Die Euphonomicon-Enthüllungen - Gunter Dueck - E-Book

Die Euphonomicon-Enthüllungen E-Book

Gunter Dueck

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Beschreibung

Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los!

Koksam im Jahr 2048. Die Koksa AG feiert sensationelle Welterfolge mit einer grünlichen Flüssigkeit, die sich chemisch nicht von Wasser unterscheiden lässt. Wie eine Droge macht "Koksa" alle, die regelmäßig davon trinken, stark süchtig.

Kommissar Quergang und die Justizreferendarin "Succsy" stoßen bei ihren Ermittlungen in einem zunächst unbedeutenden Fall auf viele Ungereimtheiten. Angestachelt von fremden Mächten entdecken sie die Wahrheit rund um Koksa – und schlittern mitten in eine globale Apokalypse ...

Für Liebhaber homöopathischer Katastrophen und Fans von H. P. Lovecraft.

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GUNTER DUECK

DIE EUPHONOMICON-ENTHÜLLUNGEN

EIN HOMÖOPATHIE-WELTUNTERGANGSKRIMI

© 2021 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2021

Autor: Gunter Dueck

Lektorat: Martin Wohlrab

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Veronika Schnabel

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: meerdesguten GmbH

ISBN:

Print      978-3-949345-12-8

PDF       978-3-949345-13-5

ePub     978-3-949345-14-2

mobi     978-3-949345-15-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Gunter Dueck (Jahrgang 1951) lebt als freier Schriftsteller, Philosoph, Business Angel und Speaker in Waldhilsbach bei Heidelberg. Nach einer Karriere als Mathematikprofessor arbeitete er fast 25 Jahre bei der IBM, zuletzt bei seinem Wechsel in den Unruhestand als Chief Technology Officer.

Dueck ist korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Fellow des amerikanischen Ingenieursverbandes IEEE und Fellow der Gesellschaft für Informatik. Er ist Autor vieler Spiegel-Bestseller, zuletzt »Das Neue und seine Feinde«, »Schwarmdumm« und »Heute schon einen Prozess optimiert?«.

INHALT

FRIEDENSPREISTRÄGERIN PUBLIZIERT BRISANTES DOKUMENT

TEIL 1: DIE EUPHONOMICONENTHÜLLUNGEN

EINLEITUNG DER ERMITTLUNGEN (MITTWOCH, 27. FEBRUAR)

SUCCSY BEIM KOMMISSAR DAHEIM (DONNERSTAG, 27. FEBRUAR)

EINBRECHER HINTERLASSEN EINE ESSBARE PUPPE (DONNERSTAG, 27. FEBRUAR)

GEDANKEN VOR DEN EIGENTLICHEN ERMITTLUNGEN (ABEND DES 27. FEBRUAR)

AUF DEN ERSTEN SPUREN (FREITAG, 28. FEBRUAR)

ATEM-, GENESUNGS- UND DENKPAUSE (WOCHENENDE, 29. FEBRUAR, 1. MÄRZ)

EIN SELTSAMER PROFESSOR UND EINE FALLE (MONTAGVORMITTAG, 2. MÄRZ)

DATE MIT DEM TOD AM KAMIN (MONTAGMITTAG, 2. MÄRZ)

RATLOSE KRISENSITZUNG (MONTAGNACHMITTAG, 2. MÄRZ)

HOMÖOPHORIE (MONTAGNACHT, 2. MÄRZ)

GRANDERWASSER, WEIHWASSER (DIENSTAG, 3. MÄRZ)

EINE ZWANGSPAUSE IN WEISS UND GRÜN (DIENSTAGABEND, 3. MÄRZ)

TRÄUME IN GRÜN UND WEISS (MITTWOCH, 4. MÄRZ)

WEIHWASSERSTOPP AM DOM (DONNERSTAG, 5. MÄRZ)

PRANEE (DONNERSTAG, 5. MÄRZ)

DAS VOYNICH-MANUSKRIPT (FREITAGMORGEN, 6. MÄRZ)

CTHULHU (FREITAG, 6. MÄRZ)

SUCKSYS ENDE (FREITAGNACHT, 6. MÄRZ)

DAS PAPPA-PAAR (NACHT ZUM SAMSTAG, 7. MÄRZ)

RAZZIA BEI KOKSA (SAMSTAG, 7. MÄRZ)

DER GRÜNE LORD (SAMSTAG, 7. MÄRZ)

»THIS IS THE END« (SAMSTAG, 7. MÄRZ)

AFTERMATH – NACHWEHEN (SAMSTAG, 7. MÄRZ)

IN DEN HIMMEL KOMMT MAN VORDEM STERBEN (SONNTAG, 8. MÄRZ)

EIN WENIG REGENERATION (MONTAG, 9. MÄRZ)

ES WERDE WEISS (DIENSTAG, 10. MÄRZ)

MARCH ELEVEN – DAS ENDE DER WELT, WIE WIR SIE KENNEN

GREEN PSYCHO (DONNERSTAG, 12. MÄRZ)

EUPHONOMICON – HALTE DICH FERN! (FREITAG, DER DREIZEHNTE MÄRZ)

NACHTSITZUNG DER AQUAPHILOGY (SAMSTAGNACHT, 14. MÄRZ)

DIE CHRISTLICHE SONDERANFERTIGUNG (SONNTAG, IDEN DES MÄRZ)

SCHLUSS UND NEUER ANFANG

TEIL 2: EPILOG UND APPELL

ALLE VERNUNFT GEHT VON DER MENSCHHEIT AUS – DIE GOODKARMA-APP

FÜRCHTEN SIE DIE MÖGLICHKEITEN DES BÖSEN

QUELLEN

ANHANG: DAS HOMÖOPHORIE-DOKUMENT

FRIEDENSPREISTRÄGERIN PUBLIZIERT BRISANTES DOKUMENT

Alt-Koksam

Die weltweit bekannte Aktivistin Pranee Negroponte publizierte am Donnerstag zusammen mit ihrer Lebenspartnerin Kriemhild Suckade ein Dokument mit dem Titel Die Euphonomicon-Enthüllungen, das die Geschehnisse rund um die Koksa-Katastrophe vor zwei Jahren in ein ganz neues Licht rückt. Bei dem romanartigen Dokument handelt es sich um eine Mischung aus Berichterstattungen, Gesprächsskizzen und Deutungsversuchen rund um einen anfangs unbedeutenden Kriminalfall. Im Verlauf der Ermittlungen wurde den Verfasserinnen klar, dass verschiedene Gruppen unserer Gesellschaft mit dunklen Machenschaften »die Machtübernahme« anstreben. Es handelt sich bei den publizierten Enthüllungen im Wesentlichen um Niederschriften der damaligen Justizreferendarin Kriemhild Suckade. Diese war bei den Ermittlungen von Anfang an dabei, um den Kommissar im Dienst überwachend zu begleiten.

Den Bericht will Pranee Negroponte nun »fast unverändert« der Öffentlichkeit preisgeben. Sie ließ bei der Pressekonferenz offen, inwiefern das vorgelegte Dokument von den ersten Skizzen abweicht. Negroponte wörtlich: »Wir haben ausschließlich Verständnislücken geschlossen, so gut es ging. Ursprünglich handelte es sich um ein hastig geschriebenes Fragment, das wir zu einer Gesamterzählung vervollständigt haben, indem wir einen gewissen Erzählfluss erzeugten.« Die originäre Verfasserin Frau Kriemhild Suckade ist seit den geschilderten Vorgängen Negropontes Lebenspartnerin. Sie war bei der Pressekonferenz nicht anwesend.

Die vorgelegte Schrift liest sich wie ein veritabler Kriminalroman. Der Text selbst bietet eine vollständige und konsistente Darstellung aller Vorgänge rund um die damalige Koksa-Katastrophe und endet mit nachdrücklichen Warnungen vor einer »sich neu formierenden geheimen Elite«, die aus Sicht der Friedenspreisträgerin Negroponte die Weltherrschaft anstrebt. Das äußert sie explizit in ihrer persönlichen Nachschrift zu dem nun vorgelegten »Enthüllungsdokument«.

Aus der heutigen Schnelldurchsicht lassen sich noch keine definitiven Schlüsse ziehen. Viele Beobachter sind verwundert, dass sich Frau Negroponte »für so etwas hergibt«, sich also hinter einen derart merkwürdigen Bericht stellt und ihn als Friedenspreisträgerin mit dem Schein von Wahrheit umgibt, auch wenn das nicht ihre Absicht gewesen sein sollte. Immerhin steht Negroponte tapfer zu gewissen anderen Wahrheiten. Im Bericht sollen schließlich sehr pikante Details aus ihrem Familienleben zu erfahren sein, die ihre Anhänger mit Sicherheit verstören und die gewisse Medien lustvoll ausschlachten werden.

Negroponte begründet den Zeitpunkt ihres »Comingouts« mit ihrem Eindruck, dass zurzeit wieder geheime Eliten versuchen würden, nach dem damaligen Vorbild der Koksa AG die Bevölkerung süchtig zu machen und in ihrem Sinne zu manipulieren. Nach der Pressekonferenz warnte sie im kleinen Kreis besonders vor der Steel-App, wollte dazu aber nicht konkret werden.

Nimmt man alle Vorgänge aus dem Dokument für bare Münze, dann könnte an solchen Befürchtungen etwas dran sein. Dieser Eindruck entsteht nach einer ersten Durchsicht. Offizielle Statements sind heute nicht zu bekommen und wohl auch nicht zu erwarten. Für den interessierten Leser, der sich eine eigene Meinung bilden möchte, halten wir das Dokument im Netz bereit.

Kommentarsektion

[Hater-Skater]

Dokument! Das nennt sie so, damit wir alles glauben sollen. Sie ist gekauft, damit sie die Steel-App schlechtmacht.

[Schnurzi]

Ich habe die ersten paar Seiten gelesen, da erfährt man nichts. Ich bin enttäuscht, dass ich jetzt alles durchlesen müsste. Na, es werden hier schon ausführliche Rezessionen erscheinen und sich auskakken.

