Ari und Dante 1: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums - Benjamin Alire Sáenz - E-Book

Ari und Dante 1: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums E-Book

Benjamin Alire Sáenz

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Beschreibung

Vielfach ausgezeichneter Coming-of-Age-Roman über Freundschaft, Familie, Liebe und Coming-out, der gerade in Hollywood verfilmt wird. Ab 14 Jahren. 

Dante kann schwimmen. Ari nicht. Dante kann sich ausdrücken und ist selbstsicher. Ari fallen Worte schwer und er leidet an Selbstzweifeln. Dante geht auf in Poesie und Kunst. Ari verliert sich in Gedanken über seinen älteren Bruder, der im Gefängnis sitzt. Es scheint so, als wäre Dante die letzte Person, der es gelingen könnte, all die Mauern einzureißen, die Ari um sich herum gebaut hat. Aber Ari und Dante werden Freunde. Sie teilen Bücher, Gedanken, Träume und lachen gemeinsam. Sie beginnen die Welt des jeweils anderen neu zu definieren. Und entdecken, dass das Universum ein großer und komplizierter Ort ist. 

Die lang ersehnte Fortsetzung zu Aris und Dantes Geschichte ist endlich da: "Aristoteles und Dante springen in den Strudel des Lebens". 

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Das Buch

Der Autor

© Vantage Point Studios

Benjamin Alire Sáenz schreibt Lyrik und Prosa für Erwachsene und Jugendliche. Er wurde für seine Bücher für Erwachsene mit dem PEN/Faulkner Award und dem American Book Award ausgezeichnet. Auch seine Jugendbücher, darunter »Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums«, erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Er unterrichtet Kreatives Schreiben an der University of Texas in El Paso.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für alle Jungen, die lernen mussten,

nach anderen Regeln zu spielen.

Dank

Ich dachte lange nach, ob ich dieses Buch schreiben soll. Nach dem ersten Kapitel überlegte ich sogar, das Projekt wieder aufzugeben. Aber ich habe das Glück, von engagierten, mutigen, begabten und intelligenten Menschen umgeben zu sein, die mich ermutigten, zu beenden, was ich angefangen hatte. Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden. Hier ist also meine kleine und gewiss unvollständige Liste der Menschen, denen ich danken möchte: Patty Moosebrugger, wunderbare Agentin und Freundin. Daniel und Sasha Chacon für ihre große Zuneigung und ihre Überzeugung, dass ich dieses Buch schreiben muss. Für Hector, Annie, Ginny und Barbara, die immer da waren. Mein Lektor, David Gale, der an das Buch glaubte, und das gesamte Team bei Simon & Schuster, besonders Navah Wolfe. Meine Kollegen im Fachbereich Creative Writing, deren Arbeit und Großzügigkeit mich pausenlos anspornen, ein besserer Autor und ein besserer Mensch zu sein. Und schließlich möchte ich meinen Studenten danken, alten wie neuen, die mich daran erinnern, dass Sprache und Schreiben immer wichtig sind. Mein Dank gilt euch allen.

Warum lächeln wir? Warum lachen wir? Warum fühlen wir uns allein? Warum sind wir traurig und verwirrt? Warum lesen wir Gedichte? Warum weinen wir, wenn wir ein Gemälde sehen? Warum ist unser Herz in Aufruhr, wenn wir lieben? Warum schämen wir uns? Was ist das Ding in unserer Magengrube, das wir Sehnsucht nennen?

Im Sommer gelten andere Regeln

Das Problem mit meinem Leben war, dass ich nicht selbst darüber bestimmte.

Eins

An einem Sommerabend schlief ich ein und wünschte mir, dass die Welt beim Aufwachen eine andere wäre. Als ich am Morgen die Augen aufmachte, war die Welt noch dieselbe. Ich warf die Decke zurück und lag da, während die Hitze durch das offene Fenster strömte.

Ich griff nach dem Drehknopf am Radio. »Alone« lief gerade. Mist! »Alone«, ein Stück von einer Gruppe namens Heart. Nicht gerade mein Lieblingssong. Nicht gerade meine Lieblingsgruppe. Nicht gerade mein Lieblingsthema. »You don’t know how long …«

Ich war fünfzehn.

Ich war gelangweilt.

Ich war unglücklich.

Von mir aus hätte die Sonne auf der Stelle das Blau aus dem Himmel schmelzen können. Dann hätte der Himmel genauso unglücklich sein können wie ich.

Der DJ sagte blöde, banale Sachen wie: »Es ist Sommer! Draußen ist es heiß!« Und dann spielte er die alte Kennmelodie von Lone Ranger, die er gern jeden Morgen spielte, weil er es cool fand, so die Welt zu wecken. »Hi-yo, Silver!« Wer hatte den Typen eingestellt? Er brachte mich um. Ich glaube, wenn wir die Wilhelm-Tell-Ouvertüre hören, sollten wir uns Lone Ranger und Tonto vorstellen, wie sie auf ihren Pferden durch die Wüste reiten. Vielleicht hätte ihm mal jemand sagen sollen, dass wir nicht mehr zehn waren. »Hi-yo, Silver!« Mist.

Die Stimme des DJs war wieder im Äther: »Aufwachen, El Paso! Es ist Montag, fünfzehnter Juni 1987! Ein dickes Happy Birthday geht an Waylon Jennings, der heute fünfzig wird!«

Waylon Jennings? Das war ein Rocksender, verdammt! Aber seine nächste Bemerkung ließ darauf schließen, dass er vielleicht doch ein bisschen Grips hatte. Er erzählte die Geschichte von Waylon Jennings, der 1959 den Flugzeugabsturz überlebt hatte, bei dem Buddy Holly und Ritchie Valens ums Leben kamen. Und dann legte er das Remake von »La Bamba« von Los Lobos auf.

»La Bamba«, damit konnte ich leben.

Ich klopfte mit den bloßen Füßen auf den Holzfußboden, nickte im Rhythmus des Stücks und fragte mich, was Ritchie Valens wohl durch den Kopf gegangen war, bevor das Flugzeug auf die unerbittliche Erde krachte. Hey, Buddy! Die Musik ist vorbei.

Denn die Musik war schon sehr bald vorbei. Die Musik war vorbei, als sie gerade erst angefangen hatte. Das war echt traurig.

