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Anton wächst in schwierigen Verhältnissen auf, übernimmt früh Verantwortung für sich selbst und kämpft gegen gesellschaftliche Erwartungen an. Zwischen Heimerziehung, Musikträumen und der Suche nach Zugehörigkeit ringt er um seinen Platz im Leben. Als er glaubt, gescheitert zu sein, nimmt sein Weg eine unerwartete Wendung: Er findet die innere Kraft, zu sich selbst zu stehen und seinen eigenen Weg heimwärts zu gehen. Und von diesem Weg lässt er sich von nichts und niemandem mehr ab bringen. Offen und eindringlich erzählt diese Biografie von Verlust und Hoffnung, von innerer Stärke und davon, was es bedeutet, wirklich in seinem Daheim anzukommen.
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Seitenzahl: 341
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Franz Pauli
Anton geht heimwärts!
In eigener Sache
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Vielen Dank!
Ihr Franz Pauli.
Franz Pauli
Anton geht heimwärts!
Eine Heimkarriere in Hamburg mit Folgen.
Eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert.
Texte: © 2025 Copyright by Franz Pauli
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Franz Pauli
Herausgeber
Dr. Franz-Josef BeckIm Grünen Garten 14
31234 Edemissen
Druckepubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Lektorat & Satz: Maria Noll | Lektorat Wortwaage
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über https://portal.dnb.de/opac.htm abrufbar.
Für meine liebe Frau und meine liebe Tochter.Danke für eure Unterstützungund das gemeinsame Durchhalten.
Triggerwarnung
Der Text „Anton geht heimwärts!“ beinhaltet Themen sensibler Natur, die für manche Lesenden möglicherweise nicht geeignet sind. Er handelt von familiärer Gewalt, seelischer Gewalt, körperlicher Gewalt, religiösen Meinungen, Drogenmissbrauch und sexuellen Übergriffen. Sie können bei manchen Personen Verstörungen und negative Emotionen auslösen.
Danksagung
Ein großer Dank geht an die pädagogischen Mitarbeitenden im Rauhen Haus, die mich seinerzeit über viele Jahre durch Höhen und Tiefen begleitet und mit ihrer Ausdauer, ihrem Vertrauen und ihrer Zuversicht auf den richtigen Weg gebracht haben. Ohne euch wäre manches sicher anders gelaufen.
Hinweis
Die vorliegende Autobiografie basiert auf Erinnerungen und zugänglichen Informationen. Es handelt sich um eine subjektive Darstellung von Ereignissen und Erlebnissen, die durch die persönliche Perspektive und die subjektive Erinnerung geprägt ist. Die Wiedergabe von Fakten und Details kann daher von anderen Erinnerungen oder Interpretationen abweichen.
Bestimmte Namen von Personen oder Orte wurden zum Schutz der Privatsphäre oder zur Wahrung des Leseflusses geändert. Auch können einige Ereignisse zusammengefasst oder fiktiv dargestellt sein, um die Erzählung zu verdichten oder zu verdeutlichen.
Der Autor übernimmt keine Gewähr für die vollständige Objektivität und Richtigkeit der dargestellten Inhalte.
Insbesondere wird keine Haftung für etwaige Fehler, Ungenauigkeiten oder unterschiedliche Interpretationen von Ereignissen übernommen. Die im Buch angeführten Dokumente entsprechen inhaltlich den Originalen. Manche Textpassagen wurden mittels Künstlicher Intelligenz umgeschrieben.
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
Kapitel 1 ANTONS „ZUHAUSE“
Kapitel 2 ANTON KOMMT IN DIE SCHULE
Kapitel 3 ANTON STIEHLT UND VERTEILT
Kapitel 4 ANTON VERLÄSST SEIN „ZUHAUSE“
Kapitel 5 ANTON – FREI UND GEFANGEN
Kapitel 6 ANTON WARTET
Kapitel 7 ANTON KOMMT INS RAUHE HAUS
Kapitel 8 ANTON LEBT IM RAUHEN HAUS
Kapitel 9 ANTON WILL BLEIBEN
Kapitel 10 ANTONS ERSTE SCHRITTE IN DIE ARBEITSWELT
Kapitel 11 ANTON MUSS GEHEN
Kapitel 12 ANTON LEHNT GEWALT AB
Kapitel 13 ANTON FÜHLT SICH FREI
Kapitel 14 ANTON GEHT SEINEN WEG
Kapitel 15 ANTON GEHT NEUE WEGE
Kapitel 16 ANTON STUDIERT
Kapitel 17 ANTON WIRD LEHRER
Kapitel 18 ANTON LEHRT UND LERNT
Kapitel 19 ANTON GEHT SEINEN WEG WEITER
Kapitel 20 ANTON ERKENNT, WORAUF ES ANKOMMT
Kapitel 21 ANTON AUF DEM WEG HEIMWÄRTS
Kapitel 22 ANTON LEBT IM NEUEN DAHEIM
Kapitel 23 ANTON KOMMT ZUR RUHE
NACHWORT
Was der hier beschriebene Protagonist Anton in seinem Leben von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter erlebt hat, wird hier von Franz Pauli dargestellt. Für Franz Pauli könnte auch ein anderer Name stehen.
Jeder Mensch hat seine Geschichte. Es handelt hier sich um eine, die auf wahren Begebenheiten basiert.
Was wird aus Kindern, die in ihrer frühesten Kindheit keine Liebe oder Wärme kennengelernt haben? Wenn Kinder mit körperlichen Züchtigungen, Abweisungen, Misstrauen und würdelosen Erniedrigungen erzogen werden? Was wird aus einem Kind, das dieses vorgelebte Leben der Eltern nicht annehmen will? Wenn ein Kind bei Missmut der betrunkenen Mutter sowie vom meist ebenfalls betrunkenen Vater aus dem Schlaf geprügelt wird? Wenn das Selbstbewusstsein kaum ausgebildet wird bzw., das vorhandene rausgeprügelt wird?
Gründe dafür liegen angeblich im Alltag (Fehlverhalten, Verspätungen, Widerworte), wie sie bei allen Kindern durchaus vorkommen. Lebenserfahrung mit körperlicher Nähe wird von Kindern übernommen, wie sie von den Eltern vorgelebt wird.
So erging es Anton. Mit dieser Erfahrung begann Antons Lebensweg, die nichts mit dem wertschätzenden sozialen Miteinander und Verlässlichkeit im realen Leben zu tun hatte. Wie das Miteinander funktioniert, erfuhr Anton erst, als er auf Abwege geraten war und der künftige Weg unplanbar schien. Diverse Gerichtsstrafen, Beschulungsformen und die zwangsläufige Heimkarriere gaben ihm aber die Erkenntnis, dass er auf seinem zukünftigen Weg ausschließlich für sich selbst verantwortlich ist. Den Weg ging Anton überwiegend allein.
