Ankhaba - Gunter Dueck - E-Book

Ankhaba E-Book

Gunter Dueck

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Beschreibung

Eine mystisch-philosophische Erzählung in eine quirlige Vampir-Weltuntergangstragödie verpackt! Gunter Dueck schreibt in gemessenen, oft ausdeutungsfähigen Sätzen, die wie eine Mischung aus Märchenton und Bibeldiktion anmuten. Eine ganze Familie wird "gebissen" und gerät in immer wieder überraschendste Verwicklungen, die zu tiefen Einsichten in den Urgrund der Welt führen. Sie erfahren, wie sich die Glaubenssätze verschiedener Weltreligionen in makabrer Weise als "richtig" erweisen. Vordergründig herrscht Action ohne Ende – fast alle Leute werden zu Vampiren und müssen nun industriell Menschen züchten, um Blut zu produzieren. Die Protagonisten suchen derweil die "Erklärung der Welt" in den heiligen Stätten Ägyptens, finden das Ankhaba und retten wenigstens alle Seelen. Das Buch ist nur formal ein "Vampirroman"; es ist aber weder "Roman" noch "Vampirgeschichte", sondern mehr eine metaphysische Reise. In seiner Amazon-Rezension wendet Christoph Berger folgerichtig eine Warnung an typische Vampirleser: "Aber Achtung! Lesen Sie das Buch nicht, wenn Sie eine realistisch und plausibel entwickelte Story erwarten, inklusive haarklein konstruierten Cha-rakteren. Sie werden das Buch nicht mögen bzw. nicht verstehen und nur einen oder zwei Sterne vergeben! Dueck lässt dem Leser Freiraum für die eigene Phantasie und verlangt im Gegenzug eine gewisse Flexibilität, um der turbulenten Handlung hirnknotenfrei zu folgen und dabei noch die Meta-Botschaften des Buchs zu verdauen."

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GUNTER DUECK 

Über dieses Buch

Über dieses Buch: Die skrupellose Bio-Industrie hat den menschlichen Körper als ultimative Verdienstquelle entdeckt. Body-Modding ist in! Der letzte Schrei in Clubs und Lounges aber ist der Biss zum Vampir. Untote haben mehr Spaß am Leben! Jetzt kostenlos! Plötzlich werden die Menschen knapp. Frischblut ist nun der dominierende Wirtschaftsfaktor! Der frühreife Leon steigt zum mächtigen Beherrscher eines Zuchtkonzerns auf der die Welt mit langhälsigen Gebrauchsmenschen versorgt. Inmitten dieser Apokalypse machen sich Leons Schwester Anke und der Wissenschaftler Brain auf die Suche nach dem Ursprung allen Unglücks, ihr Weg führt zu den letzten Geheimnissen der Menschheit. In Ägypten finden sie Tod Teufel, die Antwort auf fast alle Fragen und den Urgrund der menschlichen Seele. Anke greift sich den Schlüssel zu einer neuen besseren Welt der Liebe: das Ankhaba. Duecks Werk besticht auch diesmal wieder durch seine gewaltige Sprache und einen ganz ungeheuren Erfindungsreichtum bis in die Details.

Über den Autor: Prof. Dr. Gunter Dueck ist vielseitiger Wissenschaftler, Philosoph, Management-Stratege und Autor. Er studierte ursprünglich Mathematik und Wirtschaft und war einige Jahre Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld, bevor er zum Wissenschaftlichen Zentrum der IBM wechselte. Für seine Forschungen auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik wurde er weltweit ausgezeichnet, Dueck ist Fellow des amerikanischen Ingenieurverbandes IEEE, korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, er war lange Präsidiumsmitglied der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und der Gesellschaft für Informatik. Viele seiner heiter-satirisch-philosophischen Sachbücher über Management und „Menschen in artgerechter Haltung brachten es zu Auszeichnungen oder Bestsellerlistenplätzen. Aber eigentlich, so sagt er immer, „wollte ich Dichter werden, aber das hätten meine Eltern nicht erlaubt“. Die ersten Ideen für den vorliegenden Roman hat er im Alter von 17 Jahren auf ein paar Blättern skizziert und im Alter von 54 beim Aufräumen wiedergefunden. Daraus entstand in den arbeitsärmeren Sommermonaten fast wie im Rausch dieses blutige Buch.

Impressum

Copyright: © 2011 Gunter Dueck  published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de ISBN 978-3-8442-1892-3 Cethubala: Patricia Carvalho  Seria Regular: Martin Majoor  Cover: Tanja Kubani www.wennaugenfuehlen.de Prof. Dr. Gunter Dueck Gaiberger Straße 29 Wilddueck @ Twitter und @Youtube  Telefon +49 6223 72795 

Wenn ich zurückdenke ...

Wenn ich zurückdenke, so viele Zeitalter zurückdenke, wundere ich mich noch heute, wie alles begann. Wir kannten die Ordnung des Himmels nicht. Und so stürzte alles auf uns ein, verstörend und unerklärlich. Umso erstaunter mussten wir sein, und allmählich erahnten wir den Sinn des Menschen. In dem blutigen Ende erkannten wir jedoch, dass wir eigentlich keinen Sinn brauchen. Was sollten wir anders tun als leben? Jetzt schreibe ich den Anfang vom Ende nieder, damit ich nicht ins Stocken komme, wenn ich anderen Wesen davon erzähle. Alles war so verwirrend und bestürzend und vielschichtig von Anfang an. Denn wir sahen damals allmählich, was Menschen nicht sehen sollten. Alles begann auf einem Friedhof und mit dieser verflixten Katze, aber das wussten wir damals natürlich noch nicht. Wir wurden in Vieles gleichzeitig hineingezogen und ruderten ratlos im Strudel, weil wir lange Zeit dachten, es wäre nur eine einzige Geschichte. Doch es waren in Wahrheit viele Geschichten. Irgendwann aber, ja, irgendwann entspann sich aus den vielen dann eine Geschichte. Unsere Geschichte! Es könnte sein, dass vielleicht nur wir selbst sie nicht wirklich begreifen. Denn ich bin immer noch da! Es lebt der Mensch, solange er nicht stirbt.