Zwei

Ich ging in die Küche. Meine Mutter bereitete gerade Essen für ein Treffen mit ihren Freundinnen vom katholischen Kirchenkreis vor. Ich goss mir Orangensaft ein.

Meine Mutter lächelte mir zu. »Wie wär’s mit Guten Morgen?«

»Ich überleg’s mir noch«, sagte ich.

»Wenigstens hast du es aus dem Bett geschafft.«

»Hab auch lange drüber nachgedacht.«

»Was habt ihr Jungen bloß mit dem Schlafen?«

»Wir können es gut.« Sie musste lachen. »Außerdem hab ich nicht geschlafen, sondern ›La Bamba‹ gehört.«

»Ritchie Valens«, flüsterte sie. »Wie traurig.«

»Genau wie deine Patsy Cline.«

Sie nickte. Manchmal erwischte ich sie dabei, wenn sie das Stück »Crazy« sang. Ich musste dann immer grinsen. Und sie auch. Es war, als teilten wir ein Geheimnis. Meine Mutter hatte eine wirklich schöne Stimme. »Flugzeugabstürze«, flüsterte sie. Ich glaube, sie sagte das mehr zu sich als zu mir.

»Ritchie Valens ist vielleicht jung gestorben – aber er hat was erreicht. Im Ernst, er hat wirklich was erreicht. Und ich? Was hab ich erreicht?«

»Du hast Zeit«, sagte sie. »Jede Menge Zeit.« Die ewige Optimistin.

»Ja, aber dazu muss man erst mal ein Mensch werden«, erwiderte ich.

Sie sah mich komisch an.

»Ich bin fünfzehn.«

»Ich weiß, wie alt du bist.«

»Fünfzehnjährige zählen nicht als Menschen.«

Meine Mutter lachte. Sie war Lehrerin an der Highschool. Ich wusste, dass sie mir halbwegs recht gab.

»Und worum geht es bei dem großen Treffen?«

»Wir organisieren die städtische Tafel neu.«

»Die städtische Tafel?«

»Jeder sollte etwas zu essen haben.«

Meine Mutter hatte ein Herz für die Armen. Sie stammte selbst aus bescheidenen Verhältnissen. Sie wusste Dinge über Hunger, die mir immer fremd sein würden.

»Ja«, sagte ich. »Wahrscheinlich.«

»Vielleicht kannst du uns helfen?«

»Klar«, sagte ich. Ich hasste ehrenamtliche Einsätze. Das Problem mit meinem Leben war, dass ich nicht selbst darüber bestimmte.

»Was hast du heute vor?« Es klang wie eine Herausforderung.

»Ich schließe mich einer Gang an.«

»Das ist nicht lustig.«

»Ich bin Mexikaner. Da gehört sich das so, oder?«

»Nicht lustig.«

»Nicht lustig«, sagte ich. Okay, nicht lustig.

Ich verspürte den Drang, aus dem Haus zu gehen. Nicht dass ich ein Ziel gehabt hätte.

Wenn meine Mutter ihre Freundinnen aus dem katholischen Kirchenkreis zu Besuch hatte, meinte ich immer zu ersticken. Es lag weniger daran, dass alle ihre Freundinnen über fünfzig waren – das war nicht der Grund. Und es lag auch nicht an den ständigen Kommentaren, dass ich vor ihren Augen zu einem Mann wurde. Mit solchen Sprüchen konnte ich umgehen. Außerdem waren es nette, harmlose, gut gemeinte Sprüche. Es war in Ordnung, wenn sie mir über die Schulter strichen und sagten: »Lass dich mal ansehen. Was für ein hübscher Junge! Du siehst deinem Vater wirklich ähnlich.« Nicht dass es da viel zu sehen gab. War ja schließlich nur ich. Und ja, ja, ich sah aus wie mein Vater. Für mich war das keine große Leistung.

Was mich aber wirklich total wurmte, war, dass meine Mutter mehr Freundinnen hatte als ich. Wie traurig ist das denn?

Ich beschloss, im Memorial Park schwimmen zu gehen. Das war keine grandiose Idee. Aber wenigstens kam sie von mir.

Als ich zur Tür hinausging, nahm meine Mutter das alte Handtuch, das ich mir über die Schulter geworfen hatte, und tauschte es gegen ein besseres aus. In der Welt meiner Mutter gab es gewisse Handtuchregeln, die ich einfach nicht kapierte. Allerdings hörten die Regeln nicht bei Handtüchern auf.

Sie begutachtete mein T-Shirt.

Ich hatte ein Gespür für missbilligende Blicke. Bevor sie mich zwang, mich umzuziehen, warf ich ihr einen meiner typischen Blicke zu. »Das ist mein Lieblings-T-Shirt«, sagte ich.

»Hast du das nicht schon gestern angehabt?«

»Ja«, sagte ich. »Aber das ist Carlos Santana.«

»Ich weiß, wer das ist«, sagte sie.

»Dad hat es mir zum Geburtstag geschenkt.«

»Wenn ich mich recht entsinne, warst du nicht sehr begeistert, als du es ausgepackt hast.«

»Ich hatte auf was anderes gehofft.«

»Was anderes?«

»Ich weiß nicht. Irgendwas anderes. Ein T-Shirt zum Geburtstag?« Ich sah sie an. »Wahrscheinlich versteh ich ihn einfach nicht.«

»So kompliziert ist er gar nicht, Ari.«

»Er redet nie.«

»Wenn Leute reden, muss es nicht immer wahr sein.«

»Kann sein«, sagte ich. »Jedenfalls steh ich inzwischen total auf das T-Shirt.«

»Das seh ich.« Sie lächelte.

Ich lächelte ebenfalls. »Dad hat es auf seinem ersten Konzert gekauft.«

»Ich war dabei. Ich erinnere mich. Es ist alt und schäbig.«

»Ich bin sentimental.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Mom, es ist Sommer.«

»Ja«, sagte sie, »es ist Sommer.«

»Andere Regeln«, sagte ich.

»Andere Regeln«, wiederholte sie.

Ich liebte die Regeln, die im Sommer galten. Meine Mutter ertrug sie.

