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Für Anne bricht mit dem Tod ihres Mannes eine Welt zusammen. Sie versprach ihm, seinen vermissten Vater aufzuspüren. Anfangs begegnet ihr Sebastian und sie lässt sich auf ihn ein. Nachdem Anne seine krankhafte Persönlichkeit erkennt, beginnt eine Odyssee. Währenddessen lernt sie zwei alte Männer kennen. Hans hilft ihr zurück ins Leben und Hermann zieht sie mit seinen Erlebnissen in den Bann. Ihr wird klar, dass sich dort der Schlüssel für ihr Versprechen befindet. Plötzlich taucht Sebastian wieder auf und die Situation eskaliert.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Solveig Krüger wurde in Wittenberg geboren. Sie bekam mit zehn Jahren von ihrem Vater ein Tagebuch geschenkt, seitdem wurde das Schreiben für sie zum wichtigen Ritual. Später entstanden neben den Tagebüchern Reiseberichte und Kurzgeschichten.
Nach dem Abschluss eines Studiums war sie in der EDV als Programmiererin, später als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Produktionsfirma tätig.
Sie wohnt in Kemberg und widmet sich seit einiger Zeit im Ruhestand dem Schreiben.
Die Erzählung über einen Vermissten in der Familie und Erlebnisse auf Reisen in ihr Lieblingsland Frankreich waren Anregungen für die Geschichte ‚Annes Versprechen‘.
Zur Erinnerung an einen wundervollen Menschen. -Paulchen-
DAS VERSPRECHEN
MICHAEL UND SEBASTIAN
EINE AUSSICHTSLOSE SUCHE?
BEZIEHUNGSÄNGSTE
EINE NEUE BEKANNTSCHAFT
DAS WIEDERSEHEN
CAMPARI ORANGE
HAT HERMANN EIN GEHEIMNIS
VERFLIXTE ERINNERUNGEN UND EIN NEUER ANFANG
GIBT ES IN KANADA EINE SPUR?
MATTHIAS
WENN EIN MENSCH STIRBT
DIE LEBENSBEICHTE DES HERMANN LINDNER
EINE BÖSE ÜBERRASCUNG
FORTSETZUNG DER LEBENSBEICHTE
VERSÖHNUNG
DIE GERICHTSVERHANDLUNG
DER ANGRIFF
WENN ES AM SCHÖNSTEN IST, MUSS MAN GEHEN
ALLES WIRD GUT
Seine Augen folgen meinen Bewegungen.
„Was schreibst du?“
Ich hebe den Kopf und antworte: „Erinnerungen an dich!“
Wieder unterhalte ich mich mit Franks Bild auf meinem Schreibtisch.
Bei unserem letzten Gespräch bat er mich: „Versprich mir, nach meinem Vater zu suchen, wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin.“
„Was macht dich so sicher, dass er noch lebt?“, wollte ich wissen.
„Erinnerst du dich an den alten Mann, der vor einigen Jahren am Nachbarhaus stand? Wir kamen beide gerade von einem Spaziergang und ich fragte ihn, ob wir helfen können.
Er schaute mir nicht in die Augen.
Sein Freund Otto Binder habe hier gewohnt, jetzt stehe dort ein fremder Name.“
„Ich weiß, an dem Abend hast du alle Fotoalben durchgeblättert, um die Gesichtszüge mit Jugendbildern deines Vaters zu vergleichen. Deine Mutter war kurz vorher gestorben. Sie hätte dir gesagt, dass du dich irrst.“
Frank hatte mich mit traurigen Augen angesehen, seine Haut schimmerte gelblich, das Gesicht war geschwollen. In diesem Moment schien das Leben endgültig aus ihm zu entweichen.
Ich erschrak und klingelte nach der Schwester. Auf dem Weg nach Hause rannen Tränen über meine Wangen, meine Beine versagten ihren Dienst, Stimmen tobten in meinem Kopf.
Ich ließ mich auf den Autositz fallen und versuchte zu starten. Ruckartig bewegte sich das Auto vorwärts. Die Straße verschwamm vor meinen Augen. Neben mir tauchte eine große Parklücke auf, in die ich mit letzter Kraft einfahren konnte. Hilflos blieb ich stehen. Ein Mann klopfte an die Scheibe, ich wollte sie öffnen, fand aber den Drücker nicht. Mit zitternden Händen gelang es mir endlich, der Mann beugte sich zu mir. „Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen aus, als würden Sie verfolgt.“ Ich starrte ihn an.
„Sie stehen in meiner Ausfahrt.“
Mein Kopf fing wieder an zu arbeiten.
Hatte ich tatsächlich das Auto gestartet und war ein Stück gefahren? Ich stammelte eine Entschuldigung und fuhr los.
An diesem Abend war Frank ins Koma gefallen. Mein Weg führte mich täglich auf die Intensivstation der Klinik. Ich hielt seine Hand, streichelte ihn, erzählte aus meinem Alltag, machte Pläne für unsere Zukunft und hoffte trotz seines Schweigens, dass er mich hört. Nach fünf Wochen verließen ihn die Kräfte. Meine Welt brach zusammen. Ich fühlte mich mit 45 Jahren zu jung, um allein gelassen zu werden.
Lange Zeit war ich nicht in der Lage, Franks Suche fortzuführen. Traurigkeit wandelte sich in Resignation, ich wurde gleichgültig, was konnte mir noch passieren?
Beim Blick auf Franks Foto denke ich wieder an das Versprechen. Ich werde endlich seinen letzten Wunsch erfüllen. Ist sein Vater am Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem U-Boot untergegangen oder hatte er an einem anderen Ort ein neues Leben begonnen?
Warum hat Werner Gorda am Ende des Krieges den Weg nach Hause nicht eingeschlagen? Seine Frau und sein Sohn wünschten sich eine Antwort.
Ehemalige U-Boot-Soldaten könnten Auskunft geben. Aber wer wird schon 90 Jahre? Einen seiner damaligen Kameraden zu finden, wäre wie eine Nadel im Heuhaufen zu entdecken. Blutjunge Burschen taten damals in den ‚Stählernen Särgen‘ auf See ihren Dienst. Sie befolgten Befehle in einer dunklen Zeit.
Aber ich hatte es Frank versprochen. Und so räume ich seinen Aktenschrank aus und hocke anschließend auf dem Wohnzimmerteppich zwischen losen Papieren und Mappen.
In einem Ordner sind vergilbte Blätter, Briefe und Informationen einiger Marine-Archive abgeheftet. Die Sammlung ergänze ich mit Schriftstücken, die zu dem U-Boot-Thema gehören. Hier Ordnung zu schaffen, würde mich das ganze Wochenende beschäftigen.
Mühsam befreie ich mich aus der unbequemen Lage. Meine Beine schmerzen. Die Sehnsucht nach Frank überfällt mich plötzlich. Mein Hals wird eng, Tränen trüben meinen Blick. Den endgültigen Abschied kann meine Seele auch heute noch nicht akzeptieren. Die Welt um mich wird dunkel. Ich zwinge mich zu alltäglichen Gedanken, und mache ein paar Übungen für die Beine, damit der Motor wieder in Gang kommt. Die Dunkelheit verschwindet, ich atme auf.
Ich versuche zu verstehen, beginne im Internet die Seiten der Marine-Archive aufzurufen, deren Angaben ich mit den Schriftstücken vergleiche. Umfangreiche Daten geben Aufschluss über die Einsätze der U-Boot-Flotte. Namen der Crew, Daten zur Technik und sonstige Fakten kann ich über jedes Boot nachlesen.
Im Laufe der nächsten Woche telefoniere ich mit einer netten Mitarbeiterin des historischen Marinearchivs und erkläre ihr mein Anliegen.
„Ich werde Ihre Anfrage bearbeiten. Sie geben mir alle bekannten Daten des Vermissten und melden sich nächste Woche wieder. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
Kann sie nicht, wie sich bei dem späteren Gespräch herausstellt. Der Hinweis auf die Gedenkstätte Laboe ist für mich nichts Neues. Frank und ich erlebten ein Jahr vor seinem Tod einen unserer schönsten Urlaube am Timmendorfer Strand.
Zu unseren Ausflugszielen gehörte auch das Ehrenmal der gefallenen Marinesoldaten in Laboe. Wir saßen am Frühstückstisch im Hotel, Franks Blick war auf mich gerichtet. „Bist du damit einverstanden, dass wir an zwei Tagen Laboe besuchen? Einmal möchte ich die Gedenkstätte und das U-Boot besichtigen und am nächsten Tag nach Möltenort fahren. Dort könnten wir schauen, ob wir den Namen meines Vaters entdecken.“
„Ich habe Bilder von den Riesentafeln gesehen. Die willst du alle durchsuchen?“
„Nein, nicht alle, sie sind nach U-Boot-Nummern geordnet. Für uns sind die Boote U-579 und U-1008 von Interesse.“
Wir haben die Tafeln mit kleiner, enger Schrift studiert, den Namen ‚Werner Gorda‘ entdeckten wir nicht.
Abends tummelte ich mich im Meer, während Frank mit einem Buch über U-Boote im Zweiten Weltkrieg im Strandkorb saß. Die Erinnerung an diese Tage hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt.
Diese Geschichte lässt mich nicht mehr los, ich recherchiere und tauche ein in das Leben eines mir vollkommen fremden Menschen. Dabei robbe ich nicht mehr auf dem Fußboden umher, sondern sitze bequem an meinem Arbeitsplatz und genieße die Ruhe.
Ich blättere noch einmal meinen zusammengestellten Ordner durch, der Brief eines Kameraden fällt mir auf. Er schrieb ihn an meine Schwiegermutter.
Das Papier ist vergilbt, marode Knicke zeigen, dass er oft gelesen wurde. Er ist in Sütterlin verfasst.
Meine Schwiegermutter erzählte mir einmal von einem Brief, den sie lange bei sich getragen hat. Ich sehe sie vor mir. Sie zieht immer wieder ein Schreiben aus ihrer Kittelschürze, liest darin und weint. Nach dem Zustand zu urteilen, ist es genau dieser Brief. Wenn ich doch wenigstens die Buchstaben entziffern könnte. Der Brief wurde 1947 geschrieben, jetzt haben wir 2013. Er ist 66 Jahre alt und Evelin hat ihn intensiv genutzt. Kein Wunder, dass ich Schwierigkeiten habe, ihn zu entziffern. Plötzlich sitzt mein Opa neben mir. Wir blicken beide in ein Märchenbuch aus uralten Zeiten. Er grinst und sagt: „So so, ich soll einem großen Mädchen aus der dritten Klasse vorlesen, weil es diese Selbstverständlichkeit nicht beherrscht?“
„Opa, du bist gemein, das haben wir nicht gelernt!“, ich schluchzte und mir kamen die Tränen.
„Ich werde dir das Lesen und Schreiben der alten deutschen Schrift beibringen“, bestimmte er.
Auf diese Weise habe ich mir ein paar Vorkenntnisse angeeignet. Es hilft nicht viel. Die handschriftlichen Buchstaben sind unordentlich aneinandergereiht und verblasst. Mit viel Mühe erschließt sich mir der Inhalt. Werner Gorda wurde erst ein paar Wochen vor dem Unglück auf das U-579 abkommandiert. Er gehörte nicht zur Stammbesatzung. Ist er daher nirgendwo in den Listen des Marinearchivs zu finden?
Erneut durchforste ich die Schriftstücke und Briefe, die ich herausgefischt habe. Kann ich darin versteckte Hinweise und neue Erkenntnisse finden? Der Brief an meine Schwiegermutter beschäftigt mich. Der ehemalige Kamerad nennt die beiden U-Boote nicht beim Namen, die in den letzten Tagen des Krieges eine Rolle für ihn und die anderen Marinesoldaten spielten. Er befand sich Nachforschungen meines Mannes zufolge auf dem U-1008. Gustav Buhlmann erzählt in seinem Brief das Schicksal der beiden Boote vom 03. Mai 1945 bis 05. Mai 1945.
22.09.1947
Hochverehrte Frau Gorda!
Endlich bin ich aus der Gefangenschaft entlassen. Ungeachtet dessen will ich sofort Ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen und Genaueres über Ihren Mann schreiben.
Ja, ehrenwerte Frau Gorda, wir waren eng befreundet. Ich war Funker an Bord und wir hatten die gleiche Wache. Werner suchte mich oft im Funkraum auf und wir unterhielten uns privat. Ich regelte die Post und brachte ihm die Briefe aus der Heimat.
Was wir Anfang Mai erfuhren, war unglaublich. Am dritten Mai 1945 gab es den Befehl, auf U-Fahrt zu gehen, es war kurz vor Schluss.
Ihr Mann wurde drei Wochen vorher auf ein anderes Boot abkommandiert. Ich erfuhr nichts über den Grund des Wechsels. Durch Zufall trafen wir Werner im Hörupp-Haff wieder. Dort sagte er mir, dass er und seine Kameraden mit uns nach Norwegen gehen.
Die schreckliche Fahrt begann. Auf der Höhe von Aarhus bekamen wir Fliegerbeschuss. Wir wehrten uns, wobei es mehrere Verletzte gab. Das Boot Ihres Mannes versuchte zu tauchen, das bemerkte der Pilot des englischen Bombers sofort. Die Maschine wendete sich von uns ab und bewarf das tauchende Boot mit seiner gefährlichen Fracht. Von da an fehlte jede Spur von ihm.
Wir waren erneut im Visier des Feindes, bewegten uns auf Tiefe und kamen mit dem Schrecken davon.
Unter Wasser versuchten wir, auf dem Funkweg eine Verbindung mit unseren Kameraden herzustellen. Wir hatten keinen Erfolg.
An eine Weiterfahrt war nicht mehr zu denken, wir stiegen aus und kamen mit Mühe an Land. Die Suche nach den anderen Kameraden blieb erfolglos.
Liebe Frau Gorda, ich erfuhr bis heute nichts über Werner. Das Schicksal der restlichen Crew ist mir auch nicht bekannt.
Ich bedauere aufs Tiefste den Verlust Ihres lieben Mannes, der mir jeder Zeit an Bord ein guter Kamerad war.
Ich versichere Ihnen hiermit, dass alle meine Aussagen, die ich Ihnen machte, der Wahrheit entsprechen.
Mit freundlichem Gruß verbleibt
Gustav Buhlmann
Dieser Mann versichert, wahrheitsgemäß auszusagen, ich verstehe es nicht. Liegt es an der Denkweise der damaligen Zeit und Buhlmann hat es nur so dahin geschrieben? Mein Versuch, Gustav Buhlmann zu finden, ist erfolglos. Im Brief schreibt er das Datum ohne Ortsangabe. Sein Name steht in keinem Telefonbuch. Somit bleibt mir sein Heimatort verborgen.
Das Telefon schreckt mich aus meinen Gedanken.
„Hallo Mama, wie geht es dir?“
„Danke gut, Erik, ich bin mitten in der Recherche wegen deines Großvaters. Wirklich weiter komme ich im Moment nicht. Ich habe mit der Sortierung der vorhandenen Unterlagen begonnen. Die Hoffnung, darin Anregungen zu finden, gebe ich auf.
Ich muss einen anderen Weg einschlagen, um neue Möglichkeiten zu nutzen .“
„Du wirst es schon schaffen! Deine Ergebnisse sind auch für Céline und mich sehr wichtig und es war ein inniger Wunsch von unserem Papa. Ich habe die Befürchtung, es ist zu spät, es gibt keine Zeitzeugen mehr.“
Eriks angedeuteter Vorwurf ist berechtigt, aber meine Gemütsverfassung ist die Kehrseite.
„Ich war bisher nicht bereit, diese Aufgabe zu meistern. Reicht dir diese Antwort?“
Nein, sie reicht nicht. Es herrscht Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Ich versuche Erik zu erklären, wie schwer es mir fällt, Franks Suche allein fortzusetzen.
„Ich war nach dem Tod deines Vaters am Ende meiner Kräfte. Das weißt du! Durch die Recherche werde ich erneut mit den traurigen Gefühlen konfrontiert, deshalb benötigte ich Abstand. Erst jetzt habe ich den Mut gefunden, seinen Wunsch zu erfüllen.“
„Es ist mir klar, was du durchgemacht hast, es sollte kein Vorwurf sein. Ich würde dir gerne helfen, aber es ist kein Katzensprung zwischen Dessau und Düsseldorf und mein Job fordert alles von mir. Ich finde ohnehin, dass wir uns viel zu selten sehen.“
„Es ist im Leben nicht alles perfekt. Du hast die Chance genutzt und einen guten Job in Nordrhein-Westfalen angenommen. Die berufliche Entwicklung ist für junge Menschen auf jeden Fall wichtig.“
„Danke Mama, ich habe mir nach Papas Tod Sorgen um dich gemacht.“
„Ich weiß, aber ich komme allein zurecht. Kinder gehen aus dem Haus, wenn die Zeit dazu reif ist. Nur im Idealfall bleiben sie in der Nähe.“
Wir unterhalten uns noch eine Weile über Eriks Familie, vor allem möchte ich über die kleine Lotta alles erfahren. Beim Abschied versprechen wir uns, die gegenseitigen Besuche nicht nur auf Ostern und Weihnachten zu beschränken.
Nach dem frühen Tod meines Mannes empfand ich Traurigkeit und Stille. Die Wünsche an das Leben lösten sich im Nichts auf. Schlaflos und unkonzentriert verbrachte ich meine Tage und Nächte. In dieser Zeit drängte sich ein Mann in mein Leben, voller Energie, freundlich und charmant. Seine Firma führte ein neues Abrechnungssystem in unserer Dienststelle ein.
„Wir verbringen unsere Arbeitszeit die nächsten Tage miteinander. Mein Name ist Michael Morin, kurz Michael.“
Wir gaben uns die Hand, er fixierte mich mit neugieriger Miene.
„Anne Gorda“, antwortete ich und hielt seinem Blick stand.
Ich ließ mich von ihm zum Essen einladen. An diesem Abend teilte ich seine Aufmerksamkeit mit zwei jungen Mädchen am Nachbartisch. Warum störte mich das? Ich war doch nur zum Essen eingeladen.
Sein Charme schlich sich mit der Zeit in meine Gefühle. Später glaubte ich, durch ihn Trost zu finden. Weit gefehlt, ein Schmetterling kann nicht der Mann sein, der meine Seele rettet.
Wir trafen uns in Hotels, danach hörte und sah ich nichts mehr von ihm. Er schwieg viele Tage, manchmal sogar Wochen. Ich habe schnell verstanden, dass dieser Mann in meinem Leben nichts zu suchen hat. Eine kurze Mail beendete die Affäre. Ich schob ihn in eine Schublade und hoffe, sie nie wieder öffnen zu müssen.
Nach diesem Erlebnis mit Michael, nur eine von mehreren Frauen zu sein, bin ich von Männern als Lebensbegleiter geheilt. Und doch fühle ich den Stachel, wenn ich an ihn denke.
Meine neue Bekanntschaft mit Sebastian kam mir nach dem Desaster mit Michael gelegen. Wir lernten uns in der Straßenbahn kennen. Er sprach mich an und fragte, wo das Bauhaus sei. Wir kamen ins Gespräch und er lud mich zum Kaffee ein. Da ich mich an diesem Nachmittag einsam fühlte, willigte ich ein und schlug das Teehäuschen im Stadtpark vor.
„Mein Name ist Sebastian Sandemann und ich komme aus Frankfurt an der Oder“, sagte er.
Wir saßen im Restaurant, unterhielten uns, tauschten unsere Handynummern aus und tranken mit Kaffee Brüderschaft.
Es war ein hoffnungsvoller Gedanke. Vielleicht könnte ich durch diese neue Bekanntschaft ein wenig Abwechslung erfahren. Ich wollte meine Tage nicht in Verzweiflung und Einsamkeit verbringen und wie ein Teenie Michael nachheulen.
„Darf ich dich gelegentlich anrufen?“, unterbrach er meine Gedanken. Ich nickte und gab ihm zu verstehen, dass ich nach Hause muss. Wir verabschiedeten uns.
Eine Woche später fuhr ich dienstlich nach Leipzig. Am Abend vorher fragte er: „Wie lange wird dein Meeting dauern?“
„Ich fahre 15:00 Uhr wieder nach Hause.“
„Treffen wir uns? Es wäre schön, wenn ich dich wiedersehen könnte.“
Also trafen wir uns in einem kleinen Restaurant in Leipzig. Die Gespräche drehten sich um Job und Familie. Er erzählte von seiner großen Verwandtschaft und ich hielt mich im Hintergrund.
Am Ende überlegte ich, ob ich diesem Mann eine Chance geben sollte. Ich kam zu keinem Ergebnis und fuhr nach Hause.
Seit dieser Zeit ruft Sebastian jeden Abend an.
„Wie schön wäre eine Zukunft zu zweit“, sagt er regelmäßig. Seine Wünsche nehmen mir die Luft zum Atmen, ich bin zu einem festen Verhältnis noch nicht bereit. Aber ich kann ihn von meiner Abneigung zu ständiger Nähe nicht überzeugen.
Nach endlosen Diskussionen einigten wir uns, nicht sofort aufzugeben. Er hofft, mich eines Tages als seine Partnerin zu gewinnen.
Sebastian hörte nicht auf, mir unentwegt Vorschläge zu unterbreiten, uns in seiner oder meiner Wohnung zu treffen. Ich machte ihm klar, dass mein Zuhause nach der kurzen Zeit nicht infrage kam.
„Lass uns etwas Zeit, um uns besser kennenzulernen“, bat ich.
Um nicht ein endgültiges ‚Nein‘ zu riskieren, akzeptierte er meinen Wunsch. Für den Anfang war er zufrieden, dass ich ihm nicht den Laufpass gab.
„Ich würde mich freuen, wenn du dich entschließen könntest, zu mir zu kommen. Ich kann dir Frankfurt zeigen. Ein Ausflug über die Grenze ist interessant. Kennst du Frankfurt?“, versuchte er mich zu überzeugen. Ich war unsicher und überspielte sein Angebot mit einer albernen Frage: „Meinst du das am Main oder das an der Oder?“
Ärgerlich antwortete er: „Du weißt, welche Stadt ich meine. Nur eine der beiden Städte hat eine Grenze!“
Mit seinem Humor scheint es nicht weit her zu sein.
Sollte ich die Einladung eines mir im Grunde fremden Mannes annehmen? Welcher Teufel mich auch ritt, die Neugierde hatte mir längst die Entscheidung abgenommen. Sebastian in seinem persönlichen Umfeld besser kennenzulernen, war meine Ausrede. Der Gedanke fegte meine Skrupel beiseite.
Er attackierte mich mit versteckten Bemerkungen, wie: „Hattet ihr eine offene Beziehung, du und dein Mann?“
Ein anderes Mal fragte er, ob wir oft Sex gehabt hätten. Ich antwortete: „Bei uns lief alles normal.“
Von Michael erzählte ich nichts.
Mir ging es nicht um Sex. Ich glaubte an diese Aussage, aber sie entsprach nicht ganz der Wahrheit. Meine eigene Inkonsequenz machte mich wütend.
Die unmittelbare Vergangenheit und die damit verbundene Affäre geisterten durch meinen Kopf. Ich sah Michael vor mir und ärgerte mich über meine immer noch kribbelnden Gefühle. Für ihn hatte die körperliche Liebe auf jeden Fall Vorrang. In seinen Augen sind Frauen nur Objekte der Begierde. Es würde nie eine gemeinsame Zukunft für uns geben. Ich wusste es und das tat weh!
Die Erinnerung an eine erotische Zeit, ohne auf ein Miteinander hoffen zu können, war trotz der geschlossenen Schublade in meinen Gedanken präsent.
Nun war ich kurz davor, mich mit einem anderen Mann in ein neues Abenteuer zu stürzen.
War ich mit allen Sinnen bereit? Die Art und Weise unserer langen Telefongespräche signalisierten Sebastians Verlangen, die Zweisamkeit bis zur Endkonsequenz auszuprobieren.
Letztlich siegte auch bei mir die Neugier, ich fuhr zu ihm.
Während der Fahrt packten mich Skrupel, die ich verscheuchte. Schließlich konnte ich jederzeit wieder gehen.
Sebastian empfing mich mit Kerzenschein, gutem Essen und was dann folgte, war perfekt.
Das Telefon klingelt, ich sehe auf dem Display Sebastians Nummer. Ich starre das Mobilteil an. Meine Gefühle sind durcheinander. In diesem Moment bin ich nicht bereit, mit ihm zu reden.
Die Entscheidung ist gefallen, das Klingeln verstummt. Der Anrufbeantworter blinkt und er spricht eine Nachricht auf die Mailbox. Meine innere Stimme meldet sich.
Es ist nicht fair, ihn warten zu lassen. Also nimm das Telefon zur Hand und rufe zurück.
Er meldet sich genervt: „Ich dachte, du bist nicht zu Hause, deshalb habe ich auf den unpersönlichen Apparat gesprochen.“
„Glaubst du, ich sitze ständig am Telefon und warte auf einen Anruf von Monsieur Sebastian?“
„Anne, sei nicht bissig!“, höre ich seine traurige Antwort.
„Was hast du auf dem Herzen?“, frage ich in einem friedlichen Ton.
„Ich möchte deine Stimme hören, ist das nicht üblich, wenn Liebe im Spiel ist?“
Ich weiß nicht, ob ich Sebastian liebe. Ich schweige.
Er drängt mich, unsere Erlebnisse der besonderen Art zu wiederholen. Ich höre ihm zu, in meinem Kopf hallen seine Worte wie ein Echo zurück und hinterlassen eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Unbehagen. Wie soll ich auf seinen Wunsch reagieren? Ich habe doch erlebt, dass er Michael in Sachen Erotik in nichts nachsteht. Warum kann ich für ihn nicht das Gleiche empfinden, wie für Michael?
Doch Sebastian fehlt die Ausstrahlung, in mir die nötigen Gefühle zu erwecken. Es geht um Sex, ohne meine Seele zu berühren. Das reicht mir nicht. Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Mann.
„Warum schweigst du?“, höre ich ihn fragen.
„Meine Probleme vor deinem Anruf beschäftigen mich.“
Es ist eine Lüge, ich habe doch gerade mein Empfinden zu Sebastian analysiert. Das kann ich ihm nicht offenbaren, also schwenke ich um und sage: „Den Brief eines Kameraden meines Schwiegervaters habe ich zum x-ten Mal studiert. Mich lässt der Verdacht nicht los, dass die Aussagen Widersprüche enthalten.“
Sebastian kennt mein Vorhaben. Für ihn war es klar, dass er sich in die Details einmischt, aber ich habe es ihm strengstens untersagt. Anfangs gab es Diskussionen, bis er mein ‚Nein‘ akzeptierte.
Ich verfolge diese Geschichte allein, für mich ist sie ein intimer Teil der Lebensgeschichte meines Mannes und meiner Schwiegermutter. Ich möchte nicht, dass ein Fremder in den privaten Dingen herumwühlt. Schmerzliche Erinnerungen bewegen mein Gemüt. Wie verzweifelt war Frank, wenn er mit seiner Recherche nicht weiterkam und nach Antworten suchte.
Die Ergebnisse meiner Nachforschungen kann Sebastian wissen, den Weg dorthin gehe ich allein.
Bereitwillig erzähle ich.
„Es gibt einen Bericht des Kommandanten des U-Bootes 1008. Er beschreibt den Werdegang der beiden Boote U-1008 und U-579 in den letzten Tagen des Krieges. Sie wurden kurz vor dem Ende dieser sinnlosen Zeit als Nachrichtenboote mit mehreren Funkstellen ausgerüstet. Als sogenannte ‚Gewitterboote‘ traten sie ihren Weg nach Norwegen an.
Admiral Dönitz befahl allen fahrbaren Booten, nach der Feindbesetzung Deutschlands, den U-Boot-Krieg von Norwegen aus fortzuführen. Der Wahnsinn kostete in den letzten Tagen vielen jungen Männern das Leben. Im Nazi-Deutschland herrschte der Irrglaube, durch diese Aktion eine bedingungslose Kapitulation zu verhindern.“
Ich höre Sebastians schweren Atem, er folgt ohne Kommentar meinem Bericht, deshalb nehme ich die Schilderung wieder auf.
„An verschiedenen Orten, wie Kiel und Flensburg, wurden spezielle Installationen an und in den Booten vorgenommen. Zusätzliches Funkpersonal kam an Bord und zum Schluss nahm ausgesuchtes Fachpersonal die Montage der Funkgeräte vor.
Am 05.05.1945 erhielten die U-Boote 1008 und 579 den Befehl, eine bestimmte Linie zu passieren, um nach Norwegen auszulaufen. Englische Liberator-Bomber griffen beide Boote 16:40 Uhr nordöstlich der Insel Hjelm in Höhe Aarhus an.
Die englischen Piloten beobachteten, dass U-579 nach mehreren Treffern auseinanderbrach und sank. Die Flieger sichteten einen riesengroßen Ölteppich, Wrackteile und lebende Menschen.
So wurde es später berichtet.“
Mir läuft ein Schauer über den Rücken, ich greife nach meiner Jacke und ziehe sie um den Körper. Meine Gedanken überschlagen sich. War mein Schwiegervater unter den Überlebenden und trieb er dort im Meer?
Sebastian schweigt immer noch und ich fahre in meinem Bericht fort.
„Der Kommandant von U-1008 gab am 06.05.1945 um 22:30 Uhr den Befehl, sein Boot nach drei weiteren Angriffen zu versenken. Schwer beschädigt war auch für dieses Boot die Weiterfahrt unmöglich. Die Besatzung von U-1008 konnte sich retten. Unter ihnen befand sich jener Kamerad Buhlmann, dessen Brief ich dir vorgelesen habe.“
Sebastian stöhnt auf. Hat mein Vortrag ihn gelangweilt oder ist er erschüttert, geht ihm das Schicksal dieser Männer an die Nieren?
„He, Sebastian, bist du noch da?“
Ich warte auf eine Reaktion, die nicht kommt.
Endlich sagt er: „Die Geschichte ist unfassbar. Ihr geht davon aus, dass dein Schwiegervater zum Zeitpunkt des Unglücks auf dem U-579 war?“
„Mein Mann hat es vermutet und der Buhlmann bestätigt es in seinem Schreiben an meine Schwiegermutter. Frank versuchte über Jahre, sich von Archiven bestätigen zu lassen, dass sein Vater auf U-579 diente.
Werner Gorda ist nirgends registriert. Es ist, als würden wir einem Phantom hinterherjagen.“
Wieder schweigen wir, jeder ist mit seinen Gedanken beschäftigt.
Ich schließe die Augen und sehe die Menschen in einer Öllache auf dem Meer zwischen Wrackteilen treiben. Es ist unerträglich kalt. Wie wurden die im Wasser schwimmenden Männer gerettet? Mussten sie lange ausharren, bis ein Schiff kam, sie mit dem Nötigsten versorgte und an Land brachte? Tausend Fragen, die mir nur ein Zeitzeuge beantworten kann.
Sebastian bittet mich, noch einmal den Brief von Gustav Buhlmann vorzulesen. Am Schluss bemerkt er: „Es war funktechnisch zu dieser Zeit nicht möglich, bei Tauchtiefe Signale zu senden oder zu empfangen.“
„Der Brief bringt mich sowieso nicht weiter. Wie darin zu lesen ist, verlor Buhlmann den Kontakt zu Werner Gorda. Zwischen meiner Schwiegermutter und diesem Mann gab es keine weitere Korrespondenz.“
Ich möchte das Thema heute nicht mehr erwähnen, es macht mich traurig. Tatsachen zu diskutieren, die keine neuen Erkenntnisse bringen, hilft mir nicht.
Die Emotionen, die meinen Mann und meine Schwiegermutter bewegten, berühren mich heute noch.
Ich versuche, das Gespräch mit Sebastian auf unser jetziges Leben zu lenken.
„Unterhalten wir uns lieber über den Ort unseres Kurzurlaubs, das bringt mich auf andere Gedanken.“
„Du lehnst es ab, dich zu besuchen und ich akzeptiere es. Es gibt ohne Frage schöne Orte, die wir erforschen können. Aber ich hoffe, uns in Hotels zu treffen, wird später die Ausnahme sein.“
„Und bis dahin wirst du geduldig sein müssen.“
Er lässt es nicht sein, zu nerven.
Ich will das Treffen mit Sebastian weder aufschieben noch verhindern. Es steht für mich fest, aber meine Gefühle sagen etwas anderes. Meine Fantasien landen bei dem altbekannten Problem. Ich sollte zufrieden sein, mich mit einem Mann in dieser intimen Art und Weise zu treffen, der ehrliche Gefühle für mich empfindet.
Den Vorschlag, ein Hotel zu buchen, nahm Sebastian nicht begeistert auf. Da ich keinen anderen Weg zuließ, willigte er ein. Vielleicht hilft das romantische Flair eines Hotel-Aufenthaltes ohne Alltag, mich an Sebastian zu gewöhnen.
Ich ziehe schon wieder Vergleiche zwischen den beiden Männern. In Sachen Abwechslung ist Sebastian Michael überlegen. Er lässt das Intimleben nicht zum Ritual werden. Seine Ideen überraschen mich.
Das erste Treffen in seiner Wohnung war von meinen durchgeschüttelten Emotionen überschattet. Nur mein Verstand hatte mit den vergangenen Erlebnissen mit Michael abgeschlossen.
Meine Gedanken schweifen zurück und dieser Besuch bei ihm wiederholt sich in meinem Kopf.
Sebastian bietet mir eine Massage an, ich überlege und lasse mich darauf ein. Seine Hände zittern, als er alles bereitlegt. Mit bebender Stimme bittet er, mich auf den Bauch zu legen. Er setzt sich auf meine Oberschenkel und bearbeitet meinen Rücken.
Langsam spüre ich Ruhe in seinen Bewegungen. Fordernd berührt er meinen Körper, ich empfange die sinnliche Botschaft. Wärme steigt in mir auf, jeder Zentimeter meiner Haut fiebert dem prickelnden Gefühl der Erotik entgegen. Sebastians Wunsch ist klar und ich höre meine eigenen Worte.
„Das machst du sehr verführerisch, verfolgst du ein bestimmtes Ziel?“
„Bist du der Meinung, ich denke an Sex?“
Ich antworte nicht, weil ich seine Haut auf der meinen spüre und in eine wunderbare Welt drifte. Bei der Massage meiner Schultern muss er sich weit vorbeugen und sein harter Penis drückt auf meinen Hintern.
Wow!
Sebastian kann nerven, aber in diesem Moment zieht ein wohliger Schauer durch meinen Körper. Mir ist zum Zerspringen, meine Libido erwacht und der Verstand schaltet ab. Es ist perfekt und ich vergesse in diesem Moment die Erlebnisse mit Michael. Sebastian bittet, mich umzudrehen und ich folge gern. Die Massage ist vergessen, wir sind ineinander und ich bald auf ihm. Sein Körper streckt sich mir entgegen, Lust breitet sich in mir aus. Lange nicht erlebte Emotionen koste ich mit allen Sinnen aus.
Ich lasse mich fallen!
Die Initiative von Sebastian wirft mich komplett aus der Bahn. Ich erlebe den Höhepunkt nicht nur einmal und mein Körper erreicht seine Grenzen. Ich bin auf angenehme Weise erschöpft. Sebastian fragt mich lächelnd: „Habe ich dich geschafft?“
„Wenn du so direkt fragst, muss ich das bestätigen, aber die Niederlage ist wunderschön!“
Wieder versucht er, mich in seine Arme zu nehmen. Er schaut mich plötzlich mit wirrem Blick an und berührt mich fordernd und grob.
Angstgefühl steigt in mir auf, meine Gedanken überschlagen sich. Mir ist zumute, als müsste ich ersticken. Ich habe das Bedürfnis, schnell das Weite zu suchen. Sebastians Verhalten hat sich verändert. Besitzergreifend und ohne Gefühl, will er seine Fantasien durchsetzen. Dieses rücksichtslose Benehmen macht mir Angst.
In meinem Kopf breitet sich eine Panikattacke aus, ich springe auf. „Ich fahre jetzt nach Hause.“
Sebastian erwacht aus seinem undefinierbaren Gemütszustand und steht da wie ein begossener Pudel. Er sieht mich betreten an. Wie unmöglich hat sich die Situation entwickelt? Hat Sebastian jetzt sein wahres Gesicht gezeigt?
Es helfen keine klärenden Worte. Ich will nur noch weg. Ohne nachzudenken, sammle ich meine Sachen zusammen, stopfe alles in meinen Koffer und ziehe mich an.
Der Abschied verläuft leise und mit knappen Worten. Er steht unbeweglich mitten im Zimmer, nicht in der Lage zu reagieren. Ich verlasse den fassungslosen Sebastian.
Unterwegs im Auto komme ich langsam zur Ruhe, die Tränen laufen und vernebeln mir den Blick. Ich versuche, diese unmögliche Situation zu analysieren. Der Schreck, dass ich wieder Vergleiche ziehe, beunruhigt mich zusätzlich. Michael geistert in meinem Unterbewusstsein herum. Warum muss ich schon wieder an ihn denken? Ärger gegen mich selbst steigt auf. Aber er legte nie eine solche Dominanz an den Tag, wie ich sie bei Sebastian gerade erlebt habe.
Das war kein guter Anfang. Sebastian rief mich nach diesem Vorfall immer wieder an. Er entschuldigte sich und schickte mir Blumen. Ich beruhigte mich wieder.
Die aufkommende Vermutung möchte ich noch nicht wahrhaben, dass Sebastian nicht nur der nette und aufmerksame Mann ist. Sein Auftreten ist nicht in allen Lebenslagen korrekt. Das betrifft vorwiegend unser intimes Zusammensein. Während dieser Zeit will er mich zwingen, Dinge zu tun, die ich zuvor entschieden abgelehnt habe.
Trotz der kurzen Zeit, die wir uns kennen, weiß ich, dass er mich mag. Die Art, wie er es zeigt, warnt mich allerdings vorsichtig zu sein.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und schaue Franks Bild an. Die Erinnerungen an das Leben mit ihm sind noch wach. Seine Augen strahlen, ein glückliches Lächeln liegt um seinen Mund. Mit ihm hat alles gestimmt und ohne ihn bin ich aus der Bahn geraten. Ich kann noch so lange überlegen und suchen, ein solches Glück wird mir nicht wieder begegnen.
Gott sei Dank, dass es das Internet gibt. Ich fahre bequem mit meinen Recherchen fort. Ideen, die mich näher an mein Ziel bringen, gebe ich als Frage ein und ich bekomme kompetente Antworten. Ich rufe das Telefonbuch auf. Mein Wunsch, einen Zeitzeugen der letzten Tage des Zweiten Weltkrieges zu finden, kommt mir weit hergeholt vor. Er sollte auf einem bestimmten U-Boot gedient haben. In dieser aussichtslosen Lage hoffe ich auf ein Ergebnis? Wessen Name ist heutzutage noch in dem ehemals wichtigsten Nachschlagewerk der Kommunikation zu finden?
Dennoch weiß ich, dass alte Menschen an ebensolchen Traditionen festhalten. Sie möchten auf diesem Weg erreichbar bleiben.
Die Crew-Liste des U-579 aus jener Zeit finde ich auf der Webseite des ‚Historischen Marinearchivs‘. In der Aufstellung stehen die Namen der am 05.05.1945 gefallenen Seeleute. Ich gehe davon aus, dass der Rest der Crew das Drama überlebte. Diese Männer sind für mich interessant. Geläufige Namen kann ich zahlreich im Telefonverzeichnis finden. Ich habe keine andere Wahl, als alle Personen anzurufen. Es sind mitunter lustige Gespräche, ich erwische gelegentlich tatsächlich alte Männer am anderen Ende der Leitung. Sie erzählen mir ihre Lebensgeschichte, froh darüber, dass ich ihnen zuhöre. Meine Ungeduld muss ich zügeln. Es sind einsame Menschen und ich habe Verständnis für ihren Wunsch, sich mitzuteilen. Ein intensives und einseitiges Gespräch zwingt mir Herr Gerhardt auf. Er erzählt von seiner Dienstzeit als Soldat. Aus seinen Worten geht hervor, dass er nicht bei der Marine diente, aber er lässt sich nicht unterbrechen. Ich verspreche ihm, an einem anderen Tag zuzuhören. Als hätte er meine Worte nicht verstanden, ergreift er die Chance, seinen lange an den Nagel gehängten Beruf als Dozent für Bühnentanz zu erläutern. Es wird für mich schwer, dem Gespräch ein Ende zu setzen. Endlich macht er eine Pause, um Luft zu holen. Das nutze ich aus und finde einen netten Abschluss des Gespräches, ohne den alten Herrn vor den Kopf zu stoßen. Wir verabschieden uns und ich lege schmunzelnd den Hörer auf.
Es kommt noch besser. Der nächste betagte Herr erzählt ohne Unterbrechung. Ich will gerade entnervt auflegen, da werden seine Worte interessant.
Jetzt fällt das Wort ‚Brandenburger‘. In diese Richtung waren meine Gedanken schon gelenkt worden, als Sebastian von der Spezialeinheit erzählte. Es würde vieles erklären. Mir fällt der Brief Gustav Buhlmanns ein, dessen Inhalt logische Lücken aufweist. Der Lehrgang zum Oberfeldwebelanwärter, an dem mein Schwiegervater laut Unterlagen teilgenommen hatte, wirft für mich auch Fragen auf. Mir leuchtet nicht ein, dass es einen solchen Dienstgrad bei der Marine geben kann.
Hatte mein Schwiegervater mit den Brandenburgern zu tun? Wurde er deshalb zum Phantom?
Falls er Mitglied dieser Einheit war, spielte Werner Gorda allen etwas vor. Den Erzählungen nach war es sein Traum, auf einem U-Boot den Dienst zu absolvieren.
Das passt nicht zusammen.
Meine Schwiegermutter schilderte Werner als einen lieben, friedlichen Mann. Auch wenn er im letzten Teil des Krieges erkannte, dass nichts ablief, wie er es in seinem jugendlichen Eifer erwartet hatte. Seine Familie derart hinters Licht zu führen, entsprach nicht seinem Charakter.
Ich komme im Laufe der Erzählung meines Gesprächspartners zu dem Schluss, dass ich diese Variante ausschließen kann. Werner Gorda war nicht der hinterhältige Mensch, den ich einen kurzen Moment in ihm sah.
Mit Mühe gelingt es mir, den geschwätzigen alten Herrn am Telefon zu bremsen. Ich versichere, dass seine Geschichte spannend ist und verspreche auch ihm, ein anderes Mal Zeit zum Zuhören zu haben. Interessant oder nicht, die Telefonate bringen mich in meiner Suche nicht weiter. Die Zeit drängt.
Wir sind heute durch den technischen Fortschritt besser dran als zu früheren Zeiten. Ich kann alle hilfreichen Themen für meine Recherche aufrufen und bekomme in den meisten Fällen kompetente Antworten. Aber es sind nur Fakten, die ich erfahre, ein Zeitzeuge wird durch solche Informationen in keinem Fall ersetzt. Damit stoßen die heutigen Möglichkeiten an ihre Grenzen.
Es lässt mir keine Ruhe, ich möchte nicht negativ über meinen Schwiegervater denken. Auf einer Website, die ich aufrufe, um den Weg eines Marinesoldaten zu verfolgen, kann ich entdecken, dass es Lehrgänge zum Oberfeldwebelanwärter gab. Warum dieser Dienstgrad ebenfalls für die Marine galt, ist im Moment nicht von Interesse, ich bin jedenfalls erleichtert.
Die mir zur Verfügung stehenden Dokumente meines Mannes bleiben die Grundlage meiner Recherche.
Zweifel holen mich wieder ein. Jage ich einer Sache hinterher, die zum Scheitern verurteilt ist? Es kostet viel Kraft, das Vorhaben durchzuziehen. Die Versuche, über Telefon einen Menschen zu finden, der vor langer Zeit auf einem bestimmten U-Boot seinen Dienst leistete, erscheint mir wieder einmal hoffnungslos. Die anfängliche Euphorie verliert ihren Schwung.
Mechanisch greife ich erneut zum Telefon und wähle die nächsten Nummern, die ich mir aus der Liste des Marinearchivs notiert habe. Den Namen Köbbe gibt es nur einmal im Telefonbuch. Auf der Liste steht kein Kreuz an seinem Namen. Das bedeutet, dass Hans Köbbe am Ende des Krieges Mitglied der Crew war. Er muss das Unglück des Bootes überlebt haben.
Dieses Mal scheint es ein Treffer zu sein. Ich erreiche tatsächlich einen der Männer, die ich verzweifelt suche. Er bestätigt, dass er auf dem U-Boot 579 gedient hat. Ich werde hellwach, lausche seinen Worten und bin erstaunt. Seine Stimme ist klar und die Wortwahl sicher. Als er mir sagt, dass er 91 Jahre alt ist, pfeife ich leise vor mich hin. Erwartungsvoll frage ich: „Sagen Sie mir doch bitte, wie war es an dem Tag des Untergangs? Waren Sie zu dieser Zeit an Bord?“
Eine prickelnde Spannung meldet sich mit euphorischer Hoffnung in meinem Kopf. Ist es möglich, dass ich einen Zeitzeugen gefunden habe? In meinen Ohren rauscht es, mein Herz schlägt heftig.
Der alte Herr schweigt.
Ich halte die Luft an, möchte Hans Köbbe zum Reden drängen.
Für mich viel zu langsam fängt er an zu sprechen: „Ich muss Sie enttäuschen, ich bin drei Wochen vor dem Unglück auf ein anderes Boot kommandiert worden.“
Oh nein, das ist die befürchtete Aussage!
Obwohl ich keinen Laut von mir gebe, fühlt er meine Ernüchterung. „Ich kann Ihnen meine noch vorhandenen Unterlagen per Mail schicken“, sagt er nach einer langen Pause.
Er ist trotz seines hohen Alters mit der Computertechnik vertraut, mich erstaunt nichts mehr.
„Vielen Dank, Herr Köbbe“, kann ich nur darauf antworten.
Als ich die versprochene Mail erhalte, stelle ich fest, dass die Unterlagen nichts Neues beinhalten. Ich bin auf ganzer Linie enttäuscht.
Ein paar Tage später ruft Hans Köbbe an. Ohne einleitende Worte fängt er an zu sprechen. „Ich habe noch ein Ass im Ärmel, eventuell kann ich Ihnen doch helfen.“
Er redet eindringlich und leise. Befürchtet er, es geschieht etwas, was seine Hilfe unmöglich macht? Ich höre gespannt zu und er lässt sich Zeit.
„Ich habe einen alten Kameraden aus dieser schrecklichen Zeit. Wenn wir Glück haben, kann ich mit Hermann telefonieren. Es ist nur ein kleiner Hoffnungsschimmer. Falls er noch lebt, hat auch er ein beträchtliches Alter. Wir haben beide lange nichts voneinander gehört. Ich weiß, dass die Engländer ihn in ein Internierungslager in Dänemark steckten. Ihr Schwiegervater war eventuell im gleichen Lager. Hermann sprach einmal von einem Werner, mit dem er zusammen nach Kanada transportiert wurde.“
Herr Köbbe macht sich Gedanken, wie er helfen kann, mein Problem zu lösen. Mir bleibt wieder einmal die Tücke der Zeit.
„Vor zehn Jahren hatten wir den letzten Kontakt, Hermann war gerade in ein Seniorenheim nach Hamburg gezogen“, setzt der alte Mann seine Erzählung fort.
„In unserem Alter zählen die Jahre doppelt. Wie gesagt, machen Sie sich keine große Hoffnung. Ich informiere Sie, wenn ich mit ihm gesprochen habe. Sie hören von mir.“
Ich bedanke mich für seine Mühe, mir zur Seite zu stehen und wünsche ihm, hauptsächlich in meinem Interesse, viel Erfolg.
Manchmal erinnere ich mich an die zerrissenen Gefühle, die ich in der Zeit mit Michael in mir trug. Eine Beziehung, die keinen ernsten Hintergrund hatte, ging zu Ende. Heute bin ich froh, ihm den Laufpass gegeben zu haben. Ich werde nicht wieder derart emotionsgeladen reagieren, wenn es um einen Mann geht. Das Bewusstsein, sich einem Menschen mit solcher Intensität ausgeliefert zu haben, ist für mich inzwischen unverzeihlich. In Zukunft schalte ich besser meinen Verstand ein.
Habe ich in Sebastian meinem Traummann gefunden? Das ist wohl eher nicht der Fall. Seine Gefühle sind stark, ich sehe es gelassen. Das ist in Ordnung, denn die Euphorie, die einst meine Seele gefangen hielt, darf nicht wieder meine Sinne verwirren. Jetzt bin ich bereit, in entsprechenden Situationen meine coole Seite zu zeigen, egal was oder wer kommt!
Ein Partner für die schönen Dinge ist praktisch und ermöglicht, auf angenehme Weise zu reisen und andere unterhaltsame Unternehmungen zu genießen. Probleme löse ich in der Regel allein. Ist das nicht möglich, gibt es meine Familie. Für Befindlichkeiten, die keine Mutter ihren Kindern anvertraut, habe ich meine Lieblingsfreundin Jessica. Nie wieder werde ich einen Kerl so nah an mich herankommen lassen. Und das gilt auch für Sebastian.
Pauschale Urteile sind ein Fehler und nicht bei allen Männern angebracht. Ich sitze am Schreibtisch und rede wieder mit Frank. Er lächelt mir zu. „Du bist heute traurig, ich sehe, du hast Sorgen.“
„Mir fehlen die Gespräche mit dir und vor allem fehlst du mir.“
Heute empfinde ich keinen Trost, mich mit seinem Bild zu unterhalten, es ist nicht wirklich beruhigend. Das Gefühl des ‚Nie wieder‘ lässt mich erzittern.
Meine Gedanken gehen weiter. Frank sagte, ich soll nicht allein bleiben. Aber ich will überhaupt keine Beziehung im üblichen Sinn. So optimal wie mit ihm kann es nicht wieder werden. Ich habe eine bestimmte Vorstellung und dabei immer Frank mit seinem wunderbaren Charakter im Kopf.
Sebastian besteht den Test nicht!
Er hält mit einer beängstigenden Zuversicht an mir fest, selbst wenn ich die Flucht ergreife oder aus heiterem Himmel Situationen eskalieren lasse. Er weiß zwar sofort, dass er in solchen Fällen aufhören muss, mich zu bedrängen. Aber leider fällt er nach kurzer Zeit in sein altes Muster zurück und ich fliehe erneut. So kann keine Beziehung funktionieren.
In intimen Stunden habe ich einen rücksichtslosen Sebastian erlebt. Sein Kontrollzentrum setzte aus und er verfolgte hemmungslos abartige Spielchen. Auch jetzt stelle ich gelegentlich bei ihm eine wachsende Dominanz fest. Mich ergreift Panik.
Und doch geht Sebastian mit unbeirrbarer Konsequenz seinen Weg, mich überzeugen zu wollen, dass wir zueinander passen. Er nimmt meinen Wunsch, Abstand zu halten, nicht ernst. Nach und nach häufen sich Diskrepanzen, die darauf hinauslaufen, mich beherrschen zu wollen. So geht es nicht weiter.
Ich glaubte, mit Michael den Höhepunkt auf dem Gebiet der körperlichen Liebe erlebt zu haben. Doch ich muss mich korrigieren. Sebastians ständiges Bemühen beim Sex keinen Alltag einkehren zu lassen, wäre der Schlüssel, der unser Liebesleben positiv entwickeln könnte. Seine Herrschsucht wird aber alles zerstören. Ich hoffe, dass er aus meiner Reaktion, sofort das Weite zu suchen, entsprechend schlussfolgert.
Meine Emotionen, die trotz seiner Bemühungen nicht diesen Wahnsinn erreichen, welche ich mit Michael empfand, sorgen für das nächste Problem.
Es liegen hundertsechzig Kilometer zwischen Dessau und Frankfurt an der Oder, infolgedessen können wir nicht ständig zusammen sein. Es staut sich auch bei mir einiges auf und die Intimitäten werden heftig, wenn wir uns sehen.
In meinem Kopf schwirren schon wieder die vergangenen Erlebnisse mit Michael umher. Ich denke an seine E-Mails, die für mich anfangs bedeutungsvoll waren. Zärtliche Worte schrieb er oberflächlich dahin. Aufrichtige Gefühle hatten keinen Platz. Ich gab schnell den Wunsch auf, dass sich eine dauerhafte Bindung entwickelt. Ihm ging es lediglich um neue erotische Erlebnisse mit verschiedenen Frauen. Ich wusste, das wird sich nie ändern. Diese Tatsache nagte an meinem Ego. Die Siegerin zu sein, war mir nicht vergönnt. Während mich die Gefühle durchrüttelten, blieb Michael kalt wie Eis.
Jetzt bin ich zufrieden, weil mich diese Dinge nicht mehr tangieren und die damals empfundene Euphorie streiche ich aus meiner Gefühlswelt.
Vielleicht kommt eine Zeit, in der ich mich bei Sebastian fallen lassen kann. Liebe und Vertrauen hängen nicht davon ab, die gemeinsame Zeit nur sexuell zu erleben. Ohne den Einklang unserer Gefühle wird alles zusammenbrechen. Noch hoffe ich, dass die dominanten Ansätze Sebastians Ausrutscher sind, doch kann ich nicht ignorieren, dass sein Charakter eine gemeinsame Zukunft infrage stellt.
Ich liebe ihn nicht! Das ist kein gutes Zeichen. Sebastian hofft, dass ich dieses Gefühl für ihn mit der Zeit entdecke. Er meint, geduldig warten zu wollen und ist sich sicher, dass ich eines Tages in ihm einen tollen Typen erkenne und mich an die Leine legen lasse. Woher nimmt er dieses Selbstbewusstsein?
Die bei Michael erlebte Atemlosigkeit, das Kribbeln, wenn wir unsere nackte Haut berührten, wo sind diese Regungen geblieben? Es hilft nichts, dass der Sex mit Sebastian ebenfalls elektrisierend ist.
In der Liebe kann man sich nichts vormachen und nichts erzwingen. Ich muss akzeptieren, was mir einst den Atem raubte, werde ich niemals wieder erleben.
Vielleicht konnte ich das Zusammensein mit Michael genießen, weil keine Gefahr einer festen Bindung hinter unseren intimen Zeiten stand. Wir beide waren aus vollem Herzen zärtlich. Die Interessen außerhalb unserer ‚Liebesstunden‘ waren für ein Zusammenleben perfekt aufeinander abgestimmt.
Trotzdem kam es um alles in der Welt nicht infrage, weder für ihn, noch für mich, diese Variante zu probieren. Ihn lockten die anderen Frauen und ich hätte mit dieser Tatsache nicht leben können. Wir wussten beide, dass alles für viele Tage oder Wochen vorbei sein würde, wenn wir uns nach einem intensiven Treffen trennten. Waren diese langen Pausen das Geheimnis unserer Begierde?
Warum geistert mir immer wieder die Vergangenheit im Kopf herum? Ich suche doch nach einem Weg, um Sebastian und mich emotional näherzubringen. Ich würde gern mit ihm in eine wunderbare Scheinwelt eintauchen, denn mit Sebastian gäbe es beim Erwachen keine Tränen!
Meine Gedanken drehen sich im Kreis, ich lausche unkontrolliert einer inneren Stimme und fühle fast körperlich Michaels Hände auf meiner Haut. Wenn ich wieder vernünftig werde, weiß ich, es ist für alle Zeiten vorbei! Ich lasse nicht zu, den Fokus erneut auf Michael zu richten.
Meine ständigen Rückblenden sind vielleicht darin begründet, dass Sebastian der falsche Mann ist? In mir kommen keinerlei zärtliche Gefühle für ihn auf.
Ich entdecke auch Kontrollzwang in seinem Verhalten. Er hinterfragt die Aktivitäten meines täglichen Lebens.
Sebastian und ich werden einen Kurzurlaub miteinander verbringen. Er bucht ein Hotelzimmer in der neu entstandenen Seenlandschaft in der Nähe von Leipzig. Das ausgesuchte Hotel gefällt mir, doch plagen mich Zweifel, ob ich mich mit der intimen Art, sich zu treffen, wohlfühlen werde. Ich habe es allerdings selbst vorgeschlagen, weil ich diese Variante einem Treffen in privater Umgebung vorziehe.
Mein Vorhaben, die Recherchen wegen meines Schwiegervaters als erste Priorität zu sehen, verschiebe ich nicht gerne. Um mein Ziel zu erreichen und die Wahrheit über den Lebensweg oder das Ende Werner Gordas herauszufinden, darf ich meinen Plan nicht aus den Augen verlieren.
Trotz aller Bedenken halte ich mich an unser Vorhaben und stelle mich auf den Kurzurlaub mit Sebastian ein.
Ich stehe vor dem Spiegel, trage Make-up auf, zupfe die Augenbrauen, bearbeite meine Wimpern mit einem sündhaft teuren Mascara und frage mich, warum ich das alles veranstalte. Dennoch gehe ich es heute mit weniger Aufwand an. Alle vermeintlichen Unebenheiten meines Körpers versuchte ich für die Treffen mit Michael akribisch zu verschönern. Ich kann mir die Mühe sparen. Sebastian liebt mich, wie ich bin. „Pfusch der Natur nicht in ihr Handwerk“, sagt er ständig. Es gibt aber einiges zu richten. Es ist mir egal, ob er meckert oder nicht. Welche Frau ist mit sich zufrieden, egal, was sie gerade im Schilde führt?
Als Erstes nehme ich mein Outfit in Angriff. Die ausgewählten Stücke liegen bereit, im Koffer verstaut zu werden. Blusen, T-Shirts, Hosen und dergleichen zu koordinieren werde ich nie lernen. Ich packe und stelle fest, dass die graue Hose nicht mit dem beigefarbenen Shirt harmoniert, ich keinen BH für die weiße Bluse eingepackt habe, also wieder alles raus.
Irgendwann wird es mir zu viel und ich lasse genervt den Kofferdeckel fallen. Nun befreie ich noch den Geschirrspüler von seiner Last, entsorge den Abfall und gieße die Blumen. Ich verlasse ungern mein kleines Reich im Chaos.
Mein ‚Baby‘ wartet schon in der Garage. Ich verstaue das Gepäck im Kofferraum und fahre los. Die Last der letzten Tage fällt von mir ab und ich genieße in voller Lautstärke meine Lieblingssongs.
Der Weg führt über die A9 in Richtung Schkeuditzer Kreuz. Das Navi sagt mir, dass ich auf der A14 weiterfahren soll. Ich habe meinen eigenen Kopf und möchte die Strecke durch Leipzig nehmen. Diese Stadt fasziniert mich, ich kann nicht erklären, warum.
Letztlich entscheide ich mich doch für den Weg, den mir das Navi vorgibt. Es ist nicht die Zeit, andere Gefühle zuzulassen. Ich versuche, mich auf das Treffen mit Sebastian zu konzentrieren. Doch ich kann die Erinnerungen nicht aus dem Weg räumen.
Meine berufliche Weiterbildung hatte mich im Sachsenland kurz nach der Wende viel herumkommen lassen. Ich besuchte in Leipzig und Chemnitz spezielle Lehrgänge, um mir ein kompetentes Wissen für den neuen Job im Bauamt Dessau anzueignen. Meine Orientierung über die damaligen Strecken kann ich getrost vergessen. Neue Straßen, Ortsumgehungen, neue Autobahnen! Es verwirrt mich, ich bin in einer fremden Umgebung unterwegs. Die Bilder aus dieser aufregenden Zeit sind verschwunden. Ich starre auf das Display des Navis, es zeigt mir Straßen an, die damals nicht existierten. Bedingungslos und traurig verlasse ich mich auf meinen kleinen Strecken-Spezialisten. Nun holt mich doch die Vergangenheit ein. Mit Anfang zwanzig und voller Tatendrang wollte ich die Welt erobern. Diese Zeit, kurz nach der Wende, war für uns alle die Umorientierung zu einem neuen Leben.
Inzwischen bin ich in einer gerade erst entstandenen Seenlandschaft. Statt alter Tagebaugebiete sehe ich links und rechts große und kleine Seen. Die Natur hat noch nicht mit ihrer Zurückeroberung begonnen. Künstlich angelegte Landschaften um und an diesen Gewässern fügen sich vielversprechend in das Gesamtbild ein. In wenigen Jahren bemerkt niemand, dass hier mit immenser Kraft eine neue Welt für Erholung suchende Menschen erschaffen wurde. Bäume und Büsche, Vögel und andere Tiere werden das Werk vollenden.