Diese Form der selbstbestimmten Freiheit im Leben und des Agierens wiederum beruhigte und motivierte ihn, unabhängig von anderen Menschen selbst alles in die Hand nehmen zu können. Wesentlich für seine Entwicklung war für ihn die Erkenntnis, dass die selbstverantwortete Bildung ein großer Faktor für die eigene Freiheit war.
Ratschläge anderer Personen waren auf dem Weg zur frei entschiedenen Selbstständigkeit nicht immer hilfreich.
Heute ist Anton heimwärts in einem guten Daheim angekommen.
Wie jeden Morgen gegen halb sechs wird Anton vom lauten Rufen seines Vaters geweckt. Das bedeutet: Im Dunkeln muss Anton schlaftrunken aufstehen, sich durch die Einraumwohnung Richtung Eingangstür tasten und den Drehschalter für das Licht betätigen. Der Holzfußboden ist an den nackten Füßen kalt und rau. Der ganze Raum wird nun durch eine weiße Glaskugellampe grell beleuchtet, die an einer silbernen Stange von der hohen Decke herabhängt. Der Weg zum Lichtschalter führt Anton am Bett des Vaters vorbei, das direkt neben der Eingangstür und dem Lichtschalter steht.
Anton darf sich nach dem Wecken noch hinlegen. Die Eltern stehen zuerst auf und machen sich fertig, danach stehen Anton und die drei Geschwister auf. Die Morgenwäsche wird von allen mit einer Waschschüssel im Raum erledigt. Zwischendurch gibt es Wasserwechsel, das Wasser ist überwiegend kalt. Es wird wenig gesprochen.
Die Einraumwohnung ist länglich und hat eine Größe von ca. 24 qm. Vor der Eingangstür steht mit wenig Abstand das elterliche Ehebett. Die Kopfseite des Betts steht links an der Wand, rechts an der Wand ein großer Kleiderschrank. Zwischen Bettfußende und Kleiderschrank ist ein Gang von ca. einem halben Meter. Einen Meter hinter dem Ehebett steht jeweils links und rechts an der Wand ein zweistöckiges Etagenbett aus Metall für die Kinder. Hinter einem der Betten steht ein Kleiderschrank, hinter dem anderen eine kleine Küchenanrichte. Neben der Küchenanrichte steht ein Tisch mit kleinem Kochplattenherd. In der Wohnung gibt es nur ein Fenster, daneben steht ein Tisch mit sechs Stühlen. Die Wohnung muss für die sechsköpfige Familie reichen. Dieser eine Raum ist für alle Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und Badezimmer zugleich. Gewaschen wird sich im Raum mittels einer Schüssel, die auf dem Schrank steht, die Toilette befindet sich außerhalb der der Wohnung.
Der Wohnraum befindet sich im dritten Stock einer Offizierskaserne in der Eggerstedtstraße in Hamburg Altona. Der gesamte Komplex ist mit drei Wohnblöcken im Halbkreis um eine freie Fläche mit Spielplatz angeordnet. Nach hinten ist der Bereich durch weitere Kasernengebäude abgeschlossen. Dort befinden sich unter anderem eine Polizeiwache, Pferdeställe und Polizeisportstätten.
Im gesamten Kasernenkomplex leben ca. 1.500 Menschen. Auf jeder der drei Etagen gibt es für die dort lebenden Familien eine Gemeinschaftsküche mit Kochstellen, die sich jeweils zwei Familien teilen müssen. In einem angrenzenden Raum sind die Toiletten untergebracht, die sich ebenfalls immer zwei Familien teilen müssen.
Da Antons Eltern der Meinung sind, dass sie selbst etwas Besseres als die anderen und eigentlich dort im Wohnlager fehl am Platze seien, meiden sie die Gemeinschaftsküche und insgesamt den Kontakt mit der Nachbarschaft. Antons Eltern kochen – wenn möglich und nötig – in der Einraumwohnung, auf dem kleinen Zweiplatten-Elektroherd. Da es keinen Wasseranschluss in der Einraumwohnung gibt, holen die Kinder immer frisches Wasser in Zehn-Liter-Eimern aus der Gemeinschaftsküche. Altwasser wird im Extraeimer gesammelt und in der Gemeinschaftsküche wieder entsorgt.
Die Nachbarschaft ist in den Augen der Eltern sozial vernachlässigt und nicht der passende Umgang für ihre Kinder. Um die Kontakte mit den Kindern der Nachbarschaft zu unterbinden, dürfen ihre Kinder sich nicht mit ihnen zum Spielen treffen. Das ist besonders am Wochenende der Fall, wenn sie nicht im Kindergarten sind. Der Kontakt mit ihnen könnte einen schlechten Einfluss auf ihre Kinder haben. Also bleiben die Kinder die meiste Zeit in der Einraumwohnung.
Die Wochenenden zuhause sind für Anton die schlimmste Zeit.
Anton und sein Vater sind katholisch, der Rest der Familie ist evangelisch. Die Religionen werden nicht gelebt.
Anton hört einmal im Kindergarten, dass es regelmäßig freitags ein Treffen mit der Jungschar der evangelischen Kirche in der Billrothstraße in Altona gibt. Das ist für ihn die Möglichkeit, sich von zuhause zu entfernen – mit Erlaubnis der Eltern.
Ihm wird jedoch zunächst aufgrund seiner Konfession der Zugang verweigert, aber nach einem längeren Gespräch mit dem Leitenden darf er doch daran teilnehmen. Bei den Treffen wird viel über die Bibel und allgemein soziales Miteinander gesprochen, dazu wird gesungen.
Anton nimmt in den Ferien einmal an einer Freizeitfahrt teil. Das Gemeinsame gefällt ihm anfangs.
Irgendwann geht er aber nicht mehr hin. Für ihn wirkt alles eintönig, und sein Glaube an einen Gott, der sich für Schwächere einsetzt, ist nicht vorhanden. Dafür haben die Eltern durch ihr Verhalten gesorgt.
Nach der morgendlichen Vorbereitung müssen Anton und seine Geschwister in den Kindergarten, ausgestattet mit kleinen Brottaschen. Unterwegs treffen sie andere Kinder, die ebenfalls auf dem Weg zum Kindergarten sind. Dort angekommen, geht jeder dann in seine Gruppe.
Der Kindergarten befindet sich im Erdgeschoss des Wohnblocks und ist vom Erdgeschoss und zusätzlich von einer öffentlichen Straße, dem Zeiseweg, erreichbar.