Sie kämmte mir mit den Fingern die Haare. »Versprich, dass du es morgen nicht anziehst.«

»Okay«, sagte ich. »Versprochen. Aber nur, wenn du versprichst, es nicht in den Trockner zu werfen.«

»Vielleicht darfst du es ja selbst waschen.« Sie grinste mich an. »Ertrink nicht.«

Ich grinste zurück. »Und wenn doch, gib meinen Hund nicht weg.«

Das mit dem Hund war ein Scherz. Wir hatten gar keinen.

Meine Mutter hatte denselben Sinn für Humor wie ich. In der Hinsicht verstanden wir uns gut. Auch wenn sie mir sonst manchmal ein Rätsel war. Eines verstand ich allerdings gut – ich verstand, warum mein Vater sich in sie verliebt hatte. Warum sie sich in meinen Vater verliebt hatte, musste ich erst noch herausfinden. Einmal, ich war sechs oder sieben, war ich richtig sauer auf ihn, weil ich mit ihm spielen wollte und er irgendwie so weit weg war. Als ob ich gar nicht da wäre. Damals fragte ich meine Mutter in meiner ganzen kindlichen Wut: »Warum hast du bloß diesen Typ geheiratet?«

Sie lächelte und kämmte mir mit den Fingern die Haare. Das war immer ihr Ding. Sie sah mir direkt in die Augen und sagte ruhig: »Dein Vater war schön.« Ohne zu zögern.

Ich hätte sie gern gefragt, wohin diese Schönheit verschwunden war.

Drei

Als ich in die Hitze des Tages trat, stellte ich fest, dass selbst die Eidechsen so schlau waren und sich verkrochen. Sogar die Vögel blieben in Deckung. Die geteerten Stellen auf der Straße schmolzen. Das Blau des Himmels war fahl, und mir kam der Gedanke, dass vielleicht alle vor der Stadt und ihrer Hitze geflohen waren. Oder dass vielleicht alle gestorben waren wie in einem dieser Science-Fiction-Schinken, und ich der letzte Mensch auf der Erde war. Doch gerade als mir das durch den Kopf ging, kam eine Clique von Jungs aus der Nachbarschaft auf ihren Fahrrädern vorbei, und ich wünschte mir, ich wäre tatsächlich der letzte Mensch auf der Erde. Sie lachten, alberten herum und hatten offenbar einen Höllenspaß. Einer rief mir zu: »Hey, Mendoza! Wieder mit deinen vielen Freunden unterwegs?«

Ich winkte und spielte den guten Kumpel, hahaha. Und dann zeigte ich ihnen den Mittelfinger.

Einer hielt an, drehte um und umkreiste mich mit dem Fahrrad. »Machst du das noch mal?«, sagte er.

Ich zeigte ihm wieder den Mittelfinger.

Er blieb mit dem Fahrrad direkt vor mir stehen und versuchte, mich zum Wegsehen zu zwingen.

Es klappte nicht. Ich kannte ihn. Sein Bruder, Javier, hatte mich mal angemacht. Ich hatte ihm eine gescheuert. Feinde fürs Leben. Es tat mir nicht leid. Ja, klar, ich konnte mich nicht beherrschen. Das gebe ich zu.

Er setzte seine fiese Stimme ein. Als könnte mir das Angst machen. »Leg dich nicht mit mir an, Mendoza.«

Ich zeigte ihm wieder den Mittelfinger, hielt ihn vor seine Nase wie eine Knarre. Er verzog sich schleunigst auf seinem Fahrrad. Ich hatte vor vielem Angst – aber nicht vor Typen wie ihm.

Die meisten Jungs machten mich nicht an. Nicht mal die, die sich nur in Cliquen bewegten. Sie fuhren auf ihren Fahrrädern an mir vorbei und riefen dummes Zeug. Die meisten waren um die dreizehn oder vierzehn, und Jungs wie mich anzumachen, war nur ein Spiel für sie. Sobald ihre Stimmen sich entfernten, verfiel ich wieder in Selbstmitleid.

In Selbstmitleid zu verfallen war eine Kunst. Ich glaube, irgendwie gefiel mir das. Vielleicht hatte es was mit der Stellung in meiner Familie zu tun. Jedenfalls glaube ich, dass es mit daran lag. Ich fand es nicht schön, dass ich mehr oder minder ein Einzelkind war. Denn so sah ich mich. Ich war ein Einzelkind, ohne wirklich eins zu sein. Das war ätzend.

Meine Zwillingsschwestern waren zwölf Jahre älter. Zwölf Jahre ist eine Ewigkeit. Und sie gaben mir immer das Gefühl, ein Baby, ein Spielzeug oder ein Hündchen zu sein. Ich mag Hunde wirklich sehr, aber manchmal kam ich mir wie das Familienmaskottchen vor. Ein Maskottchen. Toll. Ari, das Familienmaskottchen.

Und mein Bruder war elf Jahre älter. Er war für mich noch unerreichbarer als meine Schwestern. Ich durfte noch nicht mal seinen Namen erwähnen. Wer redet schon gern über ältere Brüder, die im Gefängnis sitzen? Nicht meine Eltern, so viel stand fest. Meine Schwestern auch nicht. Vielleicht hat dieses ominöse Schweigen um meinen Bruder etwas mit mir gemacht. Ich glaube schon. Nicht zu reden kann einen ziemlich einsam machen.

Als meine Geschwister geboren wurden, waren meine Eltern jung und strampelten sich ab. »Sich abstrampeln« ist der Lieblingsausdruck meiner Eltern. Irgendwann nach drei Kindern und dem Versuch, das College zu beenden, meldete sich mein Vater bei den Marines. Dann zog er in den Krieg.

Der Krieg hat ihn verändert.

Ich wurde geboren, als er nach Hause kam.

Manchmal glaube ich, dass mein Vater sehr viele Narben hat. An seinem Herz. Im Kopf. Überall. Es ist gar nicht so einfach, der Sohn eines ehemaligen Kriegsteilnehmers zu sein. Als ich acht war, hörte ich meine Mutter am Telefon zu meiner Tante Ophelia sagen: »Ich glaube, für ihn ist der Krieg nie vorbei.« Später fragte ich meine Tante Ophelia, ob das stimmte. »Ja«, meinte sie, »das stimmt.«

»Aber warum lässt der Krieg meinen Vater nicht los?«

»Weil dein Vater ein Gewissen hat«, sagte sie.

»Was ist im Krieg mit ihm passiert?«

»Das weiß niemand.«

»Warum erzählt er es nicht?«

»Weil er nicht kann.«

So war das also. Als ich acht war, wusste ich nichts vom Krieg. Ich wusste noch nicht mal, was ein Gewissen ist. Ich wusste nur, dass mein Vater manchmal traurig war. Ich fand es schrecklich, wenn er traurig war. Ich wurde dann auch immer traurig. Traurig sein gefiel mir nicht.

Ich war also der Sohn von einem Mann, in dem der Vietnamkrieg lebte. Klar, ich hatte alle möglichen tragischen Gründe für mein Selbstmitleid. Dass ich fünfzehn war, half auch nicht gerade. Fünfzehn zu sein, dachte ich manchmal, war die schlimmste Tragödie von allen.

Vier

Im Schwimmbad musste ich als Erstes duschen. Das gehörte zu den Regeln. Jawohl, Regeln. Ich hasste es, mit einem Haufen anderer Jungs zu duschen. Es gefiel mir einfach nicht. Manche Jungs redeten gern viel, als wäre es ganz normal, mit anderen unter der Dusche zu stehen und über verhasste Lehrer herzuziehen oder den letzten Film, den man gesehen hatte, oder über das Mädchen, mit dem man gern was machen würde. Ohne mich, ich hatte nichts zu sagen. Jungs in der Dusche. Nicht mein Ding.

Ich lief zum Becken, setzte mich an die Nichtschwimmerseite und tauchte die Füße ins Wasser.

Was macht man im Schwimmbad, wenn man nicht schwimmen kann? Es lernen. Ich schätze, das ist die Antwort. Immerhin hatte ich mir schon beigebracht, mich über Wasser zu halten. Irgendwie war ich offenbar über ein physikalisches Gesetz gestolpert. Und das Beste daran war, dass ich es ganz allein entdeckt hatte.

Ganz allein. Ich liebte diesen Ausdruck. Ich war nicht gut darin, andere um Hilfe zu bitten, eine schlechte Angewohnheit, die ich von meinem Vater geerbt hatte. Außerdem nervten die Bademeister, die sich selbst Rettungsschwimmer nannten. Sie waren nicht daran interessiert, einem dünnen fünfzehnjährigen Rabauken das Schwimmen beizubringen, sondern eher an Mädchen, denen plötzlich Brüste wuchsen. Sie waren besessen von Brüsten. Ehrlich. Ich bekam mal mit, wie ein Bademeister sich mit einem anderen unterhielt, während er auf eine Gruppe kleiner Kinder aufpassen sollte. »Ein Mädchen ist wie ein Baum mit Blättern. Man möchte einfach hochklettern und jedes einzelne Blatt abreißen.«

Der andere Typ lachte und sagte: »Du bist ein Arschloch.«

»Nein, ich bin ein Dichter«, sagte er. »Ein Dichter des Körpers.«

Und dann lachten sich beide halb schlapp.

Ja, klar, die zwei waren angehende Walt Whitmans. Mit solchen Typen wollte ich wirklich nichts zu tun haben. Im Ernst, mir waren solche Typen nicht ganz geheuer. Ich weiß nicht genau, warum. In ihrer Nähe fühlte ich mich immer fehl am Platz. Ich glaube, es war mir verdammt peinlich, dass ich ein Junge war. Und die vage Aussicht, später auch mal so ein Arschloch zu werden, fand ich echt deprimierend. Ein Mädchen ist wie ein Baum? Klar, und ein Typ ist ungefähr so schlau wie ein totes Stück Holz voller Termiten. Meine Mutter hätte gesagt, sie durchlaufen nur eine Phase. Irgendwann käme ihr Verstand schon wieder zurück. Ich war mir da nicht so sicher.

Vielleicht war das Leben ja wirklich nur eine Abfolge von Phasen – eine Phase nach der anderen. Vielleicht würde ich in ein paar Jahren dieselbe Phase durchlaufen wie die achtzehn Jahre alten Bademeister. Nicht dass ich an die Phasentheorie meiner Mutter glaubte. Für mich war das keine Erklärung, sondern eher eine Entschuldigung. Ich glaube nicht, dass meine Mutter die Sache mit den Jungs ganz durchschaute. Genauso wenig wie ich. Und ich war ein Junge.

Ich hatte das Gefühl, dass irgendwas nicht mit mir stimmte. Wahrscheinlich war ich mir selbst ein Rätsel. Das war ätzend. Ich hatte ernste Probleme.

Eines war sicher: Ich würde keinen dieser Idioten bitten, mir beim Schwimmenlernen zu helfen. Es war besser, allein zu sein und sich elend zu fühlen. Es war besser zu ertrinken.

Ich blieb also für mich und ließ mich ein bisschen auf dem Wasser treiben. Nicht dass mir das Spaß machte.

Und dann hörte ich seine leicht näselnde Stimme. »Ich kann dir beibringen, wie man schwimmt.«

Ich ruderte zur Beckenseite, richtete mich im Wasser auf und blinzelte in die Sonne. Er saß am Beckenrand. Ich beäugte ihn misstrauisch. Wenn einer anbot, mir das Schwimmen beizubringen, hatte er mit Sicherheit kein Leben. Zwei Jungs ohne ein Leben? Wie lustig war das denn?

Ich hatte die Regel, dass es besser war, mich mit mir allein zu langweilen als zusammen mit einem anderen. An diese Regel hielt ich mich weitgehend. Vielleicht hatte ich deswegen keine Freunde.

Er sah mich an. Wartete. Und dann sagte er noch mal: »Wenn du willst, kann ich dir beibringen, wie man schwimmt.«

Irgendwie gefiel mir seine Stimme. Er klang, als hätte er eine Erkältung, als würde ihm gleich die Stimme versagen. »Du klingst komisch«, sagte ich.

»Allergien«, erklärte er.

»Wogegen bist du allergisch?«

»Gegen die Luft.«

Ich musste lachen.

»Ich heiße Dante«, sagte er.

Ich musste noch lauter lachen. »Entschuldige«, sagte ich.

»Schon okay. Alle lachen über meinen Namen.«

»Nein, nein«, beruhigte ich ihn. »Es ist nur, weißt du, ich heiße Aristoteles.«

Seine Augen leuchteten auf. Der Typ war tatsächlich bereit, mir zuzuhören.

»Aristoteles«, wiederholte ich.

Dann drehten wir beide ein bisschen durch. Und lachten.

»Mein Vater ist Englischprofessor«, sagte er.

»Dann hast du wenigstens eine Entschuldigung. Mein Vater ist Postbote. Ich bin nach meinem Großvater benannt.« Und dann sprach ich den Namen meines Großvaters mit diesem korrekten mexikanischen Akzent aus: »Aristotiles. Und mein erster Vorname ist Angel.« Und dann sagte ich ihn auf Spanisch: »Angel.«

»Du heißt Angel Aristoteles?«

»Ja. So heiße ich.«

Wir lachten wieder. Wir konnten nicht aufhören. Worüber lachten wir eigentlich? Nur über unsere Namen? Lachten wir, weil wir erleichtert waren? Waren wir glücklich? Lachen gehörte auch zu den Geheimnissen des Lebens.

»Früher hab ich allen gesagt, ich heiße Dan. Sind ja nur zwei Buchstaben weniger. Aber irgendwann hab ich damit aufgehört. Es war unehrlich. Außerdem kam es immer heraus. Und ich bin mir dann jedes Mal wie ein idiotischer Lügner vorgekommen. Ich fand es beschämend, dass ich mich für mich selbst schämte. Und das war nicht schön.« Er zuckte die Schultern.

»Mich nennen alle Ari«, sagte ich.

»Freut mich, Ari.«

Mir gefiel, wie er das sagte: Freut mich, Ari. Er meinte das ganz ernst.

»Okay, dann bring mir das Schwimmen bei.« Ich sagte das so, als täte ich ihm einen Gefallen. Entweder merkte er es nicht oder es war ihm egal, jedenfalls ging er nicht auf meine Bemerkung ein.

Dante war ein sehr genauer Lehrer. Er war ein guter Schwimmer und wusste alles über Arm- und Beinbewegungen, darüber, wie ein Körper im Wasser funktionierte. Wasser war etwas, das er liebte, das er respektierte. Er wusste um seine Schönheit und seine Gefahren. Er redete über das Schwimmen wie über eine Lebenshaltung. Er war fünfzehn. Wer war dieser Typ? Er wirkte ein bisschen zerbrechlich – aber das täuschte. Er war diszipliniert und zäh und klug; er tat nicht so, als wäre er dumm und gewöhnlich. Er war keines von beiden.

Er war lustig, konzentriert und leidenschaftlich. Er konnte wirklich leidenschaftlich sein. Und er hatte nichts Gemeines an sich. Mir war nicht klar, wie man in einer gemeinen Welt leben kann, ohne dass ein bisschen von dieser Gemeinheit auf einen abfärbt. Wie konnte jemand ohne einen Hauch von Gemeinheit leben?

Dante wurde ein weiteres Geheimnis in einer Welt voller Geheimnisse.

Den ganzen Sommer über schwammen wir und lasen Comics und Bücher, über die wir diskutierten. Dante hatte die alten Superman-Comics seines Vaters. Er liebte sie. Er liebte auch Archie and Veronica. Ich konnte den Scheiß nicht ausstehen.

»Das ist kein Scheiß«, sagte er.

Ich mochte Batman, Spider-Man und den Incredible Hulk.

»Viel zu düster«, meinte Dante.

»Und das sagt jemand, der auf Conrads Herz der Finsternis steht.«

»Das ist was anderes«, sagte er. »Conrad schrieb Literatur.«

Ich vertrat immer den Standpunkt, dass Comics auch Literatur sind. Aber für jemanden wie Dante war Literatur eine ernste Sache. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einen Streit mit ihm gewonnen zu haben. Er war der bessere Debattierer. Er war auch der bessere Leser. Seinetwegen las ich Conrads Herz der Finsternis. Als ich damit fertig war, sagte ich ihm, dass ich es hasse. »Aber«, fügte ich hinzu, »Conrad hat recht. Die Welt ist ein finsterer Ort. Das stimmt.«

»Deine Welt vielleicht, Ari, aber meine nicht.«

»Ja, ja«, sagte ich.

»Ja, ja«, sagte er.

Die Wahrheit ist, ich log ihn an. Ich fand das Buch toll. Ich hielt es für das Schönste, was ich je gelesen hatte. Als mein Vater sah, was ich las, meinte er, es sei eines seiner Lieblingsbücher. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er es vor oder nach Vietnam gelesen hatte. Aber es hatte keinen Sinn, meinem Vater Fragen zu stellen. Er gab nie eine Antwort.

Ich hatte den Eindruck, Dante las, weil er gern las. Ich dagegen las, weil ich nichts anderes zu tun hatte. Er analysierte alles. Ich las nur. Wahrscheinlich musste ich mehr Wörter im Lexikon nachschlagen als er.

Ich war dunkler als er. Und ich rede nicht nur von unserem Teint. Er fand, ich hätte eine tragische Sicht auf das Leben. »Deswegen gefällt dir Spider-Man.«

»Ich bin eben mehr Mexikaner«, sagte ich. »Die Mexikaner sind ein trauriges Volk.«

»Wahrscheinlich«, sagte er.

»Du bist der optimistische Amerikaner.«

»Ist das eine Beleidigung?«

»Könnte sein«, sagte ich.

Wir lachten. Wir lachten immer.

Dante und ich waren unterschiedlich. Aber ein paar Dinge hatten wir auch gemeinsam. Wir durften zum Beispiel beide tagsüber nicht fernsehen. Unseren Eltern gefiel nicht, was das Fernsehen im Kopf eines Jungen anstellte. Wir wuchsen beide mit Predigten auf, die mehr oder minder so klangen: Du bist ein Junge! Geh raus und mach was! Dort draußen wartet eine ganze Welt nur auf dich …

Dante und ich waren die beiden letzten Jungen in Amerika, die ohne Fernsehen aufwuchsen. Eines Tages fragte er mich: »Meinst du, unsere Eltern haben recht – dort draußen wartet eine ganze Welt nur auf uns?«

»Ich bezweifle es«, sagte ich.

Er lachte.

