Arc & Ruin - Marie Graßhoff - E-Book

Arc & Ruin E-Book

Marie Graßhoff

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Beschreibung

Die 24-jährige Wächterin Rah hat gelernt, niemandem zu vertrauen: nicht den Mentoren ihrer Vergangenheit, nicht den Monstern in ihrem Inneren und erst recht nicht dem viel zu attraktiven Irin.

Als albtraumhafte Kreaturen drohen, die Welt zu verschlingen, müssen die beiden getrennte Wege gehen. Rah sucht in ihrer Heimat verzweifelt nach Möglichkeiten, die drohende Katastrophe aufzuhalten. Weiß dort jemand in den Tempeln, woher die gefährlichen Geschöpfe kommen? Währenddessen folgt Irin einer Spur aus uralten Geheimnissen und gerät dabei in die dunkelsten Abgründe der Welt - und in die Schatten seiner eigenen Vergangenheit.

Wird es ihnen gelingen, die Welt zu retten, ohne daran zu zerbrechen?

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Seitenzahl: 760

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungINHALTSHINWEISWAS BISHER GESCHAH1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465666768697071727374757677787980818283848586EpilogDANKSAGUNG

Über dieses Buch

Rah kann niemandem mehr vertrauen: nicht ihren Mentoren, nicht den Bildern in ihrem Inneren und erst recht nicht dem viel zu attraktiven Irin. Als albtraumhafte Kreaturen beginnen, die Welt zu verschlingen, sucht Rah in ihrer Heimat verzweifelt nach Möglichkeiten, die drohende Katastrophe aufzuhalten. Weiß dort jemand, woher die gefährlichen Geschöpfe kommen? Gleichzeitig folgt Irin einer Spur aus uralten Geheimnissen und gerät dabei in die dunkelsten Abgründe – und in die Schatten seiner eigenen Vergangenheit.

Shina und Mae schließen sich einem Orden an, der ihnen zwar Schutz bietet, aber ihre Hilfe bei einem Plan fordert, der die Welt verändern soll. Während Shina alles tun würde, um Mae zu helfen, begibt sich Mae auf der Suche nach Wiedergutmachung in immer gefährlichere Situationen.

Wird es ihnen gelingen, die Welt zu retten, ohne daran zu zerbrechen?

Das epische Finale zu HEART & SHADOW

Über die Autorin

Marie Graßhoff, geboren 1990 in Halberstadt im Harz, studierte in Mainz Buchwissenschaft und Linguistik. Anschließend arbeitete sie als Social-Media-Managerin bei einer großen Agentur. Mittlerweile ist sie als Autorin und Grafikdesignerin tätig und lebt in Leipzig. Ihre Bücher wurden für mehrere Preise nominiert, u.a. stand sie zweimal auf der Shortlist des Phantastik-Preises SERAPH. Bereits zweimal gewann sie den LOVELYBOOKS LESERPREIS.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Buch wurde vermittelt von derLiteraturagentur erzähl:perspektive, München(www.erzaehlperspektive.de)

Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.

Textredaktion: Tamara Reisinger (www.tamara-reisinger.de)

Umschlaggestaltung und -motive: © Alexander Kopainski

Kartenillustration Landkarte Innenklappe vorne: Marie Graßhoff

Illustration Innenklappe hinten: Sophie Gießelmann

(www.hamrikaa.carrd.co)

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-7413-0

luebbe.de

lesejury.de

Für OpaWir haben dich lieb

INHALTSHINWEIS

Dieses Buch enthält explizite Beschreibungen von physischer Gewalt, Blut und Tod.

Ihr entscheidet selbst, wie ihr damit umgeht. Sind diese Themen für euch besonders emotional aufgeladen, passt auf euch auf.

WAS BISHER GESCHAH

In der Hauptstadt Sartins herrscht Unruhe. Gefährliche Tierwesen greifen die Menschen an, Mordfälle zerrütten die von politischen Unruhen angespannte Stadt. Rah, eine 24-jährige Wächterin aus einer entfernten Tempelgemeinde im Norden Astyrias, kam vor zwei Wochen nach Sartin. Sie möchte das Geheimnis der fünf Wölfe lösen, die seit ihrer Kindheit in ihrem Inneren leben – sie wird allerdings gebeten, den Wächtern und Staatspolizisten zu helfen, die Tierwesen – sogenannte Schattenfresser – zu läutern, was ihr im Gegensatz zu allen anderen gelingt.

Nach dieser Begegnung trifft Rah auf Irin, der in ihrem Tempel um seinen kürzlich verstorbenen Freund Kuro trauert, der von einem Schattenfresser verschlungen wurde. Irin hält das allerdings für unmöglich. Denn Kuro war ein Königsgott – und kaum etwas ist in der Lage, Königsgötter zu töten. Also muss etwas mit den Energien der Welt nicht stimmen.

Rah beschließt, ihre persönlichen Probleme zurückzustellen und sowohl Irin als auch den Wölfen in ihrem Inneren zu vertrauen und mit ihm auf Ermittlungsreise zu gehen.

Parallel dazu steht Shina, eine angehende Astralweberin an der Staatsakademie, vor eigenen Herausforderungen. Sie ist bestrebt, den Erwartungen ihrer einflussreichen Eltern gerecht zu werden, doch ihre beste Freundin Mae – in die Shina schon länger verliebt ist – ist seit dem Tod ihrer Mutter einzelgängerisch geworden und hält Shina auf Abstand.

Zu ihrem Entsetzen erwischt Shina Mae dabei, wie sie das Blut eines Menschen trinkt. Erschüttert flieht sie vom Tatort, verbringt den nächsten Tag mit Recherche und entscheidet sich dazu, ihre Eltern einzuweihen.

Ein großer Fehler: Als Shina gemeinsam mit ihren Eltern mit Mae reden will, um ihr zu helfen, erfährt sie, dass Mae hingerichtet werden soll, weil Bluttrinker eine zu große Gefahr darstellen.

Einem Impuls folgend greift Shina ihre Eltern an und flieht gemeinsam mit Mae. In einer dramatischen Verfolgungsjagd begeben sie sich zum Bahnhof und springen auf einen fahrenden Zug auf, um die Stadt und das Land zu verlassen.

Irin und Rah verfolgen unterdessen die Spur der Schattenfresser in die nahe gelegene Grenzstadt Sartins, wo ihnen Menschen in der vom Belagerungskrieg zerrütteten Stadt von eigenartigen Vorkommnissen in der ganzen Welt berichten. Es gibt Gerüchte, die Schattenfresser seien zuerst in der Deltastadt aufgetaucht und die Thronerbinnen der Stadt Noâj wüssten mehr darüber. Obwohl die Informationen schwammig sind, beschließen sie, ihnen nachzugehen.

Shina und Mae erreichen nach dem Kampf in einem Zug die Hauptstadt Vêriliths – die Stadt der Uhrwerke – und flüchten sich in eine Herberge. Als die beiden zum ersten Mal seit Stunden Zeit zum Reden haben, erzählt Mae Shina die Wahrheit: Sie leidet schon immer an dieser Krankheit und unter unstillbarem Hunger, der nur durch Blut ein wenig gelindert werden kann. Ihre Mutter brachte ihr immer Blutkonserven aus dem Krankenhaus. Doch nachdem sie starb, hatte Mae immer wieder Aussetzer, wenn der Hunger zu groß wurde. Um sich halbwegs unter Kontrolle zu halten, tötete Mae hin und wieder Verbrecher, um nicht gänzlich die Kontrolle über sich zu verlieren.

Obwohl Shina schockiert ist, schmiedet sie Pläne, um Mae zu helfen. Sie müssen nicht nur untergetaucht bleiben, sondern auch einen Weg finden, Maes Hunger zu stillen.

Rah und Irin sind mit dem Zug auf dem Weg zur Deltastadt. Rah hält es für klüger, nach Noâj zu gehen, was Irin allerdings vehement abwehrt. Sie tragen die Erkenntnisse aus ihren bisherigen Befragungen zusammen: Die Schattenfresser verschlingen offenbar ausschließlich energetisch aufgeladene Dinge und Lebewesen.

Auf ihrem Weg machen sie in der Hauptstadt Tyrras Halt, wo sie in einer Herberge unterkommen. Weil Rah allerdings von immer intensiveren Albträumen geplagt wird, geht sie nachts hinaus und wird von verhüllten Kultmitgliedern umringt. Sie setzen sie unter Drogen, zeigen ihr Versionen einer düsteren Zukunft und bitten Rah, ihnen zu folgen.

Im letzten Moment wird sie von Irin gerettet, der zu ihrer Überraschung ein Schwert bei sich trägt.

Shina und Mae stehlen währenddessen Blutkonserven aus einem Krankenhaus, mit denen Mae eine Weile über die Runde kommen sollte. Als sie zurückkehren, werden sie jedoch von mehr als zwei Dutzend Astralen der Imperialen Garde Vêriliths eingekesselt und überwältigt, obwohl sie verbissen kämpfen. Ein junger Astral namens Vaelyn scheint es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht zu haben, die beiden wieder an Sartin auszuliefern, um seine Karriere voranzubringen.

