestellt, und gesagt, ich will einen Entzug machen. Da musste ich aber erst warten, bis sie ne Arbeit für mich gefunden haben. Jetzt werd ich dann wohl in einer Gärtnerei arbeiten.

Aber erst nach dem Entzug. Doch ohne Arbeit nehmen sie dich gar nicht erst auf in der Klinik. Und eine Wohnung sollst du auch haben, für danach. Die wollen sie mir noch finden, haben sie vorhin gesagt. Keine Ahnung, wie das geht.

Weisst du, schreib einfach, dass ich vieles gar nicht verstehe. Ich begreife nicht, wie die Welt funktioniert. Oder nicht so, wie ihr. Das macht ja eigentlich nichts. Aber es ist mühsam. Auch das Hin-und-her-geschoben-Werden ist mühsam. Und deswegen …

Schreib, ich wurde quasi gelebt. So nenne ich das bei mir. Weil ich nie tun konnte, was ich wirklich tun wollte. Ich hatte ganz andere Pläne. Aber wenn der Tod so früh kommt, in die Familie, und du deine Kumpels alle gehen siehst, weil sie sich einen zu viel gesetzt haben, dann zweifelst du schon am Leben. Du verstehst plötzlich nicht mehr, warum man jeden Tag arbeiten soll, warum man so tun soll, als sei alles in Ordnung. Als gäbe es nichts Besseres als ein sauberes Heim.

Dabei wollte ich gar nicht jammern.

Weisst du, ich bin schön froh, kann ich jetzt den Entzug antreten. Sonst würd’s mein Körper nicht mehr lange machen. Schreib das auch. Ich bin der Gesellschaft schon dankbar, dass man so etwas finanziert wie diese Therapien. Also den meisten in der Gesellschaft. Alle würden das ja nicht wollen, wenn sie gefragt würden. Aber da geht es ihnen mal, wie es mir lange gegangen ist.

Aber weisst du, ich habe auch Angst. Ich hab nämlich keine Ahnung, wie das gehen wird. Der Entzug. Die neue Stelle. Wenn die Chefin eine krasse Sklaventreiberin ist. Die sagen, sie sei in Ordnung. Aber wissen die denn, wie man behandelt wird, wenn man mal Abschaum war? Da muss ich sehen, dass ich gut reinkomme.

Aber auch die Wohnung wird schwierig sein. Wenn du so lange keine mehr hattest, die dir allein gehört. Immer mit anderen gewohnt hast. Ich hoffe, ich werde von den alten Kumpels nicht bedrängt. Deswegen wollen sie mich eben auch in eine andere Stadt schicken. Das sei sogar der Hauptgrund, sagen sie. Aber wenn ich die Stadt nicht mal wählen darf, was ist das für ein Leben?

Siehst du, es ist eben nicht alles nur gut.

Na ja, schlimmer werden die Nächte sein. Das ist echt krass. Da träume ich immer wieder von meinem Vater, dem grossen Schatten. Also er kommt da als Schatten. Mit meinen Schreien hab ich sogar die Kumpels geweckt jeweils, obwohl die meist völlig weg waren. Aber so extrem ist das. Und das soll ich jetzt allein aushalten.

Dafür haben sie mir die Psychotherapie verschrieben. Bereits im Entzug. Und danach weiter. Muss ich besuchen. Die wollen dann alles wissen. Dabei, also dabei kann ich ja dir nicht mal alles sagen. Also schon fast alles, aber eben nicht ganz alles. Du weisst schon.

Aber schreib, dass mir das echt Angst macht, all das Neue. Auch wenn ich mich drauf freue. Also gespannt bin ich. Und zugleich ist da die Angst. Aber das hab ich schon gesagt.

Als Letztes wollen sie mich dann auch noch in einen Sportverein schicken. Ich soll mir eine Sportart aussuchen, die ich gerne machen würde. Das soll meinem Körper guttun. Dem Geist auch. Sagen sie.