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Glück - ein unvollkommen Wort für das, was uns geschah! Alles war es, und alles wird es weiter sein …
Das E-Book Anne LebensLiebe wird angeboten von Engelsdorfer Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Liebe, Ehe, Glück
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Malte Kerber
Anne
LebensLiebe
Eine Collage
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2021
Foto Umschlagseite
Anne Kerber
70. Geburtstag
Copyright by malte kerber
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar: >>http://dnb.de<<
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
>>www.engelsdorfer-verlag.de<<
Alle Rechte beim Autor.
Hinweise Gestaltung, Werkangaben, Vertrieb
Seite 12 ff., Seite 237 ff., Seite 332
Anne
… bis der Tod uns nicht scheidet.
Cover
Titel
Impressum
Das Bild für ein Lebensthema
Zum Grundmotiv
Zum Collage-Begriff
Zur grafisch-typografischen Gestaltung
Prolog
Das verborgene Wort
Postkartengrüße
Briefe – Liebesleid und Liebesfreud´
Liebesnotizen
Schmerzensbuch. Tagebuch Anne
Letzte Wanderung. Tagebuch Malte
Die Urkunde
Die Nachricht
So kommt zum Traurigbaum!
Wie wir den Traurigbaum fanden
Abschied mit einem Lächeln
Zum Programm
Lebensdaten Anne Kerber
Worte zum Abschied
Lied und Gedicht zur Erinnerung
Noch einmal ein Weg gemeinsam
Dank für die Begleitung
Tröstliche Sätze
Hans Ostrinski
Wanda Mönnig
Wolfgang Pomrehn
Gisela Weckert
Franz Sykora
Klaus Rähm
Gisela Thorneycroft
Dr. W. Meier
Claudia Irrgang
Karin Lefke
Gisela Kiekeben
Rita Berger
Hannel.Penndorf
W. u. H-P. Wokittel
Katrin Mocker
Luise Krause
Matthias Mehner
Jutta u. Uli Benedix
Eva u. Fritz Alm
Ros´ Pelzner
Christel Busse
Duygu Hidoroglu
Uschi u. Rolf Vortanz
B. Fahrendorf
S. u. H. Gemmer
Helga u. Peter Kühne
Dorothea Pilz
A.,H.,P. Plaumann
Jessica Voigt
Ilona Hofmann
Gerda Otto
Dr. S. Marten
Algisa Peschel
Karola Elßner
Nach(t)gedanken
Schlafloses Schlafen
Sätze mit Widerhaken
Alles richtig gemacht?
Wut
Das Ende herbeiwünschen?
Lebensentscheidung
Der letzte Abschied?
Gehst mir nicht aus den Augen
Wie eine Geburt
Zieh mit mir hinaus
Rucksackgedichte
Vorweg-Gedanken
Die Gedichte
Verlust
Dein Lächeln
Demenz
allein
Die alten Lieder
Zerspringt das Herz
Alles hat seine Zeit
Letzte Fragen
noch immer
zweisamkeit
friedhofsstille
Der Schritte Klang
Zustand
depression
Albträume
einsam
Einsames Erinnern
Der Tränenbrunnen
Immer für die Liebste
Bitte um Verzeihung
Was bleibt
Schmerzverirrungen
himmeltief
Lied und Gedicht an verschiedenem Ort
Minnelied
Fünf-Minuten-Abschiedsgedicht
Gedicht für Oma
Die Urkunde
Am Ziel
An der Saale hellem Strande
Helle Wasser, dunkle Wälder
Es dunkelt schon in der Heiden
Liebesbrief eines Alten
Alles was schön war
Gipfelglück
O Danny Boy
Das Torffeuer
Der Traum auf der Insel
Always by the ocean
Eine irische Nacht
Vom verborgenen Wort zum Buch
Epilog
Hintergründe
Die Großen Wanderungen
Erklärungshilfen/Endnoten
Veröffentlichungen Malte Kerber
Werkhinweise: Gestaltung, Vertrieb, Nutzung
Angaben zum Autor
Bis der Tod uns nicht scheidet … unsere Liebe wird über den Tod hinaus währen! Wohl niemand kann das am Anfang einer Liebe sicher behaupten. Dauert aber eine Liebe über die Zeiten bis zum letzten gemeinsam gelebten Augenblick, dann kann diese Aussage für die Liebenden zur unumstößlichen Wahrheit geworden sein.
Anne ist die LebensLiebe des Autors. Mit dem Grundmotiv griff er auf die Verwendung dieses sprachlichen Bilds in der Kirche bzw. im religiösen Bereich zurück. Dort heißt es: Bis der Tod euch scheidet. Das fordert nach alter Auffassung: Durch die Eheschließung sei die Frau gesetzlich und von Gott gefordert bis zum Tode des Mannes an diesen gebunden.
In der modernen Gesellschaft hat diese Aussage nicht mehr die ehemals fundamentale Bedeutung. Sie wird aber im Sprachgebrauch bzw. im Zusammenhang mit der Eheschließung häufig als ein erstrebenswerter Anspruch an die Liebe zweier Menschen genannt. Der Autor verabsolutiert das Liebesversprechen, indem er formuliert: Bis der Tod uns nicht scheidet. Er meint: Die LebenLiebe wird über den Tod hinaus andauern und ewig währen. Wie auch immer diese Ewigkeit gedeutet wird.
