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Was wäre, wenn du von einer Welt träumst, die dir fremd ist – und doch vertraut? Wenn du die Erinnerungen eines anderen Menschen spürst … und plötzlich das Gefühl hast, sie könnten deine eigenen sein? Dean Cornwall ist fünfzehn Jahre alt und lebt bei seinen Pflegeeltern in einer Welt voller Schwerter, Königreiche und Magie. Doch in seinen Träumen sieht er Maschinen, leere Städte und fremde Menschen – Erinnerungen, die nicht zu seinem Leben passen und doch etwas in ihm berühren. Als seine Kindheitsfreundin Anna spurlos verschwindet, begibt Dean sich gemeinsam mit seinem besten Freund Paul auf die gefährlichste Reise ihres Lebens. Sie folgen den Hinweisen bis an die Grenzen der bekannten Welt – und an die Grenzen seiner eigenen Identität. Denn tief unter der Oberfläche erwacht etwas Dunkles: Fünf Dämonengeneräle. Eine uralte Macht, die versucht, mithilfe der Fragmente den Dämonenkönig zu erwecken. Dean muss entscheiden, wem er vertrauen kann – und was Wahrheit ist: Seine Erinnerungen? Seine Träume? Oder seine Angst, dass alles miteinander verbunden ist? Aristea Fragments – Band I: Der Beginn eines gewaltigen Fantasy-Epos voller Geheimnisse, Abenteuer, düsterer Legenden und einer Wahrheit, die größer ist als zwei Welten.
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Seitenzahl: 637
Veröffentlichungsjahr: 2025
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ARISTEA FRAGMENTS A
ARISTEA FRAGMENTS A
Band I Teil I
RxJR Aristea
Impressum – ARISTEA FRAGMENTS A – Band I Teil I
© 2025 RxJR AristeaVerlag: Agner Verlagc/o Renato MühlbauerPenzendorfer Str. 60b91126 SchwabachDeutschlandKontakt: [email protected]: RxJR Aristea / KI-gestützt entworfenSatz & Lektorat: RxJR Aristea / KI-gestützte sprachliche Überarbeitung
Hinweis zur KI-Unterstützung: Dieses Werk wurde unter Einsatz moderner digitaler Werkzeuge ausschließlich sprachlich und technisch verfeinert(Grammatik, Satzbau, Lesefluss, Kapitelaufteilung, typografische Anpassungen, Layoutempfehlungen). Alle kreativen Inhalte – Handlung, Figuren, Dialoge, Emotionen, Welt, Logik und dramaturgische Entscheidungen –stammen vollständig vom Autor.
Copyright & KI-Schutz: Copyright © 2025 RxJR Aristea – Agner Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder des Verlags reproduziert, verteilt, gespeichert oder in irgendeiner Form verarbeitet werden.
Verbot der KI-Nutzung: Dieses Werk, einschließlich aller Texte, Dialoge, Illustrationen und Coverdesigns, darf weder vollständig noch auszugsweise zur Entwicklung, Schulung, Anpassung oder Optimierung von KI-, Machine-Learning- oder Text-/Bild Generierungssystemen verwendet werden. Jegliche automatisierte Analyse oder datenbasierte Verarbeitung zu Trainingszwecken ist ausdrücklich untersagt. Zuwiderhandlungen werden straf- und zivilrechtlich verfolgt.
Vertrieb: epubli / Tolino Media
Fiktionserklärung: Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Orten oder Ereignissen sind zufällig.
Für meine Familie.Und für die, die zwischen den Welten lesen.
Vorwort
An die Leserinnen und Leser,
dies ist kein gewöhnlicher Roman. Die Aristea Fragments-Reihe ist dialoglastig, voller Gedanken, Gespräche und Stimmen. Nicht, weil es leichter zu lesen wäre – sondern weil es so geschrieben sein musste. Die Figuren reden, zweifeln, streiten und lachen, und in diesen Dialogen tragen sie die Geschichte weiter. Wer eher kurze Beschreibungen und schnelles Tempo erwartet, wird hier vielleicht stolpern.