[Holy Bimbam]

Ich bin schon ein Drittel durch, das sind so ungefährlich 25 Prozent, da kommt Pranee noch nicht vor. Was soll so eine Geschichte? Ich will sie doch bewundern!

[Magdalena Liebfrau zu Schenkleben]

Hier handelt es sich um eine ernste Warnung an die Welt, es ist kein Fanartikel, lernt gefälligst aus dem Text! Lest in ganz durch! Ich fange auch bald an.

[Ahteeist]

Ich habe vorgeblättert, sie will beweisen, dass es Götter gibt. Nice Try. Ich fürchte, dass ihre heilige Aura beim Sprechen der Menschheit ab jetzt noch weniger guttut.

[Law & Otter]

Die beiden sind … sag ich nicht, wird ja gleich zensiert, ich meine, sie sind Hurilillis.

[Kaufstimme.de]

Dieses Meisterwerk behandelt ein extrem wichtiges Thema, das uns alle angeht. Die Autorinnen bestechen ihre Leser mit Expertise und einer liebenden Grundhaltung. Dieses Buch wird allen empfohlen, die sich wirklich auskennen wollen.

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TEIL 1: DIE EUPHONOMICON-ENTHÜLLUNGEN

Primäre Autorin: Kriemhild »Succsy« Suckade aus KoksamZweitautorin: Pranee Negroponte aus Koksam

EINLEITUNG DER ERMITTLUNGEN (MITTWOCH, 27. FEBRUAR)

Diese Geschichte spielt in der Stadt Koksam, die stets grünlich-dunkel wirkte. Ihr jahrhundertealter urdeutscher Name wurde vor nicht allzu langer Zeit in Koksam geändert, weil die Stadt sehr stark von den großzügigen Infrastrukturen profitierte, die der Weltkonzern Koksa AG hier an seinem Hauptsitz sponserte. Geld regiert die Welt – ein jeder wird die Geschichte der Streitigkeiten und empörten Gegendemonstrationen aus der damaligen Presse kennen. Koksam war trotz des immensen Reichtums durch die Steuerzahlungen des Konzerns in weiten Teilen merkwürdig verkommen, aber das erklärt sich im Verlauf dieser Schilderung.

Sie beginnt so: Frau Kriemhild Suckade bereitete sich auf ihr Examen zur zweiten Staatsprüfung in Jura vor. Sie war damals als Justizreferendarin in Ausbildung tätig, wobei sie sich der besonderen Förderung des Generalstaatsanwaltes Harro Hell erfreute. Für ihr Examen behandelte sie als Hausarbeitsthema die Aufgabe, einen Kriminalfall von Anfang bis Ende zu begleiten, zu dokumentieren und um ihre eigenen Eindrücke zu ergänzen. Folgende Fragen waren ihr gestellt: Funktioniert das polizeiliche Ermittlungssystem wie geplant? Gibt es Verbesserungsvorschläge? Was muss angepasst werden? Sie hatte einige Wochen nach einem guten Thema für eine Abschlusshausarbeit gesucht und zunächst nichts Interessantes finden können.

Doch noch fehlte der konkrete Fall. Überraschend erhielt sie einen Anruf vom Generalstaatsanwalt: Sie möge sich schnellstmöglich beim Staatsanwalt Justus Stahl vorstellen. Dieser würde sie um die Begleitung eines wichtigen Falles bitten, den sie für ihre Hausarbeit verwenden solle. Hell bereitete sie darauf vor, dass sie den Fall unbedeutend und lächerlich finden könnte, äußerte aber, dass er selbst eine sehr spezielle Sicht darauf habe. Und gerade deshalb wolle er sie persönlich für diese wichtige Aufgabe gewinnen. Nach seinen hastigen Anweisungen legte er auf, sie hielt einige Sekunden irritiert ihr Phone in der Hand. Warum so plötzlich? Warum erklärte Harro nichts? Warum sprach er nicht mit ihr persönlich, wo sie sich oft auch privat trafen? Vielleicht war, so machte sie sich einen Reim darauf, ein Verbrechen geschehen, das unverzüglich vor Ort inspiziert werden musste.

Frau Suckade meldete sich wenig später bei Staatsanwalt Stahl in dessen Büro. Ein schicker Mensch, fand sie, als sie den Raum betrat. Sie hatte ein paar Augenblicke Zeit, ihn genauer zu betrachten, denn er hatte ihr bei ihrem Eintreten mit konzentriertem Blick auf seinen Computerbildschirm bedeutet, kurz noch zu warten, bis er »einen Satz zu Ende geschrieben hatte«. Stahlblaue Augen hatte er – nicht leuchtend lichtblaue wie sie selbst. Er murmelte routiniert freundlich: »Lassen Sie mich bitte noch diese eine Weisung abschicken. Moment. So. Fertig.« Dann schaute er auf, wandte sich ihr zu und verfing sich sofort staunend in ihren strahlend blauen Augen. Tatsächlich rieten ihr damals einige, als blonde Schönheit Karriere auf dem Laufsteg zu machen. Stahl stotterte kurz. Es tat ihm leid, dass er sie ein paar Sekunden hatte warten lassen, was sie sichtlich genoss.

»Schreckliches Wetter heute, nicht wahr?«, begann er mit einem Thema, das nun wirklich nicht geistreich klang, denn es herrschte seit einiger Zeit aus ungeklärten Gründen ständig schreckliches Wetter. Er schaute wie magisch angezogen auf ihre roten High Heels und stutzte kurz. Erst jetzt fiel ihm ein: »Oh, bitte setzen Sie sich doch.« Sie rückte einen der Stühle vor seinem Teak-Schreibtisch zurück, sodass sie sich bequem mit überschlagenen Beinen setzen konnte und er sie gut im Sichtfeld hatte, wie man so sagt. Ihr Gesichtsausdruck signalisierte: »Kommen Sie zum Punkt, Sir.« Unter Juristen ist das selbstverständlich, dachte sie.

»Frau Suckade«, begann er dann auch schnell, »ich soll einen völlig unbedeutenden Fall betreuen und darauf einen Kommissar ansetzen, der die Ermittlungen aufnimmt. Ich verfüge aber über kein freies Personal, schon gar nicht für so eine Angelegenheit. Ich finde auch nicht, dass der Fall eine besondere juristische Hausarbeit hergeben könnte, aber mir sind die Hände gebunden.«

Sie nickte verständnisvoll, das Gestell ihres Stuhls wippte. Das hatte sie erwartet.

Stahl fuhr ausschweifend fort: »Die Sucht- und Trunkenheitsdelikte infolge des Koksa-Konsums breiten sich in der Stadt seit Monaten rasant aus. Entschuldigung, ich erkläre wieder zu viel, das wissen Sie ja. Jedenfalls – das will ich noch sagen – weiß ich überhaupt nicht, wie ich mit meiner dünnen Personaldecke wenigstens die gröbsten Verstöße eindämmen soll. Straftaten und Ordnungsverstöße nehmen in den letzten Wochen so dramatisch zu wie die endlosen Regengüsse über Koksam. Bei diesem nassen Wetter haben wir den freudlosen Job, draußen mit den Süchtigen ein Auskommen zu suchen. Ich will Ihnen daher offen sagen: Ich habe gegen diesen Auftrag nachdrücklich protestiert. Das sollen Sie wissen. Von mir aus müsste diese Angelegenheit gar nicht verfolgt werden. Einstellen, fertig. Ich habe klar abgelehnt.«

Er spielte nachdenklich mit seinem schwarzen MarkenTintenfüller. Er liebte uralten Retro-Luxus.

»Ich bekam eine ziemlich deutliche Antwort von oben mit einer namentlichen Anweisung. Das ärgert mich ehrlich gesagt sehr – dass man mir hineinredet, meine ich. Ich spreche da ganz offen mit Ihnen. Ich soll Kommissar Tristan Quergang reaktivieren, der im Augenblick nicht wirklich arbeitet. Das bleibt bitte unter uns, ja? Er ist kürzlich wegen einer schweren Krebsdiagnose vom Dienst freigestellt worden. Das kann ich Ihnen wohl trotz Datenschutz sagen, weil er es Ihnen sofort aufbinden wird, wie ich ihn kenne. Er ist so ein Kauz, passen Sie gut auf, dass er Ihnen nicht plötzlich tot umfällt.«

Kriemhild Suckade blickte ihn bei dieser Enthüllung unangenehm berührt an, wie es sich gehörte, und war gespannt, worum es nun ginge. Sie wechselte die Stellung ihrer überschlagenen Beine, aber Stahl musste noch seinen Frust loswerden: »Dieser Quergang! Er steht außerdem kurz vor der Rente, egal. Genau den sollte ich anrufen, hieß es im Befehlston, der würde den Fall auch gerne übernehmen, denn er hatte ja heftig gegen seine Freistellung vom Dienst protestiert. Er hat fast wörtlich gesagt, dass er viel lieber im Dienst sterben würde als daheim vor Langeweile. In der letzten Zeit hat er ziemlich viel rumgejammert, weil seine Frau ihn unbedingt mit homöopathischen Mitteln aller Art quasi komplett heilen wolle. Eigentlich mag er seine Frau sehr, aber er nimmt es ihr übel, dass sie sich seit einiger Zeit als ›Hausquacksalberin profiliert‹. Vor Angst erzählt er natürlich alles Mögliche – denke ich. Was weiß ich, was er wirklich meint, wahrscheinlich weiß er es selbst nicht. Ich habe eigentlich keine Lust, mich in ihn hineinzuversetzen. Ich bin nicht für das Privatleben aller Mitarbeiter verantwortlich.«

Frau Suckade zog die Augenbrauen hoch. »Männer«, kommentierte sie süffisant, »bloß keine Gefühlsregung zeigen! Ist es wirklich so schlimm um ihn bestellt?«