Es sei erwähnt, dass der Autor durch ein für ihn lange zurückliegendes künstlerisches Erlebnis zur Weiterführung des Gedankens über die anzustrebende Dauer einer Liebe angeregt worden ist. Dann nachfolgend durch eine erlebte
LebensLiebe, worüber noch zu berichten sein wird. Er sah im Sommer 1980 einen der wirkungsvollsten DDR-Spiel-filme. Der Titel: „Bis dass der Tod euch scheidet“. Der Film wurde 1979 im DEFA-Studio für Spielfilme in Babelsberg1* produziert. Günther Rücker2 schrieb gemeinsam mit dem Regisseur Heiner Carow3 das Drehbuch über eine junge Ehe im sozialistischen Deutschland. Ein authentischer Fall lieferte die Vorlage. Die anrührende Geschichte und die Starbesetzung führten zu einem außergewöhnlich großem Publikumserfolg. In der Öffentlichkeit, in der Presse und von offiziellen Stellen aber wurde der Film sehr kontrovers eingeschätzt und diskutiert.
Die Collage wird in der bildenden Kunst als eine besondere Gestaltungstechnik genutzt. Sie brachte unter anderem im Surrealismus, Kubismus, Dadaismus, in der Pop Art bedeutende Werke hervor. Auch in der Musik und in der Literatur ist die Collage eine äußerst produktive Möglichkeit des künstlerischen Schaffens.
Der Autor setzt sich in seinem Buch mit einem Stoff von großer Emotionalität auseinander. Er suchte folglich nach einer Darstellungsform, die dem Spannungsfeld „tiefste persönliche Berührung – große Sachlichkeit“ entspricht. Er versucht, den daraus resultierenden Ansprüchen mit der Technik der literarischen Montage/Collage gerecht zu werden: Zusammenfügen unterschiedlicher Textformen, wechselnde Erzählpositionen, verschiedener Prosa- und Lyrikformen, Einführung von Dokumenten/originalen Zeugnissen u. a. m.
Eine LebensLiebe zwischen Leben und Tod, welcher literarische Stoff könnte anspruchsvoller sein! Erzählt wird im vorliegenden Bericht in Collage-Form. Der Autor wagte sich nicht nur als Erzählender und Betroffener an die Sinn-Frage heran, was denn eine Lebensliebe sei, ob und wann diese endet. Zugleich wollte er auch dem aufgeschriebenen und schließlich gedruckten Text ein ihm eigenes Bild geben. Fühlte er sich doch auf das engste mit der zu erzählenden Geschichte verbunden. Dem versuchte er bei der Bearbeitung und Formatierung des Textes gerecht zu werden. Vor allem war es seine Absicht, sich von der äußeren Form her dem Erzählten weitgehend anzunähern und dem Gefühlten zu entsprechen. Dabei sollte der gestalterische Aufwand „im Rahmen“ bleiben. Auch deshalb verzichtete er auf den Einsatz weiterer Farben im Innenteil des Buches. Ausgenutzt werden sollten vor allen die Möglichkeiten, die das „normale“ Textverarbeitungsprogramm von Hause aus bietet.
Die genannten Prämissen betrafen unter anderem: die Auswahl der Brotschrift4, die Gliederung des Textes, die Gestaltung des Satzspiegels5, des Kolumnentitels6 und der Seitenziffern. In diesem Zusammenhang soll auch aufmerksam gemacht werden auf die grafisch-typografische Gestaltung der Rucksackgedichte. Siehe: Rucksackgedichte. Vorweg-Gedanken. Seite: 238.
Wer das aus tiefstem Herzen feststellen kann, der darf sich glücklich schätzen. Wer am Anfang einer Liebesgeschichte so überzeugt empfindet und zu wissen glaubt, der kann sich aber noch nicht sicher sein, ob die Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen sich erfüllen werden, die mit dem Liebesbeginn verbunden sind. Da muss sich die Liebe als gelebte Lebens-Liebe erst noch beweisen. Die Zeiten und der Lauf des Lebens warten mit ihren Prüfungen.
Wer das sagen darf, wenn die Liebe über die Jahre hinweg bestanden hat, der darf sich unendlich glücklich schätzen. Unendlich! Sein Urteil hat die Beweiskraft einer gelebten Liebe. Besitzt er doch außerdem zum Zeitpunkt der SPÄTEN LIEBe einen reicheren Urteilsschatz als zum Zeitpunkt seiner JUNGEN LIEBE. Er kann den Anfang und das Ende der gemeinsam erlebten und gelebten Liebe vergleichen. Kann auch sehen und abwägen, wie andere Paare ihre Liebe erleben oder eben nicht.
Aber irgendwann findet auch die LebensLiebe ein Ende. Oft weil das Leben an einem bestimmten Punkt eben nicht mehr gemeinsam gelebt und geliebt werden kann. Sie findet ihr Ende, was sich meist für die nunmehr Verwaisten als ein Unglück darstellt. Seltener als eine Erleichterung oder Befreiung.
Eine Liebe kann aber auch ihr Ende finden, wenn denn einer der Liebenden von der Welt gehen muss. Krankheit, Unfall, Unglück, Katastrophe oder auch das Alter können dem Leben und der Liebe ein körperliches Ende setzen. Der geliebte Mensch ist nicht mehr da. Nicht mehr fassbar. Unfassbar!
Was bleibt uns, die wir die LebensLiebe verloren? Was geschieht, wenn im „Buch der Liebe“, welches man gemeinsam schrieb, wenn darin das letzte Lebenskapitel endet? Wenn im ewigen Lauf der Dinge das Herz des geliebten Menschen aufhört zu schlagen? Wenn es an der Zeit war zu gehen, wie allgemeinläufig gesagt wird. Tröstend gemeint, aber schmerzhaft für den, der zurückbleibt.
Ach, „Ännchen von Tharau“7, der Dichter, der dir diese schöne Zeile schrieb, er meinte sich und sprach doch für alle Liebenden, die sich lieben wollten für immer, bis dass der Tod uns scheidet. Für alle Liebenden, die sich lieben wollten ewig! Was bleibt? Wenn das Leben und der Tod anders entschieden? Nur noch die Erinnerung? Was ist sie denn wert, die Erinnerung?
Ich verlor meine LebensLiebe. Verlor ich sie? Dieses Buch ist ein Versuch, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Ich fürchte: Das wird mir allgemeingültig nicht gelingen!
Malte Kerber
Berlin, 09.04.2020
DAS – VERBORGENE – WORT. In diesen drei Worten schwingt Poesie. Was ist das für ein Wort, das da verborgen bleiben soll und doch leise fordernd ans Licht geholt werden möchte? Worte sind Ausgangspunkte von Geschichten, die erzählt und die aufgeschrieben werden wollen. Sie klopfen darum immer wieder fordernd an die Tür des dichtenden Aufschreibers.
„Das verborgene Wort“ ist der Titel des zweiten Romans der Lyrikerin und Schriftstellerin Ulla Hahn 8. Anne und ich, wir lasen ihn und unterhielten uns über das Schicksal der Hauptfigur Hilla Palm. Meine LebensLiebste hatte Ähnlichkeiten zwischen deren und ihrem Leben entdeckt. Sie ergänzte die genannten Worte mit zwei weiteren, es entstand ein Satz:
Was für ein schöner Gedanke! Er drückte sehr intim etwas Allgemeines über die Liebe und etwas Wesentliches über die Persönlichkeit meiner Frau aus. Liebesworte sind tatsäch-lich häufig verborgene Wort. Diese sollten aber aus-gesprochen werden. Nicht zu früh, vor allem nicht zu spät! Und Liebeworte warten auch darauf, aufgeschrieben zu werden. Das ist noch wichtiger, als sie nur auszusprechen! Was auf dem Papier steht, das hat etwas Gültiges. Es steht dort schwarz auf weiß. Oder auch Farbe auf Farbe, je nach Phantasie. Es steht dort, kann wiederholt gelesen werden. Die Liebe zwischen Anne und mir begann etwa 1983. Drei Jahre später heirateten wir. Von Anfang an schrieben wir uns. Holten auch die verborgenen Worte aus unserem Gedanken und machten sie dem anderen lesbar. Das war oft nicht einfach. Kleine Notizen füreinander, Postkarten und die langen Briefe gehörten zu unserem Alltag und zu unseren Festtagen. Beide mussten wir uns aus schwierigsten persönlichen Verhältnissen heraus- und zueinander finden. Dabei half uns das Aufschreiben für den anderen. Dieses Aufeinander-zu-Schreiben hatte auch einen ganz praktischen Grund. Wir lebten in getrennten Wohnungen und hatten über die Woche meist keine Zeit füreinander. Verstärkt wurden unsere Schwierigkeiten auch durch die komplizierter werdenden gesellschaftlichen Verhältnisse Mitte der 80er Jahre in der DDR. Sie berührten fast alle Bürger und Familien ganz direkt.
Im Zentrum des kleineren deutschen Landes, in Berlin, erlebten wir, Anne und ich, in dieser Zeit die Krise und das Zusammenfallen einer Gesellschaft, die ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht wurde und wohl nicht werden konnte. Das hatte auch für uns persönliche, familiäre, berufliche, kulturelle, soziale und manch andere Konsequenzen. Es ging auch bei uns um sehr existentielle Fragen.
Da unterschieden wir uns nicht von den meisten Menschen in der DDR. Unser Staat hatte sich ausgelebt oder verlebt. Wir wurden ebenfalls hineingeworfen in für uns völlig neue Lebensverhältnisse. Einschneidendes musste sich auch in unserem Denken und Fühlen verändern. Wir halfen uns, wo wir nur konnten, hätten manches allein wohl nicht bewältigt. Da spielte eben auch das Aufschreiben der „verborgenen Worte“ des einen für den anderen eine große Rolle. Anne sammelte, unbemerkt vor mir, solche schriftlichen Zeugnisse unseres Gedankenaustauschs. Sie schenkte mir Jahre später einen von ihr schön gestalteten dicken Hefter, darin Postkarten, Briefe und Liebesnotizen aus den Jahren 1984 – 2001. Die Titelseite schmückte sie mit einer kleinen Klebearbeit zum erwähnten Motto.
Diese sechzehn Wende-Jahre waren für Anne und mich und für unser gemeinsames Leben ganz entscheidende Jahre. Nach 1989 bis zum Anfang des neuen Jahrhunderts hatte sich für uns alles, alles verändert. Und auch wir veränderten uns, ohne uns zu verbiegen. Vieles Wertvolle aus unserer Vergangenheit nahmen wir in die vor uns liegenden Jahre mit. Unsere Liebe aber war uns trotz aller Veränderungen zu einer gelebten LebensLiebe gewachsen. Sie trug uns gemeinsam in eine andere für uns neue Zeit, im weiteren und ganz persönlichem Sinne.
In ihrem „Liebes-Sammelsurium“, wie Anne den Hefter nannte, hatte sie auch Postkarten aufbewahrt, die ich ihr aus verschiedenem Anlass geschrieben und geschickt hatte. Darunter einen kompletten zusammenhängenden Satz, welcher aus dem Frühjahr 1985 stammt. Wir hatten in diesem Jahr damit zu kämpfen, für uns beide einen neuen Lebensweg zu finden. Genauer: Überhaupt erst einmal einen neuen Startpunkt zu bestimmen.
Wir wussten zum Beispiel noch nicht, wie und wo wir zusammenleben konnten. Es ging schlicht und einfach und doch so schwerwiegend für uns erst einmal um eine Wohnung, in der wir gemeinsam leben konnten. Dann die große Frage: Wie geht es weiter mit der DDR? Die Entwicklung im Lande bröselte vor sich hin. Ich hatte mich in meiner beruflichen und politischen Tätigkeit mit immer komplizierter werdenden Bedingungen auseinanderzusetzen. Im Frühjahr erhielt ich dann auch noch einen besonderen journalistischen Arbeitsauftrag. Für mich eine sehr reizvolle Aufgabe. Aber er machte alles für uns beide nicht leichter! Ich musste für mehrere Wochen eine Reportagereise antreten.
Der Anlass: Am 8. Mai 1985 jährte sich der 40. Jahrestag der Kapitulation der faschistischen Wehrmacht, der deutsche Faschismus war im Frühjahr 1945 zerschlagen worden, die Kämpfe in Europa zu Ende. In der DDR und den anderen sozialistischen Staaten feierte man den 8. Mai als „Tag der Befreiung“. 1985 – das war ein runder Jahrestag! Aus diesem Anlass fand eine Internationale Autorallye statt. Auf den „Spuren des Sieges“, so ihr Motto, führte sie von Moskau durch alle sozialistischen europäischen Länder. Ich sollte die Tour als Journalist begleiten und darüber berichten.
Anfang April starteten wir in Berlin, um nach Moskau zum scharfen Start zu fahren. Ich saß mit meinem Freund und Journalisten-Kollegen Hartmut Nehring von der „Jungen Welt“9 in einem der vier Autos der DDR-Delegation. Das war für uns ein besonderer und interessanter Auftrag. Er führte uns über Tausende von Kilometern durch ganz Ost-europa. Hochinteressant und erlebnisreich die Fahrt! Aber: Ich war auch vier Wochen von meiner Liebsten getrennt. Während einer für unser gemeinsames Leben komplizierten persönlichen Situation. Vieles war für uns noch ungeklärt.
Die Reportagereise gestaltete sich ausgesprochen anstrengend und zeitintensiv. An das Schreiben von Briefen war gar nicht zu denken. Deshalb schickte ich Anne von jedem Etappenort eine Postkarte. Meine Liebste sammelte diese und bewahrte sie in ihrer Sammelsurium-Mappe auf.
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Den ersten Fahrtag geschafft. Wetter trüb! Alles noch normal!
Bin sehr müde. Morgen geht es bei Brest über die Grenze in die Sowjetunion … Werden uns mit dem Fahren abwechseln.
2 x Zeitverschiebung. Komme mit dem Schlafen durcheinander.
Denke an dich! Gruß und Kuss!
Dein Julius
Anne-Maus, Mitternacht ist vorbei. Wir bereiten uns zum Schlafen vor. Heute eine wilde Fahrt von Warschau über Brest nach Minsk … Brest – traurige Erinnerungen an den 20./21. Juni 1941. Ließen das Herz weinen.
„Lasst das Leben leben!“
sagte uns die Dolmetscherin zum Abschied …
Während der folgenden Fahrt konnten wir schon Russlands Weiten erahnen. Belorussland zeigte uns seine Wälder und Sümpfe. Felix Scheffler.10, Konteradmiral a.D., 70er Jahrgang, Mitglied unserer Truppe, ein sehr bescheidener alter Genosse.
Hat hier als Aufklärer bei den russischen Partisanen gekämpft.
Schwer vorstellbar, man kann nur Achtung empfinden.
Habe meine Fernbrille verbummelt! Hmmm…
Bin sehr müde. Gute Nacht!
Malte
Hallo, Anne-Maus, ich sitze schon im Auto. Gleich ist scharfer Start. Die Tour beginnt offiziell. Bin noch gesund! Nach wie vor sehr unausgeschlafen.
Gestern Abend: „Auf die Freundschaft!“ Wodki! Wodki!
Journalistisch hat die Sache noch nicht viel gebracht.
Denke an dich!
Dein Julius
Zwei sehr erlebnisreiche Tage. Die Menschen, die Kinder, die Frauen! Das Herz geht einem auf! Alle sprechen nur vom Frieden! Ich denke viel an dich! Viele schöne Erlebnisse möchte ich mit dir noch haben!
Malte
Waren weit im Moldawischem Land.
Auf der Rückfahrt von einem Friedensmeeting. Herzbewegend! … Wir müssen noch viele schöne Erlebnisse haben! Die Zeit drängt!
Malte
Bei der Fahrt durch das Land so viel schöne Erinnerungen an Wandertouren! O, da könnten wir gemeinsam noch manche Bergpfade gehen! Budet, budet11 – es wird!
Übrigens: Ich bin eigentlich ganz verträglich – meistens! …
Du auch – meistens! Finde ich! …
Gruß und Kuss - dein Julius
Anne, Liebste, „Guten Morgen!“ vom Morgenmuffel-Malte!
Heute ausgeschlafen. Denke an dich! (Wird gar nicht langweilig!)
Es schneit! Baumblüte, Puszta, Schnee?
Freue mich auf Berlin! Plane mal schon die Wochenenden!
Es wird Frühling sein! Gleich geht´s weiter!
Gruß und Kuss von Julius
Gruß aus der Donaumetropole. Gestern hatte ich ein kleines Tief!
Ständig so viele Menschen um mich herum, die laute Musik, das unmäßige Protokoll-Essen, das ständige Sitzen im Auto.
In der Truppe heute Vormittag Aufregung. Schnelles Einkaufen ist angesagt. Budapest mit seinem erstaunlichen Angebot! Alle sind gierig. Du bist mit einem Andenken dran! Weiß aber noch nicht, was es sein wird. Du freust dich aber auch so, wenn ich wieder bei dir bin. Weiß ich doch …
Malte
Soeben angekommen. Sehr schlechtes Wetter. Werden wieder nicht viel von der Stadt sehen – zu viel Offizielles! Leider auch keine Möglichkeit zum Einkaufen, da Feiertag. Schade!
Ansonsten bin ich froh, dass es dem Ende zugeht.
Denke noch immer an dich! …
Gestern in Budapest schlechte Organisation. Schade!
Anne: Ich habe zugenommen! Ist mir das peinlich! …
Bist du gesund? Denke an dich, nicht nur an mich!
Malte
Guten Morgen, Anne! Obwohl ich glaube, dass du die Karte erst bekommst, wenn ich wieder in Berlin bin – ein Morgengruß aus der Goldenen Stadt an der Moldau!
So ist es mir wohler vor der Weiterfahrt!
Heute in Prag Teilnahme an der Demonstration zum 1. Mai.
In einer guten Woche sind wir wieder in Berlin. Dann noch zwei anstrengende Tage mit dem offiziellen Programm. Dann endlich wieder ein Wochenende in Ruhe und mit dir. Vor dem Besuch meines Vaters im Krankenhaus habe ich Angst …
Liebe Anne: Auch wenn ich mich wiederhole: Ich freue mich auf dich! Wie ist es mir dir? …
Ich möchte wieder mal ins Theater gehen! An die frische Luft zieht es mich auch! Und anderes möchte ich auch!
Gleich starten wir … Heute Abend sind wir dann schon in der Niederen Tatra – dort wo wir beide schon mal gewandert sind … über das Gebirge! Deine erste Bergtour. Hast dich damals sehr gut gehalten! War das romantisch! Leider alles zu kurz!
Malte
Im Auto. Kurz vor Brno. Kalt! Verdreckt! Müde! In einer Woche in Berlin. Denke an dich! Heute früh Niedere Tatra. Schnee!
Wo ist der Frühling? Meiner liegt hinter mir. Der Frühherbst ist auch eine schöne Jahreszeit! Vielleicht sogar schöner als der Frühling. Ich komme wieder – in einer Woche. Alles andere dann direkt.
Im Moment 180 km/h nach langer Bummelei. O je, das schottert!
Bis jetzt hatten wir mit unserem Wagen noch keine Panne bzw.
noch keinen Bumms! Nur eine Seitenscheibe ging mal zu Bruch!
Malte
Liebe Anne, nun endgültig die letzte Karte von unserer Tour.
Wenn du sie bekommst, werde ich sicher schon zu Hause und bei dir sein! Wir werden miteinander gesprochen haben – und anderes.
Ich schreibe noch unordentlicher als sonst, da ich im Bett liege – wieder mit vollem Bauch und leicht betrunken.
Durch Polen, das waren vielleicht die schönsten Kilometer.
Vieles ging mir sehr zum Herzen. Einige Male kamen mir die Tränen… auch von daher war vieles sehr anstrengend.
Also dann, gute Nacht – bis du wieder bei mir einschläfst.
Malte
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Am 08. Mai des Traditionsjahres 1985 waren wir wieder beisammen, Anne und ich. Nachfolgend hatte ich noch viel zu tun, die erlebnisreiche Reportagereise war auszuwerten. Das Fotomaterial musste aufbereitet werden. Ich hatte sehr viel fotografiert. Dann musste ich noch meine Reportagen für „S + T“12 und „konkret“13 schreiben.
Zugleich ging es mit Kopfsprung wieder hinein in die journalistisch-redaktionelle Herausgebertätigkeit. Vieles war für das Arbeiten und Leben in der DDR noch komplizierter geworden. Durch meine vierwöchige „Reise-Pause“ und Abwesenheit spürte ich das noch deutlicher. Die Stimmung im Lande hatte sich weiter verändert, alles und alle waren unruhiger geworden. Alles, wirklich alles war in Frage gestellt. Die Unzufriedenheit der Menschen hatte deutlich zugenommen, sicht- und hörbar. Anne und ich, auch wir hatten uns damit auseinanderzusetzen. In unseren Familien und vor allem in der täglichen Berufsarbeit. Sie in einem Parteiverlag für Anschauungsmittel als Chefsekretärin und ich als Leiter der Verlagsgruppe der Gesellschaft für Sport und Technik14. Dort war ich verantwortlich für die Herausgabe von sechs Zeitschriften und anderen Publikationen. Stand auch in Verantwortung für Journalisten, für redaktionelle Mitarbeiter, Sekretärinnen. Diese „Truppe“, dieses Kollektiv, dieses Team, wie man es auch immer nennen will, war journalistisch außerordentlich leistungsfähig.
Doch auch hier wurden die Fragen zunehmend drängender. Auch in unserer Arbeit wurden die Widersprüche der gesamtgesellschaftlichen Schieflage immer spürbarer. Auch hier blieben grundlegende Antworten aus. In den Redaktionen wuchs die Unzufriedenheit. Das Spannungsfeld, in dem ich handeln musste, wurde unübersichtlicher, diffuser, immer einschränkender. Da half mir auch nicht die Black-Box-Theorie, mit der ich mich während der Arbeit an meiner Dissertation so intensiv beschäftigt hatte. Mein großes Thema von Anfang des 70er Jahre war auf einmal lebendig geworden. Mit der Effizienz politischer Systeme in der sozialistischen Gesellschaft aus kybernetischer Sicht hatte ich mich beschäftigt.
Für Anne und mich wuchsen die Widersprüche und Sorgen in unseren Familien. Diese standen durchaus auch im Zusammenhang mit der Zukunft des Landes und damit ebenfalls mit unserer Zukunft. Der Älteste von Anne hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Mein Ältester aus erster Ehe wurde immer unsicherer. Er war Student und nachfolgend in der Aspirantur an der Theaterhochschule in Leipzig. Für unser künftiges Zusammenleben war noch Grundlegendes zu klären und zu entscheiden. Was wird mit dem Land? Was wird mit uns? So spitzte sich auch für Anne und mich Mitte der achtziger Jahre und nachfolgend die Situation zu.
Trotz aller Probleme wollten wir 1986 wieder wandern! Gemeinsam! Das war uns sehr wichtig! Eine Langstrecken-wanderung stand auf dem Programm. Wir wollten uns erstmals mit den Fahrrädern auf die längere Strecke machen. Also starteten wir im Frühsommer mit Zelt und Schlafsäcken im Wandergepäck. Eine romantische Grenzfahrt sollte es werden und wurde es nicht ganz so, wie wir uns das vorgestellt hatten.
Die Strecke:
Berlin – Hartau/Zittauer Gebirge/Neiße – Neiße-
Radwanderweg – Oder-Radwanderweg – Ostseeküste: Ahlbeck, Stralsund, Wismar – Berlin.
Ein respektabler Kanten, ohne großartige Höhenmeterzahl, aber mit viel Gegen- und Seitenwind! Anne sammelte ihre ersten Erfahrungen für diese Art des Wanderns. Sie hielt sich gut und guter Laune. Trotz einer ziemlich heftigen Schnittverletzung. Glasscherbe am Strand!
Aber wir schleppten während der Radwanderung zu viel zusätzliches Gedankengepäck mit. Die Lage im Lande außerhalb der Hauptstadt und vor Ort … Wanderfreude wollte uns nicht so richtig aufkommen. Überall war auch unterwegs zu spüren, dass in der DDR etwas ins Rutschen gekommen war.
Wir radelten die letzten Etappen von Wismar aus doch ziemlich bedrückt zurück nach Berlin. Nicht frohgestimmt wie im Finale anderer Wandertouren.
Wieder zu Hause: Sturz in den Alltag und in die Sorgen. In die großen Landessorgen, in die großen Arbeitssorgen und in die großen Sorgen mit unseren Familien. Diese betrafen die Probleme mit Annes vier Kindern an der Grenze zum Erwachsenenalter, mit meinem Sohn Jan aus erster Ehe und mit meinem Vater. Dieser ein schwerer Pflegefall – ich allein „vor Ort“ und verantwortlich!
Die Zeiten und die meisten Umstände waren uns, Anne und mir, nicht freundlich. Damit waren wir in unserer kleinen deutschen Republik wahrlich nicht allein!