Aber wer bleibt, wer neugierig ist auf eine Erzählung, die ihre eigenen Wege geht, der findet hier etwas anderes. Etwas Neues. Unerwartetes. Eine Geschichte, die nicht geradeaus läuft, sondern Umwege nimmt, Spiegelungen zeigt, und dabei Welten öffnet, die man nicht an jeder Ecke findet.
Wenn Sie nach etwas suchen, das überrascht – willkommen. Diese Reihe ist für Sie geschrieben.
KAPITEL 1
Der Duft von Heu und Holz
»Ein wahrer Held erkennt man nicht an seiner Stärke, sondern an dem, was er im Verborgenen tut.« — Baldouar, Tagebuchaufzeichnung aus Aristea.
Es war ein milder Frühlingsabend. Die Sonne verschwand langsam hinter dem Horizont und tauchte den Himmel in ein sanftes Orange und zartes Rosa. Ein letzter kühler Winterhauch lag noch in der Luft – diese Art von Restkälte, die daran erinnerte, dass der Winter erst vor Kurzem gewichen war. Der Boden war längst schneefrei, nur noch von feuchter Erde und den ersten grünen Spitzen durchzogen. Zwischen den ersten zarten Blättern des Eldalor – eine Art Kräuter, die nach dem Winter im Garten vor dem Gasthaus Schleckermaul sprossen – summten die ersten Frühlingsinsekten, winzige Flügler, die das Erwachen des neuen Jahres feierten. Doch es war das letzte Summen, das bald im aufziehenden Dunkel verstummte. Kinderlachen hallte aus der Ferne herüber, und irgendwo klapperte noch ein Fensterladen im Wind.
Im Innenhof schwang ein schwarzhaariger Junge sein Holzschwert, konzentriert, in gleichmäßigem Rhythmus. Jeder Hieb war wie ein stilles Gespräch – zwischen ihm und dem hölzernen Gewicht in seiner Hand. Das Schwert war nicht irgendein Übungsschwert: Es stammte aus der Werkstatt von Lehnsherr Benedikt Baldouar höchstpersönlich. Er bewahrte es wie einen Schatz auf – es war das Erste, das er je erhalten hatte, und das Einzige, das ihm zeigte: Jemand glaubte an ihn. Dessen Griff war mit weichem Leder umwickelt, das schon vom Schweiß seiner Hände dunkel gefärbt war. Der Dämonenwald, aus dem das robuste Holz stammte, lag hinter der Stadtmauer im Norden – doch für den Jungen war er in diesem Moment ganz nah. Seine Kleidung klebte an ihm, durchtränkt vom Training. Sein Atem ging gleichmäßig, verschmolz mit dem leisen Zischen des Schwertes durch die Luft. In seinem Innersten verspürte er Ruhe – eine Art des stillen Gleichgewichts, als würde jeder Hieb eine Kette sprengen, die sich um sein Herz gelegt hatte. Doch diese Ruhe war fragil, kaum mehr als ein dünnes Glas, das jederzeit zerspringen konnte.
Eine ihm allzu vertraute Stimme durchbrach den stillen Dialog zwischen ihm und seinem Training.
»Dean, kommst du bitte rein? Es ist schon dunkel geworden, und in dieser Jahreszeit kannst du dich leicht erkälten.«
Sie klang besorgt, fast so, als würde sie ihn schon im Fieberbett sehen. Dean hielt inne, drehte sein Gesicht in die Richtung, aus der die Stimme kam. Im Türrahmen stand eine stämmig gebaute Frau mit sanften Gesichtszügen und einem mütterlichen Blick, der gleichzeitig nachsichtig und streng wirkte. Sie war vermutlich in ihren frühen Dreißigern – zumindest schätzte Dean das so. Ob es wirklich stimmte, wusste er nicht. Sie hatte nie über ihr wahres Alter gesprochen, und der Letzte, der sie direkt danach gefragt hatte, hatte eine Bratpfanne ins Gesicht bekommen. »Eine Frau fragt man nicht nach ihrem Alter«, hieß es nur.
»Dean?«, fragte sie erneut, ihre Augen schmalten sich etwas zusammen, als wüsste sie ganz genau, dass er sich ein paar Minuten mehr Zeit erschleichen wollte.
Er nickte wortlos. Sie erwiderte die Geste knapp, verschwand wieder im Inneren des Hauses.