Entwaffnet und gefesselt bei einem Zug angekommen, der Shina und Mae zurück nach Sartin bringen soll, offenbart sich ihnen überraschende Hilfe: Einer der Astrale ist ein Unterwanderer und hilft ihnen bei der Flucht. An dem Treffpunkt, den der Astral ihnen genannt hat, schließen sich die beiden einer Gruppe an, die aus einer Siedlung in den Wilden Landen stammt und sie gern dorthin mitnimmt.

Rah und Irin folgern aus dem Weg, den sie bisher genommen haben, und dem Angriff der Kultisten, dass die Wächter aus Rahs Heimat etwas mit der Sache zu tun haben müssen – auch wenn Rah das noch nicht ganz wahrhaben will. Auf der Fahrt in die Deltastadt wird ihr Zug von einem gewaltigen Schattenfresser angegriffen und kommt in den dichten Wäldern von Kalvor zum Stehen. Irin und Rah eilen den Menschen und Zugwärtern zu Hilfe, doch das Wesen stürzt sich auf Irin. Rah trifft eine verzweifelte Entscheidung, zieht ihn aus der Gefahrenzone und flieht gemeinsam mit ihm, während der Zug und seine verbleibenden Passagiere ihrem Schicksal überlassen bleiben.

Sie kämpfen sich durch den Wald, verlaufen sich allerdings schnell. Rah konfrontiert Irin, weil sie verstehen will, was mit ihm nicht stimmt. Er reagiert weiterhin abwehrend, obwohl er auch erschüttert wirkt.

In ihrer Verzweiflung beschwört Rah die Wölfe aus ihrem Inneren und gibt ihnen für kurze Zeit eine physische Form. Sie zeigen ihr und Irin nicht nur einen Weg in die Deltastadt, sondern haben auch eine ernüchternde Botschaft: Sie sind auf dem falschen Pfad und sie sollten es besser wissen.

Shina und Mae kommen in der schlichten Siedlung im Norden an und werden herzlich von der Gemeinschaft empfangen, aber Shinas Geist findet keine Ruhe. Ihre Gedanken kreisen immer wieder um Mae und die Frage, wie sie ihr helfen kann. Die gestohlenen Blutkonserven werden auch nicht mehr lange reichen.

In der Hoffnung auf Antworten wenden sich Shina und Mae an ihre Vertrauensperson Celastia, eine Heilerin, und den Ältesten der Siedlung. Dabei erfahren sie, dass Mae ein Schattenfresser ist. Allerdings könnte ein mächtiger Wächter, der im Dorf lebt, Mae helfen. Obwohl Shina keinen Tempel gesehen hat und die Warnsignale in ihrem Kopf stark sind, folgen sie Celastia und ihren Männern zu einer düsteren, alten Hütte.

Rah und Irin erreichen die Deltastadt und begeben sich sofort zur Polizei. Ein Astral namens Dira bestätigt die Gerüchte, dass die Vorfälle mit den Schattenfressern hier bereits seit Monaten toben, die Regierung allerdings aus Sicherheitsgründen einen Mantel des Schweigens über die Vorfälle legt.

Rah und Irin finden in einem Staatstempel Unterkunft und werden versorgt. Da Irin die Wölfe sowieso gesehen hat, weiht Rah Irin in ihr tiefstes Geheimnis ein: dass sie nicht weiß, wer oder was diese Wesen in ihrem Inneren sind. Dass sie schon immer da waren und ihren ganz eigenen Willen haben.

Erschöpft und aufgewühlt teilen die beiden einen verletzbaren Moment und schlafen miteinander.

Am nächsten Morgen führt Dira sie ins Gefängnis der Deltastadt. Durch Untersuchungen hat man hier herausgefunden, dass Bluttrinker ebenfalls zu den Schattenfressern gehören. Sie besuchen einen Bluttrinker in seiner Zelle, der von ähnlichen Visionen geplagt zu werden scheint wie Rah und ihr einen weiteren Hinweis darauf gibt, dass sie nach Noâj gehen sollten. Doch im selben Moment wird das Gefängnis von einem riesigen Schattenfresser angegriffen.

Shina und Mae betreten die Hütte, die als Tempel der Siedlung dient. Ohne Vorwarnung werden sie von Celastia und den Männern niedergerungen und gefesselt. Sie erfahren, dass der Wächter der Siedlung ein bisher unbekanntes Ritual anwendet, um chaotische Energie aus Menschen zu extrahieren. Das bringt zwar den Tod für das Opfer, versorgt das Dorf jedoch für Wochen mit ausreichend Energie. Shina wird gewaltsam aus der Hütte geschleift, von Mae getrennt und in einem anderen Haus gefesselt.

Doch Mae kann sich befreien und hilft Shina, obwohl sie dafür viele Dorfbewohner töten musste. Gemeinsam stehlen sie ein Pferd und fliehen. Gerade, als weitere Astrale drohen, sie einzuholen, regt sich die riesige Statue über der Siedlung, holt mit ihrem Schwert aus und tötet die restlichen Dorfbewohner.

Nuye, die Göttin des Nordens, hat Shina und Mae gerettet.

Es gelingt Rah und Irin zusammen mit Dira und den Astralen, den Schattenfresser zu besiegen, der es wieder auf Irin abgesehen hat. Rah verausgabt sich dabei allerdings so sehr, dass sie in Ohnmacht fällt.

Durch eine weitere Vision gelingt es ihr, die Puzzlestücke, die sie bisher gesammelt haben, zu vereinen: Bei den Schattenfressern handelt es sich um eine Manifestation. Tausende, vielleicht sogar Millionen von Menschen scheinen ihre Energien zu konzentrieren, um diese Wesen ins Leben zu rufen. Die Visionen, die sie sieht, sind Teile der Zukunft, die offenbar manifestiert werden soll.

Eine so große Manifestation von Macht könnte allerdings nie unentdeckt bleiben. Um weiterzukommen, müssen sie dringend nach Noâj.

Rah teilt Irin ihre Erkenntnisse und ihren Beschluss mit, sobald sie wieder bei Bewusstsein ist, woraufhin er sich von ihr trennt. Als sie jedoch auf dem Weg zum Zug erneut von den Mitgliedern des unbekannten Kults angegriffen wird, eilt er ihr wieder zu Hilfe und steigt mit ihr in den Lastenwaggon.

In den Wilden Landen Vêriliths, gefangen in einem schweren Sturm, schlagen Shina und Mae sich voran. Doch ihre Kräfte neigen sich dem Ende zu, und sie können bei ihrem überstürzten Aufbruch Maes Blutkonserven nicht mitnehmen. Mae geht es langsam schlechter.

Gerade, als sie denken, sie würden nicht weiterkommen, begegnen sie einem Fährmann, der ihnen anbietet, sie für einen unverschämten Preis schnellstens zur Kalten Stadt im äußersten Norden zu befördern. Sie bieten ihm im Austausch das Pferd an, und unzufrieden stimmt er dem Handel zu.

Auf ihrer Reise mit dem Lastenzug durch die Goldene Wüste macht Irin einen immer tristeren Eindruck. Er ist nur hier, weil er Rah in Sicherheit wissen musste.

In Noâj angekommen, lassen die beiden sich von Astralen zur Thronerbin bringen. Rah beschleicht ein eigenartiges Gefühl, als sie all die Gemälde der alten Königsgötter an den Wänden sieht.

Doch sie ignoriert dieses Gefühl vorerst, ebenso wie die Tatsache, dass die Thronerbin und Irin sich zu kennen scheinen. Es ist wichtiger, in die Stadt unter der Stadt zu gehen, von der sie aus ihren Visionen weiß, um dort nach dem Buch aus ihren Träumen zu suchen. Die Thronerbin stimmt widerwillig zu.

Shina und Mae erreichen währenddessen die Kalte Stadt. Der Besitzer einer Bar nimmt sie auf und lässt sie für Essen und Unterkunft aushelfen. Er stellt ihnen allerdings auch überraschenderweise eine junge Wächterin namens Elris vor. Sie ist Wächterin und die Anführerin einer Gruppierung namens Orden der zweiten Sonne. Sie und ihre Leute versuchen, das Rätsel um die Schattenfresser – sie nennen sie Gottfresser – zu lösen und auch Bluttrinkern wie Mae zu helfen.

Shina und Mae – noch misstrauisch von ihrem Erlebnis im Dorf – sind zurückhaltend. Elris lädt sie deswegen zu einer geheimen Versammlung ein, bei der sie weitere Informationen erhalten sollen.

Rah, Irin und die Thronerbin begeben sich zu einer unterirdischen Bibliothek, in der sie das Buch finden, von dem Rah geträumt hat. Es ist in einer Sprache geschrieben, die sie nicht lesen kann – Irin allerdings schon.

Bei dem Buch handelt es sich um das Tagebuch von Kuro – Irins verstorbenem Freund, der auch als der Gott des Friedens oder der Königsgott Moryn bekannt war.

Dieser schien schon vor Hunderten von Jahren das Auftauchen der Gottfresser vorhergesehen zu haben, denn er ging davon aus, dass sie es waren, die vor fünftausend Jahren die Alte Welt zerstörten und nur Ruinen von ihr übrig ließen.

Während Irin, Rah und die Thronerbin wieder an die Oberfläche gehen, überlegt Irin laut, dass sie Moryn zurückbringen müssen. Doch dann wird er von einem Wesen angegriffen, das sich fließend verwandeln kann: dem Königsgott Nevi.