Anfang 1987 war ich dann fast am Ende meiner psychischen Kräfte. Auch körperlich ging es mir nicht mehr gut, obwohl ich nach wie vor hart trainierte. Rannte und rannte, rannte Kilometer um Kilometer. Rannte neben oder weg von allen Sorgen? Zuviel? Die „Körner“ waren offensichtlich und deutlich „aufgebraucht“. Mein mich betreuender Arzt, der mir freundschaftlich verbunden war, zog einen energischen Schlussstrich! Er ließ sich auf meine Ausflüchte in Bezug auf Behandlungen und Erholungsmaßnahmen nicht mehr ein. Ließ irgendwelche Beziehungen spielen …
So landete ich Ende Mai in Warmbad/Wolkenstein15 im Erzgebirge. In einem Bergarbeitersanatorium für Wismut-Kumpel16! Ein reiner Zufall? Weiß ich bis heute nicht. Kann ich mir aber heute erklären. Damals war mir das nicht wichtig. Ich kam also nach einem recht traurigen Abschied von Anne ziemlich bedrückt in dem kleinen Kurort an. Die kräftigen urwüchsigen Kumpel, also meine Mit-Kur-Patienten, „begutachteten“ zwei/drei Tage den für ihre Maßstäbe etwas schmalen und schmächtigen Journalisten. Doktor der Philosophie obendrein! Doch fanden schnell unkompliziert zusammen. Dazu trug wesentlich bei, dass ich gut in eine Kumpel-Volleyballmannschaft hineinpasste. Flink im „Ausputzen“ der hinteren Spielfeldhälfte und Genauigkeit im „Stellen“ der Bälle für die Angriffsspieler. Das waren meine Stärken. Ich hatte ja auch über Jahre recht aktiv Volleyball gespielt. War aber für den schlagkräftigen Angriff und die gute Abwehr am Netz zu klein. Folglich spielte ich in der Regel in der zweiten Reihe auf der Position 3 – eben als „Ausputzer“.
Während langer Gespräche zwischen meinen Kurfreunden und mir kam ich zu manch neuer Einsicht über die große Lage in der DDR und über die Lage der kleinen Leute im Lande. Die Gespräche übrigens nicht nur während der Bier-runden. Diese immer mit Lachen und Spaß verknüpft und mit anerkennendem Klopfen auf die Tischplatte, wenn ein guter Witz erzählt oder ein kluger Gedanke in die Diskussion geworfen worden war.
Neben der Kurerei mit vollem Programm schrieb ich und schrieb ich Tag für Tag. Saß in meinem Einzelzimmer Nr. 6 im Pawlow-Haus17. Schrieb mir die Seele aus der Brust und den Kopf frei. Dachte nach und schrieb auf, was mir auf meinen bisherigen Lebensweg gelungen und nicht gelungen war, wie meine Bilanz mit fünfzig Lebensjahren aussah, was mit mir und meinem Land DDR vor sich ging, welche Rolle ich da spielte, wie ich mit meiner neuen Liebe und Lebens-gefährtin unser künftiges Leben gestalten könnte … Ich hielt auch fest, was ich im kleinen „Kurleben“ so beobachtete und erlebte. Nicht zuletzt schrieb ich meine Wanderberichte, streifte ich doch bei jeder Gelegenheit durch die ernst-heitere erzgebirgische Landschaft um die Zschopau. Es entstand ein fast druckreifes Manuskript. Sogar ein Titel für ein Buch hatte ich mir schon einfallen lassen.
Ob ich in der Noch-DDR dafür einen Verlag gefunden hätte? Ich hatte es nicht probiert. Andere Sorgen und Notwendigkeiten drängten auf den Herbst 89 hin.
Einen später entstandenen Plan verwirklichte ich dann ebenfalls nicht mehr. Ich hatte 2001/2002 mit folgendem Gedanken gespielt: Zwanzig Jahre nach deinen Warmbader Kurtagen, also 2007, fährst du wieder dorthin. Parallel genau zu den Daten deines 87er Aufenthaltes. Dann vollziehst du Datum für Datum und Seite für Seite das nach, was du damals dachtest, erlebtest und aufgeschrieben hattest. Zu-gleich schreibst du auf, was du während deiner zweiten Warmbader Kur denkst und erlebst. Dann stellst du beide Darstellungen nebeneinander und vergleichst die Ergebnisse deines zwiefachen Nachdenkens zu den unterschiedlichen Zeitpunkten deines Lebens. Dadurch zu einem Resümee kommend, was dir dieser Lebensnerv-Einschnitt 1989 gebracht hatte oder eben nicht. Keine schlechte Idee!
Habe ich leider, leider auch nicht geschafft, mich an solch ein Vorhaben heranzuwagen. Anderes stand auf der Tagesordnung. Schade, denke ich 33 Jahre nach meinen Kurtagen mit den Wismut Kumpel. Einen Verlag hätte ich für dieses Buchprojekt ganz sicher gefunden. Das vorliegende Buch über meine LebensLiebe und andere haben ja auch einen wirklich guten verlegerischen Betreuer erhalten!
Zu Warmbad 1987 schrieb ich nicht nur an meinem Tagebuch. Auch für meine LebensLiebste Anne war ich sehr schreibfleißig. So flogen Liebesbriefe zwischen Berlin und dem kleinen erzgebirgischen Ort an der Zschopau hin und her. Sie fanden die gewünschten Lese-Augen.
Liebesbrief altmodisch? Für mich sind sie nicht alt- und auch nicht neumodisch. Sympathie und gar Liebe wird heute fast ausschließlich mit den flinken spitzen Fingern auf das Smartphone getippt. Nur aus wenigen Worten bestehend und als Höhenpunkt der Gefühlsäußerung diese mit einem oder mehreren Smileys ergänzt. Wenn Liebesbriefe nicht zu jeder Zeit und nicht in jedem Jahrhundert geschrieben worden wären, was wäre da für ein Verlust entstanden! In der Epik, in der Lyrik und in der Dramatik! Am größten wäre aber der Verlust für die gelebte Liebe geworden. Ich formuliere bewusst etwas kategorisch: Liebe muss um der Liebenden willen ausgesprochen und auch aufgeschrieben werden!