Noch ein paar Schläge. Nur noch ein paar. Er wollte den Gedanken nicht loslassen, wollte dieses Gefühl des Fließens, der Kontrolle, noch ein wenig behalten. Doch irgendwann senkte er das Holzschwert, das sich inzwischen schwer in seiner Hand anfühlte, und wischte sich mit einem kleinen Tuch den Schweiß von der Stirn. Das Tuch war bereits durchnässt – es verschmierte den Schweiß nur noch. Mit einem leisen Seufzen griff er nach einem der frischen Tücher, die draußen zum Trocknen hingen, und tupfte sich ab. Als er zum Gasthaus zurückging, spürte er, wie sein Körper nach Ruhe verlangte – und sein Magen nach Essen. Beim Öffnen der Tür schlug ihm die Wärme des Speisesaals entgegen wie eine sanfte Welle. Kerzenlicht flackerte, Lampen glühten, und für einen Moment fühlte sich alles richtig an. Die Hitze aus dem Apfelholzofen legte sich wie eine Decke um ihn. Der Duft von gegrilltem Fleisch, Kräutergemüse, Eintopf und würzigem Braten ließ sein Magenknurren lauter werden. Stimmen, Lachen, das Klirren von Besteck und das rhythmische Knacken des Kaminholzes verschmolzen zu einem vertrauten Lied.
Dean wollte niemanden sprechen. Nicht heute. Vielleicht morgen. Er schlich leise zur Küche, schnappte sich den nächstbesten Teller mit Eintopf. Es fühlte sich beinahe wie ein Verbrechen an. Aber nur beinahe. Mit kleinen, konzentrierten Schritten schlich er zur Treppe. Fast geschafft. Noch ein paar Schritte – doch zu spät. Die Frau von vorhin stand schon dort, die Arme verschränkt, als hätte sie genau gewusst, dass er versuchen würde, sich davonzustehlen.
»Komm schon, Dean«, sagte sie mit einem Hauch von Enttäuschung. »Du kannst dich nicht ewig davonstehlen.«
»Amelia, ich schleiche mich nicht davon. Ich will nur keine Zeit verschwenden«, behauptete Dean, ohne sie anzusehen.
Er wollte einfach hoch. Ruhe. Eine Wand zwischen sich und dem Gasthausleben. Sie sagte nichts, musterte ihn nur.
»Ach komm schon, Dean. Glaubst du, ich merke das nicht?« Sie runzelte die Stirn. »Wer lügt, den holen die Dämonen aus dem Wald.« Dean schwieg. Schaute an ihr vorbei, Richtung Treppengeländer. »Na gut«, seufzte sie. »Aber morgen früh hilfst du mir beim Einkaufen auf dem Marktplatz. Und keine Widerrede.«
Er nickte widerwillig.
»Gut. Ich weck dich. Und wehe, du schläfst weiter«, sagte sie und trat zur Seite.
Bevor Dean an ihr vorbeiging, legte sie den Kopf schräg und funkelte ihn an.
»Und wenn du wieder so tust, als würdest du mich nicht hören – dann gibt's diesmal wirklich eins mit der Bratpfanne.« Sie grinste dabei – dieses Grinsen, das nie ganz wusste, ob es scherzte oder nicht.
Dean murmelte ein leises »Danke«, als er an ihr vorbeiging.