Stahl glättete die Situation schnell: »Es scheint mit ihm tatsächlich zu Ende zu gehen. In seiner vorläufig letzten Dienstwoche kam er mit einer abstoßend schwarzen Perücke, sieht wie ein Mopp aus. – Sie werden ja sehen, er hat seine Haare durch eine Chemotherapie verloren. Er will für so etwas kein Geld mehr ausgeben. Äußerlich versucht er es mit Sarkasmus, aber er hat auch noch andere Sorgen, weil seine Frau in letzter Zeit der Koksa-Sucht verfallen ist – das sagt er Ihnen bestimmt auch. Egal. Ich selbst wünsche diesen Kommissar seit langem zum Teufel, denn die Art seiner Ermittlungen hat früher zu mehr Irritationen geführt als die eigentlichen Verbrechen. Er fasst seine Verantwortung zu weitreichend auf und will immer gleich alle Hintermänner eines Verbrechens mitverhaften. Das ist ehrenwert, im Prinzip ja, aber es gibt eben Komplikationen, viele erregte Telefonate und schließlich sehr aufwändige Gefechte mit teuren Anwälten, die wir nicht gewinnen. Danach darf ich das alles ausbaden.«

Sie hörte stumm, aber sehr aufmerksam zu. Er schien einen Kommentar von ihr zu erwarten. Als der ausblieb, bemühte er sich, möglichst charmant herauszubringen: »Bedauern Sie mich doch ein wenig, bitte!« – Frau Suckade stimmte ihm nun artig zu und fand seine Situation extrem frustrierend für einen echten Mann! Das betonte sie lächelnd. »Verraten Sie mir außer der extremen Lächerlichkeit des Falles, worum es wirklich geht?«

Stahl seufzte schwach, ließ seinen Tintenfüller unwillig auf die Schreibtischplatte gleiten und lehnte sich im Chefsessel zurück. »Es geht um nichts, das sagte ich ja bereits. Ich soll ein Nichts groß aufrollen! Warum? Es gibt nicht einmal ein richtiges Verbrechen, nur einen seltsamen Einbruch, bei dem jemand nichts mitnahm, sondern vielmehr etwas hinlegte, und zwar eine essbare Voodoo-Puppe in der Gestalt eines Priesters. Sonst geschah nichts! Absolut nichts! Wegen einer solchen Lappalie soll ich bei aller Personalnot ernsthaft ermitteln lassen? Diese Gemüse-Puppen werden bei Koksa-Orgien gegrillt – ein neuer ziemlich geschmackloser Brauch von schwer Süchtigen. Kennen Sie den? Trinken Sie ab und zu Koksa?«

Kriemhild Suckade und Koksa! »Ist das eine rhetorische Frage, oder möchten Sie mich verärgern?«, fragte sie pikiert. Unwillkürlich richtete sie sich auf dem Stuhl auf und saß kerzengerade da. »Ich trinke fast ausschließlich Granderwasser von einer sehr hohen Reinheitsstufe.« Bei diesem Satz holte Stahl tief Luft und entschuldigte sich, schaute sie aber sehr wachsam an. In ihm stiegen ganz bestimmte Gedanken auf, was deutlich zu sehen war.

»Das bezweifle ich nicht, man sieht es Ihnen an. Es war eine rhetorische Frage. Ich wollte nur antippen, ob Sie von den Orgien der Koksa-Süchtigen wissen, wie sie grölend um ihre grässlichen Mahlzeiten herumtanzen, bis sie im Suchtdelirium irgendwelche Monster zu sehen glauben. In Ekstase essen sie nicht einmal Fleisch, sie werden schon von den Pflanzen närrisch – oder deswegen, was weiß ich.« – »Ich habe einiges gelesen«, meinte Frau Suckade, »aber kann man das glauben?«

»Ich denke schon. Es muss wie in Gruselromanen zugehen. Meine Polizisten erzählen mir manchmal etwas unter der Hand, aber nicht viel, denn es ist ihnen allen privat untersagt, an solchen wilden Partys teilzunehmen. Wir haben allerdings schon Leute zur Beobachtung hingeschickt. Aber nur zur Beobachtung! Leider blieben die eher da und kamen bald nicht mehr zum Dienst. Vielleicht komme ich jetzt doch endlich zum Thema. Entschuldigung.«

Gespannt ruckte Frau Suckade etwas vor.

»Es geht eben nur um diese eine Gemüse-Puppe, die ein oder mehrere Täter in einem Haus mit einer speziellen Historie abgelegt haben, nachdem er oder sie ein Fenster eingeschlagen hatten. Die essbare Puppe ist genauso eine wie die, um die Koksa-Süchtige bei ihren Orgien herumtanzen, aber sie ist auch eine Voodoo-Puppe und stellt für die dargestellte Person wohl eine Drohung oder – präziser – eine Morddrohung dar. Meine Leute meldeten mir, die Puppe könnte etwas mit dem Weihbischof von Koksam zu tun haben. Es ist wahrscheinlich eine plumpe Drohung, aber wie ich meinen Lieblingskommissar kenne, resultiert daraus bald eine Krise für die Weltkirche und die Welt überhaupt. Wenn er das wieder bis zum Exzess aufrollt, liefert Ihnen das Ganze vielleicht doch genug Futter für eine gute Hausarbeit. Für welche Stufe Ihrer Volljuristen-Ausbildung ist die Arbeit gedacht?« – »Für die Strafstation, was denken Sie?«

Stahl hatte das nur so dahingefragt, um das Gespräch mit ihr hinzuziehen. Er schämte sich sofort dafür. »Ja, oh, ja, deshalb sind Sie hier. Ich bitte um Nachsicht, ist ja klar.« Er beugte sich entschuldigend über seinen Schreibtisch. »Darf ich neugierig fragen, welche Wahlstation Sie sich im Anschluss ausgesucht haben?« – »Das habe ich noch nicht abschließend geplant, ich tendiere aber zur Vertiefung im Urheberrecht. Keine Ahnung, warum, aber ich fände Patentanwältin als Beruf nicht schlecht.«

Stahl wunderte sich ein bisschen. »Passt das zu Ihnen?« Er schaute sie demonstrativ von oben bis unten an. »Da wollen Sie sich in Technik vergraben?«

Sie lächelte angriffslustig und spielte im Sitzen mit ihren roten High Heels. »Darf man das als Frau nicht? Oder wollen Sie sagen, dass Sie nichts mit Technik zu tun haben wollen und sich lieber mit Kommissaren herumärgern? Warum haben Sie ausgerechnet mich herbestellt? Was haben Sie sich dabei gedacht? Eine Urheberrechtsspezialistin für Voodoo-Puppen-Design?«

Sie wusste ja schon, dass der Generalstaatsanwalt etwas von Stahl und ihr wollte. Aber was? Wusste Stahl mehr darüber?

Der zögerte, blieb aber sachlich: »Ich handle auf eine definitive Anweisung des Generalstaatsanwalts. Der stellt wohl das Team zusammen? Was will er denn? Sollen Sie für irgendwen die Aufpasserin spielen? Pardon, aber es erscheint mir nicht plausibel.« Er fühlte sich sichtlich durch die Anweisungen von oben auf den Schlips getreten. Er empfand sie als Zeichen von Misstrauen, das ihn gereizt machte. »Entschuldigung, ich habe mich vergaloppiert, das wollte ich nicht sagen. Ich wollte … eigentlich nichts, nur – das würde mich interessieren: Kennen Sie den Generalstaatsanwalt persönlich?«

Sie nickte. »Er betreut meine Arbeit.« Stahl rang innerlich mit sich, fragte aber nicht weiter.

Dieser Ton, dachte er und erschrak; es ging wie ein Ruck durch seinen Körper. Irritiert schaute er sie an: blond, blaue Augen, groß, schlank, überblickt alles von roten High Heels herab – der Archetyp aller Schönheitsideale; sehr geschmackvoll gekleidet, gut gelaunt, umgänglich und letztlich doch typische Juristin. Er hatte schon zweimal von einer »sagenhaften Schönheit« in der Strafstation reden hören. Da sei eine Mordsfrau, hatte es beim Mittagessen geheißen, eine mit dem Spitznamen Succsy. Succsy wie Success, wie Erfolg, wie Karriere, wie angehende Staranwältin. Succsy wie Suckade, fiel ihm ein – ganz klar. Und daher musste er nun unbedingt fragen: »Granderwasser? Hohe Stufe? Sind Sie Mitglied in der Aquaphilogy?« Diese Frage hatte sie schon bei ihrer Antwort mit dem Granderwasser in seinen Augen gelesen. Sie antwortete wie nach Vorschrift: »Ich habe in der Presse gelesen, dass Mitglieder der Aquaphilogy anonym bleiben. Was also bezweckt Ihre Frage? Darf ich den Spieß umdrehen? Sind Sie Mitglied?«

Stahl lächelte. »Die Antwort können Sie sich selbst denken.«

Als »Succsy« wie eine Königin hinausgeschritten war, dachte er lange nach. Doch kein einfacher Fall, ging es ihm durch den Kopf. Gleich darauf wurde er zu anderen Dienstgeschäften gerufen.