Dann hatte ich eine Idee. »Wir fahren mit dem Bus und sehen nach, was dort draußen ist.«

Dante lächelte. Wir fanden unsere Busfahrten toll. Manchmal fuhren wir den ganzen Nachmittag durch die Gegend. Ich sagte zu Dante: »Reiche Leute fahren nicht mit dem Bus.«

»Genau darum gefällt es uns.«

»Vielleicht«, entgegnete ich. »Sind wir arm?«

»Nein. Wenn wir von zu Hause ausreißen würden, wären wir arm.«

Ich fand das eine ziemlich interessante Bemerkung.

»Würdest du das gerne?«, fragte ich. »Ausreißen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«

»Klar.«

»Ich bin begeistert von meinen Eltern.«

Darüber musste ich nun wirklich grinsen. Ich hörte das zum ersten Mal. Im Ernst, wer ist schon begeistert von seinen Eltern? Außer Dante.

Und dann flüsterte er mir ins Ohr: »Die Frau zwei Sitze vor uns. Ich glaube, sie hat eine Affäre.«

»Woher weißt du das?«, flüsterte ich.

»Sie hat ihren Ehering abgezogen, als sie in den Bus gestiegen ist.«

Ich nickte und lächelte.

Wir dachten uns Geschichten über die anderen Leute im Bus aus.

Denn sie schrieben bestimmt Geschichten über uns.

Ich stand anderen Leuten nie sehr nah. Ich war ein absoluter Einzelgänger. Ich hatte Basketball und Baseball gespielt, war bei den Wölflingen gewesen und hatte es dann bei den Pfadfindern versucht –, aber ich blieb immer auf Abstand zu den anderen Jungs. Ich empfand mich nie als einen Teil ihrer Welt.

Jungs. Ich beobachtete sie. Studierte sie.

Letztendlich fand ich die meisten Typen in meiner Umgebung nicht sehr interessant. Genau genommen war ich sogar ziemlich angewidert.

Vielleicht war ich ein bisschen hochnäsig. Aber eigentlich glaube ich das nicht. Ich wusste bloß nicht, wie ich mit ihnen reden sollte, wie ich mich in ihrer Nähe geben sollte. Wenn ich mit anderen Jungs zusammen war, kam ich mir nicht klüger vor, sondern dumm und unzulänglich. Es war, als gehörten sie alle zum Club und ich war kein Mitglied.

Als ich im Alter für die Pfadfinder war, erklärte ich meinem Vater, dass ich keine Lust hatte. Ich hielt es nicht mehr aus.

»Probier es ein Jahr«, sagte er. Mein Vater wusste, dass ich mich manchmal gern mit anderen anlegte. Er hielt mir ständig Vorträge über körperliche Gewalt. Er wollte mich von den Gangs an meiner Schule fernhalten, wollte mich davor bewahren, wie mein Bruder zu werden, der im Gefängnis saß. Wegen meines Bruders, dessen Existenz bei uns zu Hause verschwiegen wurde, sollte ich also ein guter Pfadfinder sein. Das war ätzend. Warum sollte ich ein guter Pfadfinder sein, nur weil ich einen bösen Bruder hatte? Ich fand die Familienpolitik meiner Eltern bescheuert.

Ich tat meinem Vater den Gefallen und probierte es ein Jahr lang. Es war schrecklich – nur dass ich lernte, wie man Erste Hilfe leistet, fand ich gut. Dass man zu diesem Zweck einem Fremden in den Mund atmen musste, gefiel mir natürlich nicht. Solche Sachen machten mich nervös. Aber es faszinierte mich, dass man ein Herz wieder zum Schlagen bringen konnte. Was da medizinisch ablief, war mir nicht ganz klar. Aber als ich das Abzeichen dafür bekam, hörte ich auf. Ich kam nach Hause und gab meinem Vater das Abzeichen.

»Ich glaube, du machst einen Fehler.« Mehr sagte er nicht.

Ich lande schon nicht im Knast. Genau das hätte ich am liebsten gesagt. Stattdessen stänkerte ich. »Wenn du mich zwingst weiterzumachen, fang ich an zu kiffen.«

Mein Vater sah mich seltsam an. »Es ist dein Leben«, meinte er. Als ob das stimmte. Und noch etwas über meinen Vater: Er hielt keine Strafpredigten. Keine richtigen. Was mich ziemlich ankotzte. Er war nicht fies. Er hatte nie schlechte Laune. Er redete in kurzen Sätzen: »Es ist dein Leben.« »Probier es einfach.« »Bist du sicher, dass du das willst?« Warum konnte er nicht einfach reden? Wie sollte ich ihn verstehen, wenn er es nicht zuließ? Ich fand das blöd.

Ich kam gut zurecht. Ich hatte Schulfreunde. Irgendwie. Ich war nicht irrsinnig beliebt. Wie auch? Um irrsinnig beliebt zu sein, muss man andere davon überzeugen, dass man lustig und interessant ist. Und ich war kein guter Überzeugungskünstler.

Eine Zeit lang hing ich mit ein paar Jungs herum, den Gomez-Brüdern. Aber sie zogen weg. Und es gab ein paar Mädchen, Gina Navarro und Susie Byrd, die mir zum Spaß gern auf die Nerven gingen. Mädchen. Auch ein Geheimnis. Für mich war vieles ein Geheimnis.

Wahrscheinlich hatte ich es ganz gut. Vielleicht liebten mich nicht alle, aber ich gehörte auch nicht zu denen, die von allen gehasst wurden.

Ich konnte mich gut verteidigen, deshalb ließ man mich in Ruhe.

Die meiste Zeit war ich unsichtbar. Ich glaube, mir gefiel das so.

Und dann kam Dante.

Fünf

Nach meiner vierten Schwimmstunde lud mich Dante zu sich nach Hause ein. Er wohnte nicht mal eine Straße vom Schwimmbad entfernt in einem großen alten Haus gegenüber vom Park.

Er stellte mich seinem Vater vor, dem Englischprofessor. Ich hatte noch nie einen Mann mit mexikanischamerikanischen Wurzeln getroffen, der Englischprofessor war. Ich wusste gar nicht, dass es das gab. Und er sah auch nicht wie ein Professor aus. Er war jung, gut aussehend und locker, und wirkte irgendwie noch sehr jungenhaft. Er kam mir vor wie jemand, der gern lebte. Ganz anders als mein Vater, der die Welt immer auf Abstand hielt. Mein Vater hatte etwas Dunkles, das ich nicht durchschaute. Dantes Vater hatte gar nichts Dunkles. Selbst aus seinen schwarzen Augen strahlte Licht.