Es dauerte nicht lange, bis Dean sein Zimmer erreichte. Er betrat es leise, beinahe ehrfürchtig – als wäre es ein Schutzraum, den man nicht stören durfte. Sein Zimmer war nichts Besonderes, und doch hatte es etwas Beruhigendes an sich – wie ein Ort, der still von vergangenen Tagen erzählte. Es war wie jedes andere im Gasthaus, schlicht und zweckmäßig, aber mit einem warmen, rustikalen Charme. Die Wände bestanden aus grob behauenem Holz, in dessen Fugen das Abendlicht schmale Schatten warf. Der Duft von getrocknetem Lavendel hing in der Luft, vermischt mit einem Hauch von Heu und dem erdigen Aroma des Holzes. In der Mitte des Raumes lag ein runder, weicher roter Teppich, der den kalten Holzboden wärmte. An der linken Wand stand ein einfacher. Holztisch mit einem Stuhl – sein Platz zum Schreiben, Denken oder Essen, je nach Stimmung des Tages. Der alte Kleiderschrank aus dunklem Holz stand links neben dem Holztisch und bewahrte seine wenigen Kleidungsstücke auf – sorgsam gefaltet, als wollte er wenigstens in diesem kleinen Raum Ordnung bewahren. In der rechten Ecke befand sich ein gemütliches Bett, bedeckt mit einer dicken Decke, deren Stoff schon etwas abgenutzt war. Daneben stand ein kleiner Nachttisch, auf dem ein gerahmtes Bild stand. Eine Öllampe auf dem Nachttisch, die er vor dem Training vergessen hatte auszumachen, warf flackerndes Licht gegen das Bild, das darauf stand, und ließ es an der Wand tanzen. Das Fenster neben seinem Bett ließ das silbrige Licht der bereits aufgegangenen Monde herein, das als zweite Lichtquelle sanft durch den Raum glitt und zarte Schatten über den Holzboden legte. Der Holzboden knarzte leise, als Dean den Raum betrat und die schwere Holztür hinter sich zuzog. Der Riegel glitt sanft in die Fassung, und die vertraute Wärme seines Zimmers empfing ihn wie ein alter Freund.
Dean stellte den Teller mit dem dampfenden Eintopf auf den kleinen Tisch, zog sich die verschwitzte Kleidung vom Leib und griff nach dem frischen Handtuch, das Amelia ihm immer über den Stuhl legte. Mit einem zufriedenen Seufzen fuhr er sich durch die Haare, während der Tag mit jeder Bewegung ein wenig mehr von ihm abfiel.
Er ging hinüber zur zweiten Tür, die gleich neben der Eingangstür lag und in einen kleinen Nebenraum führte. Das Badezimmer war schlicht, aber vertraut – eine gusseiserne Badewanne stand neben der Wand, gegenüber eine einfache Toilette und ein Waschbecken mit einem kleinen Spiegel.
Dean drehte den Wasserhahn auf. Das heiße Wasser sprudelte in die Wanne, ließ Dampf aufsteigen und hüllte den Raum in einen sanften Nebel, der sich wie ein Schleier über den Tag legte. Er zog sich vollständig aus, stieg vorsichtig hinein und ließ sich langsam ins Wasser gleiten.
Das heiße Wasser umschloss ihn, und für einen Moment war alles still. Die Anspannung wich aus seinen Gliedern, und ein tiefes Gefühl der Ruhe breitete sich aus. Es fühlte sich fast so an, als würde er neu beginnen.Morgen würde er wieder unter Menschen sein. Ein Gedanke, der ihn müde machte.Er hätte lieber trainiert. Oder im Bett gelegen. Oder einfach nichts getan. Aber wenn Amelia etwas verlangte, bekam sie es auch. Sie war stur – sturer als Wyver-Haut. Und er hatte es ihr versprochen. Wenigstens war es nur der Marktplatz. Kein Treffen mit Verwandten. Kein Lächeln, das man aufsetzen musste. Kein Gespräch, das man führen sollte.
Die Zeit verging, ohne dass er es bemerkte. Das Wasser kühlte ab, die Hitze verschwand allmählich, und Dean fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Sein Blick glitt zur kleinen Uhr an der Wand – fast eine Stunde war vergangen.
»Verdammt…«, murmelte er und stieg aus der Wanne.
Hastig trocknete er sich ab, zog sich frische Kleidung über und ging zurück in sein Zimmer.
Der Eintopf auf dem Tisch war längst kalt geworden. Dean seufzte, schob den Teller näher zu sich heran und begann trotzdem zu essen. Das Fleisch war zäh, die Soße bereits eingedickt – doch der Hunger trieb ihn an. Er kaute mechanisch, während sein Blick immer wieder zum Fenster schweifte. Draußen funkelten die Sterne am tiefblauen Himmelszelt, still und weit entfernt, als wollten sie über ihn wachen.
Er schob sich den letzten Bissen Eintopf in den Mund. Noch während er kaute, erklang plötzlich ein Ruf von draußen.