Die Stadt Koksam wird durch den Fluss Koksa geteilt, der wie die Stadt gegen viel Geld umbenannt wurde. Es gilt als verpönt, die alten deutschen Namen überhaupt noch zu kennen. Das Stadtbild wird immer stärker von den ausgedehnten Anlagen des Koksa-Konzerns dominiert, der unaufhörlich wächst und immer höhere Gewinne abwirft. Auf der schlechteren Seite des tiefgrünen Flusses produzieren die Koksa-Werke. Hier wird bewusst in der Tradition des heute nicht mehr so dominierenden Coca-Cola-Konzerns mit großer Geheimnistuerei die grünliche Koksa-Ur-Essenz hergestellt, deren fast beliebige Verdünnung als Koksa-Getränk globale Verbreitung gefunden hat. Dieser Werksstadtteil wirkt immer wie in grünlichen Nebel gehüllt, obwohl keinerlei materieller Nebel je festgestellt werden konnte. Auf der anderen Flussseite protzt die riesige Koksa-Hauptverwaltung. Hier werden die Fäden für die ganze Welt gezogen. An dieser Stelle schimmert nur ein grünlicher Hauch, und über einem Teil des Hauptgebäudes scheint das Grün sogar eine weißlich wirkende Lücke zu offenbaren. Dort wirkt die Luft klar, aber eben eher weiß. Fremde empfinden diese Effekte stärker als Einheimische. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass man physikalisch nichts nachweisen kann, rein gar nichts. Aber fast alle Menschen empfinden die Luft hier als grünlich. Etliche prominente Physiker versuchen seit längerer Zeit eine Erklärung dafür zu finden. Der schwache grünliche und an sich nicht sichtbare Nebel besonders über dem Produktionsstadtteil trägt zum mystischen Ruhm des grünlichen Koksa-Getränks bei, das physikalisch nur aus Wasser mit minimalen Farbpigmenten besteht, soweit irgendein Lebensmittelchemiker das beurteilen oder vermuten kann. Der übermäßige Konsum dieses Wassers verändert die Persönlichkeit des Menschen. Koksa führt zur Sucht. Abhängige wirken träge und prollig; sie sind einerseits selbstzufrieden, andererseits neidisch, weil sie sich benachteiligt und abgehängt fühlen. Warum und wie Menschen von reinem Wasser süchtig werden können, ist nicht bekannt. Die Koksa AG selbst erklärt, ihr Wasser habe keinerlei bekannte schädliche Nebenwirkungen auf irgendwelche Organe, der Konsument werde nur in ein positives Bewusstsein überführt. Seit eine meinungsstarke Boulevardzeitung die Süchtigen als »Walking Green« verhöhnte, wobei sie wohl auf »Walking Dead« oder Untote anspielte, warnen immer mehr Wissenschaftler, dass Wohngebiete mit bekannt hohem Koksa-Konsum stark herunterkommen. Sie drohen zu verslumen. Der Konzern weist das zurück und argumentiert, dass die Kritiker Ursache und Wirkung vertauschten. Koksa sei oft der einzige Trost von benachteiligten und abgehängten Menschen. In der letzten Zeit demonstrieren etliche militante Eiferer gegen die Macht von Koksa. Sie haben sich zu einer Vereinigung oder Partei zusammengeschlossen, die unter der Fahne der »Marching White« stetig mehr Zulauf erhält. Der Dom von Koksam hat sich zum Zentrum der Marching-White-Bewegung entwickelt. Dort treffen sich die Mitglieder wie auch traditionell Gläubige und planen ihre Aktionen. Weiß gegen Grün. Menschen gegen Menschenausbeutung. Marching White gegen Walking Green. Gute Menschen wenden sich gegen die Sucht der Apathischen. In letzter Zeit sorgt ein riesiger Roboter namens Pappa für Furore, der im Dom zu Koksam zu den Seelen der Marching-White-Bewegung predigt und sich sensationellen Zulaufs erfreut. Kleine Modelle mit einer abgespeckten Software finden als Pappalapini reißenden Absatz, auch über die Region Koksam hinaus, vor allem seit die Mini-Roboter im Internet bestellt und wegen Lieferproblemen im Netz zu Wucherpreisen angeboten werden.

SUCCSY BEIM KOMMISSAR DAHEIM (DONNERSTAG, 27. FEBRUAR)

Tristan und Isobel Quergang wohnten in einem Teil von Koksam, der früher gemütlich gewesen, jetzt aber durch die Koksa-Produktionsanlagen in der Nähe heruntergekommen war. Viele Bewohner hatten sich arbeitslos melden müssen, obwohl die Koksa AG die Stadt steinreich machte. Die Depression griff um sich. Der Stadtteil lag unter einem düstergrünlichen Schimmer. In den letzten Monaten hatten die Regenfälle wie überall in der Welt zugenommen, hier aber besonders. Es kam zu Hochwassern, die nichts mit dem normalen Klima zu tun hatten. Persönlich kämpfte der Kommissar seit einigen Jahren gegen seine Krebserkrankung und hatte sich nach den letzten Untersuchungen rettungslos verloren geben müssen. »Ein paar Monate«, hieß es von medizinischer Seite, aber deren Vertreter äußerten die Prognose mit einer Miene, die auch »Tage« bedeuten konnte. Dann, so dachte er, würde »Wochen« stimmen.

Seine Frau war über dem Kummer mit ihrem Mann und ihrer eigenen Dauerarbeitslosigkeit schwermütig und schließlich Koksa-süchtig geworden. In diesen letzten Tagen ihres Zusammenlebens gab es kaum mehr als zwei Themen zwischen beiden: Krebs und Sucht. Aber eigentlich beschäftigte jeden die Sorge um den anderen. Der Kommissar mochte nicht daheim sein Ende abwarten, er litt unter dem Mitleiden seiner Frau. Deshalb war er froh, dass ihm der neue Ermittlungsfall wenigstens die Gelegenheit gab, draußen etwas zu tun zu haben. Fall ist Fall, sagte er sich, jede berufliche Tätigkeit bedeutete, aktiv zu sein und die Krankheit zu vergessen! Da nahm er es auch hin, dass er angeblich nur einen läppischen Fall übernehmen sollte, wie es der Staatsanwalt auf dem Flur laut vernehmbar ausgedrückt hatte.

So stand Tristan Quergang wohlgemut auf – für seinen allerletzten Fall.

Seine Frau schlief um diese Zeit gewöhnlich noch ihren Koksa-Rausch aus, aber heute war sie schon wach. »Hallo, höre ich da einen Trockenrasierer am frühen Morgen, Herr Kommissar?« – »Ich freue mich einfach, dass es noch einmal losgeht, da rasiere ich mich, obwohl es sich eigentlich nicht mehr lohnt. Die paar Härchen. Mist, diese Chemotherapie. Wenigstens ist das vorbei. Ich musste heute Nacht schrecklich husten. Egal, jetzt gibt es Abwechslung!« – »Und ich bin allein!« – »Das verstehe ich, aber du musst doch bald ganz ohne mich leben. Und was machst du in aller Frühe? Koksa trinken. Willst du mich schon zu Lebzeiten vergessen?«

In dieser Weise kreisten die Gedanken der beiden immer wieder um die Drohung der nächsten Wochen. Er wollte gerne raus aus den Gedanken an die nahe Zukunft und vergessen, sie trank Koksa, um ihren Schmerz zu betäuben. Unglück schwebte über dem Hause Quergang. Er schaute im Spiegel seine Fastglatze an. Sie beobachtete das Ganze verwirrt, denn sie stand noch unter dem Eindruck ihrer nächtlichen Traumerlebnisse, unter denen ein Übermaß an Koksa sie regelmäßig leiden ließ. »Erzähl, hattest du wieder schwere Träume?«, fragte er sie.

»Das weißt du doch«, erwiderte sie unangenehm berührt, »immer dieselben Träume, wie alle sie haben. Alle, die ich kenne. Lautes Trommeln, Grölen bis zum Umfallen, ab und zu grüne Monster, überall Unrat. Am Ende gleitet grünlicher Schleim über mich, er ist fiebrig warm und dringt in alle meine Körperritzen. Ich fühle mich als Frau viel zu direkt angemacht, nicht ganz unangenehm, aber eigentlich eklig.« – »Und das alles ist es dir wert? Macht dich das nicht auf die Dauer fertig? Du alterst sichtbar, seit du süchtig bist. Das liegt ganz sicher am Koksa, nicht an meinem Schicksal. Ich verfolge es jeden Tag mit Sorge, Madam.« – »Oh, ich habe mich gestern sogar zu etwas aufraffen können. Hast du nicht gesehen, dass ich beim Frisör war? Obwohl das Wetter so trist ist und du demnächst einfach aus dieser Scheißwelt abhaust. Ich bleibe allein! Ich musste für den Frisörbesuch an einigen Stellen knöcheltief durchs Wasser waten. Regen und wieder Regen. Viele sagen, das Weltende stehe uns bevor.« – »Ach was, es ist der lang erwartete Klimawandel.«

»Na, dir machen die vielen Überschwemmungen in der Stadt ja nichts mehr aus. Ich bin schon depressiv, es wird einen Niedergang der Wirtschaft geben. Ich habe so viel Kummer, und du setzt einfach deine Perücke auf und tust so, als wenn nichts wäre. Eigentlich ist es gut so. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, aber in meiner auch nicht.« Tristan drückte seine »holde Isolde«, die eigentlich ja Isobel hieß, herzlich und gab ihr einen Kuss. »Komm, du bist heute Morgen wieder furchtbar verkokst und machst mir fast mehr Kummer als ich dir, ach, ich meine, als ich mir. Denk doch bitte daran, was du in deinem früheren Beruf Leuten wie dir in deiner jetzigen Verfassung geraten hättest. Können wir nicht auf unsere letzten gemeinsamen Tage eine Koksa-freie Zeit am Tag einlegen? Oder einen Freitag ohne Koksa? Dann bist du wenigstens eine Zeit lang clean und vernünftig.«

Isobel war früher als Heilpraktikerin und Psychotherapeutin im Staatsdienst tätig gewesen. Sie hatte sich aber seelisch zu sehr verausgabt und unter dem Druck ihren schwer leidenden Patienten mehr geholfen, als es ihr die Vorschriften erlaubten. Sie setzte sich über Sparmaßnahmen hinweg, um Menschen wirklich zu unterstützen. Sanfte und gut gemeinte Hinweise von Vorgesetzten fruchteten nicht, sodass es irgendwann zu so unangenehmen Konflikten kam, dass sie gegangen worden war. Schließlich erkrankte ihr Mann schwer – und so lebten sie seit einiger Zeit ein tristes Leben auf Zeit. Isobel hatte schreckliche Angst vor dem baldigen Alleinsein. Sie bot ihre ganze Kunst als Homöopathin auf, um ihren Mann mit Globuli, Bachblütenessenzen und sogar mit Koksa an ihrer Seite zu halten. Quergang selbst machte sich keine Illusionen. In seinen letzten Tagen kam eine Altersweisheit in ihm zum Vorschein, die Isobel nicht mochte. Sie wollte einfach ihr Leben »nicht so wie jetzt und nicht so wie morgen«.

Jeden lieben langen Morgen stritten sie über ihre Koksa-Sucht und seine mögliche Heilung, aber nie ließen sie Taten folgen. Sie waren ein altes treues Ehepaar, das in lang geübten Ritualen sein Leben verbrachte. Immer wie immer. Ihre Wohnung sah aus wie sie selbst: Sie hatte sich wegen der depressiven Untätigkeit beider zu einem vollgestopften Provisorium entwickelt, für das sich liebevolle Aufmerksamkeit nicht mehr lohnte.

Quergang stülpte sich vor dem Spiegel achtlos seine Perücke über wie andere Leute eine Strandkappe. Hauptsache, man sah die Chemo-Glatze nicht. Von der Seite reichte ihm Isobel seine Ration an Rescue-Tropfen, auf deren Einnahme sie hartnäckig bestand. Dazu bekam er eine kleine Kollektion von Globuli, die ein kürzlich verstorbener Nachbar hinterlassen hatte: Carcinosinum C30, Conium maculatum C3, Phytolacca decandra C200 und Thuja occidentalis C30, dazu Ruja C60. Davon schluckte er resigniert einige wie Zückerli und steckte sich den Rest für den Tag in die Hosentasche. Dieser Anblick ließ Isobel gleich wieder zur Koksa-Flasche greifen. Er duldete es, denn sie würde sowieso trinken, sobald er die Wohnung verließ. Aber er litt unter den merkwürdigen Lauten, die sie beim Trinken stets von sich gab. Es klang wie »Lulululu«, wenn sie schlürfte.

Er konnte sie nicht von diesem lächerlichen »Lulululu« abbringen, das wie aus einer anderen Welt klang – fast gespenstisch und auf jeden Fall »irre«.

Auch heute Morgen trank sie genüsslich wie ein Baby, wobei sie ihre Zunge stark hin- und herbewegte: »Lulululu …« Es widerte ihn an.

Tristan Quergang schämte sich für sie, weil sie als gesetzte Frau diese kindischen Laute ausstieß – wie übrigens alle Koksa-Süchtigen – und dabei gleichzeitig so tief befriedigt wirkte. Warum »Lulululu«? Warum immer genau viermal »Lu«, nie dreimal, nie fünfmal? Keiner auf der Straße verzählte sich jemals genüsslich beim »Lulululu«. Und immer, wenn der Kommissar sich fremdschämte, was jeden Tag vorkam, wurde Isobel zornig, jedes Mal: »Wie oft soll ich dir sagen, dass es bei dem Zungeschlängeln stärker wirkt? Viel stärker! Lulululu bringt Genuss! Schau dich doch auf der Straße um, alle trinken es mit Lulululu. Alle, ohne Ausnahme. Keiner weiß, was der Trick dabei ist, aber es wirkt. Das sagt die Homöopathie seit Jahrhunderten: Was faktisch heilt, muss sich nicht wissenschaftlich rechtfertigen.« – »Dafür bist du mal zertifizierte Fachfrau gewesen, und nun säufst du wie eine Abhängige das, was du deinen Patienten damals hauptberuflich ausgeredet hättest.« – »Koksa hat vielen Leuten die Existenz vernichtet, mir eben auch. Aber wir fühlen uns gut dabei. Das Institut hätte mir damals nicht kündigen dürfen! Nein, sie hätten mir nicht kündigen dürfen, ich wollte doch immer nur schwerkranken Menschen helfen! Das kann doch nicht schlecht sein. Aber sie wollten mich nicht mehr. Zu alt war ich, zu hohes Gehalt. Das waren bestimmt nur Ausreden, das macht mich noch depressiver. Es war ungerecht!«

Sie weinte um ihren beruflichen Absturz fast jeden Morgen. Jeden Morgen Katzenjammer und in Koksa ertränkter Kummer. Der Kommissar hielt es mit Engelsgeduld aus, er liebte sie noch immer, aber es war jetzt auch viel Mitleid dabei, und nun ging es zuerst mit ihm selbst zu Ende.

Neuerdings erfüllte ihn eine Idee, wie er ihr helfen könnte. Er hatte im Internet heimlich einen Pappalapino bestellt, den kleinen Klerikal-Roboter, mit dem der Weihbischof von Koksam neuerdings ein riesiges Geschäft zu machen schien. Das Start-up aus dem Umkreis des Bistums Koksam verzeichnete eine sensationelle Nachfrage, die aus aller Herren Länder kam. Dieses puppenähnliche Wesen wurde als wahrer Seelentröster geschätzt; es konnte predigen, segnen und geistliche Musik abspielen. Eigentlich handelte es sich um einen Spezialroboter, der den bekannten Pflegerobotern der vielen Pepper-Generationen nachempfunden war. Die ersten Besitzer der kleinen Pappalapini hatten sich aber so närrisch in ihre Kleinen verliebt und die Nachfrage angeheizt, dass auch die zusätzliche Produktion in China kaum nachkam. Jeden Morgen checkte Quergang das voraussichtliche Versanddatum – und wurde Tag für Tag vertröstet. Auch heute: nichts.

Angeblich würde man im Dom sofort Pappalapini bekommen, allerdings zu stark überhöhten Preisen, in denen eine Spende enthalten war. Das wurde in den Medien kritisiert: »Koksam first!«, forderten dicke Titelbalken. So viel Geld, wie im Dom gefordert wurde, wollte der Kommissar nicht für den Weihbischof lockermachen, auch wenn ihm der Stand seines Kontos egal sein konnte. »Ich glaube ja eigentlich nicht an diesen Roboter-Hokuspokus und diese transzendentale Intelligenz«, sagte er sich immer wieder, »aber was tut man nicht alles, wenn alles andere nichts hilft? Da schlucke ich sogar Globuli. Und im Gegenzug kann sich Isobel von einem kleinen Klerikal-Roboter berieseln lassen, vielleicht hilft ihr das über mich und Koksa hinweg.« Er verheimlichte seine Bestellung und vermied es, mit seiner Frau über »Kirche« zu reden. Er wollte sie überraschen und ihre Sucht am besten noch zu seinen Lebzeiten lindern.

Nachdenklich zog er sein abgetragenes Sakko an und setzte sich die verrutschte Perücke erneut auf. »Bereit für den letzten Fall«, salutierte er vor dem Spiegel und eröffnete seiner Frau: »Ich stelle mich schon mal draußen hin, ich werde angeblich von einer Frau abgeholt, die eine hochtalentierte Super-Referendarin sein soll. Alle nennen sie Succsy wie Success. Den richtigen Namen habe ich vergessen. Bin mal gespannt, wie sie aussieht. Auf zum letzten Gefecht!« Und mit einem Blick aus dem Fenster: »Oh, es gießt draußen. Starkregen. Wieder alles schrecklich nass. Ich warte lieber hier.« – »Es gießt doch immer. Seit Monaten, und immer stärker. Trink Koksa dagegen, wenn du willst!«

Der Kommissar, klein und gedrungen, trug im Dienst immer einen schäbigen und verknitterten braunen Regenmantel. Er liebte Inspektor Columbo. Warum war der nie zum Kommissar befördert worden? Die Welt ist ungerecht, dachte er. Das Zähneputzen ersetzte er schnell durch Listerine-Gurgeln, und zwar mit blauer Listerine. Er mochte eigentlich die grüne Sorte am liebsten, aber er war dahintergekommen, dass seine Frau ihm Koksa untergemischt hatte. Das hatte er ihr übelgenommen.

Isobel trank die nächste Portion für heute. Sie schrubbelte mit der Zunge über die unteren Schneidezähne, vor und zurück. »Lulululu.« Er sah unruhig zur Straße hinaus und wartete, dass seine Begleiterin ankam. Die hatte ihm die Staatsanwaltschaft aufgedrückt. Wozu? Sie sollte ihm angeblich bei seinen Ermittlungen helfen. Helfen! Ihm, dem Meister, helfen! Da war todsicher Misstrauen gegenüber ihm im Spiel, dass sie ihm eine blöde Zicke beistellten. Was sollte das, würde er einen Escort-Service brauchen? Da stimmte etwas nicht.

Beider Blick richtete sich nach draußen: Ein schwarzes autonomes Auto hielt vor dem Haus und faltete automatisch ein Regendach aus. Eine in Schwarz gekleidete Blondine stieg aus. Wow! Konnte »sie« das sein, oder doch nicht? Quergang starrte sie durch das Fenster an, seine Frau stand wie der Blitz hinter ihm und glubschte sofort einigermaßen giftig. Sie schwiegen und warteten. »Geh schnell raus und lass sie nicht rein, lass sie nicht rein!«, zischte seine Frau schließlich erschrocken, aber er stand vor Erstaunen starr. Eine Justizreferendarin, die aussah wie ein Supermodel? Das Model huschte blitzschnell durch den Regen über den Bürgersteig und klingelte. Er zuckte zusammen und öffnete die Haustür. Sie stand da, blaue Augen, wehende weißblonde Mähne, wie in einer Hollywood-Szene. »Kann ich kurz reinkommen?«, bat sie höflich. »Ich möchte mich vorstellen.« Der Kommissar wich zurück und sie trat ein, wie die Sonne in eine dunkle Höhle.

Succsy zog innerlich die Augenbrauen hoch, weil die Möbel hier im Erdgeschoss so schmuddelig aussahen. Das spürte Isobel deutlich. Nun schaute sie entsprechend gekränkt. Sie wollte »die Zustände hier« niemanden sehen lassen.

»Schick schauen Sie aus in unserer bescheidenen Hütte«, stotterte der Kommissar, der das Unheil in Isobels Augen bemerkte. »Sie heißen wie noch mal …?« Die Besucherin unterbrach ihren Rundblick und sah den beiden strahlend ins Gesicht. »Oh, Entschuldigung! Mein Name ist Kriemhild Suckade, ich arbeite als Referendarin in der Ausbildung zur Volljuristin bei Generalstaatsanwalt Harro Hell. Man hat mich über Herrn Staatsanwalt Stahl gebeten, Sie bei Ihrem Ermittlungsfall zu unterstützen, so gut ich kann. Sind Sie über etwaige Hintergründe informiert, oder hat man Ihnen nur gesagt, ich würde mich bei Ihnen melden?«

Quergang zog ein Gesicht, das »weiß wenig« signalisierte. Frau Suckade erklärte, auch zu seiner Frau gewandt: »Ich soll von Ihnen lernen, man hat Sie mir als Mentor empfohlen.«

Die Quergangs schauten etwas verwundert drein – entweder hatte man der Frau einen Bären aufgebunden oder sie war bis zur Peinlichkeit höflich.

»Es geht um meine Volljuristenprüfung«, fuhr sie fort, »ich soll bei einem Kriminalfall von Anfang bis Ende mithelfen, dabei alles genau beobachten und anschließend eine Hausarbeit in Form einer Dokumentation anfertigen. Glücklicherweise scheint es nicht um einen Mord zu gehen, es gibt keine grässliche Leiche oder Ähnliches, da bin ich froh. Ich möchte so etwas nicht als Beruf machen. Ich werde mich wohl als Patentanwältin spezialisieren.«

Der Kommissar schaute sie wachsam und gleichzeitig zerstreut an. »Suckade? Ist das ein schwedischer Name?« Sie seufzte sehr kunstvoll, was Quergang zum Lächeln veranlasste. Tatsächlich bedeutet das schwedische »suckade« auf Deutsch »seufzte«. Sie wunderte sich über sein Wissen. Es passte nicht zu der schäbigen Umgebung. »Er ist ein Besserwisser«, grummelte die Frau des Kommissars.

»Das werde ich nachprüfen und in meiner Hausarbeit erwähnen«, lachte die Blondine ironisch-fröhlich und fragte: »Ja, und Sie heißen …?« – »Oh«, erwiderte der Kommissar verlegen, wobei es einen Moment lang so schien, als habe er seinen eigenen Namen vergessen. »Gestatten, Tristan Quergang, oh, sorry, das wissen Sie ja schon, klar, äh, meine Frau, Isobel Quergang – meine holde Isolde, wissen Sie? Komm, Isobel, es ist ein Kalauer, ich weiß, schau nicht so grimmig. Was ist denn los, liebe Frau? Noch nie eine Referendarin gesehen?«

Die beiden Damen musterten einander.

Es war für einen Augenblick unangenehm still. Dann erst hörten sie, wie draußen Koksa-Süchtige im Regen grölten. Einer kotzte gerade an das schwarze Selbstfahrauto. Succsy wollte zuerst hinaus und sich über ihn aufregen, aber der Regen fiel zu heftig – und es war egal, das Auto würde durch den Niederschlag gewaschen.

Wenig später machten sie sich auf, der etwas schlampig aussehende Kommissar und die wunderschöne Kriemhild Suckade. Suckade, ich verstehe, Succsy wie Success, dachte der Kommissar und fand, dass der Spitzname auch andere Interpretationen zuließ. »Ach, bin ich heute seltsam drauf!«, tadelte er sich selbst und ordnete an: »Go, Quergang, go!«

Sie liefen über die enge Straße unter das Seitenausklappdach des Autos und wollten einsteigen. Die Säufer pöbelten. »Haut ab, lasst uns in Ruhe, wir sind von der Polizei«, rief Succsy ihnen selbstbewusst zu. Die Gruppe höhnte und einer rief: »Hier hat niemand etwas zu sagen. Der Herr da kann froh sein, dass er in Ruhe in dieser Gegend wohnen kann. Das hat er seiner Frau zu verdanken, die versteht uns. Die hat früher Marginalisierte wie uns gut behandelt, bis sie eine wie wir geworden ist. Ach, ist scheißegal. Hau doch ab, Baby. Lulululu … gluck-gluck … aaah … Oh, Baby, du müsstest aus grünem Schleim bestehen und uns in der Nacht erscheinen …« – »Flächendeckend und vollumgebend erscheinen!«, rief ein anderer. »Wir geben dir auch Schleim zurück, wenn du willst!« Sie trollten sich und lachten dabei anzüglich, wie es sich für die eigentlichen Herrscher der Straße gehörte. »Hier ist das grüne Koksam, nicht das weiße, du gehörst nicht hierher! Wir sind die Walking Green! Wir sind das Koksa-Pack! Gack-gack-gack! Wir sind das Pack! Gack-gack-gack! Lululu und raus bist du«, rief einer von ihnen und übergab sich nochmals auf die Straße. Succsy kam plötzlich der uralte Film A Clockwork Orange in den Sinn, insbesondere der Marsch zum Begräbnis von Queen Mary.

Die ganze triste Gegend, die verfallenden Häuser, die vielen traurigen Gestalten mitten unter geschäftigen Leuten, die regenschirmbewehrt über die Pfützen und Lachen zur Arbeit eilten: Alles wirkte grünlich, auch all die süchtigen Gesichter.

Isobel stand nach der Abfahrt des schwarzen Wagens noch länger am Fenster, schaute in den Regen und sprach vor sich hin: »Wie sie angepöbelt worden ist! Das freut mich für diese vornehme Ziege von einem Model! Wie sie mich gemustert hat! Wie sie unsere Behausung überblickte, von ihren verdammten High Heels herab! Alles von oben herab. Ehrgeizige Juristin, wie sie im Buche steht. Die verdreht meinem Tristan bestimmt den Kopf, und er wird das noch ein wenig genießen wollen. Im Prinzip sollte ich ihm das gönnen. Wie verzweifelt mein Bester da draußen war, ihr nicht gegen die Walking Green helfen zu können! Hier im Viertel ist er leider ein Nichts, der Herr Kommissar! Das war früher anders, als ich noch im Beruf war.«

Und dann dachte sie an die glückliche Zeit, als sie als Expertin für Naturheilverfahren geachtet und hochgeschätzt gewesen war. Sie hatte als ausgewiesene Kennerin der klassischen Hahnemann’schen Homöopathie gegolten, an deren Wirksamkeit ihr geliebter Tristan nie glauben mochte. Sie wollte ihn stets mit Wirkungen überzeugen, er aber verlangte Erklärungen. In letzter Zeit gab es darüber Spannungen. Tristan beschwor sie jeden Morgen, nicht wie eine ihrer Patientinnen zu werden – sie solle sich doch selbst therapieren! Mit Homöopathie! Sie hatte aber keinen Willen mehr dazu und Tristan keine Energie, ihr wirklich beizustehen.

EINBRECHER HINTERLASSEN EINE ESSBARE PUPPE (DONNERSTAG, 27. FEBRUAR)

Der alte Kommissar und die schöne Referendarin fuhren zu einem alten Haus in einer düster-grünlichen Umgebung. Auf der Fahrt unterhielten sie sich wie alle Leute in dieser Zeit über den ungewohnten Dauerregen, über die Überschwemmungen entlang des Koksa-Flusses und über die immer bedrohlicheren Gewitter und Stürme der letzten Zeit. Da sie beide kein Koksa tranken, konnten sie sich den morgendlichen Austausch über grünliche Albträume ersparen. Anders als die Walking Green, die das jeden Tag taten. Die Erlebnisse in deren Träumen endeten regelmäßig mit dem Eintauchen in grünen Schleim, immer anders, jede Nacht! Die Schleimerlebnisse hatten bei allem Ekel auch etwas Süchtigmachendes. Daher litt niemand so sehr unter den grünen Eskapaden in der Nacht, dass er den Koksa-Konsum einschränken wollte. Widerwärtig gefühlsecht träumten sie!

Viele Walking Green berichten, dass starker abendlicher Koksa-Konsum sie in Träume führe, in denen sie von vielarmigen Kraken sexuell belästigt werden. Diese dringen mit ihren grünen Tentakeln in alle Körperöffnungen. Besonders Jugendliche prahlen mit ihren Eskapaden im Traum. Die meisten Menschen aber erfüllt ein tiefes Grauen, wenn sie den grünen Ungeheuern begegnen. Dieses Grauen hält oft noch im Wachzustand an. Andere experimentieren, wie sie die Traumerlebnisse orgasmisch steuern können, und tauschen sich dazu in Internetforen aus. Religionsführer rufen zum Verzicht auf das Getränk auf und drängen auf ein Verbot, das aber nicht möglich ist, da Koksa nur aus Wasser besteht – genau wie die homöopathischen Tropfen, die allgemein geschätzt oder mit einem Lächeln geduldet werden. Der Weihbischof von Koksam ruft in seinen Predigten wiederholt und sehr bestimmt zum absoluten Boykott von Koksa auf und erklärte sich mit der Koksa-kritischen Marching-White-Bewegung solidarisch, ohne auf ein Plazet oder den Segen aus Rom zu warten. Die Wirkung von Koksa scheint sich von Tag zu Tag zu steigern, was man besonders in Koksam aufmerksam registriert.

Heute regnete es so stark, sodass sogar die geplanten Marching-White-Proteste gegen die Koksa-Werke bildlich ins Wasser zu fallen drohten und daher abgesagt wurden. So unterblieb das übliche Verkehrschaos.

Das autonome Auto hielt an. Quergang und Succsy spannten ihre großen Regenschirme auf und eilten ins Haus zum Tatort. Polizeibeamte warteten schon auf sie, um Bericht zu erstatten und Anordnungen zu empfangen.

Jemand war eingebrochen oder vielleicht auch nicht. Er oder sie hatte zwei Fenster des fast leerstehenden Hauses eingeschlagen und war wohl eingestiegen. Derjenige hatte aber anscheinend nichts berührt. Alles war an seinem Platz: ein paar alte, abgewetzte Stühle, die früher für Veranstaltungen zur Verfügung gestanden hatten, Flipcharts, billige Arbeitstische. Die Wände vor dem Versammlungsraum waren über und über mit einer seltsamen Mischung aus philosophischen Weisheiten und Zitaten sowie allerlei Tierfotos zugekleistert. Viele Gläubige oder Anhänger anscheinend sehr hoher Ideale hatten Zettel mit Danksagungen angeheftet. Hunderte davon hingen überall. Tausende! Sie waren meist genau datiert. Die letzten waren vor etwa dreizehn Jahren angeheftet worden. Quergang las sich fasziniert vor den Wänden fest:

»Brich vertrauensvoll auf! Begib Dich auf die Reise zur Anderswelt! Werde erlöst.«

»Löse dich von allen karmischen Beziehungen!«

»Weg mit deiner Angst vor der Angst«

»Praani, mein Leben«

»Wird mich der Flamingo neu erfinden?«

»Ich vertraue fest auf den Bären in mir. Das hat mich weit gebracht.«

Beide, Succsy und der Kommissar, kannten die Klagemauer in Jerusalem und waren in Altötting gewesen. Dort prunkten die Wände ebenso mit zahllosen Wünschen, Sprüchen und Dank – liebevoll gepflastert –, aber hier waren die Botschaften vielfältiger, was sowohl das farbliche Design als auch die Aussagen anging. Sie blickten sich staunend um. In den Nebenzimmern fanden sie viele kleine Altäre – waren es Altäre? –, die wohl der Verehrung von Tieren aller Art gewidmet gewesen waren. »Hier ist einer für Bären, den für die Flamingo-Sprüche muss ich suchen«, fand Succsy. Der einzige größere Altar war einem Einhorn gewidmet. Heilig wirkten die Räume, die wegen der großen Fenster einigermaßen licht waren. Die Besucher empfanden keinerlei grünen Schimmer. »Hier ist es nicht so grünlich wie draußen, das ist seltsam«, flüsterte Succsy andächtig.

In den hinteren Räumen fanden die beiden merkwürdige Maschinen, deren Zweck nicht zu erkennen war. Sicherlich waren sie stillgelegt worden, als die früheren Betreiber die Aktivitäten eingestellt hatten.

Succsy und Quergang kehrten zu den Zettelwänden zurück und mussten sich unwillig davon losreißen, denn zwei Polizisten hatten sie hier empfangen. Sie erwarteten eine Weisung vom Kommissar. »Irgendetwas über zerbrochene Fensterscheiben hinaus?«, fragte dieser. Die beiden Polizisten wiesen auf einen tristen Hauptsaal, in dem offenbar früher größere Treffen stattgefunden hatten. Succsy und Quergang folgten ihnen. In der Mitte des ausgeräumten Saals lag eine essbare Voodoo-Puppe auf dem Fußboden. Eine besonders hochwertige Sonderanfertigung in Form eines Priesters, die gut einen Meter lang war.

Es gibt seit Urzeiten Künstler, die Luftballons zu einer langen Wurst aufblasen und sie dann mit Kunstgriffen zu allerlei wunderlichen Gestalten, meist Tieren, verknoten. Solche Abbilder lassen sich auch aus echten Würsten und anderen Delikatessen formen. Typische Walking-Green-Versammlungen stellen heute solche Figuren als Festessen in die Mitte der Tafel und folgen damit dem Brauch früherer besserer Kreise. Bei fürstlichen Festen wurden große Fische serviert und entlang der Hauptgräte tranchiert. Analog dazu ist es bei den Dinners der Walking Green üblich, die essbare Gestalt wie ein Lebewesen stilecht entlang der Wirbelsäule zu schlachten, dabei an die kannibalischen Träume in der Nacht zu denken und Koksa zu schlürfen. Die essbaren Lebewesen sind stets grünlich wie Koksa, was mit Gemüse leicht zu designen ist.

Dieses spezielle essbare Lebewesen war mehr in Schwarz gehalten. Es handelte sich eindeutig um einen nachgebildeten hohen Geistlichen mit einer Soutane aus Sushi-Nori-Seetangblättern. Abzeichen und ein Monogramm auf der Voodoo-Puppe ließen klar vermuten, dass sie ein Abbild des Weihbischofs darstellen sollte. In ihre Brust war ein dicker grüner Spargel hineingestochen, ihre Eingeweide waren wie zum lustvollen Essen aufgebrochen. An ihrem Hals klebte unmotiviert ein weißer Spargelabschnitt. Die Puppe war offenbar nicht mehr frisch, selbst tüchtige Esser hätten davon auch bei gutem Appetit nicht mehr essen, geschweige denn naschen wollen. Vom Fenster, durch das der oder die Täter eingedrungen waren, bis zur Voodoo-Puppe waren grüne Pfeile auf dem Boden aufgebracht. Von der Voodoo-Puppe weg zeigten weiße Kreidepfeile auf dem Boden in Richtung einer Treppe.

»Aha«, entsetzte sich Kommissar Quergang sarkastisch, wobei etwas Theatralisches in seiner Stimme mitschwang, »das sieht wirklich hochgefährlich aus. Hier muss ein furchtbares Verbrechen geschehen sein. Besitze ich für diese Sache als Kommissar nicht einen zu niedrigen Dienstgrad? Haben Sie die Raubmordkommission und den Staatsschutz verständigt? Ist der Justizminister involviert? Weiß die NSA davon? Kommt die Air Force One?« – »Das nicht, Sie haben Recht«, erwiderte der diensthabende Polizist peinlich berührt, »es ist ja nur eine Ess-Puppe. Auch wir wundern uns. Wir sind gestern nur zu einem Einbruch gerufen worden. Wir haben das im System berichtet und wollten es eigentlich abhaken. Als wir die Adresse des Tatorts in unsere Datenbank eingaben, erschien ein Code, der darauf hinwies, dass die Adresse eventuell verdächtig sein könnte. Hier muss schon einmal etwas passiert sein. Deshalb haben wir den Vorfall nach oben gemeldet. Daraufhin kam der Befehl, dass wir heute nochmal herkommen und warten sollen, bis jemand den Fall übernimmt. Es hieß, wir sollen Ihnen den Fall übergeben. Wir dachten schon vor einer Stunde, dass Sie endlich kommen würden, denn da fuhren kurz zwei Polizeiautos auf der anderen Straßenseite vor. Die schauten aber nur und sind gleich wieder weg. Vielleicht ist es wichtig, dass wir hier warten.«

Quergang zog die Augenbrauen hoch, hielt das aber zunächst für einen Zufall. Polizeiautos kommen und gehen. Er stakste noch einmal um die welkende Pflanzenskulptur herum und fragte: »Habt ihr eine Idee, was die Pfeile bedeuten? Wohin zeigen die weißen? Wohin führt die Treppe?« – »Da wohnt eine Art Hausmeisterin, ist ’ne echt komische Type. Sie ist sehr hässlich, wenn man das so sagen darf. Die will mit der Sache nichts zu tun haben. Sie zetert, wir sollen alles wegräumen und abhauen. Wenn die Puppe der Bischof sein soll, könnten wir sie ihm ja bringen, bevor sie nicht mehr schmeckt, sagt sie. Auf jeden Fall sollen wir uns aus dem Staub machen.« – »Hat die Spurensicherung alles fotografiert?« – »Wir haben es aufgenommen.« – »Gut, dann bringen Sie die Puppe ins Präsidium, vielleicht am besten ins Leichenschauhaus, damit sie einigermaßen ansehnlich bleibt.«

Quergang ging noch einmal auf und ab, während Succsy bei der Bemerkung »hässliche Frau« nachdenklich aus dem Fenster schaute. »Da fuhr wieder ein Polizeiauto vorbei«, murmelte sie und Quergang rief ihr instinktiv zu: »Das Kennzeichen!« – »Schon weg«, entschuldigte sie sich, »ich hatte eigentlich eine Frau beobachtet. Grüner Regenmantel, sie stand da wie die Statue einer Göttin. Ich wollte ihr Gesicht erkennen. In dem Augenblick rauschte die Polizei vorbei. Sie wurde bespritzt, war wohl ärgerlich und verschwand.« Die beiden Polizisten horchten auf, als von dem grünen Regenumhang die Rede war. So eine Frau hatten sie ebenfalls bei ihrer Anfahrt beobachtet. »Würde sie jemand von euch wiedererkennen?«, wollte Quergang wissen. Alle drei schüttelten den Kopf. »Und wozu bitte schaut ihr sie an?« – »Sie hatte eine auffallend stolze Haltung«, meinten die Polizisten. Succsy nickte: »Genau!«

»Aber das können Sie auch ganz gut? So dastehen?«, konnte es sich der Kommissar gegenüber Succsy nicht verkneifen.

Die nahm das scheinbar ungehört hin. Sie schien in Gedanken. Dann bat sie darum, die Inschriften an den Wänden länger lesen zu dürfen und noch einmal im ganzen Haus herumzugehen. Quergang ließ sie gewähren und bat die Polizisten, die hässliche Hausmeisterin in einer Viertelstunde aus ihrer Wohnung herunterzubitten. Sie sollten in der Zwischenzeit möglichst die gesamte Einrichtung mit ihren Phones zur Dokumentation filmen.

Succsy sichtete derweil hochinteressiert die Relikte einer früheren Sekte. So hatte es zumindest den Anschein. Der Glaube an etwas Besonderes schwebte im Raum und hatte die Zeit des Leerstandes überdauert. Hier schienen Gläubige eine Vielzahl von Tieren verehrt zu haben, die sie mit Eigenschaften priesen, die sie wahrscheinlich gern selbst gehabt hätten. »Ich fühle des Adlers Schwingen in mir«, stand auf einem Zettel unter einer ungelenken Skizze des Vogels. Succsy fotografierte drauflos, scheinbar wahllos – um alles zu dokumentieren, dachte der Kommissar. Dafür arbeitete sie allerdings viel zu andächtig und sie schien etwas an einer Zettelwand zu suchen. »Der Hase hört alles und sieht alles, er hat mit seinen großen Augen fast eine Rundumsicht.« Sie fotografierte mehrere Zettel mit diesem Text. »Ist es nicht sonderbar licht hier?«, fragte Succsy den Kommissar nachdenklich. Der nickte und war ebenfalls noch immer verwundert, dass hier kein grünlicher Schimmer in der Luft hing wie sonst in Koksam. War das über dem Dom nicht genauso? Er wollte es bei nächster Gelegenheit prüfen. Er lachte innerlich, als ihm einfiel, dass hier und im Dom ein Weihbischof war, als Kopie bzw. als Person.

