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Arduinna - ein Waisenkind? Ein Mädchen unbekannter Herkunft begibt sich, unfreiwillig, auf die Reise zur Hauptstadt des Landes Eracres, um dort ihrem vermeintlich vorbestimmten Schicksal entgegenzutreten. Auf dem Weg dorthin trifft sie nicht nur fremde Menschen, neue Freunde und verräterische Widersacher, sondern begegnet auch sich selbst auf eine neue Art und Weise. Was sie dabei über sich und ihre Vergangenheit lernt, lässt die Welt, in der sie lebt aus den Fugen geraten. Denn von heute auf Morgen verändert sich nicht nur ihre äußere Sicht auf die Welt, sondern auch ihre Wahrnehmung. Spätestens als sie beginnt, Gedanken zu hören, stellt sich die Frage, ist sie wirklich nur ein Waisenkind oder steckt doch mehr hinter den merkwürdigen Träumen, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleiten? Am Ende der beschwerlichen Reise nach Edria steht ein neuer Anfang und vielleicht sogar eine ganz neue Welt.
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Seitenzahl: 600
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für dich
Diana Köberl
Arduinnas Schicksal
Reise der Gegenwart
Buch eins der Arduinna Trilogie
Alle Charaktere, Ereignisse und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden, jede Überschneidung mit tatsächlichen Ereignissen, anderen Geschichten oder realen & fiktiven Personen beruht auf Zufällen.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.
Texte: 2023 © Copyright by Diana Köberl
Umschlag: 2023 © Copyright by Diana Köberl
Verlag:
Diana Stefanie Köberl
Unterdorfstr. 57
66265 Heusweiler
Druck: e-publi – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Prolog
Arduinna Kapitel 1
Atorio Kapitel 2
Arduinna Kapitel 3
Atorio Kapitel 4
Arduinna Kapitel 5
Atorio Kapitel 6
Arduinna Kapitel 7
Atorio Kapitel 8
Arduinna Kapitel 9
Atorio Kapitel 10
Arduinna Kapitel 11
Atorio Kapitel 12
Arduinna Kapitel 13
Atorio Kapitel 14
Arduinna Kapitel 15
Atorio Kapitel 16
Arduinna Kapitel 17
Atorio Kapitel 18
Arduinna Kapitel 19
Atorio Kapitel 20
Arduinna Kapitel 21
Atorio Kapitel 22
Arduinna Kapitel 23
Atorio Kapitel 24
Arduinna Kapitel 25
Atorio Kapitel 26
Arduinna Kapitel 27
Atorio Kapitel 28
Arduinna Kapitel 29
Arduinna Kapitel 31
Danksagung
Es ist nun schon einige Wochen her, seit unser Herrscher Abbas seine Leute, darunter auch mich, auf eine Suche entsandt hat. Unser Auftrag ist es, ihm eine neue Braut zu bringen. Diese soll ihm endlich den lang ersehnten Sohn gebären, um seine Thronfolge zu sichern. Seine bisherigen Gemahlinnen vermochten dies nicht.
Zu Beginn dieser Tragödie durften diese ihre Kinder noch austragen. Selbst dann noch, wenn des Herrschers Mutter Addolorata vorhersagte, dass es wieder kein Sohn werden würde. Die Frauen und Kinder wurden alsbald nach der Geburt verbannt. Jedoch nicht, ohne den Müttern eine großzügige Abfindung zu bezahlen. Das sollte verhindern, dass sie im weiteren Verlauf Ansprüche an den Thron stellten. Zudem wurde wohl eine ominöse Zeremonie abgehalten, die zusätzlich dafür sorgen sollte, dass die ungewollten Kinder samt ihren Müttern aus dem Leben des Herrschers spurlos verschwanden. Die Gerüchteküche brodelt dies-bezüglich nur so vor sich hin. Ein jeder der Bediensteten gibt sein Wissen zum Besten. Und jeder von ihnen versucht dabei, den Vorredner mithilfe seiner Fantasie zu übertrumpfen. Wie die Rituale tatsächlich ablaufen, weiß niemand. Dieses Geheimnis kennt nur Addolorata selbst.
Nach der dritten Frau wurde das Vorgehen allerdings anders, weitaus barbarischer. Die Frauen verun-glückten noch während der Schwangerschaft auf meist tragische Weise. In der Häufigkeit ließ sich nur noch schwer an einen unglücklichen Zufall denken. Viel mehr sah es danach aus, als dass sie aufgrund der Vorhersehung Addoloratas getötet wurden. Welche Kräfte sie außer dem Weissagen noch besitzt, vermag niemand zu sagen. Es müssen aber noch viele sein, wenn man den Werdegang der Familie betrachtet. Ein Herrscher, quasi geschaffen aus dem Nichts, dem die Leute folgen trotz der Angst und des Schreckens, die er verbreitet. Er ist kein fairer König und dennoch einte er das Land, wie kein anderer vor ihm. Dafür ist er in ganz Eracres gefürchtet und verehrt zugleich. Sechs Frauen und ihre ungeborenen Töchter waren diesem schon zum Opfer geworden und nun wurde ich ausgeschickt, seine zehnte Braut ausfindig zu machen, und das würde ich tun, denn das Wissen um die Vorgänge am Hof kann meine Loyalität Abbas gegenüber nicht schmälern. Zu viel habe ich unserem Herrscher zu verdanken.
Damals, als ich noch ein kleiner Junge war, wurde ich von meinen eigenen Eltern verkauft, da sie kein Geld für Essen oder Unterkunft besaßen. Er war es, der mir das Leben als Sklave oder den Hungertod ersparte. Zu jener Zeit, als er noch ein Herz und eine Seele besaß, schenkte er mir nicht nur mein Leben, sondern auch die beste Ausbildung und eine Aufgabe. Er nahm mich in seine Dienste, aber auch als seinen Sohn bei sich auf. An seiner Seite lernte ich das Kämpfen, Reiten und Rechnen. Von den Abgesandten am Hof das Lesen und Schreiben in den Sprachen, die für sein Herr-schaftsgebiet typisch waren. Und zu guter Letzt unterwies er mich auch in Diplomatie und strategischer Finesse.
Durch ihn darf ich mich frei und ohne Zwänge im ganzen Land an allen Höfen bewegen und genieße zusätzlich einen angesehenen Rang unter seinen Gefolgsleuten. Seit eineinhalb Sommern zähle ich nun schon zu den Erwachsenen und darf daher allein die Stadt und umliegende Ländereien verlassen, um meine Aufgaben zu erfüllen. Als sein Ziehsohn konnte ich ihm das Glück eines Lebens mit Sohn schenken, doch wegen der fehlenden Blutlinie komme ich als Nachfolger für seinen Thron nicht infrage. Deshalb liegt es nun an mir, die richtige Braut zu finden und dadurch ein Fortbestehen seiner Herrschaft, seines Geschlechts, zu ermöglichen. Wenn der Preis dafür also ist, dass ich seine nächste unglückliche Braut finden muss, dann ist es meine Pflicht zu gehorchen. Solange es nicht in meinen Händen liegt, sie zu töten, wird mir alles recht sein, wenn er dadurch sein Glück erlangt und ich im Gegenzug weitere Freiheiten.
Ich habe ein gutes Leben bei ihm und trotzdem wird mir dieses Geschäft einen entscheidenden Vorteil verschaffen. Gold, das ich selbst verdient habe, um nicht länger auf seine Gnade angewiesen zu sein. Die Bezahlung erfolgt zweimal in reichlichem Umfang. Einmal bei Übergabe der Braut und ein zweites Mal sollte sie ihm wirklich einen Sohn gebären. Das liegt dann aber wirklich nicht mehr in meiner Hand.
Seit ich mit meiner Truppe die Stadt verlassen habe, ritten wir auf unseren Pferden zu den entlegensten Winkeln des Reiches Eracres, um eine würdige Kandidatin zu finden. Dies erwies sich aufgrund mehrerer Umstände als schwierig. Zum einen war es nach den ganzen Gerüchten nicht einfach, eine willige Kandidatin oder genauer gesagt eine willige Familie zu finden, die eine ihrer Töchter in unsere Obhut geben wollte. Zum anderen durfte es keine gewöhnliche Frau sein. Sie sollte, falls ihr das Glück hold war, an der Seite des Herrschers bestehen können und musste aus der breiten Masse hervorstechen. Alle ihre Vorgängerinnen waren von Schönheit oder stammten aus angesehenen Familien. Da konnte ich nicht irgendein Mädchen anschleppen. Sie musste gut genug sein für Abbas. Diese Bedingungen machten unser Vorhaben im Einzelnen schon schwer, aber in Kombination schien die Aufgabe fast unlösbar.
Dies war auch der Grund, warum mein Vater, so nannte ich ihn, wenn wir unter uns waren, mich losschickte. Ich bin einer seiner engsten Vertrauten und kenne ihn wohl besser als all die Speichellecker, die nach dem Krieg den Hof in der Hauptstadt Edria aufgesucht haben und nun in beratenden Ämtern fungieren. Vor allem kenne ich ihn als Menschen und nicht als jenes Monster, zu dem er inzwischen geworden ist. Mir war immer klar, dass die zunehmende Macht, die ihm zuteilwurde, ihn verderben würde, aber ich hatte mir nie träumen lassen, dass er unschuldige Frauen zuhauf töten oder quälen lassen würde, weil sie ihm keinen Sohn schenken konnten.
Ich denke über all die Geschehnisse der letzten Wochen nach, als mich die Stimme meines engsten Freundes Sophos in die Wirklichkeit zurückholt: „Wir haben in der Nähe einen Ort ausfindig machen können, dort gibt es einen Markt und einige Tavernen, vielleicht können wir da neue Informationen einholen, die uns auf unserer Mission weiterbringen“, dringen seine Worte an mein Ohr. Frustriert stoße ich daraufhin die Luft zwischen meinen angespannten Lippen hervor und setze mich auf. Vorbei mit den Tagträumereien und Gedanken schweifen lassen. Meine Männer machen sich nach dem Wink meiner Hand auf, das Lager abzubauen und unsere Ausrüstung einzupacken. Unsere Pferde stehen in einiger Entfernung an einen Baum gebunden. Zum Glück hat sich keines von ihnen in der letzten Nacht selbstständig gemacht. Die Rückreise würde, mit einer Person mehr, anstrengend genug werden. Da sollte kein Pferd durch Unachtsamkeit verloren gehen. Auf der Reise hierhin sind uns schon einige zwielichtige Gestalten begegnet, weshalb im Allgemeinen Vorsicht geboten ist. Sie aus dem Weg zu räumen, hätte uns zu keiner Zeit Schwierigkeiten bereitet, und im Ernstfall waren wir auch auf herrschaftlichen Befehl hin dazu angehalten, aber wir wollten vorerst kein negatives Aufsehen erregen. Diskretion war in dieser Angelegenheit das A und O, da die Gegend hier draußen erst vor wenigen Sommern meinem Vater mit Gewalt unterworfen wurde. In vereinzelten Ortschaften gibt es immer noch Widerstandsbewegungen und der Unmut der Bevölkerung ist aufgrund der voran-gegangenen Kriegszeit noch groß genug, um sich gegen Befehle des Machthabers zu wehren. Im Ernstfall stünde es wohl schlecht um unsere kleine sechsköpfige Truppe, selbst mit der hervorragenden Ausbildung, die alle meine Mitstreiter genossen haben. Wir vermeiden offene Konfrontationen bestmöglich und bewegen uns unauffällig durch die Dörfer. Dazu war es im Vorfeld nötig, sich mit den Gebräuchen und Gepflogenheiten der jeweiligen Regionen vertraut zu machen. Ich habe einige Bücher zu jeder Region gelesen, und die praktische Anwendung während der bisherigen Reise zeigte, dass es unserer Mission zuträglich ist, auf der Suche nach neuen und lohnenden Informationen über unverheiratete Frauen. Abbas erwartet nur das Beste, und das dazu noch unberührt. Hohe Ansprüche für einen Herrscher, der langsam, aber sicher dem vierzigsten Lebenssommer zuschreitet. Bis zu dieser Feierlichkeit dauert es nur noch drei Monde. Zeitgleich soll die neue Braut vorgestellt und die Hochzeit angekündigt werden.
Irgendwie habe ich diesmal ein gutes Gefühl, während ich auf mein Pferd Heros aufsteige und wir im leichten Galopp auf das Städtchen Buria zufliegen, in der Hoffnung, dass wir endlich fündig werden.
Es ist früh am Morgen, als ich mich für den Tag zurechtmache. Ich muss mich normalerweise sputen, um all die Aufgaben zu erledigen, die mir aufgetragen werden, aber nicht heute, denn der Wocheneinkauf des Waisenhauses steht an und dafür bin ich mit aller Gewissenhaftigkeit zuständig. Bei dem knappen Budget des Waisenhauses darf mir kein Fehler unterlaufen. Ohne Eltern und dadurch entsprechenden Stand habe ich nämlich keinen Schutz vor Strafe und kein Recht, über mich selbst zu bestimmen. Ich bin verpflichtet, den Befehlen Folge zu leisten und bemüht, nicht negativ aufzufallen. Ich habe hart dafür gearbeitet, ein paar Freiheiten zu bekommen. Umso weniger möchte ich diese wieder aufgeben. Zumal ich erst vor ein paar Wochen ein eigenes Bett bekommen habe. Das hat sicher damit zu tun, dass es hier inzwischen kein weiteres Mädchen mehr gibt, aber das könnte sich jederzeit ändern. Zuvor schlief ich immer mit anderen Mädchen in einem gemeinsamen Bett. Jetzt gibt es allerdings nur noch drei Jungs und mich im Waisenhaus.
Da das Heim immer Geld braucht, werden die Kinder oftmals als Sklaven an einen Herrn verkauft, wenn sie nicht an Eheleute vermittelt werden können. Dort arbeiten sie dann das Geld ab, das man für sie ausgab. Manche haben es danach besser, manche haben aber auch nicht so großes Glück. Jedoch war allen gemein, dass wir uns danach nur selten auf dem Markt oder gar nicht wieder sahen. Also war es klug, sich nicht zu sehr mit ihnen anzufreunden. Ich bin jetzt seit etwas mehr als 17 Sommern hier und habe schon viele Kinder kommen und gehen sehen. Entweder als Adoptivkind, Sklave, Knecht oder als freier Mensch bei Voll-jährigkeit.
Bald bin auch ich volljährig, dann bin ich frei und kann entscheiden, wie ich mein Leben weiterführen möchte. Dann kann ich selbst wählen, welchen Beruf ich ausführen möchte oder an welchem Ort ich wohne. Bis dahin muss ich allerdings noch warten, für das Heim arbeiten und mich benehmen, denn noch könnte jeder Tag mein Schicksal verändern und besiegeln. Ich habe keine Ahnung, warum ich bisher nicht adoptiert oder verkauft wurde, denn es gab in der Vergangenheit viele Eheleute, die ihr Interesse bekundeten oder auch Händler und Kaufleute, aber keiner nahm mich mit. Entweder war ich ihnen durch meine Besonderheiten negativ aufgefallen oder der Preis für mich war ihnen zu hoch. Oder kann es sein, dass unser Leiter Saran nicht wollte, dass ich ein eigenes Leben führe, fernab von diesem Ort? Hängt er an mir? Hat es mit seiner Frau Milla oder ihrem Tod zu tun?
Saran hat schon mehr als 35 Sommer erlebt und seine eigene Frau Milla starb vor einer Weile an einer Krankheit, die niemand heilen konnte. Die beiden hatten keine eigenen Kinder. So haben sie es sich zur Aufgabe gemacht, Findelkinder aufzunehmen und weiterzuvermitteln. Sie lehrten uns rechnen, schreiben und lesen, damit wir bessere Chancen hatten, da dies in der allgemeinen Bevölkerung nicht üblich war. So war vielen von meinen Zieh Geschwistern eine gute Zukunft sicher. Häufig arbeiten sie bei den ortsansässigen Händlern oder Handwerkern, sobald sie ihre Schulden bei jenen beglichen haben, die sie aufnahmen. Ich war damals eines der ersten Kinder, die in dieses Heim kamen. Es war zu der Zeit nicht mehr als ein gewöhnlicher Hof mit wenig Vieh. Die Gebäude waren und sind etwas herunter und in die Jahre gekommen, aber werden nach besten Möglichkeiten repariert und instandgehalten. Im Laufe der Zeit wurden ein paar der Gebäude erweitert und so gibt es inzwischen Platz für bis zu acht Kinder, auch wenn wir meistens weniger sind. Sowohl die Mädchen als auch die Jungen teilen sich für gewöhnlich ein Zimmer. In jedem der beiden Zimmer gibt es zwei Betten. In den Zeiten, als viele Kinder im Heim waren, bewohnten vier Kinder ein Zimmer und mussten sich somit auch die Schlafplätze teilen. Im Moment bin ich jedoch das einzige Mädchen und so genieße ich das Privileg, ein eigenes Zimmer zu haben, während die drei Jungen sich eines teilen müssen.
Damals wurde ich in der Nähe einer Ruine gefunden, so erzählte es zumindest Milla. Es war der Schrein der römischen Göttin Diana, daher rührt auch mein Name, der an sie angelehnt ist. Ich lag allein unter einer Weide und war bedeckt von Eichenzweigen. Das Einzige, was ich bei mir trug, war eine Kette mit einem Anhänger, der dem Mond nachempfunden war. Diese hängt auch jetzt an meinem Hals. Das einfache braune Lederband musste ich schon mehrfach ersetzen, aber der Anhänger war immer noch derselbe wie damals und spendete mir in der Vergangenheit oft Kraft. Immer, wenn ich traurig war und die Kette in die Hand nahm, wurde mir warm und ich fühlte mich, als würde mich ein Licht von innen heraus erleuchten. In den Nächten, die darauffolgten, hatte ich die lebhaftesten Träume. Ich träume dann von einem Schloss, dessen Türme fast die Wolken berühren. Es schimmert blau-lila im Sonnenlicht. Überall gibt es Blumen, Ranken und Schmetterlinge. Ich habe immer das Gefühl, diesen Ort zu kennen, weiß jedoch nicht woher, aber so sind Träume eben. Fantasie. Der Traum von Freiheit einer gefangenen Seele.
Nun ist aber erstmal Schluss mit Träumen, es wird Zeit für meine Aufgaben. Seit ich das einzige weibliche Wesen auf dem Hof bin, muss ich alle Hausarbeiten allein verrichten. Und das bedeutet jede Menge Arbeit für mich. Nur beim Waschen der Kleider helfen mir die Jungen, weil der Zuber und das Waschbrett für mich allein zu schwer sind. Heute ist es an der Zeit für den Wocheneinkauf, weshalb ich mit einem unserer Pferde in die nahegelegene Ortschaft Buria reiten darf. In der Stadt findet täglich von der Morgendämmerung bis zum Nachmittag ein Markt statt. Dort kann ich alles kaufen, was wir die nächsten Tage brauchen. Sechs Personen essen eine Menge, wenn sie hart arbeiten und im Wachstum sind. Saran, der Leiter unseres Heims, ist strenger geworden seit dem Tod seiner Frau, aber er sorgte in der Regel dafür, dass wir genug zu essen im Haus hatten. Er ist gut zu uns, solange wir uns benehmen und tun, was er verlangt.
Ich bin schon beinahe fertig angezogen, als unser Hahn draußen kräht. Ich trage einfache Gewänder. Ein Unterkleid aus dünnem Leinenstoff, darüber einen festeren Überwurf aus grobem Gewebe in einem rötlichen Braunton, der an den Seiten offen ist und an den Schultern mit Bändern gehalten wird. Er reicht mir fast bis zu den Knöcheln und zeigt nur knapp, dass ich darunter eine grobe Reithose trage. Diese hilft mir, mich besser im Sattel zu halten. In Höhe meiner Taille wird alles von einem schlichten Gürtelband gehalten, an dem sich auch eine Tasche und ein Münzbeutel befinden. Meine Haare sind zu einem Zopf geflochten und mit einem Tuch bedeckt, das ich ähnlich wie eine Kapuze um die Schultern trage. So fallen sie nicht auf. Ich habe durch viele negative Erfahrungen gelernt, meine Haare zu verbergen. Blondes Haar war ebenso wie meine blauen Augen sehr ungewöhnlich. Noch nie habe ich jemanden getroffen, der ähnliche Haare oder Augen hat. Die meisten Menschen hier in der Gegend haben entweder braunes oder schwarzes Haar. Das liegt vermutlich an der hohen Sonnenbelastung dieser Gegend. Regen ist hier selten. Die Augen der hiesigen Bevölkerung waren auch eher braun, manchmal mit Grün vermischt. Deshalb kann ich Buria auch nicht besuchen, ohne direkt aufzufallen. Das Tuch verbirgt zumindest eines der Merkmale. Ich ziehe meine abgenutzten Stiefel an, sie sind viel in Gebrauch und haben deshalb das ein oder andere Loch, aber immerhin passen sie perfekt an meinen Fuß. Als Letztes fehlt noch ein Umhang, der meine schlanke Figur verbergen kann. So bin ich bereit für den kleinen Ausflug, der mir bevorsteht.
Draußen erwarten mich die ersten Sonnenstrahlen, die hier und da den Hof berühren. Dieser ist von allen Seiten von einer Mauer umgeben, die in einigen Teilen in Gebäude wie den Stall, das Wohnhaus oder die Scheune übergeht; so hat man sich beim Erbau zumindest einzelne Wände sparen können. Im Inneren des Hofs befindet sich ein großer Platz, dessen Boden über die Jahre so dicht geworden ist, dass man nicht mehr unterscheiden kann, ob es nun Stein, Sand oder Erde ist, über die man läuft. Neben dem Wohnhaus ist ein kleiner Gemüse- und Kräutergarten, gesäumt von ein paar wenigen Obstbäumen. Der zentrale Platz des Hofs ist ein kleiner Brunnen, den wir mühsam von Hand jedes Jahr tiefer graben, um noch an Wasser zu kommen. Man sieht den Gebäuden deutlich an, dass die finanziellen Mittel fehlen, aber Saran und Tratze geben sich größte Mühen, alles in Schuss zu halten.
„Da bist du ja endlich“, als ich zum Stall hinübergehe, führt Tratze bereits das Pferd, mit dem ich mich auf den Weg machen soll, fertig gesattelt nach draußen. Es ist ein alter brauner Klepper namens Muck, der die besten Tage schon hinter sich hat, aber trotzdem ein wertvolles Tier und Familienmitglied für uns ist. Wir brauchen ihn für die Feldarbeit oder eben für die Einkäufe, damit nicht alle zusammen gehen müssen. Hinter dem schmalen Sattel hängen zwei große Körbe an den Flanken des Tiers, die mit einem Lederriemen über den Rücken gespannt sind. So kann keiner davon verrutschen und das Gewicht hängt nicht gänzlich am Sattel.
Tratze ist der Älteste der Jungen. Er ist etwas älter als ich es bin, es kann sich aber nur um ein paar Wochen handeln. In wenigen Tagen wird er 18 und ist damit volljährig. Er hat beschlossen, dass er bleiben will. Er möchte weiterhin Saran unterstützen und seine Arbeitskraft dafür nutzen, für das Heim Geld zu verdienen. Er kam im Alter von etwa zehn Sommern zu uns. Seine Eltern und Geschwister starben bei einem großen Feuer, und seitdem ist er Teil unserer kleinen Gemeinschaft. Er ist der Letzte, den Milla auf-genommen hat, bevor sie starb. Er hat ihre Güte erlebt und machte es sich zur Aufgabe, Saran nach ihrem Tod zu unterstützen. Er hat unter ihm aber auch am meisten zu leiden. Trotzdem ist er ihm gegenüber vollkommen loyal und kümmert sich um alles.
Seine aufgebrachte Bemerkung kommentiere ich mit einem kurzen: „Ja, ja, ich weiß, es gibt viel Arbeit“. Daraufhin hilft er mir wortlos aufs Pferd, wofür ich ihm ein aufrichtiges Lächeln schenke. Er funkelt mich kurz an, ehe seine Augen wieder stumpfer werden und seine Miene eher hart als jugendlich heiter wirkt: „Pass auf dich auf und trödle nicht zu lange, du weißt, dass Saran es nicht mag, wenn man Zeit zu sehr verschwendet.“ Außerdem lass dich nicht über den Tisch ziehen, nur weil du eine Frau bist“, ermahnt er mich mit seinem ernsten Tonfall. Er hält mir jedes Mal den gleichen Vortrag. Ich rolle mit den Augen, aber es fällt ihm gar nicht auf, als er weiterspricht: „Sei auf der Hut vor Herumtreibern, du bist mittlerweile kein Kind mehr“, bei den Worten gleitet sein Blick über mein Gesicht und das verborgene Haar. Den Ausdruck seiner Augen kann ich dabei nicht deuten. Ist es Stolz, Sorge oder doch etwas anderes? Ich verwerfe den Gedanken, als er sich räuspert und seinen Blick abwendet. „Ich werde aufpassen, versprochen Tratze“, sage ich mit einem Augen-zwinkern und lenke damit das Pferd in Richtung des Hoftores. Ich winke noch einmal zurück und dirigiere das Tier hinaus auf die Straße. Hinaus in die Freiheit, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. Bis zum Nachmittag soll ich wieder zurück sein. Ein sehr dehnbarer Zeitraum, besonders für mich.
Ich drücke meine Unterschenkel in die Seiten des Pferdes und gehe von einem gemütlichen Trab in den Galopp über. Tratze kennt mich zu gut. Ich merke nach den ersten Galoppsprüngen schon, dass die Körbe fest genug verschnürt sind und nicht vom Pferd rutschen werden, egal, wie wild der Ritt auch wird. Das spornt mich dazu an, das Tempo noch zu erhöhen. Eine wilde Jagd nach dem Wind beginnt, bevor ich nach einer Weile in einen gemütlichen Schritt übergehe. Ich genieße das Gefühl der Freiheit und lasse mir Zeit auf dem Weg in die Stadt. Vom Heim aus führt nur ein schmaler, ausgetretener Pfad in Richtung Buria. Kaum breit genug für zwei Pferde.
Die Landschaft in diesem Teil des Landes besteht überwiegend aus trockenen Wiesen und gelegentlich kleinen Feldern. Es gibt nur wenige Höfe oder Siedlungen hier draußen, vorrangig wegen des vergangenen Kriegs und dem wenigen Wasser, das man in der Region findet. Inzwischen sind die Kämpfe jedoch schon seit vielen Monden vorbei. Es gibt nur noch vereinzelte Truppen und wenige Kasernen, seit klar ist, dass dem Herrscher Abbas niemand die Gebiete entreißen kann. Daher braucht es kein großes Heer für die Kontrolle unserer ländlichen Provinz, so weit entfernt von der Hauptstadt Edria. Die Warnung von Tratze scheint nur brüderliche Überfürsorge zu sein. Außerdem kann ich sehr wohl auf mich aufpassen.
Die Sonne ist auf ihrem Weg Richtung Zenit ein gutes Stück vorangekommen, als ich die Mauern der Stadt Buria in der Ferne erblicke. Es ist nur ein kleines Dörfchen mit wenigen Häusern und Handwerkern, umringt von einer niedrigen Mauer. Am ehesten sticht noch die Mühle heraus, da sie, durch das große Rad, das sie antreibt, schon von weitem sichtbar ist. Es dauert nicht mehr lange, bis ich an meinem Ziel ankomme. In Gedanken gehe ich meinen Weg durch die Stadt, um alles zu besorgen, was mir aufgetragen wurde: Mehl, Käse, Fleisch, Kräuter, Salz, Reis, Wollstoff und Stickgarn. Ich werde handeln müssen, wenn ich mit dem wenigen Silber, das mir zur Verfügung steht, alles bekommen will. Ich seufze frustriert, da das nicht gerade meine Stärke ist, aber vielleicht habe ich bei den jeweiligen Lehrlingen ja Glück. Zugegeben, den Stoff und das Garn muss ich nicht für Saran besorgen. Ich will die Sachen, um für Tratze ein Geschenk zu seiner Volljährigkeit zu machen. Es soll ein kleiner Beutel mit seinem Namen als Stickerei werden. Milla hat sowas früher gemacht für jeden, der den Hof verließ. Und da ich weiß, wie wichtig sie ihm war, möchte ich diese Tradition zumindest bei ihm fortführen.
Am Tor angekommen, steige ich von Muck und führe ihn am langen Zügel durch die mühsam gepflasterten Gassen. Durch das viele Treiben, das hier herrscht, haben sich die Steine im Laufe der Zeit verschoben und in der Mitte Kuhlen gebildet, in denen man mit einer Kutsche zwangsläufig fahren muss. Die Häuser sind nicht so heruntergekommen wie das Waisenhaus, aber man sieht der Stadt die Narben des Krieges und die ärmlichen Zustände, in denen die meisten hier leben, doch deutlich an. Zuerst möchte ich das Fleisch besorgen, da dies das Teuerste vom heutigen Einkauf sein dürfte. Auf dem Weg zum Fleischer spüre ich die vielen Blicke auf mir ruhen. Die Leute tuscheln hinter meinem Rücken. Das ist nichts Neues für mich und ich hatte damit gerechnet. Ich bin eine Fremde, keiner kennt meine Eltern oder weiß, wo ich herkomme. Da hatten es die anderen Kinder immer leichter. Sie oder zumindest ihre Eltern waren bekannt und sie sahen aus, als würden sie von hier kommen. Auf mich trifft das leider alles nicht zu, auch wenn die Leute mich seit vielen Sommern kennen. In all der Zeit, die ich schon hier bin, habe ich nur wenige Bekanntschaften geschlossen. Die meisten, die ich näher kenne, wuchsen zusammen mit mir im Heim auf. Sie wurden mit der Zeit aufgenommen von denen, die selbst keine Kinder hatten, keine Lehrburschen oder Mägde fanden. Der Lehrjunge des Fleischers ist ein ehemaliger Ziehbruder von mir, ebenso wie der des Müllers. Dort habe ich also gute Chancen auf einen Rabatt, also versuche ich mein Glück. Das Fleisch kostete trotz harter Verhandlung immer noch ein Drittel von dem, was ich bei mir trage. Das dürfte mit allem anderen eng werden. Vielleicht muss ich die Idee mit dem Beutel für Tratze sein lassen.
Mein nächster Weg führt mich durch die Menge zu dem kleinen Markt. Hier sind ein paar wenige kleine Auslagen aufgebaut. Die Auswahl ist nicht sonderlich groß, aber zum Leben hier reicht es. Ich steuere einen Stand an, der verschiedene Waren anbietet, die von entfernten Teilen der Welt mit anderer Vegetation stammen. Er ist deutlich aufwendiger gefertigt als die der ansässigen Händler. So liegen etwa Reis und Salz, das aus dem endlosen Wasser rings ums Festland gewonnen wird, in großen Mengen frei da, während anderswo nur einzelne Stücke feilgeboten werden. Der Händler beäugt mich von oben bis unten, bevor er schnaubt, dass er mit jemandem wie mir nicht verhandeln würde und ich entweder den vollen Preis bezahlen oder wieder gehen solle. Zähneknirschend zahle ich den genannten Preis und zähle genau nach, ob er mir auch die richtige Menge an Münzen zurückgibt.
Mein nächster Halt ist damit der Müller. Dort sollte ich dann aber wieder mehr Glück haben. Milan, sein Lehrbursche, hatte schon immer eine Schwäche für mich. Das hat sich auch nach seinem Auszug bei uns nicht verändert. Schon aus der Ferne scheint er mich zu erkennen. Er grinst mich breit an, während ich mir einen Weg zu ihm bahne. Als ich in seine Griffweite komme, drückt er mich herzlich an sich, bis ich keine Luft mehr bekomme. „Arduinna, wie lange ist es her?“, lacht er, bevor er mich noch einmal hochhebt. Mit so einer Begrüßung hatte ich nicht gerechnet und bin viel zu erschrocken und atemlos, um zu antworten. Er setzt mich wieder ab und mustert mich von oben bis unten, wobei seine Augen glänzen. Er ist gutaussehend und ist zu meiner Überraschung noch mehr gewachsen, als ich gedacht habe. Er scheint gut zu essen und gut behandelt zu werden. Ich freue mich aufrichtig für ihn.
„Wie ist die Lage auf dem Hof? Es ist schon fast zwei Sommer her, seit ich fortging“, reißt er mich fragend aus meinen Gedanken. „Milla ist vorletzten Winter gestorben. Saran leidet natürlich darunter, er ist seitdem bitterer und strenger. Manchmal schlägt er uns. Alles andere ist, wie du es kennst. Weniger war schon immer mehr“, gebe ich traurig zurück. Sein Blick verdüstert sich für den Bruchteil einer Sekunde und Sorge zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, bevor er mich wieder anlächelt. Er hat immer noch Augen, die Wärme und Freundlichkeit ausstrahlen. Man kann gar nicht anders, als mitzulachen. Mit ihm war damals alles noch viel unbeschwerter als jetzt. Aber heute – ist er ein Mann – schon 20 Sommer alt und bald selbst Müller.
Jetzt, da sein Blick so intensiv auf mir ruht und seine Augen langsam meine gesamte Erscheinung von oben bis unten aufnehmen, wird mir meine Weiblichkeit doch sehr bewusst. Unter seinem Blick richte ich mich etwas auf, um nicht klein neben ihm zu wirken und zu zeigen, dass ich mich verändert habe, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sein durchdringender Blick wird aber doch langsam unangenehm. Als er merkt, dass er mich anstarrt, errötet er. „Entschuldige, ich wollte dich nicht so anglotzen, aber ich kann nicht glauben, was für eine Schönheit du geworden bist. Dieses kleine Mädchen, das früher so trotzig war und keinen Schritt allein gehen konnte, ohne sich Ärger einzuhandeln, ist erwachsen geworden. Es ist wirklich schön, dich zu sehen, Arduinna“, betont er noch einmal und fragt im nächsten Moment: „Was führt dich denn eigentlich nach Buria? Hat Saran dich zum Einkaufen losgeschickt?“ Bei den Worten sieht er sich das Pferd an, das ich in Sichtweite angebunden habe. Ich erkläre ihm, dass ich hier bin, um Mehl zu kaufen, daraufhin nickt er, verschwindet für einen kurzen Moment und als er wieder auftaucht, trägt er einen schweren Sack über der Schulter, mit bestimmt zwanzig Kilo. Er ist stark geworden, stelle ich fest. Die Arbeit scheint ihm gutzutun. Wir machen uns Seite an Seite auf zu meinem Braunen. Er hilft mir dabei, den Sack aufs Pferd zu hieven und zu befestigen. Als ich ihm das Geld dafür geben möchte, winkt er ab und zuckt mit den Schultern: „Lass das mal besser meine Sorge sein“, sagt er und zwinkert mir zu. Ich kann nicht glauben, dass er mir so ein großes Geschenk macht, aber er lässt mich, trotz meines Protests, nicht dafür bezahlen. „Ich übernehme das. Schließlich habe ich jetzt ein gutes Leben und ich weiß, dass ihr alles an Gold und Silber nötig gebrauchen könnt. Aber eines möchte ich gerne von dir als Bezahlung, wenn du es so willst. Ich hätte gerne eine Strähne deines wunderschönen Haars, damit ich immer eine Erinnerung an dich habe.“ Bei seinen Worten werde ich rot. Vor allem, weil er mich schon wieder so intensiv anstarrt.
Sein Blick ist ähnlich wie der von Tratze am Morgen. Nur, dass er sich nicht abwendet oder räuspert. Nach ein paar unendlich langen Augenblicken denke ich, dass er wartet, also lüfte ich mein Tuch vom Kopf und schlage es wie eine Kapuze zurück. Mein Haar kommt blond glänzend zum Vorschein. Jetzt in der Mittagssonne leuchtet es noch mehr als sonst. Milan starrt mich gebannt an, als hätte er schon völlig vergessen, wie hell mein Haar ist. Ich öffne den Zopf und schneide ein kleines Bündel meiner Haare mit einem Messer ab, das Milan aus einer Tasche seiner Schürze zieht. Ich verschnüre die Strähne mit einem kurzen Band, bevor ich mein Haar wieder flechte und unter der Kapuze verstecke. Als ich Milan das Haarbündel mit einem schüchternen Lächeln über-reiche, zieht er mich an sich, fast so, als wüsste er nicht, was er tut. Er legt seinen Kopf an den meinen und flüstert mir etwas ins Ohr, das ich jedoch nicht verstehen kann. Kurz darauf lässt er mich los. Bevor ich viel darüber nachdenke, gebe ich ihm noch einen Kuss auf die Wange und mache auf dem Absatz kehrt, ohne ein weiteres Wort. Ich merke, dass er mir nachsieht, als ich Muck am Zügel davonführe, aber ich kann mich einfach nicht zu ihm umdrehen.
Die Begegnung mit Milan hat mich aufgewühlt und eine Seite in mir berührt, von der ich nicht wusste, dass ich sie habe. Ich mochte ihn immer gerne, aber ich kann das, was in seinem Blick liegt, nicht erwidern. Bisher war Milan wie ein Bruder, so wie es auch Tratze ist. Derartige Gefühle, wie jene, die sich in Milans Augen spiegeln, empfinde ich für keinen meiner Ziehbrüder, und das ist auch besser so. Ich bin viel zu seltsam, um mit mir ein glückliches Leben führen zu können. Angefangen bei den Augen und Haaren. Ganz abgesehen von den Träumen und dem Umstand, dass keiner weiß, woher ich eigentlich komme. Nein, es war besser, sich von ihnen fernzuhalten und sich nicht auf eine Liebschaft einzulassen. Sobald ich volljährig bin, möchte ich von hier weg, meinen eigenen Weg finden und das Reich erkunden. Bis dahin war allerdings noch Zeit. Jetzt gibt es noch Einkäufe, die erledigt werden wollten. Langsam musste ich mich doch etwas sputen. Ich gehe im Kopf die Liste durch. Fleisch, Reis, Salz und Mehl hatte ich jetzt. Das bedeutet, ich brauche für Saran nur noch Käse und Kräuter. Beides konnte ich beim örtlichen Krämer erstehen. Zum Schluss bleibt also noch meine eigene Besorgung zu erledigen. Ein kleines Stück Stoff und Garn. Also schlendere ich in Richtung der Stoffhändler und Viehzüchter, die gesponnenes Garn und Wolle verkaufen. Durch Milans nette Geste habe ich noch ausreichend Silber übrig, um beides zu kaufen. Ich bedanke mich in Gedanken nochmals bei ihm.
Für die Rückreise verzurre ich alles fest am Sattel und überprüfe nochmals die Körbe. Als alles fest sitzt, kann es losgehen. Auf dem Weg zurück aus der Stadt fällt mir eine Gruppe von Männern auf, die anders gekleidet sind als die üblichen Händler und Handwerker hier in der Umgebung. Sie tragen edle Reisekleidung und Kampfausrüstung und befragen die vielen Menschen auf der Straße, die sie jedoch alle auf die ansässigen Tavernen und Kneipen hinweisen. Gerade als ihr vermeintlicher Anführer in meine Richtung blickt, hebt ein Windstoß meine Kapuze für einen kurzen Moment von meinem Kopf und entblößt mein Haar. Schnell ziehe ich sie wieder darüber, als ich merke, dass das seine Aufmerksamkeit erregt und er seine Männer in meine Richtung lenkt. Da ich nicht weiß, was er vorhat und ich ihn hier noch nie gesehen habe, verlasse ich auf schnellstem Wege die Stadt und steige außerhalb ohne Umschweife aufs Pferd und gebe ihm die Sporen. Statt wie üblich einen Umweg über die Felder zu reiten, nehme ich lieber den direkten Weg. So bin ich wenige Stunden nach Mittagszeit wieder zu Hause auf dem Gelände des Hofs.
Am Tor gebe ich das Pferd und die Einkäufe an Tratze weiter. Er ist von meiner frühen Rückkehr überrascht, sagt aber nichts dazu. Da keiner damit gerechnet hat, dass ich so früh zurück sein würde, habe ich heute keine weiteren Aufgaben mehr. Deshalb ziehe ich mich mit dem Garn und dem Wollstoff auf mein Zimmer zurück, um über die Ereignisse des Tages nachzudenken. Ich frage mich, was es mit diesen Männern auf sich hatte. Offensichtlich waren sie auf der Suche nach jemandem. Ich war ihnen noch nie zuvor begegnet, also konnten sie nicht gezielt nach mir gesucht haben. Sein Interesse an mir war dann also eher Zufall.
Verdammt. Sie war einfach viel zu schnell verschwunden. Meine Männer hatten inmitten der tüchtigen Menschen und feilschenden Händlern keine Chance, sie frühzeitig zu erreichen. Selbst Sophos, der sich in solchen Mengen meist hervorragend und flink fortbewegen kann, war zu langsam.
Nun haben wir zwar eine erste heiße Spur, aber am Ziel sind wir damit noch nicht. Jetzt heißt es, herausfinden, wer dieses Mädchen ist und wo wir sie finden können. Aber das lässt sich in einer der örtlichen Tavernen bestimmt in Erfahrung bringen; so auffällig wie sie aussieht, ist sie hier bestimmt bekannt. Dieses blonde Haar und die blauen Augen sind selten, ja, beinahe einzigartig. Nicht nur hier in der Gegend, sondern im ganzen Land. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich noch nie jemanden gesehen habe, der ähnlich aussieht. Sie glich in ihrer ganzen Erscheinung eher einem Engel als einem Menschen. Definitiv ist sie dadurch eine vielversprechende Kandidatin für unsere Mission.
Wir steuern gerade die dritte Taverne an diesem Abend an. Die anderen beiden Spelunken, in denen wir zuvor waren, konnten sich kaum als solche bezeichnen. Dort haben wir nichts über das mysteriöse Mädchen herausfinden können. Zwischen all den zwielichtigen Gestalten und Herumtreibern war das jedoch auch kein Wunder. Inzwischen wird es bereits dunkel und ich entscheide, dass der nächste Besuch auch der letzte für heute sein wird. Deshalb suchen wir uns ein Gasthaus mit Stallungen und Fremdenzimmern aus, statt in einer der kleinen Tavernen einzukehren. Das kommt nicht nur mir, sondern auch meinen Mitreisenden entgegen. Wir geben die Pferde bei einem Stallburschen ab und machen uns auf den Weg zum Haupthaus. Es ist hell erleuchtet und scheint gut besucht zu sein. Die Fassade hat mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen, aber das Gasthaus macht alles in allem einen ordentlichen Eindruck.
Mit einem entschlossenen Stoß drücke ich die beiden Flügeltüren auf. Die Luft, die mir entgegenströmt, ist schwer vom Geruch des servierten Essens, Alkohol und Schweiß. Es dauert einen Moment, bis meine Augen sich an das schummrige Kerzenlicht im Inneren gewöhnen. Der Schankraum ist nicht allzu groß und so kann ich mir schnell einen Überblick verschaffen. An einer Vielzahl runder Tische sitzen Menschen zusammen, essen, reden und trinken. Ich werfe einen Blick in jede Richtung des Raumes und kann einzelne Personen ausfindig machen, die aussehen, als wären sie noch gut ansprechbar. Ich schicke Sophos los, einen Tisch und Getränke für uns zu besorgen und bahne mir einen Weg durch die stehenden oder sitzenden Leute. Ich betrachte einige von ihnen genauer und entscheide, dass ein Mann, der wie ein Händler gekleidet ist, der Erste sein wird, den ich anspreche. Er sollte heute auf dem Markt gewesen sein und vielleicht hat er das Mädchen, nachdem ich suche, ja gesehen oder weiß etwas über ihren Aufenthaltsort. Ich setze mich neben ihn an den Ausschank und nicke ihm zur Begrüßung zu. „Werter Herr, kennen Sie sich hier in der Gegend aus?“, frage ich ihn, während ich der Bedienung beiläufig zuwinke. Der Händler hebt seinen Blick kurz über sein Glas, bevor er verschlagen erwidert: „Vielleicht kommt immer drauf an, wer fragt und was er sucht, und natürlich auf die Bezahlung“. Ich beuge mich leicht zu ihm, es muss ja nicht jeder wissen, wonach ich suche oder wer ich bin. Letzteres wollte ich ihm aber sowieso nicht preisgeben. Wer weiß, was er dann für die gewünschten Informationen verlangt. „Ich halte nach einem blonden Mädchen Ausschau, sie war heute in der Stadt, wisst Ihr etwas über sie?“, flüstere ich ihm zu. Er lenkt seinen Blick weg von seinem Glas und mustert mich neugierig und gehässig zugleich. „Was wollt Ihr denn von diesem fremden Balg?“, die letzten Worte speit er fast aus. Das lässt mich neugierig aufhorchen. Was meint er denn mit „fremd“? Gibt es außer ihrem ungewöhnlichen Aussehen etwas, was sie als Kandidatin womöglich unbrauchbar macht? Als ich an die Begegnung ein paar Stunden zuvor zurückdenke, fällt mir nur ihr schnelles Verschwinden ein. In Anbetracht der Situation scheint mir das jedoch nicht merkwürdig. Immerhin haben sechs unbekannte Männer sich in ihre Richtung aufgemacht. Ich an ihrer Stelle wäre wohl auch geflohen. Sogar noch schneller, unter Anbetracht der Umstände, derer wegen wir hier waren.
Der Händler reißt mich aus meinen Gedanken, als er mir zu raunt: „Was springt denn für mich dabei raus? Was ist Euch diese Information wert?“. Ich überlege kurz und drehe mich um zu Sophos, der einen Tisch für uns gefunden hat und gerade eine Bestellung aufgibt. Ich deute ihm an, dass ich bereits einen Krug habe. Smorje – ein Gebräu aus Wasser, Weizen, Alkohol und heimischen Kräutern, weswegen es in jeder Region des Reiches etwas anders schmeckt. Er bestellt deshalb nur fünf Krüge, einen für sich und vier für meine anderen Männer. Ich nehme meinen Krug und mache mich auf den Weg zu ihnen hinüber. Doch bevor ich gehe, lege ich ohne ein weiteres Wort ein Goldstück auf den Tisch vor den Händler. Ich kann förmlich spüren, wie die Gier seinen Verstand übermannt, während ich zum anderen Tisch schlendere. Drüben angekommen, nehme ich auf einem der freien Stühle Platz.
„Denkst du, er hat angebissen?“, fragt Sophos mit einem flüchtigen Blick auf den Händler. „Ich glaube nicht, dass ein Geschäftsmann wie er sich leicht verdientes Gold entgehen lässt. Und ich denke, seine Informationen könnten uns auf die rechte Spur führen“, antworte ich ihm knapp, bevor ich einen Schluck Smorje zu mir nehme. Die Bedienung kommt mit den Getränken meiner Männer und gemeinsam stoßen wir darauf an, dass wir vielleicht bald unsere Mission erfüllt haben werden. Noch bevor wir unsere Krüge geleert haben, kommt der Händler an unseren Tisch herüber. Wir machen ihm etwas Platz und er setzt sich zu uns. Wir alle starren ihn erwartungsvoll an und er genießt es sichtlich, dass er in diesem Moment einen so großen Wert für uns zu haben scheint. Der Kerl stellt meine Geduld auf die Probe, aber noch bin ich entspannt. Es gibt keinen Grund, ihm diesen scheinbar kostbaren Augenblick kaputtzumachen. Wenn er wohl sonst keine Freude in seinem Leben hat, denke ich, leicht angesäuert. „Nun gut, meine Herren, Sie sind also auf der Suche nach diesem Mädchen. Meine Informationen haben ihren Preis, aber ich denke, das sollte es Ihnen auch wert sein. Immerhin sind sie im Auftrag des Herrschers Abbas unterwegs, wenn ich mich nicht täusche“, gibt er mit einem selbstgefälligen Schnauben von sich, als hätte er gerade eine bedeutende Entdeckung gemacht. Und tatsächlich: Bei seinen letzten Worten drehen sich einige der Besucher der Taverne zu uns herum und durchbohren uns mit ihren Blicken. Die Gräueltaten des Kriegs sind hier wohl bei Weitem noch nicht vergeben oder vergessen. Das macht die Situation komplizierter. Ich muss mich zwingen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das Letzte, was wir brauchen, war ein Aufstand oder eine Schlägerei. Ich muss herausfinden, woher er das weiß oder ob er noch weitere Details zu unserer Mission kennt. „Wie kommen Sie denn darauf, dass der Herrscher Abbas persönlich unser Auftraggeber ist?“, frage ich mit gespielter Unwissenheit. Seine Augen verengen sich, als er mich anstarrt und mit diesem selbstgefälligen Grinsen antwortet: „Das Gold von vorhin besitzt die Prägung des Herrschers und hierzulande ist das unüblich. Außerdem spricht Ihr Gesicht gerade Bände: Mein junger Freund, jemand, der schon so viel gereist ist wie ich, hat die ein oder andere Erfahrung mit Menschen und deren Gold“. Der Händler lächelt schadenfroh, als meine Maske fällt. Es dauert einen kurzen Augenblick, bis ich mich wieder fange. Nun denn, dann weiß er es eben. Trotzdem kennt er nicht den wahren Grund unserer Anwesenheit. Er wird für seine Informationen nun mehr fordern, als wenn er nicht wüsste, wer uns geschickt hat, aber das soll nicht meine Sorge sein, denn Abbas hat uns ausreichend Gold mitgegeben, um ganze Anwesen mitsamt Ländereien zu kaufen. Ihm sind unsere Mission und sein Nachfolger mehr wert als Gold und Reichtümer. Ein männlicher Thronfolger würde seine Macht und seinen Einfluss vergrößern, und außerdem besitzt Abbas so viel Gold, dass dieser Mann es in 20 Lebensspannen nicht ausgeben könnte. Der Grund dafür ist Addolorata, seine Mutter, die mit ihrer Magie Gold und Edelsteine aus dem Nichts erschaffen kann. In wichtigen Handelsstätten kann ich mit Vorlage eines Siegelbriefs Gold und Silber anfordern.
Egal, wie hoch der Preis ist, ich werde ihn bezahlen können. Der Gedanke erleichtert mich und ich atme etwas aus. Entspannen kann ich mich allerdings noch nicht. „Wenn Ihr uns Eure Informationen überlasst, soll das nicht zu Eurem Nachteil sein, werter Geschäftsmann“, teile ich ihm versöhnlich mit. „Also gut, ich weiß nicht, wo das Mädchen wohnt oder wo es herkommt, noch nicht einmal ihren Namen kenne ich. Jedoch …“, weiter kommt er nicht, denn Pugnas hat ihn am Kragen gepackt. Wütend funkelt er ihn an. Eilig springe ich auf und lege ihm eine Hand auf den Arm und bedeute ihm, sich zurückzuhalten. „Pugnas, lass ihn doch erstmal ausreden“, befehle ich ihm, mit barschem Tonfall. Er lässt ihn los und der Händler atmet geräuschvoll aus, zieht sein Gewand zurecht und richtet sich brüskiert auf. Fast glaube ich, dass er jetzt geht, aber da fängt er wieder an zu sprechen: „Ich weiß allerdings, dass der Lehrbursche des Müllers eine Schwäche für das Gör zu haben scheint und sie heute bei ihm war. Schon diese Information sollte doch ein Vermögen wert sein, nicht wahr?“ Bei den letzten Worten leuchten seine Augen auf. Gieriger Wicht, denke ich. Zugegeben, wir sind bei unserer Recherche jetzt ein Stück weiter, auch wenn die Informationen sich noch als falsch herausstellen können.
Ich nicke einem meiner Männer zu und dieser stellt einen Beutel mit Gold vor dem Händler ab. Damit dürfte er mit unserem Geschäft mehr Gewinn gemacht haben als auf den Märkten der letzten drei Monde zusammen. Er wirkt auf alle Fälle fürs Erste zufrieden mit sich, der Bezahlung und seiner gerade erbrachten Leistung. Er erhebt sich federnden Schritts, nickt mir noch einmal zu und verabschiedet sich, ohne ein weiteres Wort. Hoffentlich werden wir ihn nicht wiedersehen, denke ich, bevor ich mich meinen Männern zuwende. „Stoßen wir darauf an, dass wir morgen unser Ziel erreichen und uns auf den Heimweg machen können“, meine weiteren Worte gehen im Zuspruch der anderen unter. Für heute haben wir genügend getan. Zeit für etwas Erholung und ein ordentliches Mahl.
Die Bedienung bringt uns Teller mit dampfendem Braten und üppiger brauner Soße. Dazu gibt es Klöße, die mir nicht bekannt sind und Kartoffeln. Dies ist eine der wenigen Mahlzeiten, die wir in einer Taverne sitzend zu uns nehmen können. Meistens essen wir im Freien unter dem Himmelszelt, inmitten eines provisorischen Lagers am Feuer. Ich träume seit Tagen von einem ausgedehnten Bad und gutem Wein, wie am Hof meines Vaters, aber bald sollte auch das wieder möglich sein. Spätestens, wenn wir zurück sind. Noch während des Essens organisiere ich die Zimmer für die Nacht bei der Bedienung. Das Glück scheint uns hold, denn wir bekommen für jeden von uns ein Bett, wenn auch nicht in separaten Zimmern. Trotzdem war das auf der Reise ein seltener Luxus. Alle freuen sich auf einen trockenen, warmen Schlafplatz ohne Insekten und anderes Getier. Ich lasse die anderen feiern und ziehe mich selbst zurück in eines der beiden Zimmer, um die Pläne für den morgigen Tag und die Rückreise zu überdenken. Als wüsste Sophos, dass ich noch arbeite, gesellt er sich nach einiger Zeit zu mir und beugt seinen Kopf über die Landkarte, die vor mir auf dem kleinen Tisch liegt. Ich habe während unserer Reise alle Wege und Rastplätze, eingezeichnet, die wir nutzten. Auf dem Weg zurück nach Edria können wir einen schnelleren Pfad einschlagen, da wir nicht mehr so oft halten müssen. Wir können einige Ortschaften getrost links liegen lassen, um auf direktem Wege nach Edria zu reisen. Für die Strecke bis Buria haben wir mit allen Zwischenzielen etwas mehr als drei Wochen gebraucht. Für den schnellsten Weg zurück würden wir nach meinen Berechnungen etwa eine Woche brauchen und mit Rast und Nachtlagern wohl etwa zehn Tage. Damit bliebe bis zum Geburtstag des Herrschers und somit der Hochzeit also noch sechs Wochen und vier Tage Zeit. In dieser Zeit konnte sich die Zukünftige von Abbas in Edria eingewöhnen und sich mit ihrem Schicksal abfinden.
„Morgen in aller Frühe brechen wir zum örtlichen Müller und diesem Lehrburschen auf. Geh besser schlafen, Sophos und schick ein Gebet an die Götter, dass unsere Mission morgen ihren Abschluss findet“, rate ich ihm und unterdrücke ein Gähnen. Auch für mich ist es langsam Zeit, ins Bett zu gehen. Es dauert nicht lange, bis ich dürftig gewaschen und entkleidet im Bett liege. Ich lasse mich in den kühlen Leinenstoff sinken und versuche es mir bequem zu machen. Das Bett ist nicht so komfortabel wie meines Zuhause, aber im Vergleich zum Waldboden doch ganz annehmbar. Meine Glieder werden sich morgen für die Matratze bedanken und noch viel mehr meine Kameraden. Für Sophos und mich waren die Strapazen der Reise weitaus erträglicher als für unsere Mitstreiter, da wir bei Weitem die Jüngsten sind. Die anderen Männer zählen allesamt mindestens 10 Sommer mehr. Aber das war nun mal nicht meine Sorge. Wir hatten unseren Auftrag und sie wurden dafür ebenso angemessen entlohnt wie ich. Mit diesen Gedanken lasse ich mein Bewusstsein in die Welt des Schlafs eintauchen.
Als ich mich umsehe, steht hinter mir ein Mädchen. Ich kann ihr Gesicht nicht genau erkennen, aber ihr Haar fällt golden von ihren Schultern bis zu ihren Ellenbogen. Sie trägt ein weißes Leinenkleid, darunter zeichnet sich ihr Körper ab. Ich traue mich nicht, den Blick über sie schweifen zu lassen. Das steht mir nicht zu, denn schließlich soll sie die Königsbraut werden. Trotzdem kann ich meinen Blick nicht von ihrer schönen Gestalt abwenden. Sie entdeckt mich und läuft in die andere Richtung davon. Wie auf dem Marktplatz. Jetzt erst bemerke ich, dass sie barfuß ist. Ich renne ihr hinterher, aber komme mit keinem Schritt näher an sie heran. Ohne stehenzubleiben, läuft sie in den See, der sich vor ihr bis in die Dunkelheit streckt. Ich laufe ebenfalls hinein und verschwende keinen Gedanken an meine guten Schuhe oder meine Ausrüstung. Im Moment ist nichts wichtiger, als das Mädchen lebend zu finden und zu Abbas zu bringen. Just in dem Augenblick, in dem ich an ihn denke, verfärbt sich das Wasser, in dem ich inzwischen knietief stehe, in ein intensives Blutrot. Ich strample, um nicht darin zu versinken, aber etwas zieht mich immer weiter in die Tiefe. Ein letzter Schrei verlässt meine Lippen, dann spüre ich eine Hand an meiner Schulter.
Als ich die Augen öffne, starre ich in Sophos Gesicht. „Atorio, ist alles in Ordnung? Du hast geschrien“, flüstert er mir in der Dunkelheit zu. In dem Moment wird mir bewusst, dass das alles nur ein Traum war und ich zusammen mit Sophos ein Zimmer teile. Ich reibe mir über die Augen und wundere mich über mich selbst. Als Kind hatte ich oft so lebhafte Träume, aber die Zeiten sind schon lange vorbei. Ich seufze und bringe gähnend hervor: „Es ist nichts, es war nur ein Traum, du kannst ruhig wieder schlafen gehen, Sophos, der Tag morgen wird noch lange genug“. „Na, wenn du meinst“, entgegnet er mir unwirsch und wirft mir einen letzten müden Blick zu, ehe er zurück in sein Bett schlurft. Schon als ich ein weiteres Mal zu ihm sehe, ist er wieder eingeschlafen. Ich mache mir noch einige Gedanken um dieses Mädchen und frage mich, ob der Traum eine tiefere Bedeutung hat, bevor ich abermals in den Schlaf sinke, dieses Mal traumlos.
Am Morgen weckt mich ein Hahn, der nicht weit entfernt von der Gaststätte auf einem Misthaufen kräht. Die Sonne macht sich langsam auf und lässt ihre Strahlen über die Wiesen und Felder rings um den Ort gleiten. Nach einer Katzenwäsche und einem kleinen Frühstück mit warmer Milch, Brot, Speck und Eiern ist es an der Zeit, sich zum Müller aufzumachen. Wir bahnen uns einen Weg durch die Gassen der kleinen Stadt, die langsam zum Leben erwacht. Bald wird hier wieder geschäftiges Treiben herrschen, wie gestern.
Die Mühle ist in dem kleinen Ort nicht allzu schwer zu finden, da sie zu den größeren Gebäuden zählt. Das Mühlrad steht still und auch ansonsten sieht sie eher verlassen aus, aber das muss nichts heißen. Vielleicht sind der Müller und seine Gesellen und Lehrlinge noch nicht bei der Arbeit. Als wir näherkommen, können wir allerdings das Schlagen eines Hammers vernehmen – die Mühle scheint also nicht völlig leer zu sein. Das war schon mal gut. Ich lasse meine Männer etwas entfernt mit den Pferden zurück und nur Sophos und ich gehen näher an die Mühle heran. So wirkt unsere Gruppe nicht so bedrohlich und unser Gesprächspartner wird nicht direkt von uns eingeschüchtert.
Ich wende mich der Holztür zu, während Sophos etwas hinter mir zurückbleibt und das Gelände rings um die Mühle auskundschaftet. Nach einem lauten Klopfen meinerseits öffnet sich die Tür und ein junger Mann steht vor mir. Er kann nicht viel älter sein, als ich es bin. Er ist groß gewachsen und wirkt nicht gerade schwächlich auf mich. Vielleicht ist er sogar der Lehrbursche, den wir suchen. „Ich sehe mich nach einem Lehrling des Müllers um. Er soll Informationen über den Verbleib eines blonden Mädchens mit blauen Augen haben. Du kannst mir da nicht zufällig weiterhelfen?“, frage ich betont freundlich, während er mich mit unverhohlenem Misstrauen mustert. „Wer will das wissen? Ich habe dich hier noch nie zuvor gesehen“, murrt er mir zu. Ich entgegne ihm: „Wer ich bin, tut erstmal nichts zur Sache. Ich bin nur hier, weil ein Händler mir erzählt hat, dass du Kontakt zu dem Mädchen pflegst und sie gestern hier war“, seine Augen verengen sich bei den Worten zu Schlitzen. Dachte ich es mir doch, er ist der Lehrling, den wir suchen. Er verschränkt die Arme vor seiner Brust, so dass die Muskeln darauf gut zu sehen sind. Damit hat er bei mir schlechte Karten. Von Sowas lasse ich mich nicht einschüchtern. Immerhin hatte ich mein Leben lang Kampftraining bei Abbas besten Kämpfern, die in jeder Schlacht ungeschlagen waren. Ich lege meine Hand auf den Griff meines Schwertes, um ihm zu zeigen, dass ich einem Kampf nicht ausweichen würde; da fällt mein Blick auf ein Lederband, das er um seinen Hals trägt. Als Anhänger sticht mir direkt ein Bündel hellblonden Haares ins Auge, das kunstvoll zu einem Ring geflochten ist. Er kennt das Mädchen also näher, und das Haar, das er hier so offen zur Schau stellt, zeigt, dass er Ambitionen hat, sie um ihre Hand zu bitten. Das kann ich jedoch nicht zulassen, weiß jetzt aber auch, dass er sich nicht einfach so bezahlen lassen wird, wie der Händler es tat. Er wird sie verteidigen und die Informationen um sie nicht freiwillig preisgeben. Aber für diese Fälle war einer meiner Männer ausgebildet. Er wird die Informationen aus ihm herausbekommen. Früher oder später.
„Sophos, so wie es aussieht, kommen wir hier nicht weiter, geh Veritas holen, er wird das hier regeln“, befehle ich. Vater hat Veritas mit mir gesandt, weil er über spezielle Fähigkeiten verfügt, die dafür sorgen, dass die Menschen ihre Geheimnisse ausplaudern, ohne dass er dafür äußerliche Gewalt anwenden muss. Diese Fähigkeit ist wohl das Ergebnis von einem Zauber Addoloratas, nur die Götter wissen, wie oft dieser wohl schiefgegangen ist. Diese Macht kann er nur wenige Male anwenden, weil sie ihn zum einen sehr erschöpft und zum anderen für größere Gruppen oder auf offenen Plätzen wegen der Aufmerksamkeit ungeeignet ist.
Nach einigen Augenblicken, in denen der Bursche und ich uns schweigend gegenüberstehen, kommen Veritas und Sophos zurück. Der Lehrbursche beäugt uns misstrauisch, als Veritas zu sprechen beginnt und sich eine merkwürdige Atmosphäre breit macht. Fast als würde die Luft träge und wachsartig werden. „Mein junger Freund, wie lautet dein Name und woher kommst du?“, fragt Veritas in diesem einlullenden Tonfall, den er in ähnlichen Situationen auf der Reise schon benutzt hat. Die Lippen des Lehrlings bewegen sich wie von selbst, und er wirkt geradezu schockiert darüber, als er spricht: „Ich heiße Milan und bin er seit etwa 2 Sommern der Lehrjunge des Müllers. Davor lebte ich in einem Waisenhaus außerhalb der Stadt, dass Saran dort führt“. Das ist schon mal ein guter Anfang. Ich gebe Veritas ein Zeichen, dass er nach dem Mädchen fragen soll, dies tut er auch direkt in seinem melodischen Singsang. „Ich werde euch nichts über Arduinna erzählen“, presst der Junge zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor, er scheint offenkundig Schmerzen zu haben. Schon als er die letzten Worte ausspricht, macht sich ein niedergeschlagener Ausdruck in seinem Gesicht breit, denn genau das hat er soeben getan. Wir kennen jetzt ihren Namen, und da sie gestern aus der Stadt flüchtete, zähle ich eins und eins zusammen und komme auf den Schluss, dass sie auch in diesem Waisenhaus leben muss, das Milan gerade erwähnte.
Der Triumph muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn ehe ich mich versehe, landet ohne Vorwarnung seine große Faust in meinem Gesicht. Der Schlag kam so heftig und unvorhergesehen, dass ich nicht reagieren kann und zu Boden gehe. Sofort brüllt Sophos nach den anderen und stürzt sich auf ihn, um mich zu verteidigen, während Veritas geistesabwesend vor sich hinstarrt. Als die anderen drei zur Tür hereinkommen, steht Milan schon an der Wand. Sophos und ich haben ihn zurückgedrängt und so musste er schnell kapitu-lieren. Mit erhobenen Händen und zerknirschter Miene steht er da, aus einer Wunde über der Schläfe tropft das Blut auf seine Brust und sein Hemd. Er fixiert mich mit den Augen, als ich mich aufrichte und den Staub von meinen Kleidern klopfe. „Da das nun geklärt ist, werden wir sie schon finden. Sophos erkundige dich im Ort, wo sich das Waisenhaus befindet. Ihr drei sorgt dafür, dass er uns nicht folgt oder gar vor uns dort ist. Aber haltet ihn nur auf. Tut ihm nichts, wir können keinen Ärger mehr gebrauchen!“, befehle ich meinen Männern, bevor ich mich zum Gehen abwende. „Lasst bloß die Finger von ihr, ihr dreckigen Hunde“, höre ich den Lehrling uns noch hinterher brüllen, bevor die Tür zufällt und er außer Hörweite ist. Vielleicht hat auch einer meiner Männer der plötzlichen Stille nach-geholfen.
Während Sophos davoneilt, gehen Veritas und ich zu den Pferden zurück und binden drei von ihnen los. Wir machen uns auf den Weg zum Tor. Ohne nochmal zur Mühle zurückzublicken, bahnen wir uns den Weg durch die Gassen, in denen inzwischen reges Treiben herrscht. Der Markt hat wohl von Neuem begonnen. Am Tor angekommen, stößt Sophos mit den nötigen Informationen zu uns. „Das Waisenhaus liegt auf einem Gelände außerhalb der Stadt. Eine Vierteltagesreise entfernt, das dürften ca. zweieinhalb Stunden zu Pferd sein“, presst er etwas atemlos hervor. Er muss den ganzen Weg gelaufen sein, wenn er die nötigen Informationen so schnell auftreiben konnte. Ich weise Veritas an, zurück zur Mühle zu gehen, damit er den Männern unseren Standort mitteilen kann. So konnten sie so bald als möglich zu uns stoßen. Bevor er sich auf den Weg machen kann, winke ich ihn nochmal zu mir: „Krümmt dem Lehrling kein Haar, denn das ist wirklich nicht nötig, denn wir haben, was wir wollten“, bläue ich ihm ein, denn bei meinen Männern kann man es gar nicht oft genug sagen. Sophos und ich machen uns zu zweit auf den Weg.
Eine schöne Abwechslung, denn er war mir über all die Jahre ein wahrer Freund. An seiner Loyalität mir gegenüber gab es keinen Zweifel. Bei den anderen bin ich da nicht so sicher. Sie sind mir auf Befehl meines Vaters unterstellt, aber ihre Loyalität gilt vielmehr dem Gold als mir. Ich bin sicher, sie werden jeden Fehltritt meinerseits an Abbas weitergeben, in der Hoffnung darauf, dafür belohnt zu werden. Ich tue also gut daran, mich ihnen gegenüber nicht zu sehr zu öffnen und in meiner Befehlsgewalt klar und deutlich zu sein. Fair, aber nicht zu weich, so wie man es von einem Anführer erwartet.
Die Sonne ist auf dem Weg zum Mittagszenit, als wir dem Waisenhaus immer näherkommen. Es liegt in-mitten von trockenen Wiesen und Feldern. Die Kulisse wirkt trotz der Dürre wahrlich malerisch und ich lasse meine Augen über die Landschaft schweifen, als wir einen kurzen Halt machen. „Atorio, glaubst du, wir haben heute das Glück, unsere Mission zu beenden?“, fragt Sophos, der sein Pferd neben meinem zum Stehen bringt. „Ich kann es dir nicht sagen, mein Freund, aber ich glaube, das Glück ist heute auf unserer Seite, wir sollten es nur nicht zu lange warten lassen“, gebe ich zurück und trete meinem Pferd wieder in die Seiten, um es zu neuem Tempo anzuspornen. Heros gibt daraufhin ein missmutiges Schnauben von sich und ich klopfe ihm beschwichtigend den Hals. Es sind nur noch wenige Gehminuten, bis zu dem geöffneten Tor, weswegen wir absteigen und die Pferde außerhalb des Hofes anbinden. Dort konnten sie in Ruhe grasen. Zu Fuß marschieren wir ins Innere des Hofes, um uns umzusehen, er macht nicht viel her und wirkt schwer in die Jahre gekommen. Ein paar Hühner gackern und ich höre auch mindestens eine Kuh. Ansonsten ist es ruhig. Gar nicht so, wie ich mir ein Waisenhaus immer vorgestellt habe.