Dumpf, leicht verzerrt, aber unverkennbar: »Dean! Heeeey! Dean!«Dean stand vom Stuhl auf und ging zum Fenster. Das Holz knarrte leise, als er das Fenster öffnete und hinausschaute. Unten im Halbdunkel stand ein blonder Junge in seinem Alter. An seinem Arm hing ein kicherndes Mädchen, offenbar betrunken – auch sie etwa in Deans Alter.
»Dean, da bist du ja endlich!«, rief der Junge ihm zu. »Stimmt es, dass du morgen mit Amelia auf dem Marktplatz einkaufen gehst?«
»Pau—«, wollte Dean gerade zurückrufen, doch der Junge legte sich blitzschnell einen Finger auf die Lippen und schüttelte kaum merklich den Kopf.Dean verstand sofort. Natürlich Paul wieder…Er verdrehte leicht die Augen.Widerwillig rief er stattdessen: »Ah, ich meine Kaul! Ja, da hast du richtig gehört. Woher weißt du das?«
Paul grinste breit, und selbst aus der Entfernung konnte Dean sehen, wie sehr er sich über die Tarnung amüsiert.»Amelia hat es mir vorhin erzählt, als sie gerade die Tücher von den Leinen abgehangen hat, und ich wollte mal mich erkundigen, wie es dir so geht«, antwortete Paul ihm.
Dean schmunzelte.»Du meinst: Ob ich noch lebe.«
»Exakt!«, lachte Paul. »Aber ich würde vorschlagen, ich komme morgen in der Früh vorbei. Ich muss dir unbedingt was erzählen.«
Dean lehnte sich an den Fensterrand und blickte kurz zu den Sternen hinauf, als müsse er wirklich darüber nachdenken. Was wohl Paul ihm diesmal unbedingt erzählen musste? Sicher wieder eine seiner Heldengeschichten – wie er irgendein unschuldiges Weib verführt und dann eiskalt abblitzen lassen hat. Ein schwaches Grinsen huschte über Deans Gesicht, bevor er den Blick wieder zu ihm wandte.
»Von mir aus«, rief er schließlich zurück.
Paul riss die Arme hoch, dass das Mädchen fast das Gleichgewicht verlor.»Geil! Dean, du wirst es nicht bereuen! Ich nehm dich beim Wort!«
Die Nachbarhäuser zeigten erste Anzeichen von Unmut – mehrere Lichter flackerte auf, ein Fensterladen ächzte im Wind, und in der Ferne zerriss Hundegebell die Stille.
»Oh… war wohl etwas laut«, murmelte Paul, schob das Mädchen energisch Richtung Gasse und winkte noch einmal. »Bis morgen!«
Dean sah Paul noch hinterher, bis er in der Dunkelheit verschwand. Dann lehnte er sich einen Moment aus dem Fenster, ließ den kühlen Nachtwind durch sein Haar wehen und blickte in den Himmel. Alle drei Monde standen hell und klar am Firmament, und in diesem Moment flammte eine Sternschnuppe auf, zog einen feurigen Schweif über den Nachthimmel.
Gewöhnlich waren entweder nur ein Mond oder zwei Monde zusehen, aber in gewissen Tagen, konnte man alle drei sehen. In Legenden hieß es: Wenn alle drei Monde und eine Sternschnuppe am Himmelszelt zu sehen waren, würden Wünsche wahr. Doch würde auch ein Unheil übers Land ziehen und als Herausforderung dienen. Vielleicht… war ja beides wahr. Aber diese waren sehr alt und ein Aberglaube von irgendwelchen Reisenden. Eventuell war doch etwas an dieser Legende und Dean machte sich doch Hoffnung, dass der Wunsch in Erfüllung geht, den er begehrte.
Dean starrte lange hinauf, das Bild der drei Monde brannte sich in sein Gedächtnis. In Gedanken versunken, noch ganz in seinem Wunsch verloren, entschloss er sich nach einiger Zeit, ins Bett zu gehen.
Er schloss das Fenster, lief ins Badezimmer, putzte sich die Zähne und wusch sich noch einmal das Gesicht. Danach löschte er die Öllampe, legte sich ins Bett und zog die Decke bis zur Brust hoch. Die Wärme hüllte ihn ein, während die Stille des Zimmers ihn langsam umfing.