Als sie noch dabei waren, die seltsamen Räume eingehend zu besichtigen, wurden sie von den Polizisten unterbrochen, die mit einer sorgenvoll dreinschauenden Person die Treppe herunterkamen. Die große und ziemlich magere Frau schien nach ihrem Gesichtsausdruck grässliche Vorahnungen zu haben, sie blickte, als ob sie auf der Hut sei. Sie schien ungelenk, hatte pechschwarze Haare und längliche Narben im Gesicht. Entfernt erinnerte die Frau an eine Untote in einem Horror-Movie. Kurz: Sie war ausgesprochen hässlich und sah wie verpfuscht aus. »Ihr Name?«, fragte der Kommissar. Sie rang um Fassung und schwieg. »Okay, wo waren Sie zur Tatzeit?«, fuhr der Kommissar fort, ohne ihre Antwort noch länger abzuwarten. Sie versuchte mit tiefer Stimme zu beschwichtigen: »Bitte bleiben Sie ruhig. Jemand hat die Ess-Puppe hier abgelegt. Ich habe damit nichts zu tun. Es ist auch unwichtig.« – »Sie haben also kein Alibi? Kommen Sie, seien Sie lieb: Etwas werden Sie doch wissen, oder?«

Die Frau reagierte sehr nervös, rieb sich kreisend die Hände und seufzte etwas gekünstelt. Sie schien Zeit gewinnen zu wollen. Alle warteten schweigend, der Kommissar in gewollt ungeduldiger Pose. Schließlich richtete sie sich auf, sie schien sich mit ihrer Lage abgefunden zu haben. Sie wirkte jetzt gefasst und kampfbereit. »Na also«, nickte der Kommissar und zückte sein Smartphone zur Notiz. »Name?« Sie antwortete: »Herma Blücher.«

Da rutschte dem Kommissar ein herzliches Lachen heraus. Er winkte bei seinem Lachanfall den anderen entschuldigend zu, gluckste aber weiter. Succsy erinnerte sich sofort an die hässlich-herrische Frau Blücher in dem alten Film Frankenstein Junior und lachte deshalb herzlich mit, obwohl das ausgesprochen unhöflich war. »Blücher, soso«, grinste der Kommissar heiter, obwohl beim Lachen schwere Schmerzen durch seinen Körper zuckten. Ihm war während seiner Krankheit gerade ein glücklicher Moment geschenkt worden.

Als sich alle beruhigt hatten, scannte er den Ausweis der Frau und fragte unerbittlich nach ihrem Alibi, was Frau Blücher unruhig machte. Ihr Mangel an Souveränität und ihr Stottern ließen klar vermuten, dass etwas nicht stimmte.

»Wenn Sie nicht aussagen wollen, warum haben Sie uns dann gerufen?« – »Ich? Ich doch nicht! Nein, die Polizei kam selbst. Irgendwer muss sie gerufen haben!« – »Leute«, wandte sich der Kommissar an die Polizisten, »wer hat euch hergebeten?« Eine Streife sei wohl Zeuge gewesen und habe den Einsatz angefordert. »Dann will ich die Namen dieser Kollegen haben. Finden Sie es heraus.«

Quergang fragte weiter: »Da sind Pfeile auf dem Fußboden. Sie zeigen von der Puppe weg zu dem Treppenaufgang Ihrer Wohnung. Sollen wir das als Hinweis interpretieren, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben?« Blücher wurde immer unruhiger, Quergang beobachtete sie genau. Dann zeterte die Frau los: »Geht doch weg, haut ab! Es ist nichts los! Ich zeige doch niemanden an! Es hat jemand Scheiben zertrümmert. Weiter nichts! Ich will hier keine Polizei! Raus, verdammt, ich hole meinen Anwalt!« Sie stutzte. »Ja, stimmt«, sagte sie wie erstaunt über sich selbst, dass sie nicht gleich daran gedacht hatte. »Ich hole meinen Anwalt.« Sie schnaufte, aber Quergang ließ nicht locker: »Mir fällt auf, dass die grünen Pfeile unversehrt, aber die weißen vorne etwas verwischt sind. Sie wurden neu gezeichnet. Was sagen Sie dazu?« Blücher bekam einen neuen Angstschub, sie schaute zu den beiden Polizisten hinüber. Die lächelten verlegen und einer sagte: »Na, sie hat versucht, die weißen Pfeile wegzuwischen, das geht ja nicht. Wir haben sie ermahnt.« – »Und das erfahre ich erst jetzt?« – »Wir dachten uns nichts dabei, sie ist doch bestimmt unschuldig und kann nichts für den Einbruch.«

Quergang atmete tief durch und unterdrückte seinen Unwillen. »Und dann habt ihr die Pfeilspitzen wieder nachgemalt?« – »Nein, das war sie, wahrscheinlich über Nacht, als wir nicht hier waren. Daran waren wir nicht beteiligt.«

Quergang und Succsy schauten Frau Blücher schweigend an. Die aber schien von Angst geschüttelt. »Ich war es auch nicht!« Succsy hatte nun Mitleid mit ihr. »Ist doch keine Staatsaffäre, wer war es denn sonst?« – Frau Blücher rang mit den Händen. »Das ist doch das Problem, ich war es nicht, das macht mir Angst. Hier geschieht etwas, ich … ich … irgendwer scheint mir drohen zu wollen, meine ich.« – »Damit sagen Sie also, dass die Einbrecher wiedergekommen sind und die Pfeile nachgebessert haben?« Betretenes Schweigen.

»Gut«, fuhr Quergang fort, »dann nehmen wir Materialproben von den Kreideenden der Pfeile und von den Spitzen. Wir lassen analysieren, ob es dieselbe Kreide war, einverstanden?« Und zu den Polizisten gewandt: »Ich möchte alle verfügbaren Daten über Frau Blücher. Beruf, Stellung, Vermieter, Einkommen, was Sie so finden.« Blücher erstarrte. »Das ist erlaubt? Stehe ich unter Verdacht?« Succsy schaute verwundert; es war natürlich nicht erlaubt, sondern ein unerlaubter Bluff des Kommissars. Sie intervenierte: »Wir schauen erst einmal auf die Analyseergebnisse. Wenn dann noch ein Verdacht besteht, melden wir uns. Keine Sorge, wir schnüffeln nicht leichtfertig herum.«

Der Kommissar nickte Succsy zustimmend zu, sie waren fürs Erste fertig.

Draußen an der Tür schlug er Succsy vor, irgendwo einen Kaffee zu trinken. »Und Sie geben Ihren Einstand und bezahlen?« Natürlich war Succsy dazu bereit. Sie fuhren zum Kaffeehaus Einstein. Nachdem sie bestellt hatten, versank Quergang fast augenblicklich in tiefes Nachdenken. Er saß merkwürdig lange starr da und blickte in den rauschenden Regen. Succsy beschloss, das auszuhalten, solange es dauern würde. Sie öffnete noch ein zweites Fläschchen Granderwasser. Dazu machte sie einige Atemübungen. Kurz schaute sie in einen Taschenschminkspiegel und wartete, selbst in Gedanken versunken.

Sollte sie Quergang aufklären? Ihm ihr Vorwissen mitteilen?

Die Voodoo-Puppe lag offenbar in dem Haus, in dem man ursprünglich die Geheimnisse reinen Granderwassers erforscht hatte. Es musste dieses Haus sein! Das schloss sie aus den Zetteln an den Wänden und den Altären. Ja, dachte sie aufgeregt, das wird genau dieses sagenumwobene Institut gewesen sein, von dem in der Aquaphilogy erzählt wurde, wenn man Erinnerungen austauschte. Hier hatte wohl die Aquaphilogy-Gesellschaft ihren Anfang genommen, als sie noch ein Kind war. Sie wusste vom Hörensagen, dass ein Inder namens Praani Sangh vor vielen Jahren in diesem Haus, das nun Frau Blücher hütete, mit neuartigen Therapien experimentiert hatte, die sich auf Hahnemanns Homöopathie gründeten. Succsy begann zu ahnen, worin ihr Auftrag bestand. Die Aquaphilogy war stark beunruhigt, dass Koksa viel stärker wirkte als reinstes Granderwasser, auch wenn es den Nachteil der Sucht mit sich brachte; Koksa hob indes nicht empor wie das Granderwasser höherer Reinheitsstufen, das Succsy als Auserwählte trinken durfte. War sie vom Generalstaatsanwalt geschickt worden, hinter ein Geheimnis zu kommen? Wäre es in diesem Sinne gut, Quergang in ihr Wissen rund um die Aquaphilogy einzuweihen, auch wenn sie nicht viel wusste? Sie beschloss, den Generalstaatsanwalt bei ihren mündlichen Zwischenberichten um Weisungen zu bitten.

Quergang wiederum dachte nach, warum dieser Fall überhaupt so wichtig war, dass man ihn dafür extra reaktiviert hatte. Und warum hatten sie ihm Frau Suckade beigestellt? Warum zeigten weiße Pfeile auf die Treppe zur Wohnung von Frau Blücher? Und warum waren die ersten Pfeile grün? Waren die Polizeifahrzeuge nur zufällig wie zur Beobachtung vorbeigekommen? Warum hatte Frau Blücher den Einbruch nicht der Polizei gemeldet? Was machte sie an dieser seltsamen Stätte? Wollte jemand auf etwas aufmerksam machen? Wenn der Einbrecher ein Feind des Weihbischofs war, warum dann die Pfeile?

Schließlich räusperte sich Quergang, trank seinen inzwischen kalten Café Crème auf ex und schaute seine Begleiterin an. »Ich kombiniere … oder besser, ich überlege, warum ich diesen seltsamen Fall bearbeiten soll. Normalerweise wird so ein Quatsch gar nicht betrachtet oder nach kurzer Sichtung mit einem knappen Protokoll eingestellt. Man fragt den Weihbischof, ob er die Puppe gerne vergoldet in seine Reliquienkammer aufnehmen will. Oder ob er lieber eine frische zum Essen bestellen möchte – was weiß ich! Hat er Feinde, die seinen Tod wünschen? Nein? Das war’s dann aber auch. Es muss doch für irgendwen da ganz oben wichtig sein, oder? Das würde erklären, warum Sie auf mich aufpassen sollen. Habe ich Recht?« – »Ich soll eine Hausarbeit schreiben und Sie deshalb begleiten. Ist das so ungewöhnlich?«, wehrte Succsy ab. Doch Quergang blieb dabei: »Allerdings. Deshalb meine Frage: Wenn ich Sie in meine Gedanken einweihe, petzen Sie das sofort nach oben? Ich habe gesehen, dass Sie sich ständig etwas auf dem Phone notieren. Ist dieser Knabe, Staatsanwalt Stahl, über WhatsApp immer mit uns verbunden? Oder sogar der Generalstaatsanwalt?«