Als ich nach ihrem endgültigen Abschied über meine LebensLiebe Anne nachdachte und schrieb, las ich nach langer Zeit wieder unsere Warmbader Briefe. Las über unsere Liebesfreud´ und über unser Liebesleid und über unser Zueinander-Finden. Dies in sehr, sehr schwierigen gesellschaftlichen Zeiten, aus denen wir uns ja nicht abkoppeln konnten und wollten. An vielen Stellen musste ich lächeln, und manchmal stiegen mir die Tränen in die Augen. Fragte ich mich auch, ob ich die Leser an meiner Freude und an meinem Schmerz, den ich einst und auch noch heute empfinde, teilnehmen lassen sollte, indem ich sie mitlesen lasse. Wenigstens auszugsweise. Entschied ich mich dafür. Stellte ich aber nicht die schönsten Stellen aus allen Briefen zusammen. Griff ich in den Stapel unserer Liebesbriefe aus dieser Zeit, zog nach dem Zufallsprinzip zwei Briefe heraus, einen von meiner Liebsten und einen von mir.
Anne Berlin, 16. Juni 1987, abends
Du! Malte, du bist es immer noch!
Habe deine Tagebuchnotizen und deinen Brief vom 11. Juni gelesen. Ich beneide dich um die Gespräche mit deinem Arzt. Da kann man ausholen, so richtig aus der Tiefe, und hat danach das Gefühl, dass einem geholfen wurde. So ginge es jedenfalls mir.
Warum fühle ich mich aber bei den von dir zitierten Sätzen so persönlich angesprochen, fast angegriffen und schuldig? Ich will das nicht! Und doch kommt es so! Es ist wie ein Schuldkomplex! Das macht mich noch ängstlicher und unsicherer! Wie kann ich ein Selbstwertgefühl bekommen, wenn ich finde, dass ich selbst wertlos bin? Meine Pflicht und Schuldigkeit gegenüber meinen Kindern habe ich getan! Das ist es nicht, was mir fehlt … ach, ich weiß es nicht!
Sei nicht böse, ich bin wieder mal blöd!
Du sollst aber wissen, dass mir dein Brief doch
Hoffnung macht, dass du mir und uns Zeit gibst.
Ja, ich verstehe das, was du geschrieben hast, und ich akzeptiere das auch, weil es auch meine Wünsche und Gedanken sind. Nur kann ich sie nicht so gut aufschreiben und so gut aussprechen wie du. Mein Minderwertigkeitskomplex – deine Klugheit. Dabei mag ich klugen Männer sehr. Aber wenn es ernst wird, dann merke ich, dass mir so vieles fehlt und dass ich nicht weiterkann. Das ist es! Mir fehlen dann die Worte, ich krieg sie nicht auf die Zunge, kann sie aber selbst in mir hören. Das ist doch dumm, ich meine Dummheit/doof sein!
Nun fälltt mir doch noch ein, was ich dir erzählen sollte. Etwas Schönes und zugleich Trauriges.
Heute nachmitttag fuhr ich zu deinem Papa ins Krankenhaus. Auf dem Wege zu ihm sind mir die Tränen gerollt. Ich glaube vor Glück! Ich hatte damit begonnen, deinen Brief zu lesen. All meine Gefühle für dich waren plötzlich so groß. Und es drängte mich fast zu deinem Vater.
Ich wollte dann mit ihm spazieren gehen, holte also im Krankenhaus diesen ollen Rollstuhl aus der Abstellkammer. Und stell dir vor: Während ich unterwegs war, hat er seine Blase über das
Handwaschbecken entleert.
Ich war platt über diese Raffinesse und habe ein bisschen geschimpft. Und er? Er hat gegrient!
Die Spazierfahrt im Park war recht anstrengend.
Regen und Wind, und ich bekam auch noch meinen hässlichen Heuschnupfen. Als wir ins Zimmer zurückkamen, hat doch Papas Zimmerkollege geweint. Ich habe ihn umarmt, getröstet und Mut gemacht. Dann war ihm besser. Aber dann fing Papa an zu weinen. Er war eifersüchtig geworden. Also umärmelte und tröstete ich auch ihn. Diese Männer! Nun mache ich Schluss mit diesem Brief!
Mir fehlt deine Zärtlichkeit!Anne
Malte Warmbad, 21. Juni 1987, 21:45
Liebe Anne,
irgendwie liege ich hier ein bisschen krumm im Bett, liege krumm im Bett herum. Im Radio spielen sie gerade passend die „Kleine Nachtmusik“. Bevor ich zum Schlafen komme, will ich dir noch einen Brief schreiben. Ob meiner schrägen Lage wird meine Schrift noch schlechter zu lesen sein als sonst. Aber damit hast du ja als meine langjährige Sekretärin Erfahrung. Manche meiner Notizen konntest du im Nachhinein besser als ich lesen.
Anne, ich habe heute Nachmittag deinen Brief vom 16. Juni bekommen. Heute Vormittag schrieb ich dir noch in meinem Antwortbrief, dass ich mit dir nicht gern „zeitverschoben“ sprechen möchte. Aber jetzt möchte ich trotzdem auf deinen Brief antworten – nur wenige Gedanken.