Sein Blick glitt zum Nachttisch hinüber, zu dem Bild, das dort stand. Drei Kinder waren darauf zu erkennen, verschwommen und doch vertraut. Er wusste genau, wie sie aussahen. Morgen früh würde er sie wieder klar vor Augen haben.
Ach, wäre es schön, wenn sie noch leben würde.
Mit diesem letzten Gedanken schloss er die Augen und verfiel in die Welt der Träume. In eine Welt, von der er nur wusste, dass sie existierte – und niemand anderes. Eine Welt, in der es keine Magie gab und alles andere nicht existierte.
Kapitel 2
Die andere Welt
»Es gibt nichts Erschreckenderes als ein Déjà-vu in einer Welt, die du nie betreten hast.« — Erik Sanders
Dean fand sich wie in jedem seiner Träume in einem ihm vertrauten Raum wieder, auf einem Stuhl sitzend, während die Luft kühl und künstlich wirkte. In dieser Welt war er nicht mehr Dean Cornwell, sondern trug den Namen Joel. Er saß vor drei nebeneinanderstehenden, flachen Kästen, die in einem fahlen Licht leuchteten. Eine vergilbte Zeitschrift auf dem Tisch – Ausgabe 2056, Titel: Nexus – half ihm, die Geräte zu benennen: Monitore, Tastatur, Computer, Maus. Begriffe, die ihm fremd vorkamen und doch wie Erinnerungen in ihm aufblitzten. An seinen Füßen summte ein blinkender Kasten: der Computer, das Herzstück des Systems, das Signale an die Monitore schickte. Seine Finger glitten über die Tasten, als würde ihn jemand fremdsteuern. Buchstaben und Zahlen tanzten über den mittleren Bildschirm, geordnet und doch chaotisch, wie Gedanken in einem Fiebertraum. Seine Augen verfolgten alles fokussiert, ganz so, wie er es einst beim Schwerttraining gelernt hatte – nur dass er diesmal nicht kämpfte, sondern etwas schrieb. Etwas, das ihn selbst erschreckte. Als Joel den Kopf drehte, fiel sein Blick auf den rechten Monitor. Merkwürdige Formen – Vierecke, Rechtecke, Fragmente – rotierten dort wild durcheinander, als würden sie sich gleich auflösen. Alles leuchtete in einem intensiven Smaragdgrün vor pechschwarzem Hintergrund. Der linke Monitor war dunkel, entweder kaputt oder absichtlich ausgeschaltet. Doch Joels eigenes Spiegelbild darin war klar zu erkennen: zerzaustes, tiefschwarzes Haar, durchzogen von ersten grauen Strähnen. Ein gepflegter Bartschatten betonte seine markanten Wangenknochen. Er wirkte sportlich, durchtrainiert, als ob er regelmäßig laufen ging. Seine Kleidung war modern, funktional – eine Mischung aus atmungsaktiven Stoffen und smarter Technik, die seine Körperdaten in Echtzeit überwachte. Joels eigener Tisch und zwei weitere längliche, dunkle Tische verbanden sich an den Ecken zu einem Dreieck, sodass sich zwei weitere Personen ihm gegenüber setzen konnten. Die beiden anderen Tische waren genauso ausgestattet wie Joels eigener: drei Monitore, ein Computer, eine Tastatur und eine Maus, die leise surrten. Weitere vier Paar Hände hämmerten im schnellen Takt auf die Tasten, ihm an beiden Seiten gegenüber, doch Joel schenkte ihnen keine Beachtung. Nicht mehr. Sein Fokus lag ganz auf dem, was er schrieb. Rechts gegenüber von Joel bewegte sich jemand unruhig, zog den Stuhl ein Stück näher an ihn heran, doch Joel registrierte es kaum. Schließlich verstummte das Tippen auf dessen Tastatur. Dann rollte er noch ein Stück näher an Joel heran. Joel machte sich jedoch keine Notiz davon, sondern hackte weiter auf seiner eigenen Tastatur herum.
»Joel?«, fragte die Person schließlich.
