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Sie waren fleischgeboren – doch als Mitglieder des Kybernetischen Tempels gelobten sie, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine zu überwinden. Ihr Ziel war es, ihre Körper Stück um Stück zu ersetzen, um auf diese Weise Unsterblichkeit zu erlangen; nicht erst in der nächsten Welt, sondern hier und heute, im Kalifornien unserer Tage.
Doch sind ihre Operationen das, was sie zu sein scheinen – der nächste Schritt in der menschlichen Evolution? Oder werden die Anti-Körper nur ausgebeutet zu medizinischen und kommerziellen Zwecken?
Nur einer glaubt die Antwort zu kennen: ein Psychologe, der sich als Deprogrammierer von Jugendlichen, die neuen Sekten in die Hände gefallen sind, einen Namen gemacht hat. Er kennt auch ein Heilmittel gegen diesen Anti-Körper-Kult – eine Kur, die schlimmer sein mag als die Krankheit selbst.
ANTI-KÖRPER: erschreckend, faszinierend und auf abseitig-subtile Weise erotisch. Ein Roman, der – buchstäblich? - unter die Haut geht.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
DAVID J. SKAL
Anti-Körper
Roman
Mit einem Vorwort von Isaac Asimov
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
ANTI-KÖRPER
Computerneid – Ein Vorwort von Isaac Asimov
Diandra
Julian
Gillian
Diandra
Hausfrauen in Tiefenhypnose
Gillian
Die Puppenklinik
Bessere Qualität für ein besseres Leben
Medienpolitik
Die elektronische Stimme
Scheinwerfer! Kameras! Katatonie!
Letzter Versuch
Cyborg-Sabbat
Kaltes Mitleid
Im Himmel
Die Moleküle der Ewigkeit
Wahre Geständnisse
Das letzte Ritual
Sie waren fleischgeboren – doch als Mitglieder des Kybernetischen Tempels gelobten Sie, die Grenzen zwischen Mensch und Maschine zu überwinden. Ihr Ziel war es, ihre Körper Stück um Stück zu ersetzen, um auf diese Weise Unsterblichkeit zu erlangen; nicht erst in der nächsten Welt, sondern hier und heute, im Kalifornien unserer Tage.
Doch sind ihre Operationen das, was sie zu sein scheinen – der nächste Schritt in der menschlichen Evolution? Oder werden die Anti-Körper nur ausgebeutet zu medizinischen und kommerziellen Zwecken?
Nur einer glaubt die Antwort zu kennen: ein Psychologe, der sich als Deprogrammierer von Jugendlichen, die neuen Sekten in die Hände gefallen sind, einen Namen gemacht hat. Er kennt auch ein Heilmittel gegen diesen Anti-Körper-Kult – eine Kur, die schlimmer sein mag als die Krankheit selbst.
ANTI-KÖRPER: erschreckend, faszinierend und auf abseitig-subtile Weise erotisch. Ein Roman, der – buchstäblich? - unter die Haut geht.
David J. Skal, Jahrgang 1952.
David J. Skal ist ein US-amerikanischer Schriftsteller, Kultur-Historiker, Kritiker und TV-Publizist, der vor allem für seine Forschungsarbeiten und Analysen im Bereich Horror-Film und –Literatur bekannt ist.
Skal studierte Journalismus an der Ohio University, wo er darüber hinaus als Film-Kritiker und Co-Herausgeber für die College-Zeitung tätig war.
1974, nach dem Uni-Abschluss, arbeitete er zunächst für die National Endowment For The Arts-Stiftung (mit Sitz in Washington, D.C.) und widmete sich anschließend der Publicity-Arbeit für die Hartford Stage Company. Ähnliche Positionen hatte er später beim American Conservatory Theatre (San Francisco) und bei der Theatre Communications Group Of New York inne.
Im Verlauf der (19)80er Jahre veröffentlichte Skal drei Science Fiction-Romane: Scavengers (1980), When We Were Good (1981) und Antibodies (1988); die beiden letztgenannten Romane erschienen in unter den Titeln Antikörper (1990) und Perfekte Geschöpfe (1995) auch in deutscher Sprache.
Skal veröffentlichte seither in erster Linie Sachbücher, u.a. Hollywood Gothic: The Tangled Web of Dracula from Novel to Stage to Screen (1990) – hier beschreibt Skal die ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen Adaptionen von Bram Stokers Roman Dracula - , The Monster Show: A Cultural History of Horror (1993) – eine Analyse des Horror-Films im Kontext der kulturellen Errungenschaften jener Zeit, in welcher sie entstanden - , V Is for Vampire: The A to Z Guide to Everything Undead (1996), Screams of Reason: Mad Science and Modern Culture (1998), Death Makes a Holiday: A Cultural History Of Halloween (2002) und Claude Rains: An Actor's Voice (2008).
Darüber hinaus war David Skal Mitherausgeber der im Jahr 1997 erschienenen Norton Critical Edition von Bram Stoker's Dracula und stellte 2001 die Anthologie Vampires: Encounters With The Undead zusammen.
Im Oktober 2016 veröffentlicht Skal die Biographie Bram Stoker: Something in the Blood.
David J. Skal lebt und arbeitet in Los Angeles, CA/USA.
Wenn wir älter werden, merken wir, dass verschiedene Teile unseres Körpers verschleißen. Das ist eine traurige, aber unvermeidliche Tatsache. Wenn der Leser noch jung ist und das nicht glauben kann, sage ich ihm nur: Warte ab!
Eigentlich dürften wir uns nicht darüber beklagen.
Unbelebte Objekte und selbst menschliche Artefakte, die keine sich bewegenden Teile haben (Statuen zum Beispiel), verändern sich weit weniger rasch als wir; aber alles, was sich bewegende Teile besitzt, altert und das im allgemeinen wesentlich schneller als der Mensch. Wenn unbewegte Gegenstände langsamer altern, dann um den Preis, dass sie sich nicht bewegen können.
Kein Säugetier besitzt eine so hohe Lebenserwartung wie der Mensch, und die einzigen Tiere, die älter werden als wir (zum Beispiel Schildkröten), sind Kaltblüter mit langsam ablaufenden Lebensprozessen. Pflanzen können noch älter werden, leben dafür aber noch passiver.
Unbelebte Objekte mit sich bewegenden Teilen schneiden im Vergleich noch schlechter ab. Eine Uhr, eine Waschmaschine oder ein Auto, die so alt sind wie ich und niemals repariert wurden, dürften überhaupt nicht mehr funktionieren.
Wichtig dabei ist jedoch, dass sie repariert werden können. Nach und nach kann man die alten Teile eines Autos durch neue ersetzen - die Reifen, den Motor, die Scheinwerfer - bis kein Teil mehr das Original ist, das vorhanden war, als man den Wagen. kaufte. Dennoch gibt es eine Art Kontinuität.
Warum ginge so etwas nicht auch beim menschlichen Körper?
Der Körper erneuert sich natürlich auch. Wunden heilen, gebrochene Knochen wachsen wieder zusammen und so weiter. Aber je älter man wird, umso stärker nimmt die Fähigkeit zur Heilung ab, und irgendwann einmal ist der Körper so verschlissen, dass man - selbst unter Vermeidung von Infektionen und Verletzungen - einfach an irgendeiner Form von Degeneration stirbt.
Die Technologie ist uns eine Hilfe. Zähne verfaulen - der einzige Teil eines lebendigen Körpers, der dies tut-, und dieser Verfall lässt sich nicht rückgängig machen. Früher verlor der Mensch dadurch sämtliche Zähne. Heute kann man die entstehenden Löcher im Gebiss mit Amalgam füllen.
Ich zum Beispiel trage Glaslinsen vor den Augen, um die natürlichen Linsen darin zu ergänzen. Als sich vor ein paar Jahren meine Herzkranzgefäße gefährlich verengten, setzten die Chirurgen mir neue Arterien und Venen ein, die die verstopften Gefäße umgingen (wobei sie sicherheitshalber Teile von meinen eigenen Arterien und Venen benutzten), damit mein Herz wieder ausreichend mit Blut versorgt wurde.
Natürlich wäre es schön, wenn wir in dieser Hinsicht noch mehr tun könnten. Es gibt das Jarvik-Herz, das eine Zeitlang das natürliche ersetzt, während man auf ein organisches Spenderherz wartet. Wäre es nicht herrlich, wenn es ein dauerhaftes mechanisches Herz gäbe, das jahrhundertelang schlagen könnte?
Dasselbe gilt natürlich für eine künstliche Leber, künstliche Augen und so weiter.
In meinem Roman Der Zweihundertjährige gibt es einen Roboter, der immer mehr menschliche Züge annimmt, bis er schließlich die Eigenschaft erwirbt, durch Degeneration zu sterben. Im Hintergrund spielen Menschen mit, die nach und nach ihren natürlichen Körper durch technische Prothesen ersetzen, umso den Tod zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern.
Meine Vorstellung war, dass sich Roboter immer mehr zu Menschen und Menschen immer mehr zu Robotern entwickeln, bis man zuletzt keinen Unterschied mehr feststellen kann.
Diese Ideen sind natürlich nicht neu. Es gab sie schon vor der SF-Literatur. In Pinocchio gibt es eine lebendige Marionette (die sehr roboterähnlich ist), die durch Treue und Tapferkeit zum Menschen wird. Den umgekehrten Fall haben wir in der Geschichte Der Zauberer von Oz, wo ein unglaublich ungeschickter Holzfäller seine Gliedmaßen mit der Axt zerstückelt und dann aus Metall neu geschaffen wird. Auf diese Weise entsteht Tin Woodman, der eine haltbarere Ausgabe seiner selbst ist.
Wenn wir bis zur griechischen Mythologie zurückgehen, finden wir auch dort Hinweise auf künstlichen Ersatz für Körperteile. In einer der weniger erquicklichen Geschichten wird Tantalus, ein König von Argos, als Intimus der Götter beschrieben. Einmal lud er die Götter zu einem Bankett in seinen Palast ein. Um deren Allwissenheit zu testen, tötete er seinen Sohn Pelops und ließ ihn als Mahlzeit servieren.
Die Götter merkten natürlich, was er getan hatte.
Sie erweckten Pelops zu neuem Leben und sorgten dafür, dass Tantalus in Tartarus gefoltert wurde. Dort musste er bis zum Hals im Wasser stehen, wobei köstliche Früchte vor seinem Gesicht hingen. Aber wenn er den Kopf neigte, um zu trinken, sank der Wasserspiegel, und sobald er nach den Früchten griff, wichen diese zurück. Daher der Ausdruck Tantalusqualen.
Bei dem Bankett war auch die Göttin Demeter anwesend. Bekümmert ob des Verhaltens ihrer Tochter Persephone gegenüber dem Gott der Unterwelt, passte sie nicht auf und aß versehentlich ein Stück von Pelops linker Schulter. Die Götter ersetzten das fehlende Teil durch eine Prothese aus Elfenbein. Das muss sehr hübsch ausgesehen haben, denke ich.
Wären die Menschen damit einverstanden, sich Körperteile durch mechanische Vorrichtungen verstärken oder gänzlich ersetzen zu lassen? Ich glaube ja. Heute lehnt man solche Hilfsmittel nicht mehr ab. Grundsätzlich hat fast niemand etwas gegen Zahnfüllungen, Brillen, künstliche Hüftgelenke, Herzschrittmacher, Beinprothesen und Ähnliches einzuwenden.
Ich vermute sogar, dass, wenn diese künstlichen Hilfen effektiver oder haltbarer wären als die echten Sachen, die Menschen danach Schlange stehen würden. Gardner Dozois nennt diese Haltung in Anlehnung an Sigmund Freud Computerneid. Ich finde, das ist genau der richtige Ausdruck dafür.
In Anti-Körper beschreibt David J. Skal, wohin diese Einstellung letzten Endes führen kann... und es sind beängstigende Aussichten.
Isaac Asimov, 1989
»Heute Nachmittag sah ich eine junge Frau,
die bei strahlendem Sonnenschein
auf die Straßenbahn wartete.
Sie wurde von ihrem Körper begleitet.«
- René Magritte
Sie bewegte sich wie in einem Traum, und es war dein Traum, obwohl zu diesem Zeitpunkt keiner von euch wusste, daß der andere existierte und welche Rolle er im Leben des anderen spielen würde.
Sie war ein schlankes Mädchen mit glatter Haut und großen Augen - zu großen Augen, fanden manche Leute -, und ihre zarten Knochen traten deutlich sichtbar an den Handgelenken und den Knöcheln hervor. Spannungszonen nannte sie diese Stellen, an denen die mechanische Belastung am größten war.
Sie bewegte sich vor ihrem Badezimmerspiegel, indem sie tiefer in den Traum hinabsank. Die geweiteten Augen starr auf ihr Bild gerichtet, drehte sie langsam den Kopf hin und her, erst nach rechts und dann nach links. Die Lider blinzelten nicht; darüber war sie hinaus.
Endlich.
Sie war früh aufgewacht, von selbst, ehe der Wecker schrillte - solche Hilfsmittel brauchte sie jetzt nicht mehr. Die Veränderung hatte sich nur langsam und unter Schmerzen vollzogen, doch als sie heute Morgen aufwachte, wurde ihr schlagartig klar, dass ihr Leben von nun an anders verlaufen würde. Jetzt war sie frei, unabhängig, losgelöst von allem. Gewiss, es war schwierig gewesen, diesen Zustand zu erreichen, aber sie hatte die Prüfungen auf sich genommen und würde dafür belohnt werden. Als sie an diesem Morgen aufwachte, Sekunden bevor der Wecker läutete, weil sie den Mechanismus verinnerlicht hatte und ihn ausschalten konnte, wusste sie, dass sie gewonnen hatte.
Sie starrte auf ihr Spiegelbild, sah das straffe, ebenmäßige Gesicht, den langen Hals, das weißgesträhnte Haar. Sie glich einem sonderbaren blauäugigen Albino. Leute, die sie nicht kannten, ordneten sie ihres Aussehens wegen der Rockmusik- und Drogenszene zu. Für beides hatte sie jedoch nichts übrig; sie hatte sich ihre Persönlichkeit selbst geschaffen. Sie berührte ihre Haut; sie fühlte sich trocken an, nicht fett, und sie war extrem blass. Das Blut muss ich verdünnt haben, dachte sie. Endlich.
Neben dem Bettkasten, auf dem sie schlief, spielte immer noch der Radiowecker. Eine mechanische Stimme unterbrach alle paar Minuten die Musik und sagte die Zeit an. Sie liebte diese Stimme, den kalten, künstlichen Akzent. Aber die Musik war grässlich, ein dummes Lied über Liebe und Leid. Und sie war dumm, dass sie sie nicht abstellte.
Sie ging ins Schlafzimmer und zog den Stecker raus. Solche albernen Geräte brauchte sie nicht mehr.
Sie betrachtete das beinahe unbenutzt aussehende Bettzeug; es war ein weiterer Test. Und auf der Bettkonsole aus Chrom lag ihre Belohnung, der Umschlag mit dem einfachen Flugticket, das es ihr heute noch ermöglichte, endgültig mit der Vergangenheit zu brechen.
...leider gilt das Verfahren in den Vereinigten Staaten noch als illegal... doch eine begrenzte Anzahl für würdig erachteter Anhänger kann in bestimmten Kliniken Mittelamerikas aufgenommen werden...
Und Diandra gehörte zu der kleinen Gruppe von Auserwählten.
Leichtfüßig durchquerte sie ihr Appartement, wobei sie die Küche außer Acht ließ. Sich das Essen abzugewöhnen war am schwierigsten gewesen, doch sie vertraute ihren Lehrern, und allmählich verging der Hungerschmerz. Die Küchengeräte - der Kühlschrank, der Herd, der Nahrungsmittelprozessor - waren schöne Gegenstände an sich; Kunstwerke aus strengen Linien und Flächen, Edelstahl und Glas, ein makellos sauberes Labor ohne jede organische Substanz.
Hinter der Küche lag das Wohnzimmer; in diesem Raum verbrachte sie die meiste Zeit. Für sie war es eine Art Kokon gewesen, mit gitterartig angeordneten Industrieleuchten, Teppichboden, High-Tech-Geräten. Ein Kokon aus Chrom, Draht und Glas.
An einer Wand hing ein großes Poster mit einer Graphik von H. R. Giger, die eine surrealistische Verschmelzung eines Menschen mit einer Maschine darstellte. Das Thema war futuristisch und altertümlich zugleich, die Hoffnung auf das Bewusstsein einer vergessenen Offenbarung.
Unter der Graphik stand ein Videogerät mit dem dazugehörigen Bildschirm... wie viel hatte sie von dieser Maschine gelernt!
Daneben stapelten sich die Vorträge aus dem Kybernetischen Tempel, die sie auswendig kannte, und Kassetten mit Filmen wie Alien, Robocop und Tron. Überall im Zimmer verteilt lagen Kassetten mit Videospielen, Science-Fiction-Magazine und medizinische Fachzeitschriften.
Alles Überreste eines froheren Lebens, eines Lebens, das sie hinter sich gelassen hatte. Sie würde zur Arbeit gehen wie immer, um keinen Verdacht zu erregen. Überall lauerten Feinde und beobachteten sie. Es war wichtig, kein Misstrauen aufkommen zu lassen.
Sie zog sich einen schwarzen Jumpsuit an, der zu ihrem Haar einen lebhaften Kontrast bildete. Als Gürtel benutzte sie eine silberne Kordel. Dann nahm sie das Flugticket, prüfte es ebenso wie ihren Reisepass und steckte beide Dokumente in die grellbunte Gasmaske, die sie als Handtasche benutzte. Mehr Gepäck hatte sie nicht, denn sie brauchte nichts. An ihrem Bestimmungsort würde man für sie sorgen, sich ein- für allemal um sie kümmern.
Als sie ihre Dreiundeinhalb-Zimmer-Wohnung in der Pacific Avenue verließ, in der sie das letzte Jahr zugebracht hatte, verspürte sie weder Bedauern noch das Gefühl eines Verlustes - nur Befreiung. Im Flur traf sie Minnie, ihre Vermieterin, die sie grüßte, doch Diandra tat so, als hätte sie sie nicht gehört. Minnie hatte ihr Zeitschriften und Zeitungsartikel unter die Tür geschoben. Die Berichte handelten von nervöser Anorexie, da Minnie offensichtlich glaubte, ihre Mieterin leide an dieser Krankheit. Minnie war selbst nur ein Häufchen Elend, dem Tode nahe - wieso interessierte sie sich für Diandras körperliches Wohlergehen? Nervöse Anorexie! Nein, Diandra war nicht krank. Gewiss, sie nahm keine Nahrung zu sich und bestand praktisch nur noch aus Haut und Knochen... aber doch nicht deshalb, weil sie nichts essen konnte. Es war typisch für Minnie, die Welt in einfachen Schlagzeilen zu sehen. Sie war ja so blind.
»Diandra!«, rief die alte Frau. »Wenn Sie Zeit haben, dann mache ich Ihnen ein schönes Frühstück...«
Diandra blickte zur Treppe zurück. Sie sah Minnie an, ohne etwas zu sagen.
»...ihr jungen Leute habt es immer so eilig; nie habt ihr Zeit, nicht mal zum essen...«
»Vielen Dank, Minnie, aber ich möchte nichts.«
»Ich weiß, dass Sie glauben, ich kümmere mich um Dinge, die mich nichts angehen...«
»Schon gut, Minnie. Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorgen zu machen. Mir fehlt wirklich nichts.«
»Das freut mich, aber... Sie sehen so blass aus! Ich mache mir Sorgen um Sie; ich mache mir Sorgen um all die jungen Leute in diesem Haus.«
»Das ist nett von Ihnen, Minnie. Auf Wiedersehen.«
Nein. Nicht auf Wiedersehen!
Draußen verzog sich der Frühnebel. Diandra konnte bereits die TransAmerica-Pyramide erkennen, deren Umrisse durch den Dunst schimmerten. Sie mochte das Gebäude, das sich trotzig am Horizont erhob; in seiner Vereinzelung und Strenge glich es ihr selbst. Es sieht aus wie ein gigantischer Reißzahn, dachte sie, der ein Stück aus dem Himmel herausbeißt.
Sie nahm den Elektrobus. Heute stören die anderen Fahrgäste sie nicht, denn mittlerweile war sie über die übliche Reizbarkeit erhaben. Sie bemerkte nicht länger die abgewrackten, schlaffen Gestalten mit ihren von Deodorants und Duftwässern überlagerten Ausdünstungen. Heute blickte sie über sie hinweg und durch sie hindurch. Ihr einziges Interesse galt nur noch der Maschine, in der sie fuhr, den anderen Maschinen ringsum und den von Maschinen errichteten Bauten. Maschinen waren die einzige Realität, die von Dauer war.
Alles Fleisch, jeder organische. Körper, war vergänglich.
Der Bus hielt am Union Square. Automatisch stand Diandra auf, schob sich gewandt an den Personen vorbei, die jetzt nicht mehr wichtig waren, und stieg aus. Sie stand auf dem Bürgersteig vor dem eindrucksvollen Kaufhaus im Art-Deco-Stil, das ihr Ziel war, dem Croesus.
Das Kaufhaus war Anfang der dreißiger Jahre gebaut worden und galt als Sehenswürdigkeit von San Francisco, eine unruhige Mischung aus ästhetischer Technik und spanischem Dekor - ein klassischer architektonischer Zwitter. Ende der siebziger Jahre sorgte eine eigens zu diesem Zweck gegründete gemeinnützige Organisation dafür, dass es vor dem Abriss gerettet und unter Denkmalschutz gestellt wurde.
Diandra betrat das Gebäude durch die Drehtür, die in Glasbausteine eingelassen und von einem Filigran aus Chrom umrahmt war. Das Erdgeschoss war eine irrwitzige Phantasie aus Parfümdüften und aztekischen Säulen. Ein Jahr lang war Diandra jeden Tag durch diese Tür geschritten, buchstäblich hineingewirbelt worden in diese Atmosphäre; und tagtäglich wirkte der sonderbar metallische Geruch auf sie ein, der sie gleichzeitig beruhigte und erregte.
Das Interieur des Hauses war in makellosem Silber gehalten. Alles war so wunderbar geordnet und organisiert. Mit der Rolltreppe fuhr sie in das Zwischengeschoss, vorbei an gezackten silbernen Blitzen, einer Decke entgegen, die sich gleich einer hydraulischen Presse herabzusenken schien.
Sie beobachtete die anderen Rolltreppen, die rechts und links von ihr ebenfalls hinaufglitten, und auf denen sich Menschen geräuschlos und automatisch von einem strahlend erleuchteten Stockwerk zum nächsten tragen ließen, bis sie ins oberste Geschoss gelangten. Diandra stellte sich bildlich vor, dass dort oben ein beglückendes und blendend helles Licht schiene, und Kunden angesichts des Glanzes niederknieten, um auf ihren Zungen die Croesus-Kreditkarten in Empfang zu nehmen.
...haltet euch für Pioniere, die unbekanntes Land erforschen, das eines Tages die Geschichte der Menschheit ändern wird! Viele von euch haben sich in ihrer derzeitigen Existenz isoliert gefühlt, entfremdet von der scheinbar vertrauten Umgebung. Kein Wunder! Denn ihr seid anders! Ihr seid etwas Besonderes. Doch nun ist der Zeitpunkt gekommen, da eure angeborene Überlegenheit akzeptiert wird...
Im Personaltrakt, der sich gleich hinter dem Zwischengeschoss befand, steckte sie ihre Karte in die Stechuhr. Diesen Teil des Gebäudes hatte man nicht stilgerecht renoviert, lediglich ein paar wackelige Art-Deco-Möbel standen im sogenannten Aufenthaltsraum für die Angestellten.
Eine junge Verkaufsleiterin von der Haushaltwarenabteilung hockte auf der äußersten Kante eines muschelförmigen Sofas und nippte zitternd Kaffee aus einem Styroporbecher. Das Mädchen war reizlos und beinahe schon fett. Über den Rand des Bechers hinweg glotzte sie Diandra an. Das Mädchen hatte sie schon oft so angestarrt und sie mit einem seltsam gierigen Ausdruck beobachtet. Was wollte sie von ihr? Sie hatte sie noch kein einziges Mal angesprochen, immer nur angeschaut.
Diandra ging in die Garderobe, in der sich die Spinde für die Angestellten befanden, und warf zum letzten Mal einen Blick auf die Nachrichtentafel. Danach betrat sie den Waschraum, aber nicht, um die Toilette zu benutzen - der Gedanke war lächerlich -, sondern um noch einmal in den Spiegel zu schauen; sie wollte sich vergewissern, dass sich nichts verändert hatte, dass sie noch genauso aussah wie am Morgen nach dem Aufstehen. Ja... ihre Körperhaltung war ideal ausbalanciert...
Hinter ihr war jemand.
Sie drehte sich um und verwünschte gleichzeitig den Adrenalinausstoß, der in ihrem Körper stattfand. Sie durfte nichts empfinden...
In der Tür stand das Mädchen aus dem Aufenthaltsraum. Im Neonlicht sah ihre Haut käsig aus. In ihrem Blick lag keine Schüchternheit mehr, sie starrte Diandra direkt ins Gesicht - jedoch nicht ohne eine Spur von Furcht.
»Was wollen Sie?«, fragte Diandra kühl.
»Ich... ich habe noch nie mit Ihnen gesprochen«, begann das Mädchen; Diandra wandte sich ab. Was wollte diese Kreatur? Musste es ausgerechnet heute sein? Sie umklammerte das Waschbecken und bemühte sich, das dicke Mädchen zu übersehen, dessen Bild im Spiegel reflektierte.
»Ich... ich weiß, was Sie sind«, stotterte das Mädchen. Ob sie auch einen Namen hatte? Diandra wusste es nicht. »Ich... weiß Bescheid, weil ich bin wie Sie. Ich bin eine von euch, und ich weiß nicht, was ich machen soll...« Ihre Stimme hob sich schrill. Ihr Körper bebte. »Bitte, helfen Sie mir.«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, was ich für Sie tun könnte...« Sie musste fort von hier. Jeden Moment konnte jemand hereinkommen.
Das Mädchen kam näher. »Ich habe mir alle Bänder angesehen und alle Bücher gelesen, aber ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Sie kennen die Verbindungen - machen Sie mir doch nichts vor!«
Ihre Stimme klang heiser, und sie rückte immer näher an Diandra und ihr Geheimnis heran.
»Sehen Sie sich das an«, flüsterte sie, »das habe ich in Nevada machen lassen.« Sie streckte eine bandagierte Hand aus und löste ohne viel Umstände den Verband vom kleinen Finger. Doch vom Finger war nur noch ein Stummel übrig, denn auf dem ersten Gelenk sah eine winzige-Leuchtdiode in Form eines menschlichen Fingers. Das Gewebe war wund und infiziert. Wie gebannt starrte Diandra darauf. An der Stelle, wo der Fingernagel hätte sein sollen, pulsierte die Prothese in einem dominoähnlichen Lichtmuster. »Ich ging in diese Klinik in der Wüste - tausend Dollar zahlte ich, und dann verschwanden sie einfach. So wachte ich auf, aber es war niemand mehr da meinen Finger fand ich in einem Ausguss...«
In ihren Augen standen Tränen, und Diandra hatte schreckliche Angst, das Mädchen könne versuchen, ihr um den Hals zu fallen.
»Es sollte der erste Schritt sein, ein Sakrament; ich hatte alles darüber gehört. Der Kybernetische Tempel. Aber der Stumpf will nicht heilen, und ich weiß nicht mehr weiter...«
Diandra rückte ein Stück vom Waschbecken ab. Sie drückte sich mit dem Rücken flach gegen die Wand und rührte sich nicht. Das Mädchen begann jetzt heftig zu weinen. »Ich weiß... ich weiß, was Sie über mich denken... Sie finden mich abstoßend. Ich bin dick... aber glauben Sie, ich würde nicht darunter leiden? Ich brauche Hilfe...«
Nur eine begrenzte Anzahl von Auserwählten...
»Man fleht um Hilfe - und sie schneiden einem die Hand ab...«
»Ich muss jetzt aber wirklich gehen«, sagte Diandra. Sie drohte die Fassung zu verlieren. Das Mädchen blockierte den Ausgang. Nun konnte Diandra sie auch riechen, sie stank nach Fleisch und nach Angst; und weil sie sie riechen konnte, war sie ein Teil von ihr...
Beharrlich fuhr das Mädchen fort: »Jetzt weiß ich, dass Amerika nichts taugt; man muss ins Ausland, um zu bekommen, was man haben will...«
»Sie sind sehr aufgeregt...«
»...und sagen Sie mir nicht, Sie wüssten nicht, wohin ich gehen muss. Ich habe gesehen, wie Sie letzte Woche zum Schalter der Fluggesellschaft gingen - in der Mittagspause bin ich Ihnen gefolgt...«
»Ich fliege nirgendwohin. Ich will nur hier heraus...«
»Verstehen Sie denn nicht? Ich möchte, dass Sie den Rest auch noch wegschneiden. Das ganze Fett. Die ganze Vergangenheit. Alles! Ich will ein perfekter kleiner Roboter werden - so wie Sie... ja, ein Roboter! Sie können doch nicht abstreiten, dass das auch Ihr Ziel ist.«
Diandra spürte, wie in ihr eine nackte, animalische Panik wuchs. Diese aufgedunsene Kreatur zog sie nach unten, würde noch einen Rückfall bewirken. Die giftigen Absonderungen des Fleisches stellen eine ständige Gefährdung durch Ansteckung für den Geist dar. Gehen Sie in Opposition! Das körperliche vernichtet Sie; nur der Tempel kann sie befreien.
»Fleisch!«, sagte Diandra mit einer Bösartigkeit, die sie selbst überraschte.
»Was...?«
»Als Fleisch bist du geboren, und als Fleisch wirst du sterben!« Mit dem Zeigefinger stach sie auf das fette Mädchen ein. Die prallte zurück, glitt aus und stürzte zu Boden. Diandra merkte, wie ihre Selbstbeherrschung zurückkehrte. »Du willst eine von uns sein? Sieh dich doch an!« In ihren Ohren klang ihre Stimme wie das Zischen eines Lautsprechers, das aus dem Innersten ihres Wesens zu kommen schien.
»...nichts als ein Stück wurmstichiges Fleisch! Wie kannst du es wagen, dich einer wie mir zu nähern...«
Das Gesicht des Mädchens zitterte wie Gelatine.
Doch dann verfinsterte sich ihre Miene. »Was bist du denn schon!«, spie sie aus. »Was mir passiert ist, kann dir ebenso gut passieren. Teile verschleißen, Maschinen gehen kaputt. Und...« Boshaft kichernd hob sie eine Hand an den Mund. »...in jeder Maschine hausen Kobolde.«
»Du bist ja verrückt«, flüsterte Diandra. Stand sie etwa auch im Begriff, den Verstand zu verlieren?
»Du tust so überheblich. Aber noch bist du keine von ihnen, du dürres Biest! Wenn sie dich schneiden, dann blutest du genauso wie ich. Willst du es sehen?«
Diandra wollte nichts sehen. Sie schrie auf, als der Arm des Mädchens vorschnellte. Doch die Hand hielt kein Messer.
Das Mädchen streifte lediglich den Ärmel hoch und zeigte die Narben an ihrem Handgelenk. Sie waren schrundig, geschwollen und hatten die Farbe von Würmern. Offenbar hatte sie versucht, sich selbst zu operieren.
Diandra flüchtete aus dem Waschraum. Sie hätte nicht erschütterter sein können, hätte das Mädchen tatsächlich eine Vene geöffnet und sie mit Blut bespritzt. Eine Wahnsinnige, die in ihrem Körper gefangen ist. In einer Toilette wird sie hysterisch und zeigt ihren blinkenden elektrischen Finger. Sie bettelt um Erlösung.
Ihr schwindelte, und sie dachte daran, dass das Gyroskop versagte. Mit dem Lift fuhr sie zur Ausstellungs-Etage. Sie zitterte heftig - ihr Körper zitterte. So durfte sie niemand sehen, nicht im Kaufhaus, nicht im Flugzeug, vor allen Dingen nicht im Kybernetischen Tempel. Bis jetzt kannte sie vom Tempel nur die körperlosen Stimmen, die vom Band zu ihr gesprochen hatten. Stimmen, deren Urheber sie bald sehen würde, wenn sie erst einmal ihren Bestimmungsort in den Tropen erreicht hätte, der Boca Verde hieß.
Sie musste sich beherrschen; die äußere Erscheinung war wichtig. Mit dem Aussehen verändert sich die Realität.
Schwungvoll wie der Taktstock eines Dirigenten vollendete der Etagenanzeiger seinen Halbkreis. Sie hatte die Fassung noch nicht ganz wiedererlangt, als die Lifttür aufglitt und Philip, ihr Chef, sie sah.
»Diandra... ist was passiert?« Philip war ein eleganter, gepflegter, unterhaltsamer Mann, den sie auf einer Party in New York kennengelernt hatte. Philip und sie hatten sich auf Anhieb zueinander hingezogen gefühlt, aber auf einer Ebene, die absolut nichts mit Körperlichkeit zu tun hatte.
Für Diandra war dies eine aufregende Erkenntnis; sie konnte in San Francisco leben, ohne sich jemals auf diese Weise mit Männern abgeben zu müssen. Die schienen nicht zu merken, dass sie Männer nur dann akzeptierte, wenn man sie nicht als Frau ansah.
Philips Interesse an ihr war hauptsächlich beruflicher Natur. Er hatte ihre Skizzen für ein Modemagazin bewundert - die Entwürfe warn ungewöhnlich nüchtern, kubistisch und surreal - und hatte gleich erkannt, dass sich ihre Ideen wirkungsvoll in einer gegenständlichen Ausstellung umsetzen ließen.