Manchmal nimmt Anton sich die Freiheit und geht lieber diesen Weg zum Kindergarten. Hierfür verlässt er dann den Wohnblock. Er geht am Ausgangsbereich des Wohnblocks an einer Pförtnerloge vorbei, in der ein älterer Mann sitzt, der Kriegsversehrungen an den Beinen hat. Die Bewohner und Besuchenden werden, wenn sie ihm unbekannt sind, nach ihrem Namen und dem Grund des Betretens des Wohnblocks befragt. Von dieser Pförtnerloge holen die Bewohner des Lagers auch ihre Post ab. Eigene Briefkästen gibt es an den Einraumwohnungen nicht.
Anton ist immer neugierig auf die Umgebung und sehnt sich nach eigener Freiheit. Manchmal geht Anton Umwege, dann dauert der Weg zum Kindergarten länger. Draußen sieht er viele Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Sie wirken hektisch auf ihn.
Von der Erzieherin Frau Kaminska bekommt Anton oft Schelte, wenn er im Kindergarten ankommt. Sie informiert auch später Antons Eltern über andere Kinder oder deren Eltern, was ihm Schimpfe und Schläge von den Eltern einbringt. Für diese kleinen Freiheiten nimmt er es in Kauf.
Im Kindergarten angekommen, sind in manchen Gruppen bereits Metallbetten aufgebaut, und die Kinder müssen ruhen. Anton auch. Die Betten werden gegen acht Uhr wieder abgebaut, danach wird an den Tischen gemeinsam das mitgebrachte Frühstück gegessen, und jeder kann spielen, malen, nach draußen auf den Kindergartenspielplatz gehen etc. Ein festes Programm gibt es nicht.
Anton genießt diese Zeit, weg von der Einraumwohnung und den Eltern zu sein. Er ist häufig übermütig, was sich bei ihm in „Verhaltensauffälligkeiten“ zeigt. Ungefragt und neugierig verlässt er seine Gruppe, geht in andere Gruppen, beginnt dort Streitereien und Prügeleien mit den jüngeren Kindern, bis er dann von Frau Kaminska, teilweise mit Gewalt, wieder in die Gruppe zurückgeholt wird.
Einmal versucht sie Anton mit Gewalt aus einer Gruppe über den Flur zu zerren, was ihr aber misslingt. Sie stolpert über ihre Holzlatschen und rutscht, mit Anton im Schlepptau, über den Flur hinter ihm her. Ihre weiße Kittelschürze ist grau von der Rutschpartie. Das Geschrei von Frau Kaminska begleitet den Vorgang. Danach gibt sie Anton Ohrfeigen. Anton mag Frau Kaminska nicht. Sie schreit häufig mit den Kindern und neigt zu körperlichen Übergriffen.
Warum sie manche zugereisten Kinder, die andere Herkunftsorte haben, wie z. B. Brasilien oder Berlin, nicht mit ihren richtigen Namen anspricht, ist für Anton unklar. Sind bei den zugereisten Kindern Geschwisterkinder in der Gruppe, ruft sie die z. B. mit Spanier eins, zwei und drei. Die Kinder nehmen es wortlos hin.
Nach dem Mittagessen wiederholt sich das Ruhprozedere für die kleinen Kinder. Die Metallbetten werden aufgebaut und Mittagsschlaf gehalten. Im Raum schwebt noch der Geruch des Mittagessens. Nach dem Mittagsschlaf können die Kinder wieder draußen oder in der Gruppe spielen. Anton verschafft sich auch Aufmerksamkeit, indem er beim Spielen andere Kinder ärgert. Am Tagesende gehen alle zurück in ihre Wohnungen.
Anton macht wieder einen Umweg und geht zu anderen Kindergartenkindern mit in die Wohnung. Diese Wohnungen sind durch die längliche Form mit nur einem Fenster im Raum ebenso dunkel wie bei Antons Zuhause. Von dort gehen sie gemeinsam zum Ballspielen auf den Spielplatz im Kaserneninnenhof. Anton geht irgendwann doch nach Hause, weil die Eltern der anderen Kinder aus den Fenstern ihre Kinder rufen, dass sie nach Hause kommen sollen. Anton wird von niemandem gerufen.
Auch an diesem Tag ist die Mutter schon da, als Anton in die Wohnung kommt. Sein Fehlverhalten im Kindergarten und das wiederholte Zuspätkommen regt sie auf. Sie schreit ihn an, nimmt wie so häufig einen Kleiderbügel und drischt auf ihn ein. Zusätzlich schreit sie die Drohung aus, dass, wenn der Vater nach Hause kommt, Anton „sich auf etwas gefasst machen“ kann. Anton hat Angst vor dem Vater, besonders, wenn er betrunken ist.
Der weitere Abend besteht aus gemeinsamem Abendbrot ohne den Vater. Dabei liest die Mutter meist unbeteiligt eine Zeitung, raucht ihre Zigaretten und trinkt Korn und Bier. Der Abend verläuft wie immer. Auch die Zubettgehzeit.
Anton macht sich, wie so jeden Abend, alleine bettfertig. Die Zähne sind geputzt, sein Gesicht und Hände sind gewaschen. In der Nacht trägt er diesmal ein hellbraunes, aber manchmal auch ein weißes Nachthemd aus Leinen. Vor dem Zubettgehen muss er zur Mutter gehen. Er reicht ihr die Hand, sagt Gute Nacht und gibt ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. Sie ignoriert dieses Ritual – wie so häufig. Die körperliche Nähe wird von ihr vermieden. Dann, auf dem Weg ins Bett, gibt sie ihm die Andeutung, dass Anton noch etwas zu erwarten hat, wenn der Vater nach Hause kommt. Mit dieser Furcht geht Anton schlafen. Er hofft, wie es ein paarmal auch schon geschah, dass sie dem Vater nichts über sein Fehlverhalten sagen wird.
Leider nicht an diesem Tag. Anton schläft, plötzlich wacht er auf, er spürt starke Schmerzen. Dann hört er schreiende Vorhaltungen vom betrunkenen Vater, unterstützt von der betrunkenen Mutter. Er wird wieder von seinem Vater aus dem Schlaf geprügelt. Die Mutter schreit den Vater an, er muss langsam Sorge dafür tragen, dass Antons Fehlverhalten beendet wird. Anton spürt im Gesicht und am ganzen Körper Schmerzen. Er weint und schreit ebenfalls. Aus Angst und Schmerz uriniert er sich ein, was den Vater noch mehr aufregt und seine Schläge heftiger werden lässt.
Diese Gewaltexzesse wie an diesem Tag sind oft. Jeden Abend, wenn der Vater betrunken und laut nach Hause kommt, wacht Anton davon auf und weiß nicht, ob er wieder aus dem Bett gezerrt und verprügelt wird. Diesmal ist der Vater zu betrunken, um noch weiterzumachen. Dafür gibt es eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen den Eltern. Die Mutter schreit ihn an und macht ihm Vorhaltungen über die soziale Lage, in die sie durch ihn gekommen sind.
Anton versteht nichts davon. Er weiß nur, dass sie von Süddeutschland nach Hamburg gezogen sind. Soweit er zurückdenken kann, wohnen sie im Wohnlager. Es gibt nächtliche Zeiten, da hat Anton das Gefühl, den Vater leise weinen und schluchzen zu hören.
Der Zeitpunkt, dass die Mutter Anton nicht mehr schlägt, kommt, als sie eines Tages wieder angetrunken Anton verprügelt. Ihre Schläge sind heftig, aber nicht so schmerzhaft wie beim Vater. Sie schlägt ihn auch nicht wie der Vater ins Gesicht, die Spuren sollen nach außen nicht sichtbar sein. Anton versucht, die Schläge mit den Unterarmen abzuwehren. Nachdem bei dieser Prügelattacke zwei Kleiderbügel auf seinem Unterarm zerbrechen, nimmt sie in der Not ein Staubsaugerrohr aus Kunststoff und schlägt damit weiter zu, bis auch das zerbricht. Aus dieser Situation heraus kann Anton sich ein Grinsen nicht verkneifen, was die Mutter noch mehr in Rage bringt.
Ab dem Zeitpunkt muss der Vater Anton verprügeln – egal, in welchem Trunkenheitszustand und zu welcher Stunde.
Am nächsten Morgen hat Anton Schmerzen und es sind, wie so oft auch, Spuren von den Schlägen im Gesicht zu sehen. Der Mutter ist es unangenehm, Anton mit den Blessuren in den Kindergarten gehen zu lassen. Die Wunden werden von der Mutter vor dem Kindergartenbesuch eingecremt und auf diese Weise zum Großteil abgedeckt. Dazu bekommt Anton von den Eltern die Anweisung, bei Nachfragen zu sagen, dass er versehentlich gegen einen Schrank gelaufen ist.
Er geht los und fühlt sich auch diesmal wieder schlecht, wie häufig an solchen Tagen. Er weiß, dass alle anderen die Prügelspuren erkennen können. Trotzdem sagt er den anderen nicht die Wahrheit, sondern lügt, wie die Eltern es ihm befohlen hatten.
Am Wochenende gibt es Putzrituale. Samstags ist Putztag, und es wird nach dem Frühstück die Wohnung gereinigt. Die Mutter putzt gemeinsam mit einem oder zwei Kindern die Einraumwohnung. Es gibt viel Ungeziefer, überwiegend befinden sich Bettwanzen unter den Kopfkissen, unter den Bettdecken, in den Holzfußbodenfugen etc. Für die Grundreinigung werden die Möbel stückchenweise von der Fensterseite Richtung Eingangstür geräumt, die freien Flächen gesaugt und gewischt. Wenn ein Bereich fertig ist, wird alles zurückgestellt und die nächste freie Fläche gereinigt.
Danach oder auch parallel wird die Gemeinschaftstoilette entweder von der Mutter oder den Kindern geputzt. Gegen Mittag ist die Wohnungsreinigung beendet.
Anton hat vorwiegend die Aufgabe der Mülleimerleerung und -reinigung, was er gerne macht. Hierfür muss er runter in den Innenhof gehen, wo große Müllcontainer stehen. Auf dem Weg und auf dem Hof trifft er andere Kinder, die draußen spielen. Er leert den Mülleimer und geht wieder hoch in die dritte Etage.
In der Gemeinschaftsküche wäscht er den Mülleimer aus. Dort stehen immer nur Mütter, die das Essen für ihre Familien vorbereiten – Väter sieht Anton nie. Es ist in dem gefliesten Raum durch die Gespräche sehr laut, das Geschirr scheppert, manche Kleinkinder schreien.
Anton trifft manchmal bei der Mülleimerentleerung Kindergartenkinder und spielt mit ihnen. Er kommt deswegen spät zurück, was die Mutter mit Anbrüllen und Vorwürfen sowie der Androhung von väterlichen Schlägen kommentiert.
Der Vater ist in der Zeit der Wohnungsreinigung entweder allein oder mit den Kindern zum Einkaufen von Lebensmitteln unterwegs. Jeden Samstag gibt es nach der Wohnungsreinigung zum Mittagessen entweder belegte Brote oder Erbswurstsuppe mit kleinen Speck- oder Wurststückchen und dazu trockenes Brot.
Am Nachmittag spielen Anton und seine Geschwister in der Wohnung mit kleinem Spielzeug oder schauen bzw. lesen Kataloge und Bücher. Der Sonntag verläuft ähnlich ohne Abwechslung.
Der Vater ist am Wochenende überwiegend anwesend. Sonntagmorgens steht er meist früher auf und hört im Radio das Hafenkonzert vom Schulauer Fährhaus, das von der Anlegestelle Willkomm-Höft in Wedel gesendet wird. Anton hört dieser Sendung auch gerne zu. Ihm gefallen die Berichte aus anderen Ländern und die entsprechend fremde Musik. Er möchte auch gern dorthin – weg.
Der Vater bringt eines Tages einen kleinen Plattenspieler mit. Dazu Singles von Lale Andersen: „Ein Schiff wird kommen“, Freddy Quinn: „Junge, komm bald wieder“ und von den Beatles: „No Reply“ und „Eight Days a Week“. Diese Singles werden mehrmals, besonders von Anton, am Tag abgespielt.
Wie jeden Sonntag bekommt Anton die Aufforderung von seinem Vater, in einer Schüssel seine Füße zu waschen. Der Vater ist korpulent und eingeschränkt beweglich. Eine Widerrede von Anton duldet der Vater nicht. Als Anton doch seinen Unmut äußert, gibt es eine Kopfnuss mit Ohrfeigen. Wenn der Vater mit der Reinigung zufrieden ist, gibt er Anton manchmal 50 Pfennige dafür.
Beruflich ist der Vater Fuhrunternehmer und fährt einen eigenen kleinen Lastkraftwagen. Früher war er in Süddeutschland Braumeister. Warum er nicht in Hamburg in diesem Beruf arbeitet, weiß Anton nicht.
Für seine Arbeit zum Wochenbeginn benötigt er frische Hemden. Auch das erledigt Anton. In einer Schüssel bereitet Anton heißes Wasser vor und mit etwas Kernseife wäscht er die drei vorhandenen weißen Hemden.
Die gesamte Wäsche der Familie wird vom Vater alle 14 Tage in zwei großen Wäschebeuteln zu einer Wäscherei gebracht, die gegen Geld gewaschen und gebügelt wird.
Wenn die Eltern wieder Streitereien hatten, bleibt der Vater öfter ein paar Tage weg. Er nimmt die Wäschebeutel dann nicht im Auto mit. Die Kinder tragen die Wäschebeutel dann zur weit weg gelegenen Wäscherei, und zwei Tage später holen sie diese wieder ab.
Sonntag ist Badetag, dann werden die Kinder mitten im Zimmer nacheinander in einer großen Zinkwanne gewaschen.
Die Wochenenden mit der Familie in der Wohnung sind zäh. Es kommt öfter vor, dass sich die angetrunkenen Eltern streiten. Dieses Wochenende ist die Auseinandersetzung so heftig, dass sie sich von der Wohnung hinaus bis vor die Haustür auf dem Flur anschreien und prügeln. Neugierig kommen die Nachbarn hinzu und bilden einen großen Kreis um sie herum. Ein Ende der Prügelei ist nicht abzusehen.
Antons älterer Bruder geht deswegen zur Polizeistation und bittet dort um Hilfe. Die Polizei meint nur, solange nichts lebensbedrohliches für die Eltern passiere, müssten sie sich nicht einmischen.
Ohne Erfolg kommt der Bruder wieder zurück. Anton ist diese Form der Auseinandersetzung unangenehm. Nach dieser Streiterei verlässt der Vater die Wohnung, geht in die nächste Kneipe und betrinkt sich.
Anton wird sechs Jahre alt. Er hört von seinen Eltern und Frau Kaminska vermehrt die Ankündigung, dass nun für ihn der Ernst des Lebens beginnen wird. Er fragt seine Eltern, was das bedeutet. Die Eltern antworten, dass er nun eingeschult werden soll. Frau Kaminska merkt im Kindergarten mit spöttischem Unterton dazu an, dass Anton in der Schule „nichts zu lachen haben“ wird. Dort wissen sie, wie man mit Kindern wie ihm umzugehen hat.
Antons Grundschule befindet sich in der Haubachstraße in Altona. Der Fußweg von zuhause dorthin dauert ungefähr zehn Minuten. Er ist gespannt, was auf ihn zukommen wird.
Die vorher von Frau Kaminska geäußerten Vorahnungen sorgen Anton nicht. Der nun anstehende tägliche Ortswechsel erfreut ihn sogar. Nach der Schule muss er jedoch wieder direkt in den Kindergarten.
Den Weg von zuhause zur Schule kennt Anton schon, seine Geschwister sind dort bereits eingeschult. Zur Einschulung bringt ihn die Mutter.
Das Einschulungsfoto ist für alle gleich: Vor der Schule steht eine Schultafel mit der Jahreszahl 1963 drauf, Kind mit kleiner Schultüte im Arm daneben. Die Personen werden zum Fotografieren schnell gewechselt.
Als Anton in der Klasse ankommt, ist der Klassenraum brechend voll. Ca. 30 Kinder mit ihren Elternteilen sind anwesend. Anton sieht, dass die Mitschülerinnen und Mitschüler, die nicht im Wohnlager wohnen, äußerlich anders wirken und sprechen. Irgendwie sind für ihn die Kinder aus anderen Stadtteilen sauberer und besser gekleidet als die Kinder aus dem Lager. Anton prägt für sich für diese Kinder den Begriff „die Anderen“, zu denen er nicht gehört.
Bei deren Eltern empfindet er das Gefühl, dass sie grau wirken. Sie sind für ihn die Grauen, bei denen der Lebensweg für sich und die Kinder bereits fest vorgeplant ist und nichts abweichen darf. Auch ist für Anton ein Anderssein in ihrem Verhalten erkennbar. Sie sind ruhig und zurückhaltend, aber nur bedingt fröhlich. Ihre Kleidung ist besser zur Figur passend.
Anton trägt meist die Wäsche seines älteren Bruders. Da die Mutter Wert auf Äußeres legt, näht sie die Kleidung im Rahmen ihrer Möglichkeiten so zurecht, dass die Wäsche zwar nicht modisch ist, aber gepflegt aussieht.
Anton hat mitbekommen, dass er auf manche Menschen durch seine dunklen Haare, die blauen Augen und seinen offenen Blick einen freundlichen Eindruck macht. Da fällt die alte Bekleidung an ihm nicht so unpassend auf.
Seine Schulausstattung unterscheidet sich jedoch erheblich von den Anderen. Die Schulutensilien von den Anderen sind in Federtaschen einsortiert und vielfältiger als die von Anton. Sein Schulranzen ist aus braunem Leder, den hat der Vater über Freunde geschenkt bekommen. Im Ranzen befinden sich ein Bleistift, ein Radiergummi und ein Lineal, alles in einer kleinen Federtasche verstaut. Dazu ein Schreibheft mit Linien und eins mit Karopapier.
Anton hört die Kinder sprechen, die sich untereinander aus dem Wohnviertel außerhalb des Wohnlagers kennen. In der Aussprache ist der überwiegende Teil von den Anderen klarer und verständlicher.
Die Klassenlehrerin Frau Schneider stellt sich und den Stundenplan vor. Die Eltern müssen Namensschilder für die Sitzplätze ihrer Kinder schreiben. Das Schulgebäude ist alt, kalt und ungemütlich. Die Flure riechen nach Bohnerwachs. Antons Klassenraum ist im Erdgeschoss. Draußen im Flur müssen die Kinder während der Schulzeit die Jacken aufhängen. Anton kennt einige Kinder bereits aus dem Wohnlager und dem Kindergarten. Auch sie unterscheiden sich wie er von den Anderen.
Anton muss nach der Schule zum Kindergarten gehen. Er ist gerne allein unterwegs, nimmt sich auch diesmal viel Zeit und schaut sich neugierig die Dinge an, die er in der Umgebung sieht. In den Schaufenstern der Geschäfte liegen interessante Waren, besonders beim Spielzeugladen.
Wieder kommt er zu spät zum Mittagessen in den Kindergarten. Frau Kaminska schimpft wie erwartet mit ihm. Die anderen Kinder sind schon beim Essen. Sein Essensplatz ist seit geraumer Zeit direkt neben Frau Kaminska, so hat sie ihn besser unter Kontrolle.
Nach dem Essen wird gemeinschaftlich das Geschirr abgeräumt und auf einem Essenswagen zur Küche gebracht. Anton ist bei dieser Tätigkeit immer gerne dabei. Er macht solche Dinge gern für andere Menschen.
Seine Ausflüge in andere Gruppen werden weniger. Statt der Mittagsruhe müssen alle Kinder die Schularbeiten erledigen. Anton lässt sich hierbei viel Zeit, die Menge der Schularbeiten wird so nicht erledigt, was Frau Kaminska nicht kontrollieren kann.
Anton freut sich über die örtliche Abwechslung zwischen Kindergarten und Schule, und ist deshalb am Unterricht übermütig beteiligt. Er geht durch die Klasse, lenkt die anderen Kinder ab und rauft auch gerne mit ihnen. Für Anton ist es Spaß, der Abwechslung bringen soll – für Frau Schneider ist es manchmal zu viel. Ermahnungen, in der Ecke zu stehen oder den Klassenraum zu verlassen, kommen für Anton häufig vor. Im ersten Zeugnis wird von Frau Schneider sein Verhalten benannt:
Anton ist ein lebhafter Junge, der gerne seine Klassenkameraden neckt und oft in Prügeleien verwickelt ist. Er hat Schwierigkeiten mit dem Stillsitzen und könnte bessere Leistungen erbringen, wenn er aufmerksamer wäre.
Seine Hausaufgaben sind nicht immer vollständig und ordentlich. Er hat gute Kenntnisse in Buchstaben und Zahlen und liest geübte Texte fließend. Anton schreibt flüssig, aber nicht sorgfältig genug. Kleinere Diktate schafft er meist fehlerfrei. Anton wird in die Klasse 2 versetzt.
Die Eltern sind über das im Zeugnis genannte Verhalten nicht erfreut, also gibt es dafür Prügel. Nach dem Kindergartenbesuch erst von der Mutter, abends dann vom Vater.
Das Zwischenzeugnis aus der 2. Klasse ist nicht anders als das erste und bringt Anton zuhause weiteren Ärger. Frau Schneider schreibt im ersten Halbjahreszeugnis der zweiten Klasse:
Antons Verhalten in der Schule ist nicht einwandfrei. Er stört oft den Unterricht durch laute vorlaute Bemerkungen. Außerdem ist er vielfach in Prügeleien verwickelt.
Seine Beteiligung am Unterricht ist nicht rege genug, da er sich ständig mit anderen Dingen beschäftigt.
Seine Leistungen haben sich besonders in der Rechtschreibung und im Rechnen verschlechtert. Anton muss viel sauberer und ordentlicher werden.
Als Anton zuhause ankommt und das Zeugnis vorlegt, gibt es dafür wieder Prügel. Die Mutter kündigt Maßnahmen an, um die gefährdete Versetzung zu vermeiden. Anton muss nun abends nach dem Essen mit ihr die Hausaufgaben machen, die er im Kindergarten nicht erledigt hat. Er wird dabei häufig müde. Die Mutter sitzt daneben, raucht, trinkt ihren Alkohol und beobachtet ihn genau. Fallen ihm die Augen zu, gibt es einen Schlag auf den Hinterkopf. Kann Anton kaum noch die Augen offenhalten, holt die Mutter eine Schüssel mit kaltem Wasser, in die er seine Füße stellen muss. Dann wird weiter geübt. So geht es viele Abende.
Anton geht mit dem Jahresabschlusszeugnis der 2. Klasse nach Hause. Eine Besserung im Zeugnis ist nicht erkennbar. Die erste Fünf im Schreiben. Frau Schneider schreibt entsprechende Bemerkungen zu Antons Beteiligung im Unterricht:
Antons Haltung ist nicht einwandfrei. Er ist sehr unruhig und stört den Unterricht durch vorlaute Bemerkungen. Er muss ständig berufen werden, da er sich oft mit anderen beschäftigt. Anton wird in die Klasse 3 versetzt.
Für Anton bedeutet die Schule Freiheit, die er zuhause nicht bekommt. Er ist gerne mit Menschen zusammen und will mit ihnen gemeinsam etwas erleben. Den Unterricht findet Anton langweilig, also sorgt er für Abwechslung, die aber von Frau Schneider nicht gerne gesehen wird. Im Zwischenzeugnis der Klasse 3 beschreibt Frau Schneider seine schulischen Veränderungen. Es sind jetzt drei Fünfen im Zeugnis:
Antons Verhalten in der Schule ist nicht einwandfrei. Er muss oft wegen Unartigkeiten bestraft werden. Er neckt und ärgert zu gerne seine Mitschüler.
Anton arbeitet kaum im Unterricht mit. Er sitzt abwesend da und spielt herum oder lenkt seine Umgebung ab. Seine Schularbeiten macht er selten, wenn ja, dann sind sie unvollständig hingeschmiert.
Seine Leistungen sind schlechter geworden. Die Versetzung ist gefährdet.
Anton steht oft vorne bei der Tafel, manchmal auch hinten in der Ecke im Klassenraum. Wenn Frau Schneider gerade nicht guckt, unterhält er die Klassenmitglieder mit Faxen. Zu Kindern, die ihn kritisieren, geht er hin und gibt ihnen eine Ohrfeige, oder stößt ihnen mit der Faust in die Rippen.
Anton steht nicht ungerne als Strafe vor der Tür. Denn eine Aufsicht ist nicht da, also kann er in Ruhe die Schule erkunden. Er geht in den oberen Stockwerken bei den höheren Klassen herum. Er ist allein in den Fluren und durchsucht die Jackentaschen, die vor den Klassen hängen. Einige Kinder haben Kleingeld in den Taschen, das Anton an sich nimmt.
Nach der Schule kauft er sich von dem Geld Süßigkeiten. Sein Verhalten hat wieder Auswirkungen auf das nächste Zeugnis, was ihn jedoch nicht stört.
Im zweiten Halbjahreszeugnis der dritten Klasse sind neben zwei Fünfen zusätzlich noch eine 6; und auch der Unterricht wird von Anton weiterhin gestört. Frau Schneider schreibt das Verhalten von Anton ins Zeugnis:
Die Haltung von Anton ist nicht einwandfrei. Die Leistungen haben sich besonders im Rechnen sehr verschlechtert.
Er zeigt keinen Fleiß und keine Ausdauer; seine Arbeitshaltung lässt zu wünschen übrig. Er stört laufend den Unterricht.
Anton hat Glück, er wird trotzdem in die 4. Klasse versetzt. Das reicht den Eltern aber nicht, sie setzen die Prügeleien für das Zeugnis fort. Die Mutter bleibt weiterhin bei ihrer Methode, mit Anton abends die Hausaufgaben zu überprüfen, die Inhalte zu üben und bei Müdigkeit seine Füße ins kalte Wasser zu stellen. Dabei raucht sie Zigaretten und trinkt Alkohol.
Anton stört das ganze „Zuhause“ – er will weg. Er fragt seine Mutter, ob er nicht, wie häufig von den Eltern angedroht, in ein Heim ziehen könne. Die Mutter reagiert überrascht, wird rot und schreit Anton an, dazu gibt sie ihm Ohrfeigen und fragt ihn lauthals, wer das bezahlen soll. Anton hat damit nicht gerechnet, er hat die Hoffnung gehabt, so aus der Familie rauszukommen. Und die Eltern hätten dann ihre Ruhe.
Die Erzieherinnen im Kindergarten versuchen weiterhin, auch mit grobem Anfassen, Anton auf einen anderen Weg zu bringen, was ihnen aber nicht gelingt. Anton will weg. Von allem.
Der Vater ist immer weniger zuhause, was Anton nicht stört, und auch die älteste Schwester ist nun ausgezogen. In der Familie ist für Anton eine unberechenbare Stimmung. Er hat keine Lust auf den Schulunterricht und gestaltet für sich weiterhin den Unterricht auf seine Weise.
Im ersten Halbjahreszeugnis der vierten Klasse bekommt Anton zwei Fünfen und zwei Sechsen. Frau Schneider schreibt eine entsprechende Bemerkung darunter:
Atons Verhalten in der Schule ist problematisch. Er stört den Unterricht, kann sich nicht konzentrieren und hat schwache Leistungen, besonders in der Rechtschreibung. Seine Versetzung ist gefährdet.
Anton weiß, was passiert, wenn die Eltern das Zeugnis zu sehen bekommen. Sein Magen zieht sich bei dem Gedanken zusammen.
Am Samstagnachmittag, das Zeugnis hat er noch im Schulranzen und den Eltern noch nicht vorgelegt, geht er zum Mülleimerleeren. Sein Vater ist kurz vorher wieder betrunken nach Hause gekommen. Die Mutter stachelt ihn abermals auf, Anton wegen seiner Vergehen im Kindergarten und in der Schule sowie der schulischen Leistungen zu verprügeln. Mit dem Gang zum Mülleimerleeren drückt sich Anton vorerst vor den Schlägen, weiß aber auch, dass diese noch kommen werden.
Als er vor dem Müllcontainer steht, stellt er den Mülleimer ab und verlässt den Kasernenhof. Irgendwie nur weg, denkt er sich. Ziellos, aber auch neugierig geht er durch die Straßen, er fühlt sich frei und unbeschwert. Die Frühjahrssonne scheint, es ist nicht kalt. In Ruhe schlendert er durch die Straßen, schaut in die Fenster der Geschäfte und fühlt sich wohl. So wohl hat er sich noch nie gefühlt.
Er bummelt von Altona in Richtung Hamburger Hafen. Die großen und kleinen Schiffe interessieren ihn besonders, er wäre gerne mitgefahren. Er sieht von Weitem die Möwen kreisen. Je dichter er zur Elbe kommt, desto lauter hört er das Möwengeschrei. Sie segeln in Schwärmen vor sich hin, sie sind frei. Mit diesem Eindruck beobachtet er das rege Treiben im Hafen und weiß, dass er nicht wieder zurück nach Hause will. In der Tasche hat er 1,50 Mark. Er hat Hunger und Durst. Dass Bäckereien Kuchenreste verkaufen, also den Verschnitt von der Kuchenherstellung, weiß er von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Er kauft sich in einer Bäckerei für 10 Pfennig Kuchenreste. Und dass er bei Durst einfach in eine Kneipe gehen und nach etwas Wasser fragen kann, weiß er auch von den anderen Kindern. Meist geben die Gastwirte dann entweder eine kleine Limo aus, oder geben ein Glas mit einem Rest Limonade oder auch Wasser aus einer Flasche oder aus dem Wasserhahn.
Der Nachmittag vergeht schnell, diese neuen Eindrücke lassen ihn die Zeit vergessen. Im Hafen wird der Schiffsverkehr ruhiger, weitere Schiffe kommen seltener. Anton überlegt sich, wie und wo er die Nacht verbringen kann. Er weiß, dass er nicht viele Möglichkeiten hat. Nach Hause zurück will er aber auf keinen Fall. Im Notfall wird er auf einer Bank schlafen. Kalt ist es nicht, und er fühlt auch keinen zeitlichen Druck. Es ist alles schön so. An zuhause denkt er kaum, im Gegenteil, ihm graut bei dem Gedanken und es kommen Angstgefühle hoch. Was sie denken, ist ihm egal.
Es dämmert langsam, und Anton sucht sich eine abseits gelegene Bank in einer Seitenstraße am Hafen. Er sitzt erstmal, später will er sich dann hinlegen. Anton verspürte keine Angst, die Eltern sind nicht da. Es wird langsam dunkel. In Gedanken verloren sieht er einen Mann auf ihn zukommen. Er sieht freundlich und gepflegt aus. Bei seiner Frage, ob Anton nicht nach Hause will, verneint Anton. Zu seiner Situation sagt Anton nichts. Nach einem kurzen Gespräch über Hafen und Wetter fragt der Mann Anton, ob er bei ihm zuhause schlafen möchte. Anton beruhigt der Gedanke, dass er die Nacht nicht auf der Bank schlafen muss. Zuversichtlich stimmt Anton zu. Sie gehen eine Straße weiter in ein altes Wohnhaus.
Die Wohnung besteht aus einem Raum mit separater Küche und Toilette. An der Wand steht ein Bett. Der Mann sagt, sie müssen leider zu zweit darin schlafen. Das macht Anton nichts aus. Da der Mann am nächsten Tag früh zur Arbeit muss, will er bald ins Bett gehen. Gemeinsam essen sie noch etwas Brot, trinken Brause und legen sich ins Bett. Anton bleibt angezogen, er denkt über den Tag nach, es war aufregend und schön. Es ist eine ruhige Nacht.
Am nächsten Morgen wird Anton von dem Mann geweckt, sie frühstücken noch etwas und Anton steht danach wieder auf der Straße. Wieder frei.
Es ist noch früh am Morgen. Anton weiß, dass sonntags bei der Großen Elbstraße Fischmarkt ist. Er war noch nie dort, hat aber schon viel davon gehört. Also schlendert er erwartungsvoll in diese Richtung. Auf dem Weg beobachtet Anton das morgendliche Treiben in den Straßen.
Je dichter er zum Fischmarkt kommt, desto voller wird es. Auf dem Fischmarkt ist schon reger Betrieb. Mit Erstaunen sieht Anton die gut gelaunten Händler an ihren Ständen. Die in der Elbe frisch gefangenen Fische werden hier direkt vom Fischkutter verkauft. Sie zappeln noch und es riecht nach Meer. Darüber kreisen die Möwen und versuchen, Fischreste zu bekommen. Die Fischkutter gehen durch den Wellengang am Kai hoch und runter. Der Verkauf wird dadurch erschwert, die Kunden müssen gezielt nach den Fischen greifen und vorsichtig das Geld übergeben.
Anton geht zur Fischauktionshalle weiter, dort drinnen werden Fische, Blumen und auch Geflügel verkauft. In der Halle ist es laut und es stinkt stark nach Tieren und Essen. Anton sieht sich neugierig um, die Hühner in den Käfigen tun ihm leid. Das kennt er.
Er geht wieder raus aus der Halle, dort werden von den Marktschreiern lauthals Pflanzen und Südfrüchte direkt vom Lastwagen verkauft. Die Straße auf dem Fischmarkt ist voll mit Menschen, überall ist Gedrängel. Die Gerüche sind unterschiedlich, mal nach Fisch, mal nach Pflanzen, mal nach Abgasen von den Schiffsmotoren und an einer Hausecke auch nach Alkohol und Zigarettenqualm. Dieser Geruch kommt aus einer Hafenkneipe, der Haifisch-Bar, an der Anton gerade vorbei geht.
Das Treiben gefällt Anton, er stellt sich abseits hin und beobachtet das Gewimmel. Die Möwen kreisen immer noch über den Schiffen. Einige versuchen, wo Platz ist, Essensreste von der Straße zu picken.
Es könnte für Anton so bleiben. Von einem Händler bekommt er einen Apfel und von einem anderen eine Banane geschenkt. Anton hat Durst und geht in eine Hafenkneipe, dort bittet er um etwas Wasser. Wie erwartet bekommt er umsonst eine kleine Flasche Brause.
Plötzlich ertönt laut ein Sirenenton über dem Fischmarkt, es ist das Zeichen für das Fischmarktende. Die Händler müssen ihre Stände abbauen. Der Abbau ist emsig und geht schnell. Innerhalb kürzester Zeit ist der Fischmarkt wieder eine freie Straße. Die Möwen sind jetzt vermehrt auf der Straße und nehmen, was sie bekommen können.
Anton schlendert entlang der Elbe vom Fischmarkt Richtung Landungsbrücken. Vor dem Eingang zum Alten Elbtunnel sieht Anton zwei Polizeiwagen stehen. Andere Fußgänger stehen ebenfalls dort. Neugierig geht er hin. Vier Polizisten stehen mit Passanten zusammen und sprechen miteinander.
Als Anton näherkommt, geht einer auf Anton zu und fragt ihn, wie er heißt. Nichtsahnend gibt Anton seinen Namen an. Der Polizist ist freundlich und sagt, dass Anton von seinen Eltern als entlaufen gemeldet wurde und sie ihn suchen würden. Anton ist erstaunt, dass die Polizei dafür eingesetzt wird. Der Polizist sagt freundlich zu Anton, dass er ihn mit zum Polizeirevier nehmen muss.
Anton fährt ein Schrecken mit Angst durch den Körper. Ihm wird klar, was auf ihn zukommen wird, wenn er wieder zuhause ist.
Im Polizeiwagen fährt er mit zur Polizeistation beim Wohnblock in der Eggerstedtstraße. Dort wird Anton befragt, wo er gewesen ist und wo er die Nacht verbracht hat. Anton gibt bereitwillig Auskunft.
Er erzählt von dem Mann, bei dem er übernachtet hat. Ein Polizist schaut Anton kritisch an und will unbedingt wissen, wo der Mann wohnt. Das kann Anton jedoch nicht beantworten, die Straße hat er beim Herumlaufen vergessen. Anton ist erstaunt, als sie ihn fragen, ob der Mann ihn angefasst hat. Er verneint die Frage.
Ihm wird immer mulmiger im Bauch. Besonders, als ein Polizist sagt, dass sie ihn nun in die Wohnung zu den Eltern bringen würden.
Sie gehen zu dritt zum Wohnblock, von dort in die dritte Etage, dann durch den langen Flur zur Wohnung. Überall stehen die Nachbarn und Kinder. Es riecht nach diversen Mittagessen. Sie beobachten die drei, besonders die zwei Uniformierten.
Bei der Wohnung angekommen, klopft ein Polizist an. Der Vater öffnet die Tür. Nach einem kurzen ruhigen Wortwechsel zwischen dem Vater und den Polizisten – Anton versteckt sich während des Gesprächs hinter einem Polizisten – muss Anton in die Wohnung gehen.
Die Familie ist da und schaut ihn an. Es ist ein bedrohliches Gefühl für ihn. Keiner spricht mit ihm über das Weglaufen. Wider Erwarten wird er nicht vom Vater verprügelt. Auch die Mutter hält sich zurück. Jeder tut so, als wäre nichts geschehen. Das Restwochenende verläuft trotz des schlechten Zeugnisses ruhig.
In der Schule ändert sich für Anton nichts, er macht weiter, was er will. Er macht die Stimmung in der Klasse, wie er sie will.
Das Schuljahr nähert sich dem Ende und das Jahresabschlusszeugnis der 4. Klasse fällt noch schlechter aus als das vorherige. Anton hat nun vier Fünfen und eine Sechs im Zeugnis. Und dazu die Bemerkung von Frau Schneider:
Antons Verhalten in der Schule ist nicht zufriedenstellend. Er hat den Ernst der Sache immer noch nicht erfasst, ist verspielt und stört den Unterricht. Seine Leistungen haben sich nicht gebessert.
Nicht versetzt!
Anton geht zum Kindergarten und ist trotzdem guter Dinge, mit dem Zeugnis kann er leben. Kommentare zu seinem Verhalten von den Erzieherinnen und manchen Kindern im Kindergarten ignoriert er. Zumal zu diesem Zeitpunkt eine Veränderung an der Wohnsituation geplant ist.
Die Eltern sind mit dem Umzug beschäftigt. Die Familie will in die Behnstraße in Hamburg Altona ziehen. Eine Dreizimmerwohnung mit Küche und eine Toilette mit Dusche im Treppenhaus. Der Vater übernimmt nun beim Duschen seine Fußreinigung selbst. Es gibt einen Hinterhof, in dem gespielt werden kann. Im Keller sind die Kohlen für den Kohleofen im Wohnzimmer.
Der Vater bringt eines Tages einen kleinen Hundewelpen mit. Es ist ein Schäferhund, der sofort Rowdy getauft wird. Er wird zum Liebling der ganzen Familie. Anton liebt ihn sehr. Obwohl er ein junger Hund ist, ist Rowdy zutraulich und zärtlich im Umgang mit Anton.
Der Vater ist immer seltener zuhause, und wenn er da ist, gibt es Geschrei und Schlägereien bei den Eltern. Die Mutter trinkt Rotwein und Korn, und raucht ihre Zigaretten. Doch Prügel für Anton werden immerhin seltener.