PROLOG AUF DEM FRIEDHOF

Der Teufel und der Engel saßen auf dem Friedhof zusammen. Sie stritten, weil die Teufel nach der Ansicht des Himmels zu wenige Seelen lieferten. Der Teufel wühlte unwillig in einem Haufen schwarzer Seelen. Sie lagen vor ihm wie verkohlte Kartoffeln herum. »Schau doch, die Seelen sind viel zu schwarz! Sieh diese hier!« Der Teufel nahm eine in die Hand und haderte mit dem Engel. »Sie hat einen dicken dunklen Belag, sieh, das rötliche Innere leuchtet kaum noch heraus. Solch eine Seele wird in vielen Leben nicht sauber geleckt! Wir haben seit langer Zeit immer mehr und mehr zu tun! Unsere Arbeit wird von Jahrhundert zu Jahrhundert schwieriger! Es liegt an der gewaltigen Sündenschwemme! Kaum ein Mensch benimmt sich noch züchtig und lieb. Wir Teufel warnen schon so lange! Ihr im Himmel seid zu weit von der Erde weg. Ihr schaut nicht hin. Ihr haltet die Augen geschlossen. Wir holen mehr und mehr Teufel hierher, nur um die versündigten Seelen zu reinigen. Wir schaffen es nicht. Niemand hört uns zu! Verdammt! Niemand hört uns jemals zu!« Der Engel sagte sarkastisch: »Niemand hört zu? Ich sitze gerade vor dir. Siehst du mich? Meine Augen sind geöffnet. Ich habe offene Ohren.« Der Teufel schien plötzlich einen spitzbübischen Gedankenblitz zu haben. Er nahm eine der dunklen Seelen in die Hand. Sie sah aus wie ein mit schwarzem Zucker glasierter Jahrmarktapfel. Er streckte seine pelzige Noppenzunge heraus und leckte am schwarzen Seelenüberzug. Der Engel zuckte abwehrend erschrocken und hielt sich spontan die Ohren zu, er hatte die schiere Angst in den Augen. Er kniff die Augen zu. Der Tote schrie unsäglich schrill-------------------. »Lass das sein!«, befahl der Engel mit schneidender Stimme. Er hatte die Augen geschlossen und hielt sich verzweifelt die Ohren. Der Teufel leckte herzhaft an der Seele weiter, deren zugehöriger Toter immer lauter gellende Schreie ausstieß, die markerschütternd den Engel fast zum Wahnsinn trieben. »Na, Engel? Siehst du? Hörst du?« »Ich schwöre dir beliebigen Ärger, wenn du nicht sofort aufhörst!«, schrie nun der Engel völlig außer sich. »Lass das sein!« »Gut, gut«, entgegnete der Teufel und legte die schwarze klebrige Seele beiseite. »Ihr da oben habt schöne Ansichten. Ganz diamantblank geleckt sollen wir die Seelen liefern! Die schmutzige Arbeit aber wollt ihr nicht mit ansehen! Kann sich einmal ein Engel anhören, wie wirkliche Arbeit aussieht? Hat je einer von euch Mitleid mit uns armen Teufeln? Seid ihr wirklich sicher, dass es keine bessere Methode gibt, die Seelen zu reinigen? Gibt es nichts anderes als das Ablecken der Seelen? Schadet tausend Jahre Schreien der Toten nicht ihren Seelen? Vermindert es nicht die Güte des roten Seelenkerns? Fürchten sich nicht die Menschen im Leben schon vor diesem Feuer der Hölle? Ritzt es nicht schon die lebenden Seelen?« Der Teufel sah nun, dass sich der Engel noch immer die Ohren zuhielt. Er wartete, bis der Engel sich beruhigt hatte. »Ich meine, dieses absurd grässliche Schreien deutet doch auf tiefes Leiden hin und müsste nach normalem Verstand schaden. Willst du es noch einmal hören? Nein?« Der Teufel lächelte und der Engel verfinsterte sich. Der Teufel argumentierte nun zuckersüß: »Weißt du, im Grunde loben die Toten doch Gott, wenn sie während der Reinigung der Seele so schrill kreischen. Das müsste doch Balsam in euren Ohren sein. Sie tun Buße. Bestimmt! Wenn ich so irre schreien würde, würde ich mir doch bestimmt überlegen, dass ich alles bereue. Ich würde mein Leben zum Brüllen finden, in mich gehen und versuchen, ein besserer Toter zu werden. Na, Engel? Vielleicht sollte ich dir zur Abschreckung sogar einmal das Ablecken einer Frauenseele vorführen?« »Wenn du das tust...!«, drohte der Engel in Kampfhaltung. »Frauenschreie sind reines Lob Gottes! In höchsten Tönen!«, grinste der Teufel. »Lass dieses offizielle Gewäsch. Ich kann höchste Töne nicht leiden. Komm zur Sache: Wie können wir es schaffen, doch noch das gesamte geforderte Seelenkontingent rein zu waschen? Euch Teufeln bleibt doch sonst nicht gleich die Spucke weg. Ihr Teufel seid jetzt gefordert, produktiver zu lecken oder euch etwas Neues einfallen zu lassen. Seit wann sind Teufel nicht kreativ, wenn sie in Schwierigkeiten stecken?« Der Teufel ereiferte sich: »Wir sind ausschließlich für die Seelenverarbeitung da. Nicht für das Verhindern der Sünden. Warum seht ihr schon so lange zu, wie die Erde zum Sündenpfuhl wird? Ich kann dir sofort sagen, wie wir vorgehen könnten. Ich trete vor eine große Menge von Menschen und lecke an einer frisch gestorbenen Seele, am besten an derjenigen eines soeben gestorbenen oder hingerichteten sehr bekannten Menschen. Bei solchen können die Menschen noch ungefähr die Stimme erkennen, obwohl der Schrei sie sehr verzerrt. Sie erkennen bestimmt sofort, was ihre Stunde geschlagen hat. Wir lecken dann nur an dieser ausgewählten berühmten Demonstrationsseele ein paar Jahre vor ihren Augen herum und sie werden alle verstehen, dass es sehr viel länger als ein paar lumpige Jahrzehnte braucht, eine sündige Seele ganz blank zu lecken. Oder? Ihr Engel müsstet nur noch die Schreie für Menschen hörhar machen und schon sind sie fromm wie Schafe.« »Lämmer.« »Ist doch egal. Euer Anspruch, Seelen ganz ohne Einflussnahme von oben in absoluter Wildbahn zu erzeugen, ist völlig überzogen. Öko-Seelen, was? Sprüht doch ein bisschen Sündenbekämpfungsmittel und schon ist alles prall und glänzend.« »Wir wollen ausschließlich natürliche, biologisch reine Seelen.