»Was?«, kam aus Joels Mund. »Ich hatte dir doch vor einer halben Stunde gesagt, was ich davon halte.«
Joel drehte seinen Stuhl zu der Person um, von der er angesprochen wurde. Er sah in ein blaues Augenpaar, das ihn hoffnungsvoll anschaute. Diese gehörten einem etwas jüngeren Mann mit einer sportlichen Statur, der ein lässiges T-Shirt mit einem kreativen Code-Motiv sowie eine bequeme Jeans trug. Sein kurzes blondes Haar war wild zerzaust und an seiner rechten Kinnseite war eine längliche Narbe.
»Ja, aber ich verstehe es halt nicht, wieso du es nicht sehen willst«, fing dieser an. »Du hast doch gesehen, dass das Programm jetzt funktioniert, und du willst es wirklich der Öffentlichkeit vorenthalten?«
»Ja, habe ich, aber es ist meiner Meinung nach zu riskant«, erwiderte Joel.
»Komm schon, Joel«, hakte er nach. »Wir haben uns drei Jahre lang so viel Mühe gegeben – und jetzt sind wir endlich da, wo wir hinwollten. Stell dir vor: Mit dieser künstlichen Welt könnten wir das Verhalten der künstlichen Intelligenz erforschen und so mehr über sie herausfinden. Wir könnten… Religionen gründen. Kriege simulieren. Gesellschaften nachbilden. Verstehst du nicht? Wir wären… Götter. Also, was ist dein Problem?«
Joel verzog das Gesicht, als würde ihn diese Vorstellung eher abschrecken als begeistern.
»Also ich finde, Sam hat recht«, stimmte eine weitere Stimme dem blondhaarigen Mann zu. »Und mit deiner erfundenen Full-Dive-Kapsel könnte die Bevölkerung sich unter die Bewohner der Welt mischen und sich von dem verfluchten Alltag lösen. Ich finde, wir müssen es tun.«
Der Mann, dem diese Stimme gehörte, lief um Joel herum und gesellte sich neben den blondhaarigen Mann namens Sam. Dieser hatte ebenfalls eine sportliche Statur, trug ein lockeres schwarzes Hemd und eine bequeme Jeans. Sein langes braunes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. Er schien etwas älter zu sein als Sam, aber vom Gesicht her erkannte man, dass es Brüder waren.
»Erik«, seufzte Joel. »Ich weiß, dass du und Sam recht haben könntet, aber ich sehe es immer noch als einen Fehler an. Wir wissen kaum etwas über diese KI und diese Welt, und ihr wollt gleich Gott spielen? Und was ist mit der Regierung? Habt ihr vergessen, was mit unserer alten Firma passiert ist? Sie haben zehn Jahre künstlicher Intelligenzforschung zunichte gemacht, und jetzt sind wir drei Hobbyentwickler, die es so weit geschafft haben – nur um dann Gott zu spielen?«
Sam und Erik sahen Joel enttäuscht an – als hätte er ihnen etwas Heiliges genommen.
»Wo kam eigentlich jetzt der Sinneswandel her?«, wollte Erik wissen. »Wir hatten dir doch extra das Haus außerhalb von Tokio gekauft, damit wir sowas machen können – und du warst damals voll dabei!«Joel senkte den Blick. Ein flüchtiger Schatten legte sich über seine Gesichtszüge. Tatsächlich hatte er es ihnen versprochen – vor Jahren, in einer anderen Zeit. Damals, als alles noch wie ein Spiel gewirkt hatte. Der Raum unter dem Haus war ihr gemeinsames Projekt gewesen: ein Relikt aus der Vergangenheit, ein unvollendetes Etwas, das sie zum Leben erweckt hatten. Kühlschränke, Sofas, riesige Bildschirme, blinkende Überwachungssysteme – ihr eigener Schöpfungstempel. Und jetzt stand alles auf dem Spiel.
»Ach komm, sei kein Waschlappen!«, platzte Sam plötzlich heraus. »Immer diese Gutmenschen-Geschichte von dir und anderen. Was mit unserer alten Firma passiert ist, das hat allein Gustav zu verantworten! Er war der Verräter, nicht wir!«
Joel schluckte. Erinnerungen zuckten durch ihn – an Alfred, an die Verbote, an das Jahr 2071. An das, was die KI beinahe mit der Menschheit gemacht hätