Antiheld - I. Tame - E-Book

Antiheld E-Book

I. Tame

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Beschreibung

Luca ist ein sanfter mitfühlender Mensch. Seine Fähigkeiten als Heiler ebnen ihm einen neuen beruflichen Weg. Das ist jedoch nicht ganz einfach, wenn man einen skrupellosen Manager an seiner Seite hat. Luca fühlt sich ausgebrannt und haut in einer spontanen Nacht- und Nebel-Aktion ab. Nachdem er einige Stunden ziellos über die Autobahn fährt, entscheidet er sich spontan für die Kleinstadt Loewenherz, um sich dort für eine Weile zu verkriechen. Hier lernt er Jackson kennen. Der hat gerade ein Zimmer zu vermieten und Luca packt die Gelegenheit beim Schopf. Jackson führt ein eigenwilliges Leben. Er fährt Motorrad und spielt für sein Leben gern Gitarre. Auf einen festen Job pfeift er, denn mit Geld kann er nicht viel anfangen. Alles was er braucht, organisiert er sich – frei nach dem Prinzip: Eine Hand wäscht die andere. Sein Motto: Jeder sollte nur das machen, was ihn wirklich von ganzem Herzen erfüllt. Zwischen Luca und Jackson funkt es heftig. Und obwohl es scheint, dass sie so gar nicht zueinander passen, wollen sie es miteinander versuchen. Ob das klappt? Ihre Chancen stehen 50:50.

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Seitenzahl: 696

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Antiheld

I. Tame

Inhalt

Impressum

Widmung

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Absinth hat einen Traum …

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Epilog

Epi-Epilog

Impressum neobooks

Impressum

ANTIHELD

I. Tame

Copyright: © 2015 I. Tame

Bildnutzung: Panther Media GmbH (feedough), (balaikin)

Alle Rechte sind vorbehalten. Dieses Buch ist ausschließlich für den Käufer lizensiert. Eine Vervielfältigung oder Weitergabe in jeder Form ist illegal und stellt eine Verletzung des Internationalen Copyright-Rechtes dar. Somit werden diese Tatbestände strafrechtlich verfolgt und bei Verurteilung mit Geld- und/oder Haftstrafen geahndet. Dieses eBook darf nicht illegal verliehen oder an andere weitergegeben werden. Kein Teil dieses Werkes darf ohne die ausdrückliche Genehmigung des Autors Dritten zugänglich gemacht oder reproduziert werden.

Dies ist eine frei erfundene Geschichte. Namen, Figuren, Plätze und Vorfälle obliegen der Fantasie des Autors bzw. sind reine Fiktion. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Firmen, Ereignissen oder Schauplätzen sind vollkommen zufällig.

Die Abbildung auf dem Innentitel und der 1. Umschlagseite dient nur darstellerischen Zwecken. Die abgebildete Person ist ein Model.

Einem meiner Besten gewidmet.

17 Jahre

Du fehlst mir so!

Voyage, voyage … et jamais ne reviens

Hilflos deine Zähne nagen

Lauter Dinge sinnlos sagen

Und auf dich fallen voller Gier.

In deinem Körper zu versinken

Deine Lippen leer zu trinken

Und dann verdursten wie ein Tier.

Du … ich liebe dich

(Aus ‚Ich liebe dich‘ von Stephan Sulke)

Luca ist müde. Suchend schweift sein Blick über die Landschaft. Schön ist es hier. Sanfte grüne Hügel, hier und da ein Waldstück. Dazwischen die obligatorischen Rapsfelder. Da drüben lugt die Spitze eines kleinen Kirchturmes zwischen bunten Dächern hervor. Schwarze und rote Dachpfannen wechseln sich ab. Der noch sanfte Sonnenschein des Frühjahres taucht alles in unwirklichen Frieden. Ja, die Umgebung gefällt Luca. Hier könnte er sich eine Weile verkriechen.

Spontan hatte er die Ausfahrt auf der Autobahn angesteuert. Sein Bauchgefühl schien ihn mal wieder nicht getrogen zu haben. Jetzt nähert er sich einem Ortsschild: Loewenherz. Der Name gefällt ihm. Er lächelt, als er ein kleines Industriegebiet passiert und vor dem Ortskern einen großen Kreisverkehr überquert.

Hier seh‘ ich mich mal um, denkt er zufrieden. Ja, ein friedliches Städtchen. Hier findet mich Joey nicht. Der denkt doch, ich könnte ohne ihn keinen Schritt mehr tun. Wenn der wüsste, wie sehr ich die Arbeit mit ihm momentan hasse!

Mit leicht zitternden Händen streicht sich Luca einige lange Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er ist wirklich total erschöpft und unterzuckert. Ich muss dringend was essen, sonst klapp‘ ich zusammen. Wie auf Befehl parkt vor ihm ein Auto aus und Luca nimmt den Parkplatz für sich in Anspruch. Hier beginnt die übersichtliche Innenstadt von Loewenherz. Dreißig Meter weiter erspäht er das Werbeschild eines Cafés: Eine fliegende Kaffeebohne. Wunderbar. Sein Magen knurrt rebellisch, während er seinen komfortablen Volvo abschließt. Ein ‚Quiek-Quiek‘ ertönt, als er ihn per Funk verriegelt. Inzwischen ist ihm dieses Geräusch peinlich. Wie in einem billigen amerikanischen Actionfilm. Ist noch gar nicht lange her, da fand er sowas cool. Und er musste ja nur einen Piep von sich geben, dann rannte Joey los und kümmerte sich um alles.

Das hat vorerst ein Ende, denkt Luca entschlossen, als er mit einer automatischen Geste nach seinem Zopf im Nacken greift, um das Gummiband festzuziehen. Die dunklen dicken Haare verdankt er seinen italienischen Vorfahren. Meistens bändigt er sie als locker sitzenden Zopf im Nacken.

In der Familie seiner deutschen Mutter sind alle recht hochgewachsen. Gott sei Dank hat Luca daher die durchschnittliche Statur eines deutschen Mannes: Einsachtzig. Wäre er ausschließlich nach der Familie seines Vaters geraten, hätte das bedeutet: Einssiebzig und drunter. Doch das Schicksal hatte anderes mit ihm vor.

Seine italienische Verwandtschaft rief ihn als Kind oft ‚Angelo‘. Denn er war einfach ein Engel. Und das, obwohl er weder blonde Haare hat, geschweige denn blaue Augen. Im Gegenteil. Lucas Augenfarbe ist dermaßen dunkel, dass sie im richtigen Licht fast schwarz erscheint. Seine schmalen Gesichtszüge zeichnen sich durch hohe Wangenknochen und sanft geschwungene Lippen aus. Dazu die dichten dunklen Wimpern … und schon steht da ein kleiner Engel. Na ja, jetzt steht da natürlich ein großer Engel. Und momentan wohl eher ein müder Engel mit dunklen Ringen unter den Augen. Seine Gesamterscheinung zieht unter normalen Umständen sofort viele Blicke auf sich. Ein Begleitumstand, der Joey von Anfang an gefiel. Es war nicht das Wichtigste im Geschäft, aber natürlich sehr förderlich.

Seine Jacke schmeißt Luca gähnend auf die Rückbank. Es ist angenehm, lediglich in Jeans und Shirt herumzuspazieren. Ein kontrollierender Griff an seine Gesäßtasche. Portemonnaie dabei; alles klar.

‚Café Bohne‘. Luca lächelt. Nett!

Jetzt dürfte es ungefähr 10:00 Uhr sein. Das Café ist gut besucht, doch Luca ergattert einen gemütlichen Platz an der vorderen Fensterfront. Der Korbstuhl knirscht als er sich ziemlich fertig fallen lässt. Helle fröhliche Farben und gemütliche Sitzgruppen machen den Charme des Cafés aus. Die Wände verzieren Original-Zeichnungen aus Buntstift, Aquarell und Öl. Das Thema Kaffee steht natürlich immer im Mittelpunkt. Ein strubbeliger Blondschopf nähert sich freundlich lächelnd.

„Hallo und herzlich willkommen. Gefallen dir die Bilder? Die hat ein Freund gemalt. Sind alle zu verkaufen.“

Luca lächelt. „Sie gefallen mir wirklich sehr gut, doch eigentlich möchte ich lieber ein Frühstück.“

„Na klar! Was darf’s denn sein?“

Luca sieht zu ihm empor. „Tja, ich weiß nicht … Kaffee und … viel … von allem!“

Der junge Typ lacht. Sein fröhliches Wesen scheint die Stimmung der Gäste automatisch anzustecken.

„Verstehe!“, grinst er schließlich. „Wir stellen was Schönes für dich zusammen.“

In diesem Moment antwortet Lucas Magen für ihn. Ein langgezogenes tiefes Knurren ertönt. Beide Männer lachen.

„Ich geh‘ ja schon“, flachst der Blonde, während er sich bereits abwendet. „Uschi!“, ruft er in den hinteren Bereich des Cafés. „Ein großes Frühstück, bitte! Und beeil dich! Hier sitzt ein knurrendes Raubtier am Fenster.“

Lachend lehnt sich Luca zurück und schließt die Augen. Schön, vormittags einfach mal irgendwo in einem Café zu sitzen. Keine Termine, kein Leid anderer, kein Joey, der ihn vor sich her schubst. Inzwischen verbindet Luca allein Joeys Stimme mit Hetzerei, Gedrängel und Stress. Wahrscheinlich ist das ein wenig ungerecht. Doch der sich im Sonnenschein entspannende Mann am Fenster dieses kleinen gemütlichen Cafés bringt seinen Manager momentan nur noch mit unangenehmen Dingen in Verbindung.

„So, hier ist schon mal dein Kaffee. Du siehst echt fertig aus.“ Ganz selbstverständlich duzt ihn der Kellner. Das fällt Luca erst jetzt auf; doch es gefällt ihm. Dadurch fühlt er sich ein wenig zu Hause. Leise klimpernd wird eine kleine Kanne, die Tasse sowie Milch und Zucker vor Luca aufgebaut.

„Ich bin ziemlich lange gefahren.“ Das stimmt zwar nicht ganz, aber Luca hat nicht vor, seine Lebensgeschichte zu erzählen.

„Hast du noch eine weite Fahrt vor dir? Dann kann ich dir was für unterwegs vorbereiten lassen. Uschi macht tolle Baguettes.“

Luca lächelt. „Nein, danke. Eigentlich überlege ich, eine Weile zu bleiben. Gibt’s hier ein nettes kleines Hotel oder eine Pension?“

Der Kellner nickt. „Klar, gibt’s hier auch. Aber wenn du etwas länger bleiben möchtest hätte ich eine andere Idee, die für dich viel preiswerter wäre. Ein Kumpel hat gerade ein Zimmer zur Untermiete frei. Schöne Wohnung in einem Altbau. Da hättest du dein eigenes Zimmer; zwar nicht riesig, aber für eine kurze Zeit ideal. Soll ich mal nachfragen, ob das noch frei ist?“

Luca nickt glücklich. „Super Idee.“

„Mika! Raubtierfutter ist fertig!“, ruft eine Frauenstimme aus dem Hintergrund.

„Komme!“, lacht er.

Eine halbe Stunde später hat Luca alles verputzt was an Essbarem vor ihm aufgebaut wurde. So üppig hat er schon lange nicht mehr gefrühstückt. Üblicherweise isst er morgens lediglich eine Banane oder einen Apfel. Na ja, oft fehlt ihm einfach die Zeit; außerdem verputzt er Obst mit Leidenschaft. Egal! Das Frühstück gerade war echt super.

Befriedigt lässt er sich in die Polster seines Stuhles zurücksinken, während er genüsslich immer mal wieder an seinem Kaffee nippt.

„Wie ich sehe, hat es dir geschmeckt“, wird er von der Seite angesprochen. Mika steht grinsend neben ihm, ein Handy in der Hand.

„Darf ich?“, fragt er höflich, während er auf den gegenüberliegenden Stuhl deutet.

„Natürlich“, antwortet Luca schnell und setzt sich gerade hin.

Während er sich niederlässt, wählt der Kellner bereits. Einen Moment lang lauscht er. Dann zieht ein breites Grinsen über sein Gesicht.

„Ich bin’s … Mika. Hi, Jackson. Hab‘ ich dich geweckt?“

Gemurmel auf der anderen Seite. Mika verzieht feixend das Gesicht.

„Du fauler Sack. Wir haben fast Mittag und du liegst immer noch in den Federn … ach so … die Muse hat dich gestern Nacht geküsst. So so, besagte Muse würde ich gerne mal kennenlernen. War wahrscheinlich wohl eher Abs, der dich geküsst hat.“, ärgert er die Stimme am anderen Ende und lacht fröhlich.

„Hör‘ mal“, unterbricht der den lautstarken Protest, der auch für Luca gut zu hören ist. „Ist dein Zimmer noch frei? Ich hab‘ hier jemanden, der Interesse hätte, es zu mieten … Ja? … Super!“

Er zeigt Luca einen erhobenen Daumen.

„Wieviel willst du dafür? … Wie, ist mir egal?! Du musst doch eine Vorstellung davon haben, was du an Miete haben willst.“

Jetzt nickt Mika ergeben und verzieht dabei den Mund. „Ja, ja, ist ja schon gut. Ich weiß, du MUSST überhaupt nichts. Dann solltest du vielleicht besser direkt mit …“

Jetzt blickt er fragend über den Tisch.

„Luca“, souffliert dieser leise.

„… ihm reden; Luca heißt er. Er kommt gleich mal vorbei, okay? Gut. Nichts zu danken. Ciao.“

Immer noch lachend drückt der Blonde das Gespräch weg. „Ich schreibe dir die Adresse auf. Ist aber leicht zu finden. Zwei Querstraßen weiter. Das Haus liegt in einer ruhigen Seitenstraße. Wenn du ein paar Meter an der Hausnummer vorbei fährst, siehst du einen kleinen Parkplatz. Da ist meistens was frei.“

Zufrieden lehnt sich Luca zurück. „Das hört sich toll an, Mika. Und entschuldige, dass ich mich bei dir noch nicht richtig vorgestellt habe. Luca Denero.“ Er hält Mika seine rechte Hand entgegen.

„Mika Sundberg“, erwidert dieser, während er sie ihm lächelnd schüttelt.

Nachdem er gezahlt hat, verlässt Luca leise summend das Café. Er hat ein wirklich gutes Gefühl bei der Sache. Loewenherz wird vorerst sein neuer Unterschlupf. Gemächlich schlendert er zu seinem Auto.

Mika blickt ihm eine Weile hinterher, während er gedankenverloren mit dem Daumen seiner linken Hand über die rechte Handinnenfläche reibt. Es kribbelt ihn da irgendwie.

Die Adresse war wirklich leicht zu finden. Luca steht vor dem Eingang eines wunderschönen Altbaus. Die hellblaue Fassade lässt das Gebäude aus den angrenzenden Häusern hervorstechen. Dazu die weiß abgesetzten Mauersteine mit verspielten Steinornamenten um die großen halbrunden Fenster … wirklich sehr schön.

„So, jetzt bei Green klingeln. Hier! Jackson Green!“, murmelt er gedankenverloren.

Entschlossen drückt Luca auf den Knopf. Außer dem Namen Green befinden sich noch zwei weitere Namensschilder an der Klingelanlage. Und schon surrt der Türöffner.

Luca drückt die schwere hölzerne Eingangstüre auf und steht in einem für Altbauten typischen großzügig bemessenen Treppenhaus. Mosaike verzieren den Boden und eine breite dunkle Holztreppe führt am Ende des Eingangsflures in die erste Etage.

Doch bevor der Suchende überlegen muss, ob er nun die Treppe erklimmen soll oder nicht, bemerkt er die geöffnete Eingangstüre der Erdgeschosswohnung.

Vorsichtig nähert sich Luca.

„Komm rein!“, ruft jemand aus dem Hintergrund. „Nur keine Scheu. Ich zieh‘ mich gerade an.“

Folgsam überschreitet Luca die Schwelle und schließt die Wohnungstüre hinter sich.

Neugierig schweift sein Blick umher. Er liebt die hohen Decken; das Flair, das so ein Altbau ausstrahlt. Der knarzende Dielenboden gehört natürlich auch dazu. Doch so schön die Wohnung auch ist, sie scheint recht minimalistisch eingerichtet zu sein. Das karge Interieur wird ihr irgendwie nicht gerecht. Zu kahl, zu lieblos. Im Flur hängt lediglich ein riesiger Spiegel mit schwarz lackiertem Holzrahmen. Luca kann es nicht beschwören, doch das Teil sieht antik aus. Ebenso der unglaublich riesige Leuchter an der Decke. Außer einigen verzierten Garderobenhaken aus Messing und einem Schlüsselboard nah am Eingang ist der Flur jedoch leer. Jetzt tut sich was in einem der abzweigenden Zimmer.

„So!! Sorry, dass du warten musstest. Ich bin auf dem Sprung und musste mich noch anziehen!“

Jetzt erscheint die zur Stimme gehörende Person. Lucas Augen weiten sich kurz, kaum merklich. Jemanden mit einem solch exotischen Äußeren sieht er selten.

Vor ihm steht ein Typ, den Luca auf Mitte Zwanzig schätzt. Er ist so groß wie er selbst, doch damit erschöpfen sich auch schon die Gemeinsamkeiten. Er ist sehr hellhäutig und hat breite Wangenknochen; viel herbere Gesichtszüge als Luca. Volle Lippen pressen sich momentan verbissen aufeinander. Und er hat … blaue Haare. Dunkelblaue Haare, um genau zu sein. Sie strubbeln um seinen Kopf herum als hätte er nach dem Aufstehen noch keine Zeit gehabt, sich zu kämmen. Wenn das gewollt ist, hat er seinen Out-Of-Bed-Look gut hinbekommen. Doch instinktiv ist sich Luca sicher: das ist dem Typen scheißegal. Er trägt eine enge Lederhose und ein Shirt. Jetzt hüpft er gerade auf einem Bein herum, weil er mit einem klobigen Motorradstiefel kämpft. Endlich – an einem unterdrückten Ächzen zu erkennen – scheint sein Fuß den Kampf gegen das enge Leder gewonnen zu haben. Tief atmend stampft er noch einmal mit dem Fuß auf und stemmt dann die Hände in die Hüften. Im diffusen Licht und dem Flair dieser Altbauwohnung wirkt seine Erscheinung sehr fremdartig.

„Hi! Ich bin Jackson. Und du bist Luca …?“

„Luca Denero! Hallo!“, ergänzt der Besucher.

„Schön!“, erwidert Jackson und wirkt dabei ein wenig abgelenkt. „Und du willst das Zimmer? Sieh‘s dir an. Ist direkt neben meinem.“

Er deutet auf die übernächste Türe. Zurückhaltend geht Luca in die angedeutete Richtung. Ein Blick in den Raum und er ist mehr als zufrieden. Groß, hell, luftig. Ein schönes Einssechziger Bett mit Metallrahmen, ein gemütlicher Sessel in einer Ecke, ein kleiner Tisch, eine Kommode und ein schmaler Schrank. Trotzdem bleibt genügend Platz, um sich zu bewegen.

„Toll“, kommentiert er strahlend. „Ich würde es sofort nehmen.“

„Wieso ‚würde‘?“, fragt sein Vermieter, während er Reißverschlüsse und Schnallen seines schweren Schuhwerks schließt.

„Ääh …“ Luca weiß nicht so recht was er antworten soll. Jetzt tritt Jackson zu ihm in das Zimmer.

„Du willst es doch, oder?“, fragt er nach.

„Mhmm!“, bestätigt Luca.

Jackson grinst breit. „Na, dann ist ja alles klar.“

Endlich sehen sie sich in die Augen und Luca kann es nicht verhindern. Er starrt Jackson an. Fast bleibt ihm der Mund offen stehen. Was ist das denn? Faszinierend.

Sein zukünftiger Mitbewohner scheint davon nichts mitzubekommen. Er schaut sich noch einmal im Zimmer um. „Prima … Luca! Dann ist alles klar, oder?“, wiederholt er sich. Ist er nervös? Seine Finger zupfen ständig an seinem Shirt herum.

Luca nickt.

„Okay! Dann auf gutes Zusammenwohnen oder wie sagt man? Wegen der Kohle sprechen wir später, ja? Ich muss jetzt weg.“

„Oh, ich wollte dich nicht von einem Termin abhalten!“ Luca hebt beschwichtigend die Hände. „Ich kann auch später wiederkommen …“

„Was denn?“, fragt Jackson während er in den Flur schlendert. „Ist doch alles klar. Und du hältst mich von keinem Termin ab. Aber wenn ich jetzt nicht bald eine Runde auf meinem Bock drehe, flipp‘ ich aus. Richte dich doch einfach schon mal ein. Wir können ja später noch in Ruhe reden. Ein Zweitschlüssel hängt vorne am Haken. Bis gleich.“

Er wirft sich eine dicke Lederjacke über und greift nach seinem Helm, der in einer Ecke vorne an der Haustüre liegt.

Luca kann es nicht fassen. „Du lässt einfach einen Fremden alleine in deiner Wohnung zurück?“

Jetzt zieren sexy Grübchen das kräftige und offene Gesicht des Vermieters. Sein Lachen ist ansteckend. Im Türrahmen dreht er sich nochmals um.

„Wenn du irgendwas findest, für das du mehr als zehn Euro in der Pfandleihe bekommst, sag‘ mir Bescheid. Ich hab‘ nämlich schon versucht, sämtlichen Scheiß von mir zu versetzen. Alles was ich besitze, wollte sonst niemand haben. Viel Glück!“

Er klimpert mit seinem Schlüssel, winkt kurz und verlässt die Wohnung. Bevor er jedoch die Türe vollends zuzieht streckt er noch einmal den Kopf durch den Spalt. „Aber Finger weg von Lucy!“ Ein weiteres Grinsen und er ist endgültig weg.

Von jetzt auf gleich steht Luca alleine in der fremden Wohnung. Er zweifelt immer noch an dem, was er gerade erlebt hat. Wie ist dieser Typ nur drauf? Und wer ist Lucy? Eine Katze? Und dann seine Augen. Während Luca an den kurzen Moment zurückdenkt, in dem Jackson ihn angesehen hatte, läuft ihm ein Schauer über den Rücken. Unterschiedliche Augenfarben. Dunkelblau und Hellblau. Ich dachte, mir starrt irgendein Fabelwesen entgegen. Das war … befremdlich. Ob der Kontaktlinsen trägt? Bestimmt! Viele machen das ja aus Modegründen. Das nächste Mal muss ich mich echt zusammenreißen. Der hält mich sonst noch für total zurückgeblieben.

Jetzt hört Luca ein startendes Motorrad. Es wird Gas gegeben. Nicht lange und das knatternde Geräusch entfernt sich, bis nichts mehr zu hören ist.

Was er nicht ahnt: Jackson hatte einen Moment gebraucht, um sich daran zu erinnern, wie er seine Maschine starten muss; so dermaßen hatte ihn Lucas Anblick aus dem Konzept gebracht. Verdammt, sieht der gut aus! Sein Herz raste wie verrückt, als er losfuhr.

Aah! Ich bin sowas von geschafft. Luca hat sich nach einer schönen heißen Dusche eine alte Jogginghose und ein Shirt übergezogen. Seine langen Haare sind noch klamm, doch er hat keinen Bock, nach seinem Fön zu suchen oder sich einfach durch fremde Sachen im Bad zu wühlen. Die trocknen auch so. Sein gemarterter Körper sehnt sich nach Ruhe. Ausstrecken! Ja!! Das tut gut! Seit gestern Morgen ist er auf den Beinen. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet, seine kleine Krise bekommen und war daraufhin so gegen 8:00 Uhr – nach einer durchwachten Nacht – abgehauen. Ein paar Klamotten in zwei Reisetaschen geschmissen, seine Papiere gegriffen und dann auf und davon. Zwei Stunden lang war Luca einfach drauf los gefahren. Nur weg! Weg von dem Stress! Weg von den ganzen Menschen, der Bedrängnis. Luca bekam irgendwann einfach keine Luft mehr. Und Joey interessiert es doch nicht wirklich, wie es ihm geht. Hauptsache, sein Goldesel schuftet klaglos und brav vor sich hin. Unermüdlich. Wie eine Maschine, ein Roboter.

Ich bin aber keine Maschine, denkt er traurig, während er einen Unterarm über seine brennenden Augen legt. Ich muss mich ausruhen. Mein Kopf tut weh und ich bekomme keinen klaren Gedanken zu fassen. Schlafen! Ich muss dringend schlafen.

Vorhin hatte sich Luca ein wenig in der fremden Wohnung umgesehen. Behutsam war er durch die Räume geschlichen. Als könnte jederzeit ein Alarm losgehen und sich eine bewaffnete Polizeibrigade auf den Eindringling stürzen. Er fühlt sich natürlich noch sehr fremd.

Das Wohnzimmer ist recht gemütlich. Zwei kleine Sofas, ein Sessel, ein alter riesiger Holzkoffer als Tisch. Einige Regale mit Büchern und das war’s. Kein Fernseher, eigenartig.

Das Bad mit seinen alten schwarz-weißen Bodenfliesen reicht gerade aus, um Dusche, Badewanne, WC und Waschbecken unterzubringen. Nicht zu groß und nicht zu klein.

Die Küche: ein großer Holztisch, zwei Stühle und an der Wand eine grobe lange Holzbank. Die Kücheneinrichtung ist ziemlich alt. Die Verkleidungen der Hängeschränke bestehen aus dunklerem Holz. Ansonsten sind keine Besonderheiten zu sehen. Bis auf den Boden, der aus kleinen schwarz-weißen Fliesen besteht, ähnlich wie im Bad. Luca hätte wetten können, dass die noch original aus der Gründerzeit sind. Die Küche ist definitiv der gemütlichste Ort der Wohnung.

Einen kurzen Blick wagte er natürlich auch in Jacksons Zimmer. Da kommt man auch kaum dran vorbei, da es keine Türe hat. Ob das gewollt ist? Auf jeden Fall ist es ähnlich eingerichtet wie Lucas. Keine großartigen Besonderheiten. Es wirkt clean, fast unpersönlich. Ein paar Klamotten lagen auf dem Bett. In einer Ecke des Raumes standen zwei Gitarren an die Wand gelehnt. Eine alte zerkratzte blau-schwarze E-Gitarre und eine ebenfalls in die Jahre gekommene zwölfsaitige Westerngitarre.

Kurz bevor Luca in eine ohnmachtsähnliche Bewusstlosigkeit fällt, schmunzelt er. Auf der E-Gitarre stand mit schwarzem Edding dick und fett ‚Lucy‘.

Stunden später erwacht Luca aus einem erholsamen Schlaf. Sofort ist er hellwach. Das war bei ihm schon immer so. Er benötigt keine Aufwachphase; keine Zeit, um sich verschlafen durch die im Weg stehenden Möbel zu rempeln. Luca schlägt die Augen auf und ist da. Er streckt sich genüsslich. Seine innere Batterie hat er durch den tiefen Schlaf bestimmt um achtzig Prozent aufgeladen. Er hört ein schmauchendes, leise knatterndes Geräusch und lächelt. Kaffeemaschine.

Während er sich mit beiden Händen durch die zerzausten Haare fährt, tappt er barfuß Richtung Küche. „Hallo“, begrüßt er Jackson ein wenig verlegen. „Entschuldige, dass ich einfach eingepennt bin, aber ich …“

Jackson sitzt am Küchentisch und beugt sich konzentriert über seine Hände. Jetzt blickt er Luca an. „Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen! Kaffee?“, unterbricht er einfach Lucas Rede.

„Ja, super gerne!“

„Kannst du den mal eben einschenken? Ich kann grad‘ schlecht.“, bittet ihn Jackson und beugt sich bereits wieder über seine Hände. Jetzt bemerkt Luca, was sein Gegenüber da gerade macht. Er lackiert sich die Fingernägel. Schwarz. Luca kann nicht anders. Er starrt. Dabei wollte er das doch auf jeden Fall vermeiden. Aber es geht nicht. Ein Typ wie Jackson und dann … lackiert er seine Nägel. Jackson wiederum bemerkt, dass sein neuer Untermieter sich nicht regt. Grinsend blickt er kurz in dessen Richtung.

„Das macht Nuno Bettencourt auch. Und das sieht einfach scharf aus, wenn ich mit den Fingern über Lucys Hals fahre.“

„Hals“, wiederholt Luca tonlos und starrt weiter fasziniert auf den pinselnden Kerl am Küchentisch.

„Ja!“, bestätigt Jackson und demonstriert kurz, was er meint, indem er mit der linken Hand eine Luftgitarre packt. Seine Finger greifen und verbiegen sich als würde er spielen. „Siehst du?! Das sieht total geil aus!“

Jetzt lächelt Luca. „Stimmt!“, murmelt er beifällig, löst sich aus seiner Starre und holt den Kaffee.

„Tassen sind immer da oben im Schrank und ein paar Becher baumeln an der Leiste da drüben.“, erklärt Jackson nebenbei.

„Mhm“, brummt Luca.

Als er sich an den Tisch setzt, fragt er nach. „Nuno …?“

Jacksons Miene erhellt sich erneut. „Nuno Bettencourt. Ein Wahnsinns-Gitarrist. Da bin ich Welten von entfernt, aber es kann ja auch nicht jeder perfekt sein. Der Typ ist echt der Hammer. Wenn du willst, zeig ich ihn dir mal auf YouTube.“

Luca nickt zustimmend. „Klar! Gerne!“

Mit geneigtem Kopf blickt der Blauschopf Luca abschätzend an.

„Der hat genauso ‘ne Mähne wie du. Deine Haare sind nur was kürzer. Aber auch geil! Steh‘ ich total drauf. Das macht Typen wie dich echt animalisch.“

Ein kleines ungläubiges Lachen entfährt Luca. Nicht, weil er nicht schon oft mit Schmeicheleien bedacht worden wäre. Seit seiner Kindheit bekommt er gesagt wie toll, wie hübsch, wie außerordentlich er aussieht. Aber ‚animalisch‘? Das ist mal neu. Und es gefällt ihm. Luca weiß selbst, dass er eigentlich immer viel zu ruhig, zu scheu und zu schüchtern ist. Daher nehmen ihn viele Leute oft nicht ernst; wie Joey zum Beispiel. Ja, Luca ist klar, dass er sich viel zu viel gefallen lässt. Seine Höflichkeit lässt ihn schwach erscheinen. Und dann sitzt da dieser … Exot und schmeißt mal eben den Begriff ‚animalisch‘ in den Raum.

„Waas!!“, hakt Jackson jetzt grinsend nach. „Jetzt behaupte nicht, das hätte dir noch keiner gesagt?!“

„Hör‘ auf!“, wiegelt Luca ab. „Ich bin vieles, aber bestimmt nicht ‚animalisch‘.“

Vorsichtig greift Jackson mit frisch lackierten Nägeln nach seinem Kaffeebecher. „Ich mein‘ ja auch nur, dass du so aussiehst. Mehr kann ich zum heutigen Zeitpunkt noch nicht sagen.“

Luca schmunzelt in sich hinein.

„Du musst mir noch sagen, was du für das Zimmer haben willst!“, lenkt er vom Thema ab.

„Aach“ Ratlos zuckt Jackson mit den Achseln. „Weiß auch nicht. Hab‘ das bisher noch nie gemacht. Eigentlich wohne ich hier recht billig. Das Haus gehört meiner Großmutter. Die ist super, meine Oma. Unterstützt mich, wo sie kann. Daher zahle ich keine Miete, nur die Nebenkosten. Auf die Idee mit dem Zimmer hat mich mein Kumpel Abs gebracht. Ich hab‘ ja keinen festen Job, so dass die Kohle immer nur sporadisch reinkommt.“

Er pustet über sein heißes Getränk, bevor er sich den nächsten Schluck genehmigt.

„Machst du mir mal ‘ne Kippe an?“, fragt er sehnsüchtig und deutet mit dem Kinn auf eine Packung Zigaretten.

Luca fummelt einen Glimmstengel aus der Packung, zündet ihn an und pustet mit spitzen Lippen ein wenig Rauch aus.

Jackson lacht. „Du rauchst wohl nicht.“

„Nee“, bestätigt Luca grinsend. „Das unterdrückt meine … also, dass bekommt mir nicht!“, ändert er schnell den Satz ab. Vorsichtig schiebt er Jackson die entzündete Zigarette zwischen die Lippen. Kaum merklich berühren seine Fingerspitzen die weiche Haut. Sein Vermieter zuckt kurz zusammen.

„Wow, ich glaub‘ ich hab‘ gerade einen kleinen Schlag gekriegt.“

Schnell zieht Luca seine Hand zurück. „Oh, sorry! Bin wohl etwas aufgeladen. Dabei hab‘ ich meine … hmm … Haare doch gar nicht … geföhnt.“, stottert er verlegen.

Jackson zieht genüsslich an seiner Kippe. „Du musst aufpassen, dass die Leute dich nicht auf den Arm nehmen!“, erklärt er mit zusammengekniffenen Augen. „Du entschuldigst dich andauernd. Und meistens für Dinge, für die du nichts kannst.“ Er zieht scherzend eine Augenbraue hoch. „Der erste Schritt auf dem Weg, animalisch zu werden: hör‘ auf dich zu entschuldigen.“

„Ja, sorry!“, erwidert Luca und beide lachen über seine Bemerkung.

„Ich geb‘ dir einfach erst mal vierhundert Euro, oder?“, setzt Luca das Gespräch über seine Miete fort.

„Vierhundert?!“, fährt Jackson entsetzt auf. „Für einen Monat? Bist du wahnsinnig, Mann? Das ist viel zu viel! Wenn, dann für zwei Monate.“

Luca kichert in sich hinein. „Du bist der erste Mensch, den ich kennenlerne, der weniger Kohle haben will als ich anbiete. Du weißt schon, dass du mich gerade runterhandelst, oder?“

Verliebt betrachtet Jackson seine inzwischen trockenen Fingernägel. „Kohle geht mir am Arsch vorbei. Ich will nur das, was ich zum Leben brauche. Mehr belastet mich nur.“

Beeindruckt verzieht Luca seinen Mund. „Ich hab‘ von Leuten wie dir gehört, aber in freier Wildbahn ist mir noch keiner begegnet.“

Und wieder erscheinen die Grübchen in Jacksons Gesicht. „Soll ich mich jetzt etwa entschuldigen?“, ärgert er Luca zurück.

Sie plaudern und plaudern. Lachen, ärgern sich gegenseitig, erzählen tausend Dinge aus ihrem Leben und merken dabei nicht, wie die Zeit vergeht.

Irgendwann musste natürlich die Frage kommen: „Was machst du eigentlich hier?“

Eine ganze Weile starrt Luca nachdenklich auf die Tischplatte; bis ein Ruck durch seinen Körper geht und er sich entschlossen aufsetzt. Er entscheidet sich, die Wahrheit zu sagen. Zumindest die halbe Wahrheit.

„Ich bin auf der Flucht; bin abgehauen. Ich hab‘ mein ganzes Leben momentan so satt. Und da ging’s auf einmal nicht mehr. Ich hab‘ ein paar Klamotten gepackt und bin weg. Einfach ins Auto und ab.“ Sein starrender Blick wird immer trauriger, seine Schultern sacken nach unten.

„Und was ist so schlimm an deinem Leben?“, fragt Jackson behutsam nach.

Luca presst die Lippen aufeinander und zuckt kurz mit den Achseln. Doch eine Antwort bleibt er schuldig.

„Schon okay!“, lenkt Jackson ein. Er stemmt sich von seinem Stuhl hoch und klopft Luca einmal tröstend auf die Schulter. „Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Aber sobald dir danach ist, kannst du es mir gerne erzählen. Manchmal befreit das. So, jetzt muss ich aber dringend mal pinkeln.“ Beim Hinausgehen ergänzt er lapidar: „Und dann sollten wir überlegen, woher wir was zu essen organisieren. Hast du auch so’n Hunger?“

„Organisieren?“, hakt Luca nach. „Reicht doch, wenn wir uns ein Brot machen, oder so.“

„Hähä“, lautet die kurze abgehackte Antwort aus Richtung Bad.

Luca steht auf und öffnet den Kühlschrank: Wasser, Wasser, Wasser, ein Glas Senf, ein Rest Butter. Das war’s. Kopfschüttelnd schließt er die Türe.

Jetzt betritt Jackson den Raum. „Die Butter ist alt“, erklärt er bedauernd. „Die kann man nicht mehr essen.“

„Womit auch?“, fragt Luca ratlos. „Mit ein bisschen Senf?“

Sein Vermieter kichert. „Hab‘ ich schon gemacht. Glaub‘ es oder nicht!“

Dir traue ich das ohne weiteres zu, denkt Luca fasziniert.

„Hast du keine Vorräte? Was weiß ich, Nudeln, Reis oder so?“

Jackson schiebt die Unterlippe vor und schüttelt leicht den Kopf.

„Nö, Vorräte liegen bei mir immer so lange rum, bis sie keiner mehr essen kann. Dann muss ich sie wegwerfen und hab‘ die ganze Kohle umsonst ausgegeben.“

Luca reisst fassungslos die Augen auf. „Und wenn du Hunger hast?“

„Dann organisier ich mir was!“, erklärt der grinsende Blauschopf.

„Und wenn das nicht klappt?“ Luca kapiert es nicht.

Jackson zuckt mit den Achseln. „Dann hab‘ ich wohl mal Hunger. Doch eigentlich ist immer genug Wasser da. Zwei Gläser davon und der schlimmste Hunger ist vorbei.“

„Das ist …“ Luca ist fassungslos. „… ziemlich ungesund.“

„Findest du? Also, ich fände es ungesünder, immer irgendeinen Scheiß dazuhaben und in mich reinzustopfen. Außerdem müsste ich dann ständig was essen, worauf ich eigentlich gerade keinen Bock hab‘.“

„Und wie sieht’s mit Pizza aus … gerade?“, betont Luca herausfordernd.

„Hmm.“ Gespielt grübelnd kratzt Jackson über sein Kinn. „Könnte gehen!“

Luca lacht zustimmend. „Bei mir auch. Los! Ich geb‘ einen aus. Hast du ‘ne Karte?“

„Du hältst mich wohl für total unvorbereitet, was? Die wichtigsten Dinge hab‘ ich natürlich da.“

Er zieht eine Küchenschublade auf und wühlt in einem Packen Faltblätter herum.

„Der hier ist super!“

Der Lieferservice ist schnell und die Pizzas riechen super appetitlich. Gerade haben sich die beiden hungrigen Wölfe im Wohnzimmer niedergelassen als es klingelt.

Jackson steht mit einem „Faszinierend“ auf und öffnet die Haustüre.

Im Hintergrund hört Luca ihn jemanden begrüßen.

„Jetzt sag‘ bloß, du hast die Pizza bis unters Dach gerochen?“

„Klar, Mann!“, erwidert eine etwas hellere Stimme. „Danke, dass du aufmachst. Ich hab‘ so einen Wahnsinnshunger. Ich glaub‘ ich könnte die Autos sämtlicher Pizzalieferanten am Geräusch erkennen. DAS und dieser super leckere Duft … die ist von ‚Salvatore‘, oder?“

„Abs, mir graut vor dir!“, lacht Jackson, während er mit dem unerwarteten Besuch das Wohnzimmer betritt.

„Abs, das ist Luca, mein neuer Untermieter. Luca, das ist Absinth, Freund und Nachbar von oben unterm Dach.“

„Absinth?“, murmelt Luca ungläubig, während er eine Hand zur Begrüßung hebt.

„Hey!“ Der Besucher beachtet Luca kaum und hebt ebenfalls lediglich kurz seine Hand. Stattdessen himmelt er Jackson an.

„Hast du’s geschafft und dein Zimmer vermietet? Jetzt sag‘ noch einmal, dass das keine geniale Idee von mir war! Wieviel gibt er dir?“

„Zweihundert für einen Monat.“

„WOW, JACKS! Party, Mann!!“, grölt Absinth begeistert.

Während er sich ganz selbstverständlich eine Pizzaecke nimmt … zufällig aus Lucas Schachtel …, wuselt er begeistert um Jackson herum. Seine aufgedrehte Art hinterlässt Spuren. Auch Jackson steht mitten im Raum und greift sich im Stehen ein Pizzastück. Sie zappeln wie zwei nervöse Hunde, während sie den Teig in sich hineinstopfen.

Langsam kauend lehnt sich Luca zurück und mustert Jacksons Nachbarn.

Er ist ein Stück kleiner als Jackson und hat dunkle abstehende Haare. Sein Teint ist ziemlich blass, wodurch die dunklen Augenringe noch deutlicher hervortreten. Zu viel Feiern, zu viel Saufen, zu wenig Schlaf, urteilt Luca automatisch. ‘Ne Bordsteinratte.

Doch gleichzeitig ist sich Luca bewusst, dass es eigentlich ungerecht ist, was er denkt. Liegt das daran, dass er sich gestört fühlt? Jacksons Freund sieht nämlich gar nicht so schlecht aus. Ja, eigentlich sieht er richtig gut aus. Zwar ist er zu blass und die schwarzen punkigen Stacheln auf dem Kopf verschönern nicht gerade sein Gesamtbild. Doch er hat feine schmale Gesichtszüge und lange dunkle Wimpern, die seine mandelförmigen – ständig fragenden – Augen fast obszön betonen. Andere würden seine kleine Nase frech oder vorwitzig finden. Und sein Mund lädt eindeutig zum Knutschen ein. Absinths schlanke Figur lässt ihn im ersten Moment zierlicher erscheinen als er tatsächlich ist. Das liegt vielleicht auch an seinen eng anliegenden Klamotten.

Endlich legt sich der Begeisterungssturm und Jackson lässt sich stöhnend neben Luca auf die Couch fallen. Absinth schiebt seinen schmalen Hintern neben Jacksons andere Seite. Eigentlich ist da nicht mehr viel Platz, lediglich die dicke gewölbte Armlehne. Doch Abs scheint auch jetzt wie ein Hund auf Jacksons Nähe zu reagieren. Er will so dicht wie möglich bei ihm sein. Nervös wippt sein auf dem Polster abgelegtes Bein.

„Hey, Lutter! Wie lange bleibst du?“

Jackson kichert in sich hinein. „Er heißt Luca, du taube Nuss.“

„Oh, sorry!“ Absinth zuckt betroffen zusammen. Verlegen lächelt er, während ein kurzer Seitenblick Luca streift. „Bin tatsächlich manchmal ein wenig taub. Kommt davon, wenn man jahrelang den Kopf bei lauter schreiender Punk-Musik vor die Boxen hält. Nicht sauer sein, wenn ich mal was falsch verstehe!“

„Keiner ist sauer auf dich, mein Süßer!“, ärgert Jackson ihn, während er seine Armbeuge um Absinths Nacken legt und ihn zu sich zieht. Ein lauter schmatzender Kuss folgt. Jacks‘ Freund kichert, während er versucht, sich wieder halbwegs gerade hinzusetzen. Auch Luca lächelt. Die beiden scheinen sich schon eine ganze Weile zu kennen; sind sehr vertraut miteinander. Sind die etwa zusammen?

„Ich weiß noch nicht genau“, antwortet er nachdenklich auf Abs‘ ursprüngliche Frage und fixiert dabei die Pizzareste auf dem Tisch. „Bin ja gerade erst angekommen. Ich brauche ein wenig Zeit für mich … will in Ruhe nachdenken, ohne dass mir sämtliche Leute …“

Jetzt spürt er Jacksons Hand, wie sie vorsichtig reibend über seinen oberen Rücken fährt. Erstaunt blickt Luca zur Seite. Niemand hört ihm zu. Abs hatte es wohl nicht lange auf der Couchlehne gehalten. Er war unmerklich auf Jacksons Schoß gerutscht. Seine Hände streichen liebevoll über die Brust seines Gastgebers, während ihre Lippen sich in einem tiefen Kuss verlieren.

Jacksons rechte Hand vergräbt sich gerade in Lucas Mähne. Jetzt löst er sich von dem Kleineren und blickt Luca mit leicht glasigen Augen an. Hellblau, dunkelblau. Luca kann sich nicht entscheiden wie er Jacks Augenausdruck erwidern soll. Er kann diesem Blick einfach nicht standhalten. Zumal er jetzt auch noch einen sanften Druck auf seinem Hinterkopf spürt.

„Komm her!“, flüstert Jackson, bevor er Lucas Lippen geradezu verschlingt. Dieser lässt sich kurz gehen, doch wirklich nur sehr kurz. Er versteift sich, drückt Jacks‘ Oberkörper von sich und steht abrupt auf.

„Sorry, ich … das kann ich nicht!“, murmelt er entschuldigend, dreht sich um und verlässt das Wohnzimmer. Jacksons bedauernden Blick bekommt Luca nicht mehr mit. Schnell betritt er sein Zimmer und schließt sorgfältig die Türe.

Sein Herz rast. Oh, mein Gott. Warum bringt mich das dermaßen aus der Fassung? Das war doch nur ein Kuss! Ein ziemlich überraschender … klar … aber, mein Gott. Dass Jackson auch schwul ist, hab‘ ich doch vom ersten Moment an quasi gerochen. Also darf mich so ein kleines Intermezzo eigentlich nicht überraschen.

Luca lässt sich ratlos auf die Bettkante sinken. Er beugt tief ausatmend den Kopf auf die Brust. Seine langen Haare bilden einen schützenden Vorhang. Verlegen knetet er seine kalten Finger. Er weiß genau, warum er sich so überrumpelt fühlt. Der Grund ist ganz einfach. Seit gefühlten Ewigkeiten hat Luca keine Beziehung mehr gehabt und zwar im allumfassendsten Sinne. Keine One-Night-Stands, keine Freundschaften und schon mal gar keinen erfüllenden Sex mit jemandem, den er wenigstens mag. Da war nichts in den letzten paar Jahren, gar nichts. Er war immer nur mit seiner Arbeit beschäftigt, jeden Tag. Und nach zwölf Stunden, in denen er unzählige fremde Körper anfassen musste, war ihm noch nicht einmal mehr danach, sich unter der Dusche einen runterzuholen.

Seufzend streicht sich Luca seine Mähne aus dem Gesicht. Er denkt an Joey. Wie erniedrigend, wie unglaublich ekelhaft empfindet er im Nachhinein die Momente, in denen ihm Joey einen runtergeholt hatte. Joey, der Heteromann aus dem Bilderbuch. Aber auch Joey, der Manager, der für sein goldenes Kalb alles tut. Dafür holte er Luca – ganz unpersönlich – auch mal einen runter. Das gehört eben zum Geschäft. Kein großes Ding. Wenn seine Quelle dann wieder erfolgreich sprudelt … dann immer her mit den unbefriedigten Schwänzen.

Luca schnaubt genervt. Im Nachhinein kann er selbst nicht glauben, dass er so tief gesunken ist. Er greift nach seinem Handy und schaltet es ein. Seit gestern tummeln sich dreißig Nachrichten auf der Mailbox und fünfzig SMSe. Bis auf eines stammen sämtliche Lebenszeichen von Joey. Während Luca mit hart zusammengepressten Lippen Joeys immer verzweifelter klingende Kurzmitteilungen durchblättert, wird ihm bewusst, wie lange er sich nicht mehr bei seinen Eltern gemeldet hat. Beschämend! So was passt überhaupt nicht zu ihm. Er ist ein Familienmensch, schon immer gewesen. Er ist halber Italiener – porco dio – da kann man gar nicht anders … eigentlich. Wie gerne hört er die Stimme seiner Mutter auf der Mailbox, doch er hat noch keine Energie, sie zurückzurufen.

Ich bin innerlich tot. Keine Emotionen, kein Verlangen, keine Freude. Mann, bin ich ausgebrannt. Joey kann mich mal am Arsch lecken. Er und seine nervige Art. Ich kann einfach nicht mehr.

Eine unbedeutende – aus Geilheit geborene – Berührung hat Luca aus der Fassung gebracht. Immer noch spürt er Jacksons flache Hand, wie sie tastend, leise streichelnd zu seinem Nacken hochgekrochen kam. Und erst sein Mund, seine vollen Lippen. Wenn er an die forsche Zunge denkt, die sich kurz in seinen Mund gedrängt hatte … Phhh … Tief atmet er aus. Ich bin 28, verdammt. Und mein Gefühlsleben schwankt zwischen mausetot und unerfahrenem Teenager. Das ist so erbärmlich.

Mit einem genervten Stöhnen sinkt Luca auf sein Bett. Leises Lachen aus dem Nachbarzimmer scheint ihn zu verhöhnen. „Na, komm schon! Beug‘ dich vor!“ Das war Jacksons vor Geilheit belegte Stimme. Nicht lange und rhythmisches Stoßen – gepaart mit halblauten Schreien – lässt Jacksons Bett gegen die Trennwand rumpeln.

Das hätte er vielleicht auch mit mir gemacht …, denkt Luca traurig. Sehnsüchtig streicht er über seinen halbharten Schwanz und stellt sich dabei vor, an Absinths Stelle zu sein.

Am nächsten Morgen wird Luca von ungewohnten Tönen geweckt; einem Wimmern nicht unähnlich. Erstaunt blickt er auf sein Handy. Neun Uhr. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass Jackson bestimmt bis mittags schläft. Mal wieder ein Buch nach seinem Umschlag beurteilt, denkt er, während er sich Shirt und Jogginghose vom Leib reißt. Er schwitzt wie die Hölle. In Klamotten zu pennen ist eigentlich überhaupt nicht seine Art.

Lediglich in Shorts tappt Luca in den Flur und linst in Jacksons Zimmer. Der liegt – ebenfalls nur in Shorts – auf seinem Bett; den Rücken gegen die Wand gelehnt. Er hat seine Lucy an einen kleinen Verstärker angeschlossen und zupft verträumt auf ihr herum.

Als er Luca bemerkt, grinst er. „Hey, guten Morgen. Gut geschlafen? Komm doch rein.“

Verlegen reckt sich der Angesprochene und fährt sich durch die Haare, während er den Raum betritt.

Die Blicke seines Zimmernachbarn streichen wohlwollend über Lucas fast nackten Körper. Völlig unbefangen spricht Jackson über den gestrigen Abend.

„Ich wollte nichts tun, was du nicht willst“, redet er ganz selbstverständlich über seinen Kuss, während er sich über Lucy beugt und ihr weiterhin zirpende Geräusche entlockt. „Ich find‘ dich geil und dachte, du hättest gegen ein wenig unverbindlichen Spaß nichts einzuwenden. Absinth hat mir deswegen schon die Rübe gewaschen.“ Lächelnd blickt er in Lucas Richtung. „Aber das tut er nicht aus Selbstlosigkeit. Er hat mich gerne für sich allein.“

‚Meeaauuooowww‘ jault ein kräftiger Ton auf, bevor Jackson die Gitarre beiseite legt und vom Bett springt. Innerhalb einer Sekunde steht er vor dem verdutzten Gast. Fast berühren sich ihre Nasenspitzen und automatisch atmet Luca tiefer.

„Ich dachte, du stehst auch auf Männer“, flüstert Jackson, während er versonnen auf Lucas Mund starrt.

„Tu ich – räusper – tu ich auch“.

Wie auf Kommando strahlen Jacksons verwunschene Augen.

„Du hast mich nur ein wenig überrumpelt. Ich bin es nicht gewohnt, so … direkt angebaggert zu werden.“

Jetzt runzelt sein Vermieter die Stirn. „Ach, komm! Hör‘ doch auf! Ein Typ wie du?! Hast du schon mal in den Spiegel geguckt? Jetzt mal ohne Scheiß, Mann! Ich bin nicht der große Wortakrobat, aber du … bist … die Versuchung pur … echt!!“

Kichernd dreht Luca den Kopf beiseite. „Hör‘ auf! Hört sich ja an, als wäre ich irgendein Dessert.“

Gott sei Dank fällt Jackson lachend in Lucas Gekicher ein. Die ganze Situation lockert sich auf. Gleichzeitig tritt er einen Schritt zurück. „Vielleicht ein anderes Mal?“, lächelt er Luca an.

Der zuckt verlegen mit einer Schulter und grinst. „Ja, mal seh’n.“

Luca beschließt, einige Nahrungsmittel einzukaufen. So bewundernswert er Jacksons Lebenseinstellung auch findet, für ihn ist das nichts. Am liebsten futtert er sich zu jeder Tageszeit durch einen Berg von Obst. Äpfel, Birnen, Bananen. Das sind seine Favoriten. Gefolgt von Trauben, Orangen und Ananas. Und je nach Jahreszeit natürlich Erdbeeren. Auch für Himbeeren lässt er jedes Steak liegen. Von Obst kann er nie genug bekommen.

Die gestrige Pizza und das üppige Frühstück davor liegen ihm heute immer noch schwer im Magen, da Luca selten so fett und so viel isst. Sein bevorzugter Speiseplan liest sich wie das Who-is-Who der Gemüse- und Obstwelt. Jeder Ernährungsberater würde ihm jubelnd zustimmen. Oft hat Luca den Eindruck, sich für seine Vorliebe – das gesunde Essen – entschuldigen zu müssen. Das wirkt so streberhaft, so … unglaubwürdig. Jeder halbwegs normale Mensch um ihn herum denkt, dass man ja wohl Nudeln mit Sahnesauce lieben muss. Und knusprig gebratener Speck gehört auf jeden Fall in einen bunten Salat. Nicht für Luca.

Da er sonst so wenig Zeit hat, freut er sich jetzt umso mehr darauf, endlich einmal einige Lebensmittel auf Vorrat zu kaufen; und zwar nur das, was er wirklich haben will. Er kreuzt mit seinem Wagen ein wenig durch die Stadt. Das ist hier wirklich ziemlich übersichtlich. Zu seiner großen Freude findet er auf Anhieb einen türkischen Obst- und Gemüsehändler. Wunderbar.

Summend steht Luca am Waschbecken und entkernt die von ihm erstandenen Paprika. Sicherheitshalber hatte er ebenfalls einige Küchenmesser gekauft. Das stellte sich nach seiner Heimkehr als weise Entscheidung heraus.

Ich tu‘ so, als ob ich hier für immer bleiben würde, sinniert er über seine Situation. Dabei weiß ich doch selbst ganz genau, dass ich nicht drum herum komme, mich wenigstens kurz bei Joey zu melden. Sofort sinkt seine gute Laune. Luca hat sowas von keinen Bock auf die Auseinandersetzung mit seinem ehrgeizigen Manager. ICH mach‘ jetzt erst mal Urlaub. Nach dem Essen werde ich Joey anrufen und ihm genau das mitteilen. Punkt. Sein Entschluss steht fest. Sofort geht es ihm besser.

Grinsend schnippelt er weiter an der Paprika herum. Der flippt aus!

Es klingelt und als Luca öffnet, fragt er lächelnd.

„Na, Absinth? Kannst du auch rohe Paprika riechen?“

Jacksons Freund lacht mit ihm. „Danke, dass du aufmachst.“

Er schlendert in die Küche und lässt sich mit einem tiefen Seufzer auf die Bank fallen.

„Das ist ja geil!“, bemerkt er erfreut. „Da hat Jackson sich jemand ins Haus geholt, der freiwillig den Kühlschrank füllt! Sehr gut! Da müssen wir wohl erst mal nichts organisieren gehen … natürlich nur, wenn du mit uns teilst!“ Er senkt den Kopf und blinzelt Luca von unten herauf hoffnungsfroh an.

Luca schmunzelt. „Natürlich teile ich mit euch. Kann euch doch nicht verhungern lassen.“

„Yeah!“ Absinth ballt die Siegerfaust.

Luca setzt sich zu ihm an den Tisch und beginnt die bunten Paprika in mundgerechte Stücke zu schneiden.

„Wie macht ihr das eigentlich genau mit eurem ‚organisieren‘?“, fragt er stirnrunzelnd.

„Na ja.“ Abs lehnt sich zurück und kramt ein Päckchen Tabak aus seiner Hosentasche. Fachmännisch dreht er sich eine Zigarette. „Wenn ich ehrlich bin, ist Jacks auf diesem Gebiet weitaus erfolgreicher als ich. Ich profitiere davon; hänge mich an seine Hacken.“

Wer hätte das gedacht, denkt Luca ironisch. Doch Absinths Ehrlichkeit gefällt ihm trotzdem.

„Wenn wir organisieren“, redet dieser unbefangen weiter, „dann klappern wir halt einige Stellen ab, wo wir immer was kriegen. Wir haben … also Jackson hat voll gute Connections zu diversen Restaurants. Aber auch Bars, Kneipen und Cafés. Da schauen wir dann vorbei. Irgendwas fällt immer ab. Die Pizza gestern zum Beispiel. Dir ist das vielleicht nicht aufgefallen, doch bei ‚Salvatore‘ machen die uns immer ‘ne Größere als bestellt.“ Er zuckt mit den Schultern. „So Dinge eben. Von einer größeren Pizza können wir dann im Zweifelsfall am nächsten Tag noch essen.“

„Geht ihr auch zum ‚Café Bohne‘?“, fragt Luca neugierig.

„Ja klar!“, erwidert Absinth begeistert. „Da arbeitet die Uschi in der Küche. Die ist so super geil drauf. Da kriegen wir zur Not immer was.“

Jetzt hält Luca in seiner Tätigkeit inne. Stirnrunzelnd blickt er den blassen Absinth an, der gerade gierig den ersten Zug von seiner Zigarette nimmt.

„Ja, aber … sei nicht sauer … aber das ist doch alles Schlaucherei. Ist ja nichts dabei, aber ‚organisieren‘ ist da wohl nur eine Umschreibung für ‚betteln‘, oder?“

„Hmm …“ Abs klaut sich ein Paprikastück. „Jackson und ich … wir revanchieren uns. Wenn Mika zum Beispiel mal was erledigen muss und spontan jemanden für ein-zwei Stunden braucht, der den Laden schmeißt, dann ruft er Jackson an und der steht auf der Matte … oder ich. Oder wir erledigen irgendwelche Botengänge. Jacks putzt in Rekordgeschwindigkeit einen ganzen Laden durch; das müsstest du mal sehen. Dabei helf‘ ich ihm auch … manchmal“, schiebt er ein wenig verschämt hinterher. „Jackson macht viel mehr als ich. Doch geteilt wird trotzdem.“

„Und wie revanchierst du dich bei Jackson?“ Oh! Diese Frage war natürlich anzüglich und gemein. Luca beißt sich verlegen auf die Unterlippe. Das geht ihn doch wohl gar nichts an.

„Sorry, so war’s nicht gemeint“, murmelt er nach einem schnellen Blick in Absinths gerötetes Gesicht.

Der überspielt seine Scham, indem er aufsteht und geschäftig an der Kaffeemaschine herumhantiert. Als das alte Teil zischend und schmauchend läuft, lässt er sich mit seiner üblichen Gelassenheit wieder auf der Bank nieder.

„Jacks und ich sind ein eingespieltes Team. Doch du kennst ihn nicht. Er würde niemals irgendetwas tun, wenn er darauf keinen Bock hat. Wir sind seit der Schulzeit befreundet. Doch wenn ich ihm auf den Sack gehen würde … mit meiner Anwesenheit … meiner Schlaucherei … womit auch immer … dann könnte ich der Erfinder des Blow-Jobs sein …“ Er schüttelt wissend den Kopf. „Er würde mir trotzdem niemals wieder die Türe öffnen.“

„Du bist in ihn verknallt“, stellt Luca fest. Und schon wieder könnte er sich ohrfeigen, weil sein Mundwerk schneller arbeitet als gewollt.

Absinth presst die Lippen aufeinander und tippt einige Tabakkrümel mit dem Finger von der Tischplatte. „Wohl ein bisschen mehr“, murmelt er und räuspert sich anschließend. „Ich bin vielleicht ein wenig taub, doch ich bin nicht blind. Er fährt voll auf dich ab.“ Ein ratloses Schulterzucken. „Wenn sich da was zwischen euch anbahnt … dann … werde ich wohl damit leben müssen. Denn gegen dich …“ Er sieht Luca vorwurfsvoll in die Augen. „… hab‘ ich sowas von keine Chance.“

Bevor Luca verlegen widersprechen kann, setzt sich Abs entschlossen auf. Seine Stimme schaltet von niedergeschlagen auf forsch.

„Aber jetzt sag‘ mir doch mal … Luca Denero, von Beruf …“ Er macht eine wirkungsvolle Pause, bevor er das folgende Wort ironisch ergänzt. „… Heiler … was führt dich eigentlich in unser kleines verschlafenes Städtchen?“

Wie vom Donner gerührt schließt Luca kurz die Augen. Vor Schreck scheint sämtliches Blut erst einmal in seine Beine zu sacken. Er weiß es! Natürlich weiß er es. Jeder, der halbwegs schlau ist, gibt meinen Namen bei Google ein. Irgendein Artikel über mich wird schon auftauchen. Bin zwar kein Promi, doch einige alternative Medien sind schon auf mich aufmerksam geworden. So eine Scheiße! Porca miseria!

„Woher kennst du meinen Nachnamen?“, fragt er mit belegter Stimme zurück.

„Woher wohl?! Von Mika und Jacks natürlich. Ist doch egal. Warum bist du hier?“, bohrt Abs weiter.

Mit zittrigen Fingern legt Luca das Küchenmesser beiseite. „Ich … ähm … brauche ein wenig Abstand zu meinem … hm … Leben. Das ist mir gerade alles irgendwie zu viel. Ich wäre fast zusammen gebrochen. Da bin ich halt abgehauen.“

„Du verdienst doch damit bestimmt ‘ne Menge Kohle, oder?“, fragt Abs recht gleichgültig hinterher. Lucas Misere scheint ihn nicht sehr zu beeindrucken.

Luca zuckt mit den Achseln. War ja klar, dass ein Typ wie Absinth direkt nach Geld fragt. Wie lautet seine übliche Antwort in solchen Fällen?

„Geld ist nicht alles!“, wehrt Luca ab, wie er es sich angewöhnt hat. „So was machst du aus Überzeugung.“

„Aha!“ Abs lehnt sich zurück. „Deshalb bist du auch abgehauen, oder was? Muss dich ja enorm überzeugen, dein Beruf“, frotzelt er und grinst ein wenig gemein.

„Das ist für mich kein normaler Beruf!“, entfährt es Luca aufbrausend. „Wenn du so was … machst, dann fragt dich irgendwann keiner mehr, ob du Feierabend machen willst; ob es DIR gut geht; ob DU Bock drauf hast?! Da stehen Dutzende von Menschen, die deine Hilfe wollen. Und zwar Hilfe, die über das Spendieren einer Pizza hinausgeht. Existentielle Hilfe. Viele versprechen sich sogar lebensrettende Hilfe.

Wenn da eine Zwanzigjährige heulend vor dir sitzt und dir erzählt, dass ihr zweijähriges Kind Blutkrebs hat und du ihre letzte Hoffnung bist. Was machst du dann? Hmm? Stehst du dann auf und sagst „Sorry, ey. Bin grad nicht so gut drauf. Ich muss mal eben weg. Komm doch bei Gelegenheit mal wieder vorbei?“ Luca redet sich in Rage. Sein Solar Plexus beginnt zu flattern. Er will sich eigentlich gar nicht so dermaßen in dieses Thema hineinsteigern. Warum nur hat er immer das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen? So ein verdammter Scheiß!!

Er holt tief Luft. „Nein!“, redet er mit brüchiger Stimme weiter. „Du machst mehr als in einem normalen Beruf. Du machst immer weiter und weiter und weiter. Du wirst zum Roboter. Deine Gefühle zu alltäglichen Dingen stumpfen ab.“ Und deine verdammte Libido, fügt er in Gedanken hinzu.

„Ja, ist ja schon gut!“ Abwehrend hält Absinth seine Hände hoch. „Beruhige dich, Mann! Konnte ja nicht wissen, dass du dermaßen ausgebrannt bist. Wie funktioniert das denn eigentlich? Murmelst du irgendwelche indianischen Sprüche? Könnte ich mir bei dir gut vorstellen.“ In der Hoffnung, ihn ein wenig aufzumuntern, grinst er sein Gegenüber breit an. „Musst ja ein mächtiger Zauberer sein, wenn du sogar Blutkrebs heilen kannst.“

Luca legt seufzend den Kopf schief. „Willst du mich nur verarschen oder meinst du diese klischeehaften Fragen tatsächlich ernst?“

„Nein, keine Verarsche!“, beteuert Abs eilig. Doch sein schiefes Grinsen bleibt.

Luca sieht ihm tief in die Augen. So tief, dass Absinth ein wenig mulmig zumute wird. Wow, hat der Typ dunkle Augen. Hypnotisch.

„Ich würde nicht unbedingt behaupten, dass ich alleine den Blutkrebs heile. Doch meine Gabe unterstützt zumindest die ärztliche Behandlung. Ich weiß nie so genau wie intensiv es wirkt. Das kommt auf die Person an, die Heilung sucht. Bist du unvoreingenommen? Bist du offen für eine Alternative zur Schulmedizin? Hast du Vertrauen? Die Antworten auf solche Fragen spielen eine große Rolle. Du willst wissen wie das abläuft?“

Abs zieht ratlos die Schultern hoch.

Die letzte Frage war rein rhetorisch. Luca ignoriert Absinths Geste.

„Also, ich konzentriere mich … so wie jetzt“, erklärt Luca mit beängstigender Ruhe. „Dann atme ich mehrmals tief ein und aus. Dadurch werde ich noch ruhiger und konzentrierter.“ Tiefe Atemzüge heben und senken Lucas Brustkorb. „Und dann …“ Er beugt sich über die Tischplatte und winkt kurz mit seinen flachen Händen. Automatisch beugt sich Absinth ebenfalls vor.

„Dann berühre ich meinen Patienten – oft an der Körperstelle, an der er Heilung benötigt … und Energie fließt …“

Sanft, fast unmerklich legt Luca seine flachen Hände auf Abs‘ Ohren. Kaum berührt er sein Gegenüber, reißt dieser seine Augen überrascht auf.

„Das … das kribbelt … verdammt … ey … mach‘ bloß keinen Scheiß!“

„Ich könnte dir niemals Schaden zufügen.“ Luca redet langsam, wie in Trance. „Wenn du dich entspannst und keine Angst hast, wirkt es noch besser.“

Zwar zittert Absinth ein wenig, doch er scheint sich gefangen zu haben. Laut atmet er durch den geöffneten Mund. „Das wird ganz heiß“, keucht er erstaunt.

„Gut. Das ist gut“, murmelt Luca. Eine Minute später streichelt er einmal kurz mit den Daumen über Absinths Ohren. Dann zieht er die Hände zurück.

Ein fast erotisches Seufzen entfährt ihm. Er schließt die Augen, bevor er aufsteht und seine Hände unter kaltem Wasser abwäscht.

„Das war jetzt wirklich nur ein kleiner Bruchteil der üblichen Behandlungszeit“, murmelt er mehr zu sich selbst.

Schließlich dreht er sich um. „Merkst du was?“, fragt er den leichenblassen Punk mit den knallroten Ohren.

Doch Jacksons Freund ist noch nicht in der Lage zu antworten. Er starrt Luca an wie das achte Weltwunder. Was er empfindet kann er nicht in Worte kleiden. Da passiert gerade zu viel in seinem Körper, in seinem Kopf. Gedanken, Emotionen, rationale Erklärungen schwirren durcheinander.

Ruckartig steht er auf, schnappt seinen Tabak und verlässt die Küche. Die zuschlagende Haustüre wirkt wie ein Ausrufungszeichen hinter der wortlosen Aussage: Ich muss weg.

Die ‚Nachtbar‘ liegt eine gute Viertelstunde zu Fuß von Absinths und Jacksons Wohnhaus entfernt. Abs marschiert wie ein aufgezogener Zinnsoldat. Er atmet laut keuchend durch seinen geöffneten Mund. Ab und zu schüttelt er den Kopf als hätte er Wasser in den Ohren. Was genau mit seinem Körper passiert, könnte er gar nicht exakt in Worte fassen. Er ist zu überrascht. Der Typ hat mich voll überrumpelt. Was ist das nur?

Und wieder reibt er sich mit den Handballen kurz über seine Ohren. Irgendwie klingen die Straßengeräusche ziemlich intensiv. Vorbeifahrende Autos rauschen lauter. Anders als üblich. Sein durch zu laute Musik verletztes Gehör scheppert üblicherweise bei Belastung. Das hat sich irgendwie gewandelt. Der Lärm scheint ungefiltert in seinen Kopf einzudringen. Langsam stellen sich leichte Kopfschmerzen ein.

Da drüben liegt die ‚Nachtbar‘. Da hilft Jackson heute dem dicken Barry beim Umräumen seines Lagerraumes. Irgendein Notausgang musste freigeräumt werden. Diese Gelegenheit nutzt Barry, um sein gesamtes Lager umzuorganisieren. Sein kleiner Kellner kann ihm nicht helfen, weil dessen Hand gebrochen ist und so hatte Barry sich an Jackson gewandt.

Schwungvoll betritt Abs den Schankraum. Gott sei Dank! Jacks sitzt schwitzend an einem der Tische, ein Glas Cola in der Hand. Er lächelt.

„Hey, Abs! Du kommst zu spät. Wir sind schon fertig.“

Sein Shirt klebt verschwitzt an der Brust und Jacksons dunkelblaue Haare glänzen durch den Schweiß wie mit Lack besprüht. Absinth findet seinen Freund einfach nur schön; da kann er noch so verschwitzt und fertig aussehen. Jetzt lächelt er ebenfalls, während er sich einen Stuhl heranzieht.

„Ich muss dir dringend was erzählen … über deinen Mitbewohner“, setzt er aufgeregt an.

„Ja?“ Anzüglich zieht Jackson eine Augenbraue hoch. „Dann leg‘ mal los. Bin auf alles gespannt.“

Abs presst leicht angepisst die Lippen aufeinander. Der ist sowas von scharf auf den Typen. Mist!

Doch dann konzentriert er sich wieder auf die unglaubliche Geschichte, die er Jackson zu erzählen hat.

„Weißt du eigentlich was der so macht? Und warum er sozusagen auf der Flucht ist?“

Jackson verzieht ratlos den Mund und zuckt einmal mit den Schultern.

„Nee, wollte er nicht drüber reden.“

Absinth reibt einmal sein rechtes Ohr gegen die Schulter.

„Dann pass mal auf! Ich hab‘ heute seinen Namen gegoogelt. Luca Denero. Und weißt du was ich da rausgefunden hab‘?“

„Spuck’s endlich aus, Abs!“, erwidert Jackson, während er sich mit beiden Händen die nassgeschwitzten Haare aus der Stirn kämmt.

„Der ist Heiler! So einer, der den Leuten die Hände auflegt und angeblich schwerste Krankheiten heilt. Einfach so. Manchmal von jetzt auf gleich. Da wurden Leute zitiert, die geradezu ehrfurchtsvoll über ihn sprachen. Wenn du mich fragst, hat der einfach nur einen geilen Weg gefunden, den Idioten die Kohle aus der Tasche zu ziehen.“

Er hält inne; seine Erzählung stockt. „Aber trotzdem …“, setzt er langsamer an und blickt Jackson mit gerunzelter Stirn in die Augen. „Irgendwas stimmt mit dem nicht. Denn … eben war ich unten bei dir; hab‘ ein bisschen mit ihm geplaudert und ihm erzählt, was ich über ihn rausgefunden hab‘. Als ich ihn gefragt hab‘, wie er das denn so macht – seine Heilungen – da hat er mir die Hände auf die Ohren gelegt und jetzt … jetzt … irgendwas ist anders.“

Erneut schüttelt er leicht den Kopf und steckt sich anschließend pulend den kleinen Finger in einen Gehörgang.

Aufgeregt beugt sich Jackson vor. „Kannst du besser hören?“, fragt er neugierig.

„Ich weiß nicht!“, erwidert Absinth gequält. „Alles erscheint mir lauter, intensiver … aber nicht unbedingt angenehm.“ Kläglich blickt er seinen Freund an. „Das war beängstigend, sag‘ ich dir. Kaum hatte der seine Hände auf meine Ohren gelegt, als mein ganzer Kopf anfing zu kribbeln und dann wurden meine Ohren so heiß, als ob ich den Schädel auf die Heizung gelegt hätte. Warum hab‘ ich das nur zugelassen?! Der hat mich total hypnotisiert mit seinen schwarzen Augen.“

Jackson mustert den zierlichen Punk, der durch seine jammernde Erzählung und sein Mißempfinden noch zerbrechlicher als üblich wirkt.

„Jetzt beruhige dich erstmal. Hier! Nimm einen Schluck!“

Auffordernd schiebt er sein Glas in Absinths Richtung. Dieser nimmt es dankbar entgegen.

„Wenn er tatsächlich was an deinem Gehör verbessert hat, dann ist es doch eigentlich logisch, dass du erst einmal alle Geräusche als zu laut empfindest, oder? Ich meine, du hast dich doch an das Scheppern und das schlechte Hören mit der Zeit gewöhnt. Am besten gehst du morgen zum HNO und lässt alles abchecken. Vielleicht ist ja was dran und er hat dir einen unglaublichen Gefallen getan. Auf jeden Fall kann ich mir nicht vorstellen, dass er dir schaden wollte.“

Nachdenklich starrt Abs vor sich hin, bevor er schließlich zustimmend nickt; wenn auch nur zögerlich.

„Du hast wohl recht. Mal abwarten.“ Nicht auszudenken, ich könnte ohne Geschepper mein Saxophon spielen, denkt er sehnsüchtig.

In der Zwischenzeit hat Luca seine Vorräte verstaut und einiges an Gemüse vorbereitet, um später daraus eine Gemüsepfanne zuzubereiten. Während er einen der appetitlichen Äpfel verspeist, die er ebenfalls erstanden hat, sitzt er nachdenklich auf der Wohnzimmercouch. Absinths plötzlichen Abgang hat er erst einmal verdrängt. Ungewöhnliche Reaktionen ist Luca gewohnt. Nicht jeder kommt damit klar, wenn sich von jetzt auf gleich seine Beschwerden bessern oder gar verschwinden. Irgendeine Reaktion erzielt Luca immer. Er weiß nicht genau wie es funktioniert. Er weiß nicht genau was in dem Moment der Heilung passiert. Und er ist sich nicht sicher, wie tiefgreifend die Heilung jeweils ist. Doch eines steht fest: noch niemals hat jemand vor ihm gesessen oder gelegen, der in diesem Moment keinen physischen Effekt verspürt hätte.

Noch erstaunlicher reagieren Tiere auf ihn. Als wüssten sie, dass ihnen geholfen wird; als spürten sie auf einer anderen Ebene, dass Luca Heilung bringt. Hunde schmeißen sich ihm vor die Füße. Katzen drängeln sich reibend und schnurrend gegen seine Beine. Und selbst ein Graupapagei ließ sich von ihm behandeln; sprang wie selbstverständlich auf Lucas Arm, den er ihm vor die geöffnete Käfigtüre hielt. Die Besitzerin war alleine von dieser Szene dermaßen beeindruckt, dass sie sich während der gesamten Sitzung nicht mehr beruhigen konnte. Noch nie hatte ihr Papagei einem fremden Menschen gestattet, ihn anzufassen. Und dann saß er geduckt auf Lucas Unterarm, fast angekuschelt und ließ zu, dass dieser Mann die andere Hand auf seinen kahlgerupften Körper legte.

Und ja, natürlich macht Luca mit seinen Sitzungen eine Menge Geld. Sonst wäre doch ein Typ wie Joey nicht so dermaßen darauf erpicht, Lucas Zeit bis auf die Minute zu verplanen.

Die Menschen bekommen erklärt, dass sie unentgeltlich behandelt werden. Niemand wird gezwungen, eine Gebühr oder ähnliches zu entrichten. Freiwillig können sie ein ‚Geschenk‘ in beliebiger Höhe geben. Keine Spende, keine Gebühr. Wie Joey das mit dem Finanzamt regelt, will Luca gar nicht so genau wissen.