An dem Nachmittag, als ich Dantes Vater kennenlernte, trug er Jeans und T-Shirt, saß in seinem Büro in einem Ledersessel und las ein Buch. Ich war noch nie jemandem begegnet, der zu Hause ein Büro hatte.

Dante ging zu seinem Vater und küsste ihn auf die Wange. Ich hätte das nie getan. Nie und nimmer.

»Du hast dich heute nicht rasiert, Dad.«

»Es ist Sommer«, sagte sein Vater.

»Das heißt, du musst nicht arbeiten.«

»Das heißt, ich muss mein Buch fertig schreiben.«

»Ein Buch schreiben ist keine Arbeit.«

Dantes Vater lachte herzhaft über die Bemerkung seines Sohnes. »Du musst noch viel über Arbeit lernen.«

»Es ist Sommer, Dad. Da will ich nichts von Arbeit hören.«

»Du willst nie was von Arbeit hören.«

Dante gefiel die Richtung nicht, die das Gespräch nahm, und er versuchte deshalb, das Thema zu wechseln. »Lässt du dir einen Bart wachsen?«

»Nein.« Er lachte. »Viel zu heiß. Außerdem küsst mich deine Mutter nicht, wenn ich mich länger als einen Tag nicht rasiere.«

»Mann, sie ist streng.«

»Oh ja.«

»Und was würdest du ohne ihre Küsse tun?«

Er grinste und sah dann zu mir hoch. »Wie hältst du es mit diesem Typen aus? Du musst Ari sein.«

»Ja, Sir.« Ich war nervös. Ich war es nicht gewohnt, andere Eltern zu treffen. Die meisten Eltern, die ich bisher kennengelernt hatte, waren nicht allzu scharf auf eine Unterhaltung mit mir.

Er stand auf, legte sein Buch hin, kam zu mir und schüttelte mir die Hand. »Ich bin Sam«, sagte er. »Sam Quintana.«

»Freut mich, Mr Quintana.«

Ich hatte die Floskel »Freut mich« schon tausendmal gehört. Als Dante es zu mir gesagt hatte, hatte es sich aufrichtig angehört. Aber als ich es sagte, kam es mir blöd und unoriginell vor. Ich wollte mich nur noch irgendwo verstecken.

»Sag einfach Sam zu mir«, meinte er.

»Das kann ich nicht«, erwiderte ich. Gott, und wie ich mich verstecken wollte.

Er nickte. »Das ist süß«, sagte er. »Und respektvoll.«

Das Wort »süß« war meinem Vater noch nie über die Lippen gekommen.

Er warf Dante einen Blick zu. »Der junge Mann hat Respekt. Vielleicht kannst du was von ihm lernen, Dante.«

»Du willst also, dass ich Mr Quintana zu dir sage?«

Sie mussten sich beide das Lachen verkneifen. Er wandte sich wieder zu mir. »Was macht das Schwimmen?«

»Dante ist ein guter Lehrer«, sagte ich.

»Dante ist in vielem gut. Nur nicht im Zimmer aufräumen. Zimmer aufräumen ist zu nah am Wort Arbeit.«

Dante warf ihm einen giftigen Blick zu. »Ist das eine Anspielung?«

»Du hast eine schnelle Auffassungsgabe, Dante. Kommt wahrscheinlich von deiner Mutter.«

»Sei kein Klugscheißer, Dad.«

»Was hast du eben gesagt?«

»Hab ich dich beleidigt?«

»Es liegt nicht am Wort, sondern eher an der Haltung.«

Dante verdrehte die Augen und setzte sich auf den Sessel seines Vaters. Er zog sich die Turnschuhe aus.

»Mach’s dir nicht zu gemütlich.« Er zeigte nach oben. »Da oben ist ein Schweinestall, auf dem dein Name steht.«

Ich musste unwillkürlich lächeln über die Art, wie sie sich verstanden, die unbeschwerte Art, mit der sie sich unterhielten, als wäre die Liebe zwischen einem Vater und einem Sohn einfach und unkompliziert. Zwischen meiner Mutter und mir lief es auch manchmal so unbeschwert und unkompliziert. Manchmal. Aber mit meinem Vater ging das nicht. Ich überlegte, wie es wohl wäre, wenn ich ins Zimmer käme und meinen Vater küssen würde.

Wir gingen nach oben. Dante zeigte mir sein Zimmer. Es war groß, hatte eine hohe Decke, einen Holzfußboden und jede Menge alter Fenster, die es hell machten. Überall lagen Sachen herum. Auf dem Boden lagen Kleider, ein Stapel alter Platten, vereinzelte Bücher, Kladden mit Notizen, Polaroids, ein paar Kameras, eine Gitarre ohne Saiten, Platten, Notenblätter und eine Pinnwand mit Notizen und Bildern.

Er wählte Musik aus. Er hatte einen Plattenspieler. Einen echten Plattenspieler aus den Sixties. »Der gehörte meiner Mutter«, sagte er. »Sie wollte ihn wegwerfen. Kannst du dir das vorstellen?« Er legte Abbey Road auf, sein Lieblingsalbum. »Vinyl«, sagte er. »Echtes Vinyl. Nicht dieser Kassettenscheiß.«

»Was hast du gegen Kassetten?«

»Ich trau ihnen nicht.«

Eine ziemlich abgedrehte Bemerkung. Komisch und abgedreht. »Platten verkratzen leicht.«

»Nicht, wenn du aufpasst.«

Ich schaute mich in seinem chaotischen Zimmer um. »Man sieht, dass dir deine Sachen sehr wichtig sind.«

Er wurde nicht sauer, sondern lachte.

Er zeigte mir ein Buch. »Hier«, sagte er. »Das kannst du lesen, während ich mein Zimmer aufräume.«

»Vielleicht sollte ich dich, na ja, einfach allein –« Ich verstummte. Meine Augen schweiften durchs Zimmer. »Es ist ein bisschen unheimlich hier drin.«

Er lächelte. »Nein«, sagte er. »Geh nicht. Ich hasse es, mein Zimmer aufzuräumen.«

»Vielleicht wäre es einfacher, wenn du nicht so viele Sachen hättest.«

»Alles nur Krempel«, sagte er.

Ich schwieg. Ich hatte keinen Krempel.

»Wenn du bleibst, ist es nicht so schlimm.«

Irgendwie kam ich mir fehl am Platz vor, aber – ich überlegte kurz – »Okay«, meinte ich dann. »Soll ich helfen?«

»Nein. Das ist meine Aufgabe.« Er klang irgendwie resigniert. »Wie meine Mutter gern sagt: ›Das liegt in deiner Verantwortung, Dante.‹ Verantwortung ist das Lieblingswort meiner Mutter. Sie findet, mein Vater treibt mich nicht genug an. Was natürlich stimmt. Aber was erwartet sie denn? Mein Vater ist kein Antreiber. Sie hat ihn schließlich geheiratet. Eigentlich müsste sie wissen, wie er ist.«

»Analysierst du deine Eltern immer?«

»Sie analysieren uns doch auch.«

»Das ist ihre Aufgabe, Dante.«

»Erzähl mir nicht, dass du deine Eltern nicht analysierst.«

»Doch, schon. Aber es nützt nichts. Ich versteh sie trotzdem nicht.«

»Also, ich versteh meinen Vater – meine Mutter nicht. Meine Mutter ist mir ein einziges Rätsel. Das heißt, wenn es um Erziehung geht, ist sie durchschaubar. Aber sonst ist sie unergründlich.«

»Unergründlich.« Wenn ich nach Hause ging, würde ich das Wort nachschlagen müssen.

Dante sah mich an, als wäre ich jetzt mit einer Bemerkung dran.

»Meine Mutter verstehe ich meistens«, sagte ich. »Aber mein Vater, der ist auch unergründlich.« Ich kam mir wie ein Schwindler vor, als ich das Wort benutzte. Ich war kein richtiger Junge. Ich war ein Schwindler.

Er reichte mir einen Gedichtband. »Lies das«, sagte er. Ich hatte noch nie einen ganzen Gedichtband gelesen und war mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt wusste, wie man einen liest. Ich sah ihn verständnislos an.

»Dichtung«, sagte er. »Das bringt dich nicht um.«

»Und wenn doch? Junge stirbt beim Lesen von Gedichten an Langeweile?«

Er wollte nicht lachen, aber es fiel ihm schwer, das viele Lachen in ihm zu kontrollieren. Er schüttelte den Kopf und fing an, seine Kleider vom Boden aufzusammeln.

Er zeigte auf seinen Stuhl. »Schmeiß das Zeug auf den Boden und setz dich.«

Ich legte einen Stapel Kunstbücher und einen Skizzenblock auf den Boden. »Was ist das?«

»Ein Skizzenblock.«

»Darf ich mal sehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich zeig das nicht gern anderen.«

Das war interessant – er hatte also doch Geheimnisse.

Er zeigte auf den Gedichtband. »Ehrlich, das bringt dich nicht um.«

Dante räumte den ganzen Nachmittag auf. Und ich las in dem Gedichtband von einem Autor namens William Carlos Williams. Ich hatte noch nie von ihm gehört, aber von wem hatte ich auch schon gehört? Und einige verstand ich sogar. Nicht alle – aber einige. Und ich fand sie nicht schrecklich. Das überraschte mich. Sie waren interessant, nicht bescheuert oder doof oder kitschig oder übermäßig intellektuell – nichts von allem, was Dichtung bisher für mich war. Ein paar Gedichte fand ich einfacher als andere. Ein paar fand ich unergründlich. Vielleicht verstand ich das Wort ja doch.

Mir kam der Gedanke, dass Gedichte wie Menschen waren. Manche durchschaute man sofort. Zu anderen fand man einfach keinen Zugang – und würde es auch nie.

Ich war beeindruckt, wie systematisch Dante sein Zimmer in Ordnung brachte. Am Anfang hatte das totale Chaos geherrscht. Als er fertig war, lag alles an seinem Platz.

In Dantes Welt herrschte Ordnung.

Er hatte sämtliche Bücher in ein Regal eingeräumt oder auf den Schreibtisch gelegt. »Die Bücher, die ich als Nächstes lesen will, packe ich auf den Schreibtisch«, sagte er. Ein Schreibtisch. Ein richtiger Schreibtisch. Wenn ich etwas schreiben musste, setzte ich mich an den Küchentisch.

Er nahm mir den Gedichtband aus der Hand und suchte ein bestimmtes Gedicht. Es hieß »Tod«. Er passte perfekt in sein frisch aufgeräumtes Zimmer, in das die Sonne schien, sein Gesicht im Licht und das Buch in der Hand, als gehörte es dorthin, in seine Hände, und nur in seine Hände. Mir gefiel die Stimme, mit der er das Gedicht vorlas, als hätte er es selbst geschrieben:

Er ist tot

der Hund muss nicht mehr

auf den Kartoffeln schlafen

um zu verhindern

dass sie erfrieren

Er ist tot

der alte Mistkerl-

Als Dante das Wort »Mistkerl« las, lächelte er. Ihm gefiel das Wort, weil er es nicht benutzen durfte, weil es tabu war. Aber hier in seinem Zimmer durfte er es aussprechen und sich zu eigen machen.

Den ganzen Nachmittag saß ich auf diesem großen bequemen Stuhl in Dantes Zimmer, und er lag auf seinem frisch gemachten Bett. Und las Gedichte.

Es war mir nicht wichtig, ob ich sie verstand. Es war mir egal, was sie bedeuteten. Was zählte, war Dantes lebendige Stimme. Und dass ich mich lebendig fühlte. Vor Dante war das Zusammensein mit anderen Menschen eines der schwersten Dinge für mich. Doch bei Dante hatte ich den Eindruck, dass reden, leben und fühlen absolut natürlich waren. In meiner Welt war es das nicht.

Zu Hause schlug ich das Wort »unergründlich« nach. Es bedeutete etwas, das sich nicht ohne Weiteres erschloss. Ich schrieb alle Synonyme in mein Tagebuch. »Dunkel.« »Abgründig.« »Rätselhaft.« »Geheimnisvoll.«

An jenem Nachmittag lernte ich zwei neue Wörter. »Unergründlich«. Und »Freund«.

Worte sind anders, wenn man sie verinnerlicht.