« »Was heißt schon biologisch rein? Die Menschen haben doch Erziehungssysteme! Waffen! Gehaltsabrechnungen! Arbeitspsychologie! Was kommt schon dabei heraus? Blanke Seelen etwa? Nein! Wir brauchen bessere Bedingungen. Erlaubt mir am besten, einmal ein wenig Einfluss auf der Erde zu nehmen, ihr im Himmel kommt nur alle Jubeljahre vorbei. Ich aber sitze hier ohnmächtig unter den Menschen und sehe die Zunahme ihrer Sünden, ohne ihnen helfen zu dürfen. Früher mussten wir unschuldige und wilde Menschen zu schwersten Sünden verführen, damit wir überhaupt etwas zu lecken hatten! Wir Teufel leben ja schließlich vom schwarzsüßen Seelensündenzucker. Und heute? Zu viel davon! Viel zu viel! Wir schaffen es nicht. Keine Hoffnung! Verbietet uns am besten nicht weiter, unter die Menschen zu gehen. Ja, früher hatten wir einen starken Mangel an schwarzen Seelen. Wir mussten sehen, wo wir blieben. Wir mussten ja leben und haben das Schwarze der Seelen gerne wachsen sehen und dabei nachgeholfen. Ja, es stimmt: Wir haben viele Menschen zu Sünden verführt und ein Durcheinander erzeugt. Heute aber begehen sie die Sünden von allein! Ohne Sünde überleben die Menschen in ihrer jetzigen Organisation gar nicht mehr! Deshalb müssen wir Teufel helfend eingreifen und die Menschen zurückpfeifen, das ist doch völlig klar! Wir Teufel müssen für Ordnung und Liebe unter den Menschen sorgen. Hebt das Verbot auf! Ein paar erlaubte Spaziergänge von Teufeln wie früher mit dem Pferdefuß— und wir biegen die Sache für euch hin. Gott wird über uns staunen, wenn es ihn geben sollte! Wenn man Engel erlebt wie dich, glaube ich es allerdings nicht!« »Er hat gar nichts damit zu tun. Sie erwarten oben einfach Erledigung.« »Da bist du als Engel selbst in der Klemme. Wenn ich versage, bekommst du die Schuld. Ich arbeite, du hast die Verantwortung. Wie kommst du aus dieser misslichen Lage heraus?« »Ich quäle euch Teufel und mache mächtig Druck.« »Und du schadest unserer hohen Motivation!« »Ich werde mich an euren teuflischen Qualen weiden, was sonst! Wenn ich schon selbst in Schwierigkeiten stecken muss, dann geht es euch noch schlechter als mir, dafür sorge ich.« »Darf das ein Engel sagen? Sind Engel nicht stets und immer herzensgut?« »Unser Gespräch hört ja jetzt keiner.« »Bist du sicher?«, schielte der Teufel. »Irgendwann erwischen sie dich. Aus und vorbei! Weißt du nicht, wie sich gefallene Engel auflösen und zum Ammit werden, wenn der Himmel oder das himmlische Licht Fehlbarkeiten in ihren Seelen entdeckt?« »Oh, kennst du dich da aus?«, fragte der Engel unsicher und beugte sich vor, als höre er schlecht. »Haben denn Engel eine Seele?« »Ich bin nicht sicher. Bei dir sowieso nicht. In Menschen fühle ich sie. Immer.« Sie schwiegen. »Erlaub mir, wieder unter die Menschen zu gehen. Bitte, oh Engel.« »Ich darf es nicht gestatten, das weißt du genau.« »Lass mich nur einmal als Untoter oder als Bestie erscheinen.« »Nein.« »Einmal! Als Werwolf wenigstens!« »Nein!« »Als Fledermaus!« »Nein! Nein! Nein!« »Als Fliege!« »Mach die Fliege, sage ich!« Da fiel der Teufel mit gefalteten Händen auf die Knie und dankte inbrünstig. Der Engel lächelte grimmig und wurde gnädiger. »Gut. Du darfst einmal als Fliege auftreten. Ich wüsste nicht, was es helfen sollte. Ich bin gespannt.« »Im Märchen darf man immer drei Mal, ich bitte dich!« »Oh, einmal ist genug. Du kannst danach ja wieder kniend kommen!« Der Engel flatterte aufbruchbereit mit den Flügeln. »Und ich will deutlich mehr blitzblanke Seelen haben. Ist das klar?« Der Teufel verneigte sich. Als der Engel schon langsam vom Boden abhob, nahm der Teufel seelenruhig eine schwarze Knolle in die Hand. Der Engel blickte sehr ernst und strafend. Der Teufel drehte die Seele lächelnd und andächtig wie eine Erdkugel in der Hand ... Gleich aber, als der Engel entschwunden war, verdüsterte sich seine Miene. Ach, könnte er doch mit einem Pferdefuß unter die Menschen gehen und ihnen etwas weismachen oder vorgaukeln, damit sie mit dem Sündigen aufhörten! Er verfluchte den Engel, der selbstherrlich mehr blanke Seelen forderte, aber selbst nicht helfen wollte. Eine Fliege! Das war ein Witz! Und der Engel wusste es. Er hatte ihn sicher nur ärgern wollen. Und wie es ihn ärgerte! Plötzlich schlug sich der Teufel vor den Kopf. »Ich hätte mir wünschen sollen, ein Bakterium zu werden, das alle Kinder tot umfallen lässt! Das wäre es! Nur sündenfreie Seelen kämen zu mir! Klein, aber fein! Ja, man müsste sie früh sterben lassen, so wie früher, in der Steinzeit. Damals waren die Engel noch zufrieden mit den nur kurz lebenden Menschen! Kurzes Leben - schöne Seele! Langes Leben - viele Sünden! Aber die Menschen von heute merken rein gar nichts und bezahlen noch die Ärzte dafür. Aber vielleicht— ja ...« Er dachte angestrengt nach. Er hatte vor Jahrhunderten einmal für kurze Zeit auf Vampire gesetzt. Die hätten ja massenweise Kinder aussaugen können. Aber die Seelen der damals Gebissenen und Ausgebluteten waren ganz und gar unbrauchbar gewesen, richtig vermasselt. Der Teufel fluchte. An die Kinder kam er so einfach nicht heran. Und der Gottesglauben verschwand zunehmend unter den Menschen, die dafür auf Medizin vertrauten. Ja, vielleicht! Noch ein Versuch mit Vampiren? Hey, was täten die Mediziner denn dann? Der Teufel sah im Tagtraum die Besserwisser und Philosophen vor sich, die einen Vampir untersuchten. Sie würden unfehlbar rufen: »Wenn es Vampire gibt, muss auch Gott existieren!« Ja, das würden die Menschen denken. Dann würden sie wieder an Gott glauben und das Sündigen eindämmen. Dabei war ihm selbst, dem Teufel, überhaupt nicht klar, ob es wirklich einen Gott gäbe. Es gab Engel, das stand fest. Aber was sollte das schon beweisen? Und wenn Gott nur wie ein Engel wäre, was hülfe es den Seelen?

BLUTIGE ANFÄNGER

KAFFEE UND UNSICHTBARKEIT

Alle nannten ihn Brain, weil er so viel wusste. Nur selten konnte er nicht Antwort geben. Das freute seine Mitmenschen. Denn es machte ihn menschlicher für die anderen. Er interessierte sich gar nicht so sehr für etwas Bestimmtes. Es ging ihm mehr darum, eben alles zu wissen. Er hatte kein spezielles Hobby, kein zentrales Kenntnisgebiet. Er war stets wach und dachte mit. Er wirkte oft abwesend. Dann wandelte er innerlich in Tagträumen. Er wirkte dabei steif und verstockt, beinahe stoffelig. »Er denkt schon wieder nach!«, mutmaßten die Leute. »Er schwebt in anderen Sphären!« Er hasste Unvernunft, weil sie für sein Gehirn wie Unberechenbarkeit wirkte. Unvernunft, dachte er sich, macht die Welt unnötig komplex und unverständlich. Eine vernünftige Welt kann durch zehn Gebote oder zehn Zeilen Bergpredigt geregelt werden. Mehr ist nicht nötig, fühlte er oft in stiller Verzweiflung. Brain verdiente sich etwas Geld mit dem Programmieren von Computern. Er galt auf diesem Gebiet als Genie und hätte eine große Laufbahn einschlagen können. Aber ein wenig Geld reichte für eine kleine Wohnung mit unscheinbaren Möbeln. Er lebte dort leise die eine Hälfte seines Lebens. Während der anderen saß er in der Ferne mit defekten Computern zusammen und päppelte sie auf. Brain war auf der Durchreise zum nächsten kranken Computer. Er hatte kaum Zeit. Aber er ließ es sich nicht nehmen, Martha immer wieder zu sehen. Brain hatte sich mit Martha zum Frühstück in einem kleinen Hotel verabredet, in dem er übernachtete. Würde sie die Kinder mitbringen? Martha war Brains Jugendliebe. Er hatte sie alle Zeit still angehimmelt. Der Anblick von Martha war das einzige, was in ihm etwas zum Schwingen brachte, ein Steigen des Blutes in die Wangen, ein glückliches Heben des Atems, ein Kribbeln im Bauch. Er hatte immer geglaubt, Martha würde es ganz deutlich sehen, wie er wieder und wieder errötete oder wie es in ihm kribbelte. Er schämte sich und versuchte sich zu beherrschen. Jedes Mal, wenn er Martha sah, hatte er in dieser Weise sein Inneres zu beschwichtigen, diesen unbekannten Rest, der außerhalb seines Kopfes wohnte. Und so hatte er es nie fertig gebracht, ihr näher zu kommen. Eines Tages verliebte sich Otto in sie. Er arbeitete als Hausmeister in einem Studentenwohnheim. Otto bemühte sich bis zur Selbstaufgabe um Martha. Er diente ihr, besorgte alles für sie, opferte alles. Brain konnte kaum mit ansehen, wie ein pummeliger, gutmütiger großer Junge ihm Martha vor seinen Augen fortnahm. Otto war doch gar nicht klug! Er war eher unbeholfen und beinahe täppisch oder unbedarft. Brain konnte es kaum fassen, mit wie wenig Verstand eine Frau herumzubekommen war. Nach einiger Zeit heirateten die beiden und Martha wurde fast sofort schwanger. Sie bekam Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen. Heute waren Leon und Anke elf oder zwölf Jahre alt. Leon war ein stiller Junge, der immer etwas misstrauisch wirkte, als wäre er mit einer angespannten Stirnfalte geboren. Anke war ein unbekümmerter Wirbelwind. Anke löste in Brain immer reine Freude aus. Sie waren dicke Freunde. Brain war in gewisser Weise der gute, etwas merkwürdige Onkel der Familie. Er kam einige Male im Jahr zu Besuch und spielte dann die meiste Zeit mit den Kindern. Kinder wuchsen ja noch und wurden klüger. Das freute Brain, während er bei Erwachsenen immer vor dem Endergebnis stand. Erwachsene waren meist nicht klug und wurden nicht klüger. »Nur wer einen Schaden hat, wird klüger!«, hatte Otto einmal gesagt und Brain musste sich schrecklich schütteln. Brain verstand Frauen nicht. Otto verstand Frauen auch nicht. Das war der Unterschied. Brain war schon beim Frühstück und wartete auf Martha. Sie hatten ausgemacht, dass sie ihm beim Essen Gesellschaft leisten würde. Sie würden bestimmt wieder über die Zuchterlaubnis sprechen, die Martha so sehr aufregte. Brain hätte lieber mit den Kindern geredet. Martha kam immer zu spät, das wusste Brain, er hatte es schon vorher berechnet und sich entsprechend früher verabredet. Nun wartete er. Er wagte nicht, um die berechnete Zeitspanne selbst zu spät zu kommen. Brain übernachtete von Berufs wegen oft in Hotels. Er liebte dort ein reichhaltig fettiges Frühstück mit Speck, Wurst und Rührei. Dazu Ströme ganz heißen Kaffees. Er hatte sich schon bedient und einen großen Teller mit Bratkartoffeln und Zwiebeln und allem anderen überladen. Das würde für den ganzen Tag reichen und er müsste sich nicht schon wieder um Essen kümmern. Er wartete nur noch auf den Kaffee. Er liebte heißen Kaffee. Er musste ihn wirklich brühheiß trinken. Er brachte es nie so weit, Kaffee nur in der Vorstellung so wirklichkeitsecht zu trinken, dass die Realität übertroffen würde. Nein, nur dieses feine Brennen im Hals ließ ihm heißen Kaffee einfach über jede Vorstellung köstlich schmecken. Er wurde unruhig, weil ihn die Kellner glatt übersahen. Er kannte das und wohnte deshalb möglichst nur noch in Hotels, die vorbereitete Thermoskannen auf den Frühstückstischen stehen hatten. Die Kellner sahen ihn nie, wenn er Kaffee wünschte. Dabei dachte er wirklich sehr angestrengt an heißen Kaffee, um die Kellner zum Einschenken zu zwingen. Merkten sie das nicht? Er ließ absichtlich einen Löffel fallen und schaute schamhaft weg. Eine junge Kellnerin sprang herbei, hob den Löffel auf brachte sofort einen frischen— und sprang weiter! »Ich wollte nur Kaffee ...« stammelte er wohl viel zu leise und wusste gleichzeitig, dass man ihn nicht sah. Er wollte ja eigentlich nie gesehen werden, damit er nämlich in Ruhe nachdenken konnte. Nur, bitte, wenn er Kaffee wollte, sollten sie herbeiströmen! Er fand, er bezahle den Kaffee schließlich mit seinem Geld, da könne er guten Service erwarten. Er schaute pünktlich später zur Uhr. Martha eilte an seinen Tisch heran, etwas errötet. »Hallo, Brain! Geht es dir gut?« Brain schaute missmutig. »Ich warte auf Kaffee! Das Rührei ist kalt!« Aber in diesem Moment fragten fast gleichzeitig zwei Kellner Martha stereotyp: »Tee oder Kaffee?« Sie bestellte lachend für Brain, der sich jetzt beruhigte. Der Kaffee kam sofort. Er sog ihn begierig schlürfend ein. Schön heiß! Er spürte befriedigt das Brennen in der Kehle. Genau so musste es sein. Perfekt! Er begann zu erwachen. Er sah Martha an. Er fand sie so schön, wenn sie sich aufregte! Er wusste, sie würde sich sofort über das geplante Züchten von besseren Menschen aufregen. Das waren doch nur Pläne! Jemand in der Regierung hatte die Meinung vertreten, das Züchten sei nicht verboten. Mehr war nicht passiert. Da heulten die Menschenrechtler auf Da wurde Martha fast verrückt und verschwendete ihre meiste Zeit für Demonstrationen. Sie arbeitete sonst in der Verwaltung eines heruntergekommenen Konzerns. »Und dir? Wie geht es dir?«, fragte er Martha, als er die Tasse absetzte. »Es war fast niemand da! Wir hatten eine riesige Demonstration gegen das Züchten geplant. Ich habe so sehr lange an der Vorbereitung gearbeitet. Aber das Wetter war gestern nicht gut und wir standen mit unserer Demo im Regen. Ich rege mich so auf! Die Menschen sind so widerlich gleichgültig! Es gibt Gerüchte, dass die Konzerne jetzt sehr schnell aufwachsende Menschen züchten könnten. Sie sollen schon nach etwa sieben Jahren vollwertig in der Armee kämpfen können! Sie töten die weiblichen Embryos ab, stell dir das vor! Sie töten die Mädchen!« Sie war von den Gerüchten ganz durcheinander. Brain wunderte sich, aber er liebte es, über theoretischen Unsinn zu debattieren. Er entgegnete deshalb: »Bei den Hühnern werden auch die meisten weiblichen getötet, weil Hähnchen beim Braten besser schmecken und zum Legen nicht so viele gebraucht werden.« »Brain, mach bitte keine blöden Witze darüber. Sie wollen den Einsatz gezüchteter Soldaten genehmigen, weil das humaner ist, als wenn dann unnötig sorgfältig aufgezogene Menschen im Krieg sterben müssen!« »Martha, sie züchten doch auch welche mit größeren Hirnen und mehr Muskeln. Die Frauen sparen heutzutage nur noch für Ganzkörperoperationen. Sie beginnen schon bei den Kleinkindern mit ersten Begradigungen. Peniskernknochenimplantate!« »Und sie spritzen Schamlippen auf, Brain!« »Zierhodenaufblähungen! Designer-Vaginae!« »Ganzkörperhauteinfärbungen in allen Farben! Brain, das ist eine andere Welt! Wir sollten natürliche Kinder austragen, nicht Kriege um das Aussehen!« »Ach Martha, der Trend zum Fantasy-Menschen wird nicht aufzuhalten sein.« »Aber ich will etwas dagegen tun! Wir müssen uns entgegenstemmen! Es darf nicht sein, dass eine Mutter finanziell ruiniert ist, wenn sie ein hässliches Kind bekommt.« »Sie wäre verpflichtet gewesen, in den Spiegel zu schauen. Vorsorge ist stets besser. Ein hässliches Kind wäre nur bei Vampiren verzeihlich, Martha. Haha, die haben nämlich kein Spiegelbild!« Martha blickte ihn wütend an. Seine Witzeleien waren nicht zu ertragen. Brain verstand, dass er jetzt besser ernst werden sollte. »Was willst du tun?« Sie weinte leise, ihre Tochter Anke hatte am Vortag in einem Skin-Katalog andere Hautfarben bewundert. »Blau metallic, schau mal, Mama! Würde mir das stehen?«, hatte sie gefragt. Martha nahm Brains Hand und schluchzte. »Bei der Arbeit machen sie mir schon unterschwellige Vorwürfe, dass ich zwei schwach schiefe Zähne habe. Am liebsten wäre ich manchmal unsichtbar.« »Wie ich, wenigstens für Kellner. Bestellst du mir bitte noch mehr Kaffee?« Sie winkte nur kurz. Brain schlürfte wenig später. Der Kaffee war extrem heiß. Wunderbar. Er dachte nach. »Ach, Martha. Sei friedlich. Ich glaube nicht, dass die Sache so schlimm ausgehen wird. Wenn wir uns schöne Kinder züchten, sind wir doch selbst erledigt, oder? Wäre das klug? Damals haben sie sich über Atomkriege aufgeregt. Nichts! Sie haben gefürchtet, dass nun alle fundamental religiös würden! Nichts. Sieh, es regelt sich alles wieder. Die Menschen werden doch nicht einfach verschwinden. Verstehst du?« Martha aber war voller Ingrimm. »Ich will Terroristin werden. Bomben legen. Was weiß ich.« Brain überhörte es beunruhigt und plapperte weiter. »Vielleicht wäre es besser, man entstellt Gesichter. Wir haben früher immer mit spitzen Steinen den Lack von Luxusautos geritzt. Kleine Aktion - Riesenwirkung. Du könntest in der Nacht Leute einfangen und ihnen eine Harry-Potter-Wunde oder ein Zorro-Zeichen an den Kopf kratzen, aber wahrscheinlich kommt das dann in Mode und sie schneiden sich Hieroglyphen in die Stirn.« »Ich will Konzernzentralen in Asche legen. Sie verstehen nur diese eine Sprache. Ich will mehr Feuer in meinen Aktionen sehen.« »Überleg' dir alles noch einmal in Ruhe, ja? Du brauchst Sprengstoff-Experten, Pläne, Geld, Mut. Und vielleicht bist du heute nur unendlich wütend. Lösen Bomben die Hautprobleme der Menschheit? Sprechen wir bei meinem nächsten Besuch darüber? Wie geht es den Kindern? Sind die auch Feuer und Flamme für deinen Plan?«

ES WIRD ERNST

Martha rief Brain nun öfter an. Sie erregte sich über immer neue Ungeheuerlichkeiten, wie sie es nannte. Eine Nachbarin von Martha leistete sich nun Wechselzahnimplantate und konnte die Zahnfarbe mit dem Kleid wechseln. Einfach umschrauben, fertig! Martha flippte am Telefon fast aus, als sie Brain die neuen Halloween-Zähne beschrieb. In allen Zähnen waren Radio-Chips eingebaut. Dadurch konnte man verlorene Zähne anpiepen und wieder finden. »Das gefällt mir!«, applaudierte Brain. »Solche Funkchips müsste ich in meinen Schachfiguren haben. Die sind immer durcheinander. Ich habe eine zu große Sammlung. Bestimmt habe ich schon ein paar Bauern mit dem Staubsauger erwischt.« »Saugst du denn Staub?« »Nein, eigentlich nicht. Ich habe Angst, dass durch das Saubermachen Unordnung unter den Büchern entsteht.« Ein anderes Mal erregte sich Martha, weil ein Forscher Kunststoffe erfunden hatte, die mit dem Körperfleisch von Menschen verwachsen und deshalb ohne Nähte oder Kanten eingebaut werden konnten. Die Erfindung war patentiert worden und wurde als sensationeller Durchbruch in der Materialwissenschaft gefeiert. Der Nobelpreis galt als sicher. Der Professor erklärte an menschlichen Körpern im Fernsehen, wie man nun ganze Maschinenaggregate in solchen Hautkunststoffbeuteln in den Körper einlassen könnte. »Wir können in wenigen Jahren die Verdauung auf Wunsch einstellen und den Sexualapparat je nach Tageszeit stimulieren oder deaktivieren, wie es analog schon bei Ölheizungen praktiziert wird. Es könnte Alarm per E-Mail ausgelöst werden, wenn der Körper raucht oder Alkohol trinkt. Damit wird bald der Hauptteil der Kindererziehung automatisch erledigt werden. Die Industrie des Body-Enhancements steht vor einer goldenen Zukunft. Unsere patentierten Produkte werden wie eine Bombe im Markt einschlagen. Es wird keine Menschen mehr geben, die im Leben versagen. Alle haben Erfolg, wenn wir sie bei der Auswahl der geeigneten Produkte beraten. Kommen Sie zu uns! Sie werden sich nicht mehr wieder erkennen!« Diese neue Erfindungswelle ließ bei Martha alle Dämme brechen. Sie wollte nun definitiv den aktiven Kampf gegen die weitere Sinnentleerung des menschlichen Lebens aufnehmen. Brain aber fand, dass die profane Dummheit das Grundübel der Menschheit wäre. Die Dummheit würde selbstverständlich mit jeder Erfindung weiter verstärkt, aber er sah nicht, wie die Dummheit durch Terror oder durch Bomben verschwinden könnte. »Dumme Menschen neigen zu sinnlosen Geldausgaben. Das macht sie vom Nutzen her gesehen genial! Deshalb kann die Dummheit vielleicht nur in der Abwesenheit von Geld kuriert werden, aber wollen wir das?« Martha wollte nicht mehr diskutieren. Sie wollte Taten sehen. Sie kaufte Sprengstoff und Zünder. Brain bekniete sie, keine unüberlegten Schritte zu unternehmen. Aber Martha begann zu basteln. Da konnte er es nicht mehr ertragen und bot seinerseits an, eine kleine Probebombe zu bauen, um erst einmal Erfahrungen zu sammeln. Er dachte bei sich, dass das Bombenbauen ein interessantes neues Wissensgebiet wäre. Er hätte etwas Aufregendes zu tun. Irgendwie würde er Martha das Töten wohl noch ausreden können. Töten ist dumm. Das wusste er sicher. So vereinbarten sie nach längerem Hin und Her, zur Probe in einer einsamen Gegend eine Autobombe zu zünden, um herauszubekommen, wie viel Sprengstoff sie für den Ernstfall benötigen würden. Brain schlug vor, dabei die Kinder mitzunehmen. Er hoffte, das würde einem Ernstfall den Riegel vorschieben. Zu seiner Überraschung ging Martha darauf ein. Sie wiederum hoffte darauf, die Kinder frühzeitig zu Verbündeten und Mitkämpfern zu erziehen. »Dumm!«, dachte Brain. »Anke findet doch Metallic-Haut schön. Aber Leon, ja, Leon könnte eine Neigung haben ...« Leon wirkte meist so verschlossen! Brain fühlte, dass sich Leon lieber nicht mit Bomben befassen sollte. »Manche Menschen können nicht mit Geld umgehen, andere nicht mit Alkohol. Leon wird später nicht mit Gewalt umgehen können. Oder irre ich mich?« Er traute sich nicht, darüber mit Martha zu sprechen. Martha liebte ihren Sohn viel zu sehr. »Mutter und Sohn! Da war noch nie ein Raum für Verstand«, dachte Brain und hatte wieder eine Quelle der allgegenwärtigen Dummheit entdeckt. Brain baute einen erstklassigen Sprengsatz aus dem Material, das Martha besorgt hatte. Danach war er ganz stolz auf sich selbst. Das war viel mehr für ihn als nur zufrieden mit sich zu sein. In Gedanken freute er sich schon über die kolossale Wirkung der Bombe, die er genau vorausberechnet hatte. In seinen Tagträumen konnte er den künftigen Feuerball sehen. Er hatte ihn schon mehrfach begeistert Otto und den Kindern beschrieben, aber die mussten ihn offenbar erst wirklich sehen, ihnen fehlt das Vorstellungsvermögen. Sie brauchen noch zu viel Realität. «Wozu müssen sie noch 'sehen', was sie sich schon vorstellen könnten?«, so wunderte er sich über Menschen, die sehen müssen, um zu glauben. Martha hatte eine idyllische Stelle in der Natur für den Versuch mit dem Sprengsatz ausgesucht. Sie wollte ein Auto auf eine kleine Brücke stellen und es mit der Bombe hochjagen. Martha hatte tatsächlich mit Ottos Hilfe ein kleines desolates Auto von einem Autofriedhof 'gemopst', wie sie sagte. Das Auto würde noch bis zu seinem baldigen Tod halbwegs fahren können. Martha stellte sich vor, wie der Feuerball emporschießen würde. Und wie es sein würde, wenn bei größeren Bomben die Konzernmanager im Fernsehen über die Opfer der Anschläge jammern würden, weil dadurch die Aktienkurse so stark fielen. Martha wollte Brain überreden, jeweils vorher am Aktienmarkt auf fallende Kurse zu setzen, um Geld mit dem Terror zu verdienen. Das gewonnene Geld würden sie zu immer größeren Aktionen einsetzen. Martha freute sich, dass sich auch Leon mit diesen finanziellen Möglichkeiten auseinanderzusetzen begann. »Er spürt das Mögliche!«, freute sie sich und glaubte, das Mögliche in ihrem Sohn zu spüren. Mütter spüren immer alles Mögliche in ihren Söhnen.

Brain war wieder in sein Stammhotel angereist. Er hatte den Sprengsatz dabei. Die Zwillinge warteten an der Rezeption im Hotel auf ihn. Sobald Anke Brain kommen sah, stürmte sie los. »Brain!« Sie sprang ihm voller Freude in den Arm. Er hob sie hoch und drehte sich im Schwung mit ihr. »Jetzt geht es los, Brain! Ich bin so gespannt! Bumm! Bumm!« Sie breitete begeistert die Arme aus und deutete mit einer Geste einen Atompilz an. »Pssst!«, mahnte Brain und sofort fiel ihr ein, dass sie belauscht werden könnten. Sie schaute sich um, spielte anmutig ein bisschen Scham und lachte gleich wieder. »Du bist bald eine junge Dame!«, staunte Brain über Anke, die er einige Zeit nicht gesehen hatte. »Woran merkst du das?« Anke drehte sich wie ein Model einmal herum. »Du bist schwerer beim Herumschwenken.« Anke verzog schelmisch die Miene. »Das ist alles?« »Vielleicht werde ich selbst ja älter und schwächer?« »Nein, du bist wie immer!« Nun kam Leon herangeschlendert. Er war angespannt und konzentriert, was bei ihm wie Missmut wirkte. Leon nickte knapp zum Gruß. »Alles bereit?«, fragte Brain. »Mama und Papa sitzen unten im Auto und warten auf uns. Wir haben das Parkhaus des Hotels genommen. Es ist sehr dunkel. Mama hat Angst, weil wir unser eigenes Autoschild kurz an den gemopsten Schrotthaufen gehängt haben.« »Also los! Leon, willst du den Rollenkoffer mit der Bombe nehmen? Aber vorsichtig. Stell dir vor, sie explodiert, dann ist mein schöner Koffer hin.« Anke lachte und Leon zog ein müdes Haha-Gesicht. Sie gingen ins Parkhaus hinunter, wo Martha und Otto im Auto saßen und nach Brain und den Kindern Ausschau hielten. Leon zog den Koffer mit der Bombe vorsichtig hinter sich her. Er schien besorgt, weil die Kofferrollen immer die Plattennähte des Betonbodens überqueren mussten. Sie erreichten das Auto, Leon nervös, Anke und Brain gut gelaunt. Brain winkte Martha und Otto ein fröhliches Hallo und ging um den Kofferraum herum. Otto öffnete die Vordertür des Autos. »Warte, Brain, ich steige aus!« Da blieb Brain wie angewurzelt stehen und sagte sehr ernst: »Otto, jetzt steigt niemand mehr aus. Heute legen wir die Bombe und damit basta!« »Um Gottes Willen, Brain, ich meinte das nicht so! Ich wollte nur sagen, ich will aus dem Auto aussteigen und dir helfen.« »Otto, mach uns nicht misstrauisch! Du drehst alles sofort ins Positive. Ich habe soeben persönlich von dir höchstselbst gehört, dass du aussteigen willst!« Anke lachte hell. »Papa, du wirst verarscht! Haha!« Martha stöhnte. »Könnt ihr beide vielleicht irgendetwas in dieser Welt ernst nehmen? Versteht ihr diesen Probeanschlag als Witz? Er stellt den Beginn unseres Kampfes gegen die ganze Gesellschaft dar. Das ist bestimmt kein lustiger Pfadfinderstreich! Ich werde gleich sauer. Das ist ernst! Bitter ernst! Wenn ich diese verdammte Bombe selbst bauen könnte, täte ich es schon deshalb, damit ich nicht dieses blödelnde Gelaber hören muss. Zieh nicht alles ins Lächerliche, Brain! Jetzt ist die Zeit des beginnenden Kampfes.« »Hey, du bist in Bombenstimmung. Ich mach ja mit, aber bitte, zwing mich nicht, den finsteren Kämpfer zu spielen. Den Hauptkampf verlieren wir ohnehin, das sage ich dir ja immer. Du verhinderst durch die Bomben nichts, nur fühlst du dich ehrenhafter, wenn du kein Mittäter in der Gesellschaft bist.« »Warum hast du dann die Bombe gebaut?« »Weil das großen Spaß gemacht hat, weil ich dich nach diesem ersten Versuch noch umstimmen will und weil ich dich liebe, Martha«, sagte Brain mit gekonnt schelmischer Miene. Leon brummelte etwas Finsteres und wurde ganz grau. Aber Anke umarmte Brain fröhlich und fragte: »Liebst du mich auch?« Und sie holte sich einen scheuen, rituellen Ja-Kuss ab. Anke hüpfte auf dem Autositz und rief Otto zu: »Papa, mich liebt ein erwachsener Mann! Dabei bin ich erst elf Jahre alt! In Indien heiraten sie dann schon. Stimmt das?« »Hör auf verdammt!«, zischte Leon. »Wir dürfen jetzt nichts falsch machen. Konzentrier' dich doch. Schau Mutter an. Verdammt!« Die saß abfahrbereit auf dem Beifahrersitz— mit zusammengekniffenen Lippen. Einige Zeit später ächzte das uralte Schrottauto eine gewundene Straße hinauf. Brain stritt absichtlich mit Martha, ob nun wirklich die Kinder beim Anschlag zuschauen müssten. Es war ihm ja heimlich recht. Martha erklärte nochmals, sie wolle die Kinder zu Kriegern der Menschlichkeit erziehen. Brain forderte Otto auf, etwas Eigenständiges zu dieser Frage beizutragen. »Ach Brain, ich fahre schon das Auto und helfe, wo ich kann. Martha meint es gut mit den Kindern. Was sollte ich dagegen haben?« Brain mochte es gern, wenn Otto so daherredete. So dumm! Warum hatte ihn Martha bloß geheiratet? Er spielte insgeheim mit Otto. Er führte ihn intellektuell vor und genoss dabei den aufbegehrenden Unmut von Martha und besonders von Leon. Er fragte ernst: »Habt ihr denn wenigstens ein Bekennerschreiben mit den Zielen eures edlen Kampfes angefertigt? Damit die Polizei etwas in die Zeitung zu setzen hat?« Martha stöhnte. Sie schwiegen. Da sagte Otto zur Überraschung aller: »Seht ihr wohl? Ich habe daran gedacht. Ich habe mich hingesetzt und kurz etwas aufgeschrieben.« Martha wurde tiefrot. Otto lobte sich selbst: »Es ist richtig gut geworden. Wollt ihr es lesen?« Martha zitterte vor innerem Widerwillen. Otto hatte etwas geschrieben! Wenn das nun Brain läse, würde es das reine Spießrutenlaufen. »Wieso schreibst du etwas, Otto?«, schnaubte sie. »Weil ihr an so etwas nicht denkt! Ich sehe oft Berichte von Terrorakten im Fernsehen. Mit denen kann die Polizei überhaupt nichts anfangen, wenn sie kein Bekennerschreiben vorliegen hat. Das ist das Wichtigste, denke ich. Und ihr habt es vergessen, obwohl ihr alle so schlau seid.« Brain freute sich auf den Text. »Lies vor! Wo ist das Schreiben?« Otto griff in die Hemdtasche und reichte einen verwelkten Zettel nach hinten. Martha fühlte, wie Brain sie quälte. Warum war er so gleichgültig kühl? So unernst? Neulich hatte sie schaudernd vor sich hin gesagt: »Er ist so eiskalt!« Und Anke hatte ahnungslos gefragt: »Wer?« Gab es doch etwas anderes in ihm? Konnte Anke das spüren? Otto riss sie aus ihren Gedanken. »Ich finde den Text gut. Lies ihn bitte vor, Leon!« Martha blickte ihn giftig an. »Muss das jetzt sein?« »Reg dich nicht auf, Martha, alles ist gut, sehr gut sogar.« Leon las vor: »Dies ist unser erster Protest. Weitere werden folgen. Gegen das gezielte Züchten von Kindsoldaten, Leistungssportlern, Zwergen, Opernsängerinnen und Organspendern! Menschen dürfen nie zu einem Zweck vom Menschen erschaffen werden! Gegen genmanipulierte Intelligenz, Muskelzucht und Manneskraftpotenzierung! So etwas darf uns nie in den Kopf kommen oder in den Schoß gelegt werden. Nieder mit der Hautfärbungsindustrie! Für ein Verbot von Early-Design-Operationen an Elite-Kindern! Ächtet Silikonwaden und Zier-Fußpilze!« »Bravo! Bravo!«, klatschte Anke ihrem Zwillingsbruder zu. »Nur das mit dem Hautfärben finde ich nicht so schlimm. Ich habe letzte Woche im Fernsehen einen Hellblauen gesehen. Sehr edel, finde ich. Ich bin ziemlich braun vom Draußenspielen. Der Hellblaue hat gesagt, er muss sich allerdings alle paar Jahre nachfärben, wie bei einem Haus außen. Er hätte es deshalb lieber pergament.« Die anderen schwiegen. Martha bebte permanent. Otto aber lächelte zufrieden. Er war stolz, dass ihm die Formulierung 'in den Kopf kommen' eingefallen war, weil er darin eine Anspielung zu Intelligenz versteckt hatte. »Erkennt ihr die beiden Witze darin? Manchmal kann ich das auch«, erklärte er den anderen. Und er saß schließlich am Steuer. Er blickte auf den Kilometerzähler. Sie würden bald da sein. »Es wird ernst«, dachte Brain und lächelte immer noch über Otto den Großen. Er schaute nach draußen. Wald zog am Frühabend vorbei. Es herrschte schönstes Ausflugswetter. Eine Melodie kam ihm in den Sinn. Fünf kleine Negerlein, die sprengten eine Brück' da platzte eins in der Luft zu Brei, da waren's nur noch drei. Otto fuhr mit Schwung auf eine einsame, idyllisch gelegene Brücke. Eine ganz scharfe Kurve führte auf sie herauf. Er bremste hart, ratschte an das Brückengeländer und bekam den Wagen zum Stehen. »Bist du verrückt geworden? So etwas hat uns noch gefehlt. Siehst du denn nicht hin?«, fauchte Martha und zeigte auf ein Warnschild mit einem grellorangefarbigen Totenkopf darauf. Etwas blass stiegen sie aus. Brain dehnte sich wohlig. Er genoss den Blick in die abendliche Natur und bedauerte, dass sie keinen Picknickkorb mitgenommen hatten. Da triumphierte wiederum Otto. Er zog eine große Tüte aus dem Kofferraum. Darin waren Cola-Vorräte, Snack-Salamis und Gummibären. »Hey, das sind alles Beweismittel für die Polizei, da müssen wir wohl bis zum Erbrechen alles essen, sonst suchen sie einen fülligen Mittdreißiger, der für sein ganzes Geld ...« »Brain, hör auf! Hör auf! Und du, Otto, tust bitte nur das, was ich dir sage!« Otto war kleinlaut und murmelte etwas von besten Absichten und von den Kindern. Sie blickten sich um. Die Sonne ging langsam unter. Das Grün des Waldes vergoldete sich. Unter der Brücke plätscherte ein kleiner Bach im Kiesbett. Die Vögel sangen ihr Nachtlied. Gerade da, wo das Auto stand, hatte jemand das Wort »Seufzerbrücke« gekritzelt. Es passte so gar nicht zu der freundlichen Abendstimmung. Otto packte das Werkzeug aus. Brain fand nun auch, »endlich diesen wahnsinnig gefährlichen Anschlag auf die ganze Welt zu beginnen«, wie er sagte. Martha winkelte die Arme an und kontrollierte dadurch die Arbeiten der Männer. Otto mochte diese Körperhaltung nicht, weil sie das Gemütliche aus der Arbeit verbannte. Brain kannte Martha so schon immer und dichtete ihr eine Denkmalhaltung an. »Wenn Manager bei der Arbeit stören, kann man sie ärgern und bitten: 'Denk mal mit!' Dann winkeln sie sofort als Ersatz die Arme an und stellen die Füße sachte auseinander. Mit ihrem Blick scheinen sie zu sagen, dass den anderen nicht zu helfen wäre. Das können sie mit abgewinkelten Armen auch nicht.« Brain liebte es, beim Arbeiten wenigstens kleine Vorlesungen zu halten. Leon half und fürchtete sich vor Brains Worten. Er schaute verstohlen zu Martha. Anke stromerte derweil um die Brücke herum. Sie war ein Stück den Abhang hinuntergeschlittert und hatte sich eine erste Schramme am Bein zugezogen. »Schaut mal, was ich gefunden habe! Sensationell! Totenkreuze! Überall kleine Grabkreuze! ... sieben, acht, neun ... zwölf Kreuze!« Anke bestand darauf dass die anderen die Arbeit kurz unterbrachen und sich die Holzkreuze anschauten. An etlichen von ihnen lagen frische Blumen. Eine seltsame Stimmung lag über ihnen im Abendrot: Frieden, Nachdenklichkeit und stille Trauer. Dazu etwas Unheimliches, das durch ihre schiere Anzahl erzeugt wurde? Sie standen wie auf einem kleinen Friedhof. »Es ist schöner hier als auf einem Friedhof findet ihr nicht?«, murmelte Anke. »Ob es zwölf Tote sind oder zwölf volle Autos, die die Brücke hinuntergefallen sind?« Fünf angehende Terroristen standen gerührt davor. Sie mussten sich einen Ruck geben und wieder die Gummihandschuhe überziehen. Sie setzten die Atemmasken auf und besprühten das Auto noch einmal sorgfältig von innen und außen mit Salzsäurelösung, damit niemand mehr irgendwelche Fingerabdrücke an ihm finden würde. Brain legte danach die Bombe hinein und verdämmte sie ganz penibel von innen. Anke sprach am Hang mit den unbekannten Toten. Sie suchte mit den Augen das Kiesbett unten ab, ob dort noch mehr Kreuze zu finden wären. Es wurde langsam dunkler. Leon mühte sich, wie ein Großer mitzuhelfen. Als alles bereit war, stolzierte er zu Anke. »Wir sind fertig. Ich habe tüchtig mitgesprüht. Ich selbst werde auch auf den Funkauslöser drücken. Ich werde die Explosion auslösen. Ich bin entscheidend. Ich habe schließlich stark geholfen. Du sitzt hier rum. Wie ein Kind.« »Und du redest wie ein Erwachsener.« »Ich bin erwachsen.« »Dann denk schon einmal über den Tod nach.« »Der Tod! Das bin ich! Ich habe die Macht!« »Huhu ... Macht über die armen Grabwürmer, die in deinem Dienst stehen«, bemerkte Brain von hinten. »Wir sind soweit, Kinder. Kommt ihr?« Sie standen auf und liefen zum Auto. Es sah nun sehr krank aus. Wie ein einziges Blechekzem. Anke war ganz gerührt, sie war in sonderbarer Stimmung, seit sie zwischen den Holzkreuzen gesessen hatte. »Tschüss, liebes Auto. Du gehst jetzt tot. Gott schütze dich, Auto. Du musst jetzt dran glauben!« Sie wollten nun die Probeexplosion auslösen. Danach war geplant, den Bach entlang im Dunklen bis zum nächsten Dorf zu laufen. Dort hatten Otto und Martha ihr eigenes Auto abgestellt. Sie würden die Nummernschilder wieder ummontieren und dann die Reaktion der Presse abwarten. »Denkt an unseren Plan. Wir werden leise hinuntergehen. Wir werden uns zu keinem kindlichen Unsinn hinreißen lassen, Brain. Wir werden möglichst nichts reden. Wir werden die ganze Zeit über an die große Sache denken, in deren Namen wir diesen ersten Protest veranstalten. Wir haben gestern lange darüber gesprochen, ihr Kinder seid unsere schon fast erwachsenen Mitkämpfer. Denkt immer an die Sache!« Sie hatten es oft geübt: Sie stellten sich im Kreis, gaben sich beide Hände und sagten: »Für den. natürlichen Menschen!« Der Wind wehte ruhig. Die Sonne war untergegangen, der Bach plätscherte. Tiefer Frieden herrschte in der Natur. Otto blieb oben an der Brücke zurück. Er sollte im beginnenden Dunkel das Auto zur Sicherheit im Auge behalten. Er sollte das Zeichen nach unten geben, damit Leon die Zündung per Funk auslösen würde. Brain fürchtete, dass vielleicht genau zum Zeitpunkt der Explosion ein vollbesetztes Auto die Brücke passieren könnte. »Heute wollen wir den Tod noch ausschließen«, sagte Brain bedeutungsvoll feierlich und blickte heimlich zu Martha. »Kein neues Kreuz«, schauderte Anke. Und ihr fiel plötzlich ein, dass das ganze Unternehmen irgendwie unsinnig war. Brain hatte Recht. Eine Bombe würde nichts ändern. Sie verstand ihn jetzt. Der schweigende Wald würde einen trockenen Knall einfach überhören. Sie blieb erst nachdenklich sitzen und hörte dann die Stimmen der Exekutive am Funkzünder. Brain erklärte Leon nochmals die Funktion. Leon schüttelte sich unwirsch, weil er sich zum Kind degradiert fühlte. Er konnte alles allein! Er hatte ja nur auf den Knopf zu drücken, nicht mehr und nicht weniger. »Otto, ist oben alles in Ordnung?«, rief Brain. »Einen Moment, ich schaue noch einmal!«, rief Otto von oben. »Otto, mach schnell, sonst kommt womöglich ein Bus mit Touristen, die am besten alle aussteigen und unser Auto besichtigen! Sag gleich Bescheid, wenn oben alles frei ist!« Otto sah, dass alles in Ordnung war und wollte schon rufen. Da plötzlich stolzierte eine große, wundervolle schwarze Katze auf die Brücke. Sie wirkte größer als eine normale Katze. Sie erschien wie königlich. Sie schaute Otto durchdringend in die Augen. Sie besiegte ihn mit ihrem Blick. Otto zuckte zusammen, er musste fast die Augen zukneifen. Die Katze hatte etwas Zorniges, Missbilligendes in ihrer Miene. Sie wendete sich um. Sie schritt langsam auf das abgestellte Auto zu und setzte zum Sprung an. »Nicht! Nicht, Katze, es ist Salzsäure drauf! Du wirst dich verletzen! Du kannst sterben! Nicht! Weg, weg!«, rief Otto besorgt und machte hektisch wegscheuchende Bewegungen. »Weg mit dir, weg, du dumme Katze!« Die Katze setzte sich bedächtig langsam auf das Dach des Autos hin und schlängelte den Schwanz um sich. Gelbgrün starrte sie Otto genau in die Augen. Brain rief laut von unten herauf: »Otto, was ist? Ist etwas nicht in Ordnung?« »Gleich! Es ist gleich alles okay!«, schrie Otto aufgeregt und versuchte, die Katze mit seinem ausgestreckten Arm vom Auto zu wedeln. »Katze, dieses Auto wird gleich in die Luft gesprengt. Jeder in der Nähe des Autos wird von der Bombe zerfetzt. Wir beide müssen uns in Sicherheit bringen. Verstehst du, Katze?« Die Katze neigte leicht den Kopf zur Seite. Kurze Zeit schien es, als würde sie Otto verstehen. Brain rief nun sehr ungeduldig von unten: »Ist verdammt noch mal alles in Ordnung?« Leon schrie fast gleichzeitig mit dünnerer Stimme: »Sag endlich etwas! Mensch, Papa! Was ist denn? Sag endlich 'Alles in Ordnung! Drück ab!'« Er schämte sich für seinen Vater und biss sich auf die Lippen. Martha horchte hinauf: »Otto—? Otto?« Und zu den anderen gewandt: »Fragt lieber zweimal, ob alles mit ihm stimmt. Fragt lieber zweimal, es ist Otto. Ganz sicher zweimal!« Otto konnte die Katze irgendwie nicht fassen. Er hörte von unten die Rufe von Brain und Leon. Er war sehr böse mit sich und der Katze. »Du, Katze, es muss augenblicklich etwas geschehen. Das wird es sogar! Das schwöre ich dir. Ich werde dich wegbekommen, du Biest. Ich werde mir nicht wieder sagen lassen, ich habe etwas falsch gemacht. Ich bin sonst immer schuld. Ich bin schusselig. Angeblich kommt bei mir immer Stückwerk heraus. Diesmal nicht!« Da reckte sich die Katze majestätisch empor und verkündete klar und laut mit Ottos Stimme: »Alles in Ordnung! Drück ab!«

VON TOD ZU TEUFEL

Brain und Martha waren in Sekunden oben auf der Brücke. Sie fanden Anke zwischen brennenden und schwelenden Teilen. Anke wirkte leblos, sie blutete offenbar an mehreren Stellen. Fieberhaft untersuchten sie sie. »Schau nach Otto!«, keuchte Brain. Martha schaute, wie er Anke befühlte. Brain riss ihr die Kleidung herunter. »Schau nach Otto, los!« Martha stand im Dunkel. Wie schlafwandelnd drehte sie sich um und näherte sich dem Autowrack. Leon saß unten am Funkzünder und war in Verzweiflung erstarrt. Unbeweglich versuchte er, nicht zu hören, nicht zu sehen, nicht zu verstehen. Unwillkürlich drückte er ein zweites Mal auf den Zünder, zuckte aber sofort angstverkrampft zusammen. Sein Zeigefinger schmerzte, als wäre er auf ewig verflucht. »Ich bin Leon. Ich bin der, der alles auslöst.« hatte er beim Abdrücken gedacht. Leon begann, sich unter Frost zu schütteln. »Ich bin der, der alles auflöst.« Er fühlte wieder und wieder, wie Brains Blick in ihn stach, als er die Bombe gezündet hatte. Leon sah alles vor sich: Otto rief, dass alles in Ordnung wäre. Da hatte Leon sofort gezündet aber noch im Drücken hatte er sich glasklar erinnert, dass seine Mutter dringlich ein zweites Mal fragen wollte, ob mit Otto alles in Ordnung war. Und noch im Drücken hatte ihm Brain diesen Blick zugeworfen. Dieser Blick erstach ihn! »Warum?«, fragte der Blick. »Warum?«, stach der Blick. Und Leon wusste, er hatte sich in ihren Augen wie ein dummes Kind benommen. »Anke lebt!«, schrie Brain erleichtert. »Sie lebt!« Brain schüttelte sie überglücklich und bat weinend, sie möge doch ihre Augen öffnen. Sie lebte! Wellen der Verzweiflung schüttelten ihn. Und er empfand unbeschreiblichen Ekel vor Bomben und brennenden Autos, vor Terror und sich selbst. Die Bombe war sein eigenes Werk. Er war sehr stolz auf sich gewesen. Stolz! Nun konnte er wirklich stolz sein. So viel Wirkung aus so wenig Sprengstoff! Er hatte alles genau vorausberechnet. Er hatte berechnet, wie gut es wäre, wenn die Kinder mitmachten. Ach, er hatte alles vorausberechnet. Martha war nur ein paar Schritte weiter zum schwelenden Autorumpf gegangen. Kleinere Fleischstücke lagen verstreut umher. Wie Braten, aber noch roh. Nicht viele Teilchen, aber zu viele, um Hoffnung um ihn zu haben. Da—! Ein rechter Arm, der sie bisher geleitet hatte. Sie konnte sich nicht durchringen, noch nach Ottos Kopf zu suchen. Sie fühlte sich grau und stumpf sank zusammen und schluchzte. Rhythmisch, unter Schmerzen, stieß sie hervor: »Fragt lieber zweimal, ob alles stimmt.« »Fragt lieber zweimal, ob alles stimmt.« »Fragt zweimal.« Sie fühlte, dass die anderen ihren ganzen schönen Terror verdorben hatten. Brain umarmte Anke zärtlich. »Wach doch auf! Öffne deine Augen! Deine kecken, fröhlichen Augen«, fügte er bemüht scherzend hinzu und war verwirrt von seinen sich überschlagenden Emotionen. Er dachte kaum an Anke selbst und ihre Verletzungen. Sein Körper bäumte sich in einem alles überwältigenden Wunsch auf, es möchte durch Zauber alles wieder in Ordnung sein. Sein Inneres wollte unbedingt das Trostvolle im Unglück genießen können, wie wenn eine Mutter sagt: »Das ist viel Leid, mein Kind, aber das tragen wir gerne, denn es hätte schlimmer kommen können. Hauptsache, wir sind noch alle am Leben!« »Otto ist tot!« Und Brain weinte um ihn. Anke blieb still an seiner Schulter. Sie wusste ja alles. Da glaubte Brain, ferne Autogeräusche hören zu können. Das riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Er fuhr zusammen. Was wäre, wenn jetzt die Polizei käme? Was fände sie an Beweismitteln? Sie würden mindestens Ankes Blut auf der Straße finden! Er stand mit Anke im Arm auf ging zum Auto und Martha hinüber und verstand, dass nichts zu machen war. Er begann aufzuräumen. Er sprühte Säure auf Ankes Blutflecken auf der Straße, sammelte Kleidungsreste auf. Er bemühte sich gegen seinen würgenden Ekel anzukämpfen. Er sah nicht genau hin, wo es nicht sein musste. Er zog Martha an der Hand. »Wir richten alles so ein, als wenn nur Otto im Auto gewesen wäre. Mehr ist zur Verdunkelung der Tat nicht zu schaffen. Du wirst Otto ja morgen bei der Polizei identifizieren müssen. Da siehst du ihn wieder. Komm, lass das jetzt, es ist dunkel. Vielleicht ist Anke schwer verletzt. Wir müssen gehen. Sofort.« Anke stöhnte auf seiner Schulter. »Es geht so«, sagte sie leise. »Martha, komm!« Martha schaute ihn von unten an und sagte: »Frag lieber zweimal, ob alles mit ihm stimmt.« Es zuckte bitterböse in ihm auf. Er bückte sich, packte ihre Hand und riss sie brutal auf die Füße. »Da liegt dein Mann in Stücken verteilt und du verteilst noch Schuld dazu! Wohl dem, der genug zum Verteilen hat!« Er ging rauchend vor Zorn nach unten zum Bach voraus. Etwas Unbekanntes in ihm wollte sie grausam schlagen und verletzen. Er fühlte sich platzen. Sie rutschten den Abhang hinunter. Unten saß Leon immer noch ganz regungslos. Brain packte neben ihm alle Geräte in seinen Rucksack. Da fiel ihm ein, dass er alle leeren Sprühflaschen bei Ottos Überresten lassen sollte. Er brachte alles auf die Brücke. Als er wiederkam, standen sich Martha und Leon immer noch schweigend gegenüber. Bisher war kein Wort zwischen beiden gefallen. Sie bissen sich auf die Lippen. Sie stierten sich an. Sie standen gegenüber wie zum Duell. Sie rührten sich nicht. Sie schienen Brain und Anke nicht zu bemerken. Sie waren in einer anderen Welt. In dieser Welt existierten nur diese zwei Menschen, die sich auf Leben und Tod anstarrten. Brain herrschte sie an: »Kommt! Kommt! Wir müssen noch lange gehen, durch die Nacht! Anke ist schwer verletzt!« Martha öffnete langsam die Lippen. Brain brüllte so laut er konnte: »Sagt nichts! Sagt beide nichts!« Seine Stimme überschlug sich. Martha aber sagte ruhig: »Fragt lieber zweimal, ob alles mit ihm stimmt.« Leon zuckte zusammen, aber so, als sei ihm alles schon hundert Mal gesagt worden. Aber die kalte Ohnmacht, die ihm bis zum Halse stand, glättete sich. Brain war außer sich: »Ist denn nun endlich jeder hier hinreichend tödlich verletzt? Blutet jede Herzfaser von uns allen stark genug? Habt ihr extra auf mich gewartet, damit ich Duellzeuge werde?« Martha sagte ruhig: »Fragt zweimal, sagte ich. Wir wissen alle, dass bei Otto immer Stückw—.« Sie verstummte schreckensbleich, ihr war, als hätte sie etwas im Hals. Grauen würgte sie. Leon wandte sich schon zum Gehen. Er erwiderte knapp: »Bei mir kommt nur Stückwerk heraus. Ich weiß.« Sie stapften in das Dunkel hinein. Zwei, drei leere Coladosen klapperten gegeneinander, mitten zwischen den Snack-Salamis. Anke stöhnte im Schrittrhythmus. Brain fluchte vor sich hin. Irgendwann sagte Anke leise: »Lass es, Brain. Die beiden sind so. Alle beide. Immer. Ich habe sie trotzdem sehr lieb. Du doch auch.« Da kehrte finstere Ruhe ein in die schwarze Nacht, und es klapperten nur sacht die Dosen. Die Polizei kam erst nach vielen Stunden. Sie nahm den Unfall routiniert und anscheinend ohne jedes wirkliche Interesse auf und räumte ungerührt alle Unfallfolgen weg. Die Polizei fegte das meiste die Brücke hinunter. Sie war die vielen tödlichen Fälle an der Brücke gewöhnt. Ein vollgetanktes Auto war offenbar in der scharfen Kurve an die Brücke gerammt, explodiert und ausgebrannt. »Das war's wieder einmal!« Martha und Brain identifizierten am Morgen Ottos Kopf der unten im Kiesbett gefunden worden war. Ottos Kopf schien im Tode ganz erstaunt. Ja, er sah geradezu atemberaubend erstaunt aus. Brain spürte, dass Otto im Augenblick des Todes eine Art Wunder gesehen haben musste. Dieses Gefühl des Mysteriums brannte sich tief in Brain hinein. Die Polizei fragte sie nach einem Zettel aus, der fast unleserlich verkohlt unter den Trümmern gefunden worden war. Er schien der Polizei eine Art Protesterklärung zu enthalten. Martha erklärte diesen eigenartigen 'Protest' ganz glaubwürdig für eine Schwärmerei ihres Mannes für die Ziele ihrer eigenen Initiativen. Man erkenne es ja an dem dilettierenden Ton des kurzen Traktates. Die Lokalzeitung wollte Zeugen gefunden haben, denen Otto am Vorabend seines Todes beim Bier erzählt haben sollte, es gebe Leute, 'denen Intelligenz niemals in den Kopf komme.' Otto hätte mit anderen Stammtischgästen über Early-Design-Operationen gelacht und den anderen vorgemacht, wie sehr sich Martha über solche Beschneidungen frühkindlicher Rechte aufzuregen pflegte. Er sollte dramatisch und kichernd vorhergesagt haben, dass es sicher einmal zum großen Knall kommen werde. Die befragten Stammgäste hatten über Ottos großen Knall nur gelacht und ätzend gefrotzelt, dass Otto sich plötzlich ernsthaft mit Intelligenz befasste. Nun äußerten sie sich sehr betroffen über das Prophetische seiner Bierlaune. Damit legte die Polizei den Fall offenbar sofort zu den Akten. Martha und Brain wurden gar nicht mit dem Unfall in Beziehung gesetzt. Die Polizei war ganz offensichtlich desinteressiert. Als sie heimgingen, wunderte sich Brain über den maßlos erstaunten Ausdruck auf Ottos Gesicht.