Um sich und Rah zu verteidigen, offenbart Irin sein wahres Gesicht: Er hebt die Hände und erschafft etliche Waffen aus dem Nichts. Schwerter, die er mit Leichtigkeit führt, und Klingen, die er schweben lässt und auf den anderen Gott feuert.

Im Eifer des Gefechts wird Rah verletzt und fällt in Ohnmacht.

Shina und Mae begeben sich zum verabredeten Versammlungsort: einer verlassenen Lagerhalle, die von unzähligen Kerzen erleuchtet wird. Sie sind überrascht, dass sich hier Hunderte von Menschen versammelt haben.

Im Zentrum des Raumes steht Elris, die mit leidenschaftlichen Worten von einer Welt im Ungleichgewicht berichtet, von der Notwendigkeit des Wandels, und davon, dass genau dieser Moment ihre Zeit zum Handeln sei. Auch wenn Shina den tieferen Sinn von Elris’ Worten nicht vollkommen erfassen kann, ist sie von der ruhigen Energie der Versammlung beeindruckt.

Nach der Versammlung sprechen die beiden noch einmal mit Elris über Maes Probleme und erfahren, dass es Mae auch vorerst helfen würde, wenn Shina sie mit Blut versorgt, was Mae allerdings vehement ablehnt.

Elris macht ihnen ein weiteres Hilfsangebot: Die beiden könnten bei ihnen bleiben und würden vom Orden beschützt werden. Dafür könnten sie ihnen eventuell bei ihrer Mission helfen.

Obwohl Shina und Mae vorsichtig sind, akzeptieren sie. Bei Elris und ihrer Gruppe fühlen sie sich sicherer als allein in der Kalten Stadt.

Währenddessen wacht Rah aus einer Vision auf, in der sie sich selbst als Gottheit gesehen hat: ein weißes Wesen, nur bestehend aus Augen, Zähnen, Tentakeln und Schmerz. Die Kultisten in ihrer Vision nannten es die Göttin von Herz und Schatten.

Die Thronerbinnen haben sich um ihre Wunden gekümmert, und als Rah aufsteht, weiß sie, dass sie in ihre Heimat aufbrechen muss, um die Wächter danach zu fragen, was sie wissen. Inzwischen ist sie sich sicher, dass die Menschen, die sie großgezogen haben, Teil der Verschwörung sein müssen.

Vorher stellt sie Irin zur Rede.

Er offenbart, was sie inzwischen weiß: Er ist Arax, der Gott des Krieges, der vor Hunderten von Jahren in seinen Auseinandersetzungen mit anderen Göttern einen Großteil der Welt zerstörte.

Er und Nevi entschuldigen sich bei ihr, aber Rah ist noch zu irritiert von allem – vor allem davon, dass Irin sie so lange belogen hat.

Ihre Wege trennen sich: Irin will zu Seshan aufbrechen, dem Gott der Wünsche, um Moryn zurückzuholen, da dieser der Einzige war, der mehr über die Gottfresser wusste – und über das Ritual, das die Welt schon einmal zerstörte.

Rah bricht zusammen mit Nevi zu dem Tempel ihrer Heimat auf.

Shina und Mae übernachten in der Lagerhalle, werden aber mitten in der Nacht von Elris in ihren Plan eingeweiht. Weil die Imperiale Garde auf dem Weg in die Kalte Stadt ist, müssen sie schon im Morgengrauen aufbrechen.

Elris und der Orden der zweiten Sonne haben vor, die göttlichen Gegenstände der Städte zu stehlen. Wie genau verrät sie nicht, aber Shina und Mae sollen sich des Risikos bewusst sein, das eine Reise mit dem Orden mit sich bringen würde.

Am nächsten Morgen, nachdem der Einsatz gelungen ist, nehmen Shina und Mae gemeinsam mit Elris und fünf ihrer Begleiter einen Zug, der sie in die Stadt des Nebels bringen wird.

Elris hält die beiden noch einmal dazu an, ihren Ratschlag mit dem Blut zu beherzigen, was Mae schließlich umstimmt. Shina und Mae schließen sich in ihrem Abteil ein, und Mae trinkt von Shina. Danach küssen sie einander und geben sich zum ersten Mal ihren Gefühlen füreinander hin. Die Welt um sie herum geht unter, aber in der Nähe der jeweils anderen finden sie für einen kurzen Moment Ruhe.

1

SIEGE & OPFER

ARAX vor 3500 Jahren / IRIN

Mein Vater sagte immer: »Wer siegen will, muss Opfer bringen«. Ich bin mir sicher, dass es die ersten Worte sind, an die ich mich erinnere. Die ersten Worte, die ich jemals hörte, vielleicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie für wahr hielt. Nur, dass ich nie genau wusste, worin genau ich siegen sollte.

Wenn ich am Geländer der Loggia stehe und in den grünen Innenhof des Palasts blicke, sehe ich nur meinen besten Freund Moryn, meine kleine Schwester Tarin und mein jüngeres Selbst vor mir. Wir spielen Verstecken zwischen den Pflanzen und Büschen, rennen um den kleinen Teich, müssen daraus gerettet werden und versuchen schon im nächsten Moment, die meditierenden Wächter aus der Ruhe zu bringen. Die Erinnerung daran, glücklich zu sein, verblasst immer mehr vor meinem inneren Auge. Es kommt mir vor, als sei es eine Ewigkeit her. Ein ganzes Leben, sogar.

Jetzt befinden wir uns alle drei an dem Ort, zu dem wir als Kinder aufschauten und uns fragten, was hier wohl vor sich ging. Dem Ort, an dem Vater seine wichtigen Treffen abhielt. Wir durften natürlich nie hinein, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, warum wir uns hier seit seinem Tod am häufigsten aufhalten. Wahrscheinlich ist es mein letzter Versuch, gegen ihn aufzubegehren. Obwohl er es nie erfahren wird, beschert es mir eine gewisse Genugtuung, die ich nie zugeben würde.

Die Decke des Raums ist gewölbt und hoch, um die Luftzirkulation zu fördern, aber die Mittagshitze kann sie nicht ganz abhalten. Die Arkaden geben einen ungehinderten Blick auf Noâj frei. Auf das Meer in der Ferne. Möwen kreisen über den Palmen und hellen Gebäuden, während die Menschen die Mittagszeit in ihren Häusern aussitzen. Die kleinen Regenbögen, die vom göttlichen Prisma durch die Stadt geschickt werden, bringen nicht nur Licht in die schattigen Gassen, sondern versorgen die Häuser mit Energie.

Ich wünschte, ich könnte dort unten sein. Irgendwo anders als hier. Vor dem anstehenden Treffen graut es mir schon seit Tagen. »Kann nicht einer von euch mit mir tauschen?«, murmele ich mit hohler Stimme. »Du könntest meine Kleidung anziehen und meine Maske aufsetzen, Moryn. Es würde nicht einmal jemand bemerken.«

Moryn und Tarin lachen leise, dabei meine ich es eigentlich ernst.

»Du machst das doch sehr gut«, sagt Moryn mit weicher Stimme, ohne den Blick von Noâj abzuwenden. Seine schwarzen Locken wirbeln in der warmen Brise, die sacht zu uns heraufweht. Er trägt einen dunklen Überwurf mit goldenen Verzierungen, der sich sehr von meiner und Tarins heller Kleidung abhebt. Vater sagte, dass ein König sich schon auf viele Meter Entfernung von seinen Untergebenen unterscheiden müsse.

Ich bin nicht dieser Meinung, aber ich kann so kurz nach seinem Tod nicht schon jede Regel brechen, die er aufgestellt hat. Das Volk ist mir gegenüber schon so skeptisch genug eingestellt. Verständlicherweise.

»Er hat recht, Bruder.« Tarin kommt auf mich zu und richtet meinen Kragen, so wie Mutter es immer getan hat. Ihre blonden Haare und ihr zartes Antlitz werden mich immer an sie erinnern. An unsere Kindheit. Sie hat dieselben unzähligen Sommersprossen wie ich, aber im Gegensatz zu ihr bin ich Vater wie aus dem Gesicht geschnitten; schwarzes Haar, dunkle Augen, eckige Kieferknochen.

Er sagte, ich hätte das Aussehen eines Königs. Ich hasse es. Selbst jetzt, da er tot ist, muss ich ihn jeden Tag im Spiegel sehen.

Mutters Freundlichkeit, die sich auf Tarins Zügen spiegelt, trägt eine Stärke in sich, die er nie besessen hat. Eine Ruhe, über die er und ich nie verfügt haben.

»Du bist erst sechsundzwanzig«, sagt Tarin. Ihre milde Strenge hat etwas Amüsiertes. Als wäre mein Versagen eine lächerliche Vorstellung. »Vater wurde erst König, als er doppelt so alt war wie du. Also sei nicht so streng mit dir.«

Ich schürze die Lippen, weil ihre Aufmunterungsversuche zu freundlich sind, um sie abzuschmettern. Und ich schätze sie. »Aber das bin ja nicht nur ich. Die Leute reden, das wisst ihr genau.«

Tarin legt ihren Kopf ein kleines Stück zur Seite, dann schaut sie vielsagend zu Moryn. Es ist nicht das erste Mal, dass wir dieses Gespräch führen. Sie wird trotzdem nicht müde, dagegenzuhalten: »Die Leute werden immer reden.«

Moryn schiebt die Hände in die Hosentaschen und nickt zustimmend. »Jeder neue König muss sich beweisen. Du hattest bisher ja kaum Zeit dafür.« Sie legt ihre Hand sacht auf meinen Unterarm. »Aber wenn sie sehen, wie du wirklich bist, werden sie hinter dir stehen.«

Es tut fast weh, dass die beiden so viel mehr Vertrauen in mich haben als ich selbst. Ich weiß nicht einmal, warum. »Aber sie wissen, dass ich nicht Vaters Stärke besitze.« Weder körperlich noch emotional. »Sowohl das Volk als auch die Regierenden der Nachbarländer.«

Hätte einer von Vaters Generälen den Thron übernommen, wäre ich nicht traurig darum gewesen. Ich war irgendwie schon immer schwächlich und weich. Mutter sagte, die Menschen liebten mich – aber da war ich noch klein –, und gemocht zu werden, bringt einem König nichts, wenn er sich nicht durchsetzen kann. Und das wird allen wohl nach und nach klar. Das wird auch dem Gott des Reichtums klar werden, der in wenigen Minuten hier eintreffen sollte.

»Du bist stark«, beharrt Moryn. Er tritt vom Geländer weg und lässt sich auf einer der Bänke nieder, die zwischen großen Pflanzkästen und vor dem leise plätschernden Brunnen stehen. Sein dunkler Blick ruht mit einer Sicherheit auf mir, die ich in mir selbst nicht finde. »Es ist nur eine andere Stärke als die deines Vaters.«

Tarin nickt energisch.

Das sagen die beiden immer. Es gelingt mir nur einfach nicht, es auch so zu sehen. »Ich weiß nicht«, murmele ich also ehrlich, wende mich zu ihnen um und lehne mich an das Geländer.

»Wahrer Frieden kann nur durch Diplomatie erreicht werden, nicht durch militärische Macht.« Wie Tarin die Arme vor der Brust verschränkt, macht sie trotz der eleganten Gewänder und der zarten Züge einen aufständischen Eindruck. Die Wächter haben ihr all diese Weisheiten beigebracht. Das Selbstbewusstsein lag ihr schon in der Wiege. »Frieden durch Macht ist brüchig. Und brüchiger Frieden stürzt immer über denen ein, die es am wenigsten verdient haben.«

»Das stimmt.« Ich sehe es auch so, aber seitdem ich die Entscheidungen über die Zukunft von Noâj treffen muss, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es tatsächlich so einfach ist.

Immer mehr Könige der umliegenden Länder wurden zu Königsgöttern und führen Kriege gegeneinander. Chamun, das Land im äußersten Süden, hat zusammen mit seinem Diktator schon drei kleinere Staaten unterworfen. Früher oder später werden wir in diese Kriege mit hineingezogen werden.

Vater hat das alles souverän geregelt. Andere Herrscher haben ihn aufgrund seines Charakters und seiner Errungenschaften respektiert und Noâj gemieden. Ich habe diesen Vorteil nicht.

Ich verschränke die Arme und richte meinen Blick auf den Boden aus hellem Marmor, dessen filigrane Muster das Sonnenlicht reflektieren. »Es gibt Bewegungen an den Grenzen im Süden. Bald werde ich eine Entscheidung treffen müssen und …« Ich atme durch.

»Bleib dir einfach treu«, sagt Moryn mit einem schiefen Lächeln. »Vertrau deinem Gefühl. Du glaubst, deine Nettigkeit wäre deine Schwäche, aber du verstehst die Menschen – und das wird immer deine beste Qualität sein.« Der Optimismus in seinen Zügen ist so ehrlich, dass es mir fast unangenehm ist. »Das macht dich zu einem besseren König als die meisten anderen.«

Seine Worte machen mir das Atmen etwas schwerer. »Danke«, wispere ich, damit er nicht bemerkt, dass meine Stimme bricht. Wenn die beiden nicht hier wären, hätte ich schon längst den Verstand verloren.

»Mein König«, unterbricht einer der Wachen das Gespräch. Ich greife schon nach der Maske auf dem Geländer, bevor er zu Ende gesprochen hat. »Der Gast ist bereit, von Euch empfangen zu werden.«

Ich setze die weiße Maske mit den goldenen Verzierungen auf. Moryn und Tarin tun es mir gleich, nehmen aufrechte Positionen neben mir ein.

Kurz durchatmen, damit er meine Aufregung nicht spürt.

Satoro, König von Sura, Gott des Reichtums. Er ist erst vor Kurzem aufgestiegen. Unsere Länder pflegen zwar schon seit langer Zeit eine Freundschaft zueinander, aber Satoro nutzt seine Macht auch, um Krieg zu fördern und sich damit selbst wirtschaftlich zu bereichern. Eins im Südosten hat er schon unterworfen. Ich muss also einen starken Eindruck machen.

Angestrengt schlucke ich, dann sage ich: »Ich bin bereit. Lasst ihn herein.«

Auf mein Wort wird die Doppeltür geöffnet, und der Gast tritt in lockerem Schritt ein. Im Gegensatz zu uns trägt er keine Maske, also versuche ich auf dem kurzen Weg, den er zu uns zurücklegt, so viele Informationen wie möglich zu sammeln.

Weiße Haut, schwarzes, glattes Haar, das ihm bis zu den Schultern reicht. Ein herablassender, dennoch fast gelangweilter Blick aus seinen dunklen Augen.

Er trägt einen Anzug in Schwarz, mit roten und goldenen Mustern. An seinem Gürtel ist ein Holster mit einer Pistole befestigt. Hätte man mir nicht gesagt, dass er sie immer bei sich trägt, würde ich es wohl als Provokation empfinden. Nicht, dass er wirklich dazu kommen würde, sie gegen mich zu ziehen, so viele Wachen und Astrale, wie sich hier im Raum befinden.

Aber es ist mutig von ihm, sie zu tragen, so viel chaotische Energie, wie sich für gewöhnlich in Schusswaffen sammelt. Wegen der vielen Unfälle und Rückstöße werden sie eigentlich nicht mehr eingesetzt.

»Willkommen«, sage ich mit fester Stimme, die von den Wänden widerhallt.

Satoro bleibt vor uns stehen, fährt sich mit der Zunge über die Lippen und mustert Moryn und Tarin hochmütig lächelnd. »Ich würde gern allein mit dem König sprechen«, lässt er sie wissen, ohne meinen Gruß zu erwidern.

Ich spüre einen Stich in meiner Brust, atme aus und versuche, die Erinnerungen zu verdrängen, die sich unweigerlich und unbemerkt in meinen Geist schleichen, während ich unruhig im Wartesaal des Palasts sitze. Die Architektur Noâjs wird mich immer schmerzhaft an meine Vergangenheit erinnern. Der weiße Marmor, die goldenen Musterungen und der Ausblick auf das endlose Meer an Dächern. Die Stadt ist eine andere als damals, und doch ist sie gleich.

So gleich, dass ich manchmal erwarte, Moryn käme jeden Moment durch die Gänge auf mich zu. Mit einem Lächeln auf den Lippen, diese Wärme in seinem Gesicht. Oder mit Enttäuschung. Mit Wut. Mit einer Waffe. Ich sehe ihn in so vielen Leben, dass ich sie nicht mehr auseinanderhalten kann.

Das Licht der Nachmittagssonne fällt rot und düster durch die Bögen, hüllt den kahlen Marmor der hohen Wände ein und weckt erneut schmerzhafte Erinnerungen.

Die ganze Stadt tut das, auch wenn ich sie so nicht kenne.

Die mit Ruß überzogenen Dächer der Gebäude sind das genaue Gegenteil der Farbenpracht von früher. Schornsteine schleudern schwarzen Rauch in den Himmel, der sich träge über alles legt. Tiefe Schatten nisten sich im Saal ein, in dem ich auf einer steinernen Sitzbank warte. An den schweren Türen stehen mehrere Astrale, in dunkle Kleidung gehüllt und zusätzlich zu den Artefakten mit Speeren und Schwertern ausgerüstet.

Mein Blick gleitet von ihnen zurück zu den Seiten aus Moryns Tagebuch, die meine schlimmsten Befürchtungen hatten wahr werden lassen; die mir bestätigten, dass das Auftauchen der Gottfresser vor fünftausend Jahren für den Untergang der Alten Welt gesorgt hatte – und dass es nun für das Ende der unseren verantwortlich sein wird.

Und obwohl ich es von Anfang an befürchtet hatte, weiß ich nicht, wie ich es aufhalten soll. Falls das überhaupt möglich ist. Moryn muss zurückkommen. Ich muss ihn zurückholen, um jeden Preis.

Wenn Rah wenigstens noch hier wäre. Wenn wir das alles wenigstens weiterhin zusammen durchstehen könnten. Sie hatte so etwas Ausgeglichenes, obwohl in ihr auch Geheimnisse zu lauern scheinen. Etwas so Ruhiges, während alles in ihr und um sie herum im Chaos versinkt. Wie ein Anker im stürmischsten Ozean.

Zwischen all den Gesichtern, die ich im Laufe der Jahrhunderte gesehen habe, sticht ihres irgendwie hervor. Nicht, dass ich mich auch nur annähernd an jede Person erinnern würde, die ich getroffen habe, aber …

Aber scheiße. Sie wird mir nie verzeihen, dass ich so lange über meine Identität geschwiegen habe. Ich habe sie sogar belogen, verdammt. Und vermutlich denkt sie, ich hätte sie die ganze Zeit über nur wegen ihres diplomatischen Status ausgenutzt.

Womit es ja auch wirklich begann, aber …

Jetzt ist es zu spät, noch etwas daran zu ändern oder mich zu entschuldigen. Sie ist schon auf dem Weg zu den Tempeln ihrer Heimat, um ihre eigenen Ermittlungen anzustellen.

Ich hebe meinen Blick wieder von den Seiten, als nach einer gefühlten Ewigkeit die Tür geöffnet wird. Ich rechne mit der Thronerbin, die endlich alles für meine Abreise vorbereitet hat; mein Herz sinkt allerdings etwas tiefer, als ich Satoro erkenne.

Der Gott des Reichtums. Er hat sich kein bisschen verändert. Dasselbe schwarze, schulterlange Haar, derselbe herablassende Blick auf dem jugendlichen Gesicht. Sogar der schwarze Anzug sieht ähnlich aus, nur moderner als früher. Ich erinnere mich nicht an viele Gesichter, aber die, die im Laufe der Jahrhunderte gleich geblieben sind, haben sich in meine Gedanken gebrannt wie Säure.

Schwerfällig erhebe ich mich, während Satoro in aggressivem Schritt auf mich zukommt. Die anderen Königsgötter bleiben also tatsächlich ihrem Versprechen treu: Sie kommen, um mich zu vertreiben, nun, da ich wieder einen Fuß in die Stadt gesetzt habe. »Du wirst hier nicht mehr gebraucht«, sage ich laut. »Nevi war schon hier und hat versucht, mich umzubringen.«

Das scheint ihn allerdings nur noch wütender zu machen. Kurz, bevor er bei mir ist, spiele ich mit dem Gedanken, eine Waffe zu erschaffen, um ihn mir vom Leib zu halten. Doch gerade, als ich den Drang unterdrückt habe und noch etwas sagen will, packt er mich am Kragen und schlägt mir ins Gesicht. Stechender Schmerz explodiert in meinen Kopf, als Haut unter seiner Faust aufplatzt.

»Was tust du hier, Arax?«, grollt er. »Hast du vergessen, was die Abmachung war? Hast du vergessen …«

»Scheiße, nein!« Ich löse mich aus seinem Griff und schiebe ihn mit einem Ruck von mir. Die Wachen haben sich angespannt, unternehmen aber noch nichts.

Satoro macht eine schneidende Bewegung durch die Luft. »Deine Ankunft in Noâj hat einen Puls durch die ganze Welt gesendet. Alle Götter regen sich. Götter, so alt, dass sie Erdmasse verschieben. Also …«

»Ich verschwinde von hier, sobald ich kann!«, unterbreche ich ihn lauter. »Ich bin nur hier, um zu helfen.«

Er lässt mich los, entspannt sich allerdings kein bisschen.

»Etwas stimmt nicht mit der Welt«, keuche ich und wische mir das goldene Blut von der Nase. Die Wunde verschließt sich schon wieder, aber noch schmerzt sie. »Nur deswegen bin ich hier.«

Satoro schiebt seine Lippen nach vorn und zieht die Brauen zusammen, doch bevor er schon wieder zu einer Erwiderung ansetzt, wird er unterbrochen.

»Weg von ihm!« Die Stimme der Thronerbin hallt durch den Saal, als sie rasch hinter Satoro in den Raum tritt. »Er sagt die Wahrheit.« Ihr fast durchsichtiges Kleid sitzt locker an ihrem Körper, weht leicht im Gehen. Mit ihren nackten Füßen bewegt sie sich nahezu lautlos auf uns zu. »Es ist gut, dass er hergekommen ist.« Ihre dunkle Haut glänzt golden in der Sonne. Das schwarze Haar trägt sie zu einem dicken Zopf geflochten. »Und es ist gut, dass alle es wissen. Dass sich viele andere jetzt auf den Weg hierher machen. Wir brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können.«

Satoro schaut zwischen uns beiden hin und her, scheint aber zumindest eine Ahnung davon zu haben, wovon wir sprechen. Zumindest vermute ich, dass er von den Gottfressern gehört hat, wo und wie auch immer er gerade lebt. »Ich weiß noch nicht, ob ich helfen kann.«

Die Thronerbin mustert ihn skeptisch, dann wendet sie sich mit einem überaus vielsagenden Blick mir zu. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Sie zieht etwas aus ihrer Tasche, das ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe. Einen eindeutigen Beweis dafür, dass ich in ihrem Auftrag und mit ihrem Segen unterwegs bin: eine Kette mit einem gläsernen Prisma als Anhänger, das Regenbögen in die Umgebung wirft. Im Glas eingeschlossen befindet sich ein Stück ihrer Haut, noch frisch benetzt mit Blut. Rot, aber schillernd, nicht das eines Gottes und nicht das eines Menschen. An ihrem Arm trägt sie einen Verband.

»Danke«, murmele ich und nehme es entgegen. »Jetzt brauche ich nur noch jemanden, der mich zum Strand bringt.«

Der Blick der Thronerbin hat sich vollkommen verändert, seitdem wir uns das erste Mal nach so langer Zeit wieder begegnet sind. Er hat etwas Fragendes angenommen. Vielleicht sogar etwas Sorgenvolles. »Bist du sicher, dass du das tun willst?« Sie schürzt die Lippen, während ein Anflug von Schmerz über ihr Gesicht huscht. »Seshan wird dich zerstören. Allein der Weg zu ihm soll mit Albträumen gepflastert sein.«

Satoro horcht auf, doch mit einem Wink ihrer Hand bedeutet die Thronerbin ihm, sich zurückzuziehen. Ohne Protest entfernt er sich mehrere Schritte von uns.

»Ich muss«, antworte ich. Ich habe Angst davor, was Seshan einfordern wird, aber ich muss. »Ohne Moryn kommen wir nicht weiter.« Ich hebe das kleine Buch in meiner Hand. »Das Tagebuch ist alt. Höchstwahrscheinlich hatte er danach noch viele neue Erkenntnisse und Pläne. Und es ist unmöglich, zu sagen, wie viel dieser Orden weiß und ob wir ihn überhaupt rechtzeitig finden. Wir brauchen Moryn.«

Sie verzieht den Mund zu einem überraschend bedrückten Ausdruck. »Ja«, seufzt sie nahezu. Bilde ich es mir ein, oder ist sie tatsächlich besorgt? »Ich würde dir ja danken, dass du das auf dich nimmst, aber …«

»Schon gut«, unterbreche ich sie. »Ich weiß.«

»Gut.« Sie schaut ungewohnt sanft, als sie sagt: »Ich schicke dir jemanden, der dich bringt.«

2

FLÜSSE & EINSAMKEIT

RAH

Ich bin noch nie geflogen, obwohl ich oft versucht habe, mir vorzustellen, wie es wohl wäre. Der Himmel über mir ist weit und wolkenlos, während ich auf Nevi in Gestalt eines riesigen Falken durch die Luft gleite. Seine Flügel schlagen sanft. Ich habe das Gefühl, die ganze Welt sehen zu können, als das Land in unbekannter Geschwindigkeit unter uns entlangzieht.

Und doch will das Gewicht auf meinem Herzen einfach nicht weichen. Im Gegenteil; mit jedem Kilometer, den wir uns meiner Heimat nähern, wird es schwerer. Es drückt mir die Kehle zu.

Die untergehende Sonne taucht das Gebirge, das die Goldene Wüste umgibt, in rot-oranges Licht. Seine Ausläufer sind nur noch in der Ferne hinter uns zu erkennen, während die Flusslandschaft unter uns schon im Schatten des warmen Abends liegt.

Mein Arm schmerzt noch von der Wunde, die Nevi mir zugefügt hat – der Königsgott, der mich nun auf dem schwersten Weg begleiten will, den ich jemals gehen musste. Dem Weg in meine Vergangenheit.

Doch Schmerz hat mich noch nie aufgehalten. Und das wird er auch jetzt nicht tun.

Ein Teil von mir klammert sich noch an die Hoffnung, dass die Wächter meiner Heimat nichts mit den Veränderungen der Welt zu tun haben. Dass das alles nur ein Missverständnis war, zu viel Interpretation, zu viel Paranoia. Vielleicht ist nur ein einzelner Verräter unter ihnen, und ich kann den anderen helfen, ihn zu enttarnen. Oder vielleicht …

»Das glaubst du selbst nicht«, grollen die Wölfe in meinem Kopf.

Ich fahre beim Klang ihrer Stimme ein wenig zusammen. Sie waren in letzter Zeit so still, dass ich manchmal fast vergesse, dass sie da sind.

Ich weiß nicht, ob mir das gefällt oder nicht.

»Du hast selbst gesehen, was sie getan haben«, fahren sie fort.

»Du erinnerst dich.«

»Du verstehst es jetzt.«

Ja. Ich erinnere mich.

Blut, das auf den Marmorboden tropft. Ein Wächter in schweren Roben spricht leise Worte, deren Bedeutung ich nicht verstehe. Kerzen, im Kreis in der großen Haupthalle aufgestellt, brennen in unnatürlichen Farben. Hände, zu komplexen Mustern geformt, Finger, die auf Unsichtbares wiesen.

Ich dachte, es wären Rituale, die sie mir noch beibringen würden, aber es war etwas Okkultes. Vielleicht sogar schon Vorbereitungen dafür, mich zu diesem Monster zu machen, von dem ich nachts träume. Dieses weiße, schmerzerfüllte Wesen aus Zähnen und Tentakeln. Die Göttin aus Herz und Schatten.

Die Wölfe haben recht. Ich sollte mir die Hoffnung aus dem Kopf schlagen. Meine Gedanken müssen so ungetrübt wie möglich sein, wenn ich mehr erfahren will. Ungetrübt von Angst, aber auch ungetrübt von Erwartungen.

Aber ich weiß noch nicht, ob es mir gelingen wird, das alles herunterzukämpfen, wenn ich den Personen, die mich großgezogen haben, gegenüberstehe.

»Brauchst du eine Pause, Rah?«, will Nevi wissen. Durch den Schnabel des Falken verstehe ich die Worte kaum.

Eigentlich brauche ich eine. Wir fliegen schon seit heute Morgen. Ich sollte etwas essen und würde mich gern kurz hinlegen, aber dafür haben wir keine Zeit.

Obwohl ich mit einem »Nein« antworte, das ich gegen den Windstrom rufe, korrigiert Nevi die Richtung und setzt zu einem sanften Landeanflug auf die flache, üppig grüne Landschaft unter uns an.

»Ich aber«, sagt sie, bevor ich mich fragen kann, ob sie mich nicht verstanden hat.

Wir landen im Gras neben einem gemütlich schlängelnden Fluss mit kristallklarem Wasser. Ich richte die Strähnen meines weißen Haars, die sich aus meinem Zopf gelöst haben, dann klettere ich etwas unbeholfen über Nevis großen Flügel hinab. Mit meinem verletzten Arm an den Körper gepresst, und in dem langen, hellen Gewand, das die Thronerbinnen mir mitgegeben haben, ist das schwerer als gedacht. Aber irgendwie gelingt es mir.

»Danke.« Meine Glieder kribbeln von all den Stunden in der Luft, die Innenseiten meiner Schenkel sind wund. Ich wanke ein paar Schritte zum Flussufer hinüber und lasse mich ins Gras sinken. Ich will nicht, dass Nevi sieht, dass ich noch Schmerzen habe, aber ich spüre ihre Blicke trotzdem auf mir ruhen.

Als ich sie erwidere, wird der Falke kleiner, stößt sich wieder in die Lüfte und stürzt auf die Wasseroberfläche zu. Wenige Sekunden später taucht ein kleines Lebewesen auf, das ich noch nie gesehen habe; wie eine Katze mit weißem Fell, spitzen Zähnen und kleinen Händen, mit denen sie nach Fischen greift. Dann taucht sie wieder ab.

Es wird noch sehr lange dauern, bis ich mich an diese Fähigkeit gewöhnt haben werde. Oder generell daran, dass ich nun Königsgötter kenne. Wohl ist mir auf jeden Fall nicht bei dem Gedanken.

Einige Sekunden lang schaue ich noch auf das ruhig fließende Wasser, dann richte ich meinen Blick auf die Umgebung, um mich zu orientieren.

Vereinzelt stehen Trauerweiden in der sonst flachen Landschaft, die von so vielen Flüssen durchzogen ist wie die Deltastadt. Die Sonne ist gerade hinter dem Horizont verschwunden, aber der Himmel ist noch in ein sanftes Orange und Rosa getaucht. Das Wasser vor mir ist so klar, dass ich an einigen Stellen bis auf den Grund sehen kann, wo kleine Fische in Schwärmen umherschwirren. Das Ufer ist gesäumt von bunten Wildblumen, die ihren leichten Duft in die warme Abendluft abgeben.

Zusammen mit dem gelegentlichen Zwitschern der Vögel, die sich für die Nacht zurückziehen, erschafft alles hier eine Illusion von Frieden. Eine kleine, heile Welt inmitten des Chaos.

Ich atme aus, lasse die Schultern sinken und ziehe den Rucksack ab, den die Thronerbin mir gegeben hat. Neben meinem Proviant befindet sich auch meine Wächterkleidung darin. Ich sollte sie anziehen, bevor wir weiterfliegen. Vermutlich wird sie mehr Schutz vor der Kälte bieten als der dünne Überwurf.

Ich hole auch den Proviant heraus, esse ein wenig von dem kuchenartigen Gebäck, obwohl ich nicht wirklich Hunger habe. Es ist weich und süß.

Ich habe so etwas noch nie geschmeckt, aber … doch. Es erinnert mich an den Wein, den Irin mir auf dem Stadtfest in Sartin gekauft hat. Die Erinnerung daran kommt mir vor wie aus einer anderen Welt. Ich weiß selbst nicht, warum mir dabei so schwer ums Herz wird.

Ein Plätschern neben mir reißt mich aus meinen Gedanken. Nevi taucht wieder auf, wieder als Frau mit nacktem Oberkörper und … einer langen Flosse, wie von einem Fisch, anstelle ihrer Beine. Langes dunkelgrünes Haar klebt an ihrer dunklen Haut.

»Kannst du dich in jedes Lebewesen verwandeln, in das du willst?«, frage ich fasziniert. Im Gegensatz zu ihrer Aggression im Kampf gegen Irin gestern wirkt sie jetzt so friedlich.

»Ja.« Sie lehnt sich nach hinten und lässt sich auf dem Rücken durchs Wasser gleiten.

Ob sie wirklich erschöpft ist? Oder macht sie nur eine Pause, weil sie denkt, ich bräuchte eine? Die Kräfte der Königsgötter sind so unterschiedlich; einige sind unsterblich, einige sind unerschöpflich, einige werden wiedergeboren, einige können nicht einmal von Waffen getötet werden. Ob sie mir mehr von sich erzählt, wenn ich sie frage?

Oder ist sie so verschlossen wie Irin?

Ich stelle einfach die erste Frage, die mir in den Sinn kommt: »Wer warst du, bevor du ein Gott wurdest?« Oder eine Göttin? Über die Götter, die in viele Kriege verwickelt waren oder die besonders eingängige Legenden oder einflussreiche Religionen hinterlassen haben, hört und lernt man an jeder Stelle; Arax, Moryn, Nuye, Lagûn, Seshan. Über die meisten Königsgötter weiß ich allerdings nicht viel mehr als ihren Namen und ihre Fähigkeit.

»Ich war das Kind eines Tyrannen aus dem Süden«, sagt sie und richtet ihren Blick in den Himmel. Sie hat also kein Problem damit, die Wahrheit zu sagen. »Mein Vater wurde gefürchtet, aber mich hat das Volk geliebt. Ich habe mich immer gefangen gefühlt. Schwach, überwältigt, einsam.«

Ich sehe keine Emotionen auf ihrem Gesicht. Als würde sie eine einstudierte Geschichte vortragen und nicht von ihrem Leben erzählen. Aber so ist es vielleicht, wenn man Dinge Hunderte Male im Laufe dieser langen Leben erklären muss.

»Arax tötete meinen Vater und befreite mich und mein Volk. Noâj nahm mein Land ein. Ich sollte zu den Menschen sprechen, um sie zu beruhigen, damit sie sich Noâj friedlich ergaben.«

Ich lasse mein Brot ein Stück sinken, als sie doch in die Erinnerung abzudriften scheint. Ihr Blick wird weicher, und ein Lächeln tritt auf ihre Züge.

»Und das habe ich getan. Dann habe ich meine Maske vom Gesicht genommen, und … sie alle konnten ihre Gefühle auf mich projizieren. Ihre Angst, ihre Hoffnung, ihre Zweifel, ihr Mitleid. Mein Wunsch, frei zu sein, ging in Erfüllung. Von da an konnte ich mir Flügel erschaffen, um fortzufliegen, wenn ich frei sein wollte. Klauen und Reißzähne, wenn ich mich schwach fühlte. Und Körper, mit denen ich mich tief in die Erde eingraben konnte, wenn ich überwältigt von allem war.«

Das kommt mir wie ein ganz angenehmes Leben vor, obwohl ich selbst nie einen intensiven Wunsch nach einem dieser Dinge gehegt habe. »Aber du fühlst dich noch immer einsam?«, will ich wissen. Das hat sie zumindest in ihrer Aufzählung nicht genannt.

Sie lacht schallend auf und bringt sich in eine aufrechtere Position. »Erwischt«, gesteht sie. »Aber inzwischen ist es in Ordnung für mich. Meistens zumindest.«

Wie alt ist sie? »Wirst du auch wiedergeboren wie Arax und Moryn?«

»Nein, ich … sterbe nicht.« Sie fährt sich durch die dunklen Haare. »Zumindest nicht an Alter oder Krankheit. Arax hat es mit Gewalt ein paarmal fast geschafft, mich zu töten, aber … auch da bin ich wohl ziemlich resilient.«

Eine Gänsehaut fährt mir den Rücken hinab, als ich versuche, mir nicht zu viel darunter vorzustellen. Allein die kleine Demonstration seiner Macht hat ausgereicht, um das Ausmaß einschätzen zu können.

Mit den Waffen, die er aus dem Nichts schafft, hat er im Alleingang Königreiche gestürzt, Kriege gefochten und Götter getötet. Nicht jeder von ihnen ist sterblich im eigentlichen Sinne, aber einige von ihnen sind wohl tatsächlich umgekommen.

»Du kannst mich übrigens nennen, wie du willst«, unterbricht Nevi meine Gedanken. »Nur, falls du dich gefragt hast.«

Verwundert hebe ich die Brauen. »Was meinst du?«

»Sie, er, es … Es ist mir egal, wie du von mir redest oder denkst. Ich habe Dutzende Leben gelebt; in den Wäldern, in den Meeren, zwischen den Menschen, unerkannt. Es ist mir egal, wie man über mich spricht oder wie man mich nennt. Ich glaube, ich habe sogar selbst vergessen, wie ich geboren bin.«

Ich nicke verstehend, während ich sie beobachte. Ob sie immer so oft ihre Gestalt wechselt? Oder bleibt sie hin und wieder auch für längere Strecken dieselbe Person oder dasselbe Wesen?

Eine andere Frage brennt mir allerdings noch etwas mehr auf der Seele. Die Wächter meiner Heimat brachten mir schon von klein auf bei, dass jeder Königsgott ein Monster ist. Dass sie alle getrieben seien von der Gier nach Macht und Reichtum. Nevis Geschichte klingt hingegen gar nicht so. »Darf ich fragen, was du mit den Kriegen der Königsgötter zu tun hattest? Was deine Beziehung zu Irin ist?«

Etwas blitzt in ihren Augen auf. Als würde sie etwas verstehen, von dem ich nicht genau weiß, was es ist. »Die Kriege der Königsgötter werden in Geschichtsbüchern und in den Erzählungen der Menschen oft sehr klar und einseitig dargestellt«, sagt sie und lehnt ihren Kopf wieder ins Wasser zurück. »Viele fürchten Arax und verurteilen ihn, aber … Mich hat er gerettet. Er rettete viele. Millionen.« Sie wählt ihre Worte wirklich mit Bedacht. »Und ich war ihm dankbar. Aber hätten wir unsere Kräfte nicht vereint, um ihn aufzuhalten, hätte er die ganze Welt an sich gerissen.«

»Um was mit ihr zu tun?«

Ihr Blick liegt ruhig auf mir. »Er wollte ihr Frieden bringen. Aber seine Vorstellung von Frieden war überaus radikal. Es wäre eine verzerrte Welt gewesen, die er als Diktator regiert hätte. Deswegen stellten wir uns hinter Moryn. Und gegen ihn.«

»Verstehe.« Das rückt mein Bild ein wenig weiter zurecht.

Das war längst nicht alles, was mir auf der Seele brannte, aber Nevi sieht mich mit glitzernden Augen an und nimmt im Wasser wieder eine aufrechte Position ein. »Darf ich jetzt auch ein paar Fragen stellen?«

Ich schlucke angestrengt, weil ich unsicher bin, was jemand wie sie von mir wissen wollen könnte. Dem Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen, möchte sie nichts über den Zustand der Welt erfahren. »Klar«, sage ich trotzdem.

»Wie ist deine Beziehung zu ihm?«

Warum habe ich damit gerechnet? »Wir sind miteinander gereist, um die Gottfresser aufzuhalten.«

Nevi schwimmt ein Stück an den Strand, setzt sich im Wasser halb auf und schmunzelt. »Ich habe lange genug unter Menschen gelebt, um zu wissen, wann mehr in einer Beziehung steckt, als zunächst offensichtlich ist. Die Art, wie ihr einander angesehen habt … Da war etwas, oder?«

Es überrascht mich selbst, dass ich verlegen werde, aber ich halte ihren Blick. »Ich habe mit ihm geschlafen.« Es gibt eigentlich keinen Grund, es ihr nicht zu sagen. Viel intimer als das war, dass ich ihm von den Wölfen erzählt habe, obwohl niemand sonst auf der Welt von ihnen weiß. »Ich hab mich … allein gefühlt«, überlege ich leise. »Und er war nett. Aber er war auch immer dieses Rätsel, das ich nicht ganz lösen konnte, also … war ich nicht mal sonderlich überrascht.«

»Er hat dir nicht gesagt, wer er ist«, folgert Nevi. Als wäre sie nicht dabei gewesen, als ich es herausgefunden habe.

»Er hat mir ins Gesicht gelogen«, korrigiere ich sie. Hätte er mir keine Lügen über die Seltsamkeiten aufgetischt, die ich in seiner Energie bemerkt habe, hätte ich früher herausgefunden, was sich hinter seiner Fassade verbirgt.

Und trotzdem: Selbst nachdem ich herausgefunden habe, dass er Arax ist, glaube ich noch immer, dass mein Geheimnis bei ihm sicher ist.

Mein Geheimnis. Als ich an die Nacht denke, in der ich es ihm anvertraut habe, wird mir klar, dass der Sex so gut war, weil er schon so alt ist – obwohl er sagte, dass er sich an vieles nur verschwommen erinnert. Ich fahre mir mit den Fingern über das Gesicht, um mich von der Erinnerung an seine Berührungen zu lösen.

Das hat gerade wirklich nichts in meinen Gedanken verloren.

Nevi scheint ebenfalls zu bemerken, dass das Thema etwas in mir auslöst, deswegen ist sie so nett, wieder davon abzulenken. »Macht es dir etwas aus, wenn wir nachts weiterfliegen?«

Ich schüttle den Kopf, muss aber trotzdem an meinen Arm denken. Wenn ich mich in den Federn festhalten muss, ist die Position auf Dauer anstrengend, obwohl die Thronerbinnen die Verletzung schon so ausführlich behandelt haben. Aber wir müssen natürlich vorankommen.

Noch bevor ich etwas sagen kann, ruckt Nevi allerdings schon mit dem Kinn zu meiner Wunde. »Ich sehe mir das gleich mal an. Und …« Sie presst die Lippen aufeinander und wiegt nachdenklich den Kopf hin und her. »Und vielleicht kann ich mich in etwas verwandeln, das ein bisschen bequemer für dich ist. Auch wenn es dann auffälliger wird.«

Ich ziehe die Brauen zusammen und lächle verwundert. Kann sie meine Gedanken lesen? »Danke.«

3

MÄRCHEN & EIS

SHINA

Das Rattern des Zuges ist zu einem vertrauten Begleiter für mich geworden. Dafür, dass ich mir als Kind immer gewünscht habe, Sartin eines Tages verlassen zu können, um andere Länder und Städte kennenzulernen, fühlt sich die Erfüllung dieses Wunsches nun überraschend trüb an.

Nicht einmal schmerzhaft oder angsteinflößend. Irgendwo auf unserer Flucht habe ich die Energie verloren, so intensive Emotionen zu empfinden. Also ist alles, was ich spüre, während ich aus dem Fenster sehe und das bekannte Schaukeln durch meinen Körper geht, eine gewisse Schwermut. Melancholie vielleicht. Nicht mir oder Mae oder unserer Situation gegenüber, sondern wegen der Welt.

Qaya verändert sich. Elris hat es uns erklärt. Unser Schmerz, unser Leid und unsere Angst sind nur winzige Bestandteile dieses Wandels. Dieses Untergangs. Das macht alles ein wenig schlimmer, aber gleichzeitig auch … besser.

Wir sind nicht allein mit alldem. Und wenn wir Elris und ihrer Gruppe helfen, können wir danach vielleicht endlich zur Ruhe kommen.

Mein Blick wandert vom Inneren des Speisewaggons, in dem wir uns mit Elris und ihren fünf Begleitern befinden, zu Mae. Sie lehnt an meiner Schulter, die Arme locker vor der Brust verschränkt, ihre Augen geschlossen. Die Haut an meinem Hals schmerzt noch ein wenig an der Stelle, an der sie mich gebissen hat, aber das Gefühl ist nicht schlecht. Es lässt mich hoffen, dass ich ihr helfen konnte. Dass ich ihr zumindest kurz die Last von den Schultern nehmen konnte, die sie schon so lange mit sich herumtragen muss. Dass ich sie für eine Weile vor dem Dunkel in ihrem Inneren schützen konnte.

Ob sie sich zumindest in ihren Träumen in eine bessere Welt flüchten kann? Zurück nach Hause, zu ihrer Mutter? Zu Zeiten, als alles noch gut war.

Meine Kehle schnürt sich bei dem Gedanken zu, aber ich versuche, mich damit abzulenken, dass sie tatsächlich einen friedlicheren Eindruck macht, seitdem sie nach unserem Aufbruch heute Morgen von meinem Blut getrunken hat. Friedlicher vielleicht als jemals, seitdem wir aus unserer Heimat geflohen sind. Ihre Haut sieht etwas gesünder aus, ihre Lippen etwas rosiger. Es ist, als ob ich sie noch immer auf meinen spüre. Hin und wieder hebe ich die Finger, um mit den Kuppen sacht über meinen Mund zu streichen, als könnte ich die Erinnerung so festhalten. Es ist gut, dass sie jetzt schlafen kann, aber ich bleibe angespannt. Die Ruhe fühlt sich nur wie ein Zwischenstopp an, mit Blut, Tränen und Mühen erkauft. Mae verdient mehr als das. Ich auch.

Aber vermutlich sind wir hier zumindest sicherer, als an allen vorherigen Stationen unserer schier endlosen Flucht. Die weitläufige Seenlandschaft, durch die uns die Zugstrecke zwischen der Kalten Stadt und der Stadt des Nebels führt, fühlt sich angenehm isoliert an. Tiefblaues Wasser, das durch schmale Straßen und kleine Siedlungen unterbrochen wird. Teile der Gewässer sind mit Eis überzogen, das in der untergehenden Sonne schimmert.

Den Horizont dominiert ein majestätisches Gebirge, dessen schneebedeckte Gipfel im selben goldenen Licht der Sonne erstrahlen. Die Gleise, über die unser Zug fährt, liegen direkt über dem Wasser, sodass die reflektierende Oberfläche des Sees fast die Schienen berührt.

Trotz der eisigen Landschaft vor den Fenstern ist es hier drin angenehm warm. Der Speisewaggon ist eleganter eingerichtet als die meisten Häuser, in denen ich mich bisher befunden habe. Dunkle Holztäfelungen an Wänden und Decken, die großen Fenster von schweren, burgunderroten Vorhängen gesäumt. In der Mitte jedes Tisches stehen Blumensträuße in Porzellanvasen. Ein angenehmer Duft von frisch gebrühtem Kaffee durchzieht den Raum.

Ich muss mich beherrschen, diesen Ort nicht zu sehr zu genießen. Aber wir werden die Stadt des Nebels erst morgen Mittag erreichen, also … haben wir wohl noch ein wenig Zeit zum Ausruhen.

»Kennst du die Geschichte dieser Seen?«

Elris sitzt Mae und mir zwar gegenüber, hat allerdings schon seit einer Weile nichts mehr gesagt.

Ich wende mich ihr zu. »Nein«, antworte ich leise, um Mae nicht zu stören. »Was ist passiert?«

Elris lehnt sich auf den Tisch zwischen uns. Der Speisewagen ist zu so etwas wie unserem Aufenthaltsraum geworden, auch wenn wir nur einen abendlichen Kaffee trinken.

Ihr blondes Haar fällt schillernd über ihre Schultern, die grünen Augen glitzern im spärlichen Licht. Mit dem weißen Hemd und der Weste sieht sie bereit für Verhandlungen oder dergleichen aus. Der dunkle Umhang, der sich an ihren schlanken Körper schmiegt, lässt sie gleichzeitig kampfbereit und entspannt aussehen.

»Es heißt, dass an diesen Seen eine Frau lebte. In einem kleinen Haus am Ufer hütete sie ihre zwölf Kinder, die sie über alles liebte. Die Tage waren ruhig und friedlich.«

Das kann ich mir vorstellen. Diese Gegend ist wirklich sehr schön. Das rhythmische Rattern des Zuges untermalt ihre Worte. Ich kann mir das Knirschen des Eises, das sich an den Ufern bricht, nahezu vorstellen.

»Doch die Kinder hatten große Angst vor einem alten Drachen, von dem man sagte, er wohne tief im Wasser des Sees.« Sie senkt ihre Stimme und lächelt, als würde sie sich an etwas erinnern. »Niemand glaubte ihnen. Doch eines Tages, so sagt man, stieg der Drache wirklich aus den Tiefen empor. Sein Atem verdunkelte den Himmel, und seine Augen glühten wie ein Feuer, das die Welt verzehren könnte. Und die Kinder fürchteten sich so sehr, dass sie sich alle in Schwäne verwandelten und flohen.«

Während ich lausche, schaut auch Manda von seinem Buch auf. Er ist jung, höchstens fünfundzwanzig, und neben Elris der netteste von allen. Immer, wenn sich unsere Blicke treffen, setzt er ein so aufmunterndes Lächeln auf.

»Doch die Liebe der Mutter war ungebrochen«, fährt sie fort. »Sie blieb dort, in dem kleinen Haus am Wasser, und wartete. Und wenn der Nebel über den See zieht und das Wasser still liegt, kann man, so heißt es, die Schwäne wiedersehen, wenn sie heimkehren, um ihre Mutter zu besuchen.«

Eine Weile sehe ich sie an, warte darauf, dass sie noch etwas sagt. Aber das war wohl das Ende der Geschichte.

Ist sie wahr? Irgendwie werde ich nicht ganz schlau daraus. »Warum erzählst du mir das?«

Elris hebt ihre Schultern und wendet ihren Blick wieder aus dem Fenster. »Ich mag die Geschichte. Sie besagt für mich, dass man immer nach Hause kommen kann, solange dort noch jemand ist, der einen liebt. Egal, was passiert ist.«

Ich mustere ihr Gesicht noch eine Weile. Die Worte erreichen einen Teil von mir, den ich gern begraben würde.

Nach Hause kommen. Mein Verstand weiß, dass es unmöglich ist, eines Tages nach Hause zurückzukehren. Nicht, nachdem meine Eltern Mae töten wollten und ich sie angegriffen habe. Nicht, nachdem Mae und ich etliche Menschen getötet haben, um uns selbst zu retten. Es gibt kein Zurück. Ich denke nicht, dass sie mich noch lieben. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie noch liebe.

Und doch wünscht sich ein kleiner, leiser Teil von mir, dass ich eines Tages wieder im Flur des Hauses stehe, in dem ich aufgewachsen bin, ihnen alles erkläre und sie mich in die Arme nehmen, um mir zu versichern, dass alles gut ist.

Es ist die irrationalste Traumvorstellung, die ich habe.

Ich blinzle die Tränen fort und schüttle leicht den Kopf, um sie zu vertreiben, suche Ablenkung in den Gesichtern der anderen, die ebenfalls zugehört haben.

Manda sitzt zusammen mit Tanabe und Kishika an der gegenüberliegenden Sitzgruppe und nickt für sich selbst, als würde er genau verstehen, was Elris meint. Seine Haare sind so schwarz, dass sie fast einen bläulichen Schimmer haben, seine dunklen Augen wirken irgendwie undurchdringlich.

Moruki und Sota, die offensichtlich so etwas wie Leibwächter für Elris und die anderen sind, sitzen an den Türen an den jeweiligen Enden des Abteils, um alles genau zu überwachen.

»Wo ist denn euer Zuhause?«, frage ich an Manda gerichtet, weil unsere Blicke aufeinandertreffen und ich lieber ihnen zuhöre, als mir um mich selbst Gedanken machen zu müssen.

»Ich bin aus Sura«, sagt er und ruckt mit dem Kopf zu Elris. »Aber schon mit dem Orden unterwegs, seit ich achtzehn bin.«

Tanabe und Kishika sehen mich an, als wären sie verwundert darüber, dass ich ihre Antwort auch hören will. Die beiden sind sicherlich Ende zwanzig und offensichtlich Zwillinge. Sie haben rote Augen und mittelbraune Haut mit vielen hellen Pigmentflecken, die zusammenpassen, als würden sie ein Muster ergeben.

Durch ihr dunkles Haar ziehen sich blonde Strähnen. Tanabe trägt ihres allerdings in einem lockeren Zopf, während ihr Bruder kurze Locken hat.

»Wir sind aus der Deltastadt«, antwortet Kishika. »Dem Orden sind wir mit fünfzehn beigetreten, als unsere Eltern sich der Religion des gebrochenen Rades anschlossen.« Die Religion von Seshan, soweit ich weiß. Sie lehnen sich gegen Fortschritt auf. »Elris lernten wir aber erst später kennen.«

»Verstehe.«

Die beiden tragen die gleichen ordentlichen Anzüge, deutlich moderner als Elris’ Kleidung. Ich habe sie noch nie getrennt voneinander gesehen, meist bewegen sie sich sogar gleichzeitig. Ich glaube, sie sind so was wie Elris’ rechte Hand.

Ich wende mich auch zu Moruki um, der, ebenfalls in einen schwarzen Anzug gekleidet, mit verschränkten Armen vor einer der Türen sitzt. Er hat noch dunklere Haut als ich, dunkelbraune Augen und überragt alle anderen aus der Gruppe bei Weitem.

Er scheint sich allerdings nicht an dem Gespräch beteiligen zu wollen. Ebenso wenig wie Sota, der mit seinem kurzen blonden Haar und den beachtlichen Muskeln nicht weniger einschüchternd aussieht, obwohl er eher lockere Kleidung wie Elris trägt, deren bunte Farben sich leuchtend von seiner hellen Haut absetzen.

»Und ich bin vermutlich in einem Zug geboren«, ergreift Elris das Wort, nachdem die beiden anderen ihr Desinteresse durch Schweigen zum Ausdruck gebracht haben. »Meine Familie ist schon seit etlichen Generationen im Orden.«

»Also hast du keine Heimat?«, will ich wissen.

Ihr Lächeln wird breiter. »Im Gegenteil. Ich habe überall eine Heimat, wo man mich willkommen heißt.«

»Und das ist in den meisten Städten«, fügt Manda grinsend an. »Es gibt wirklich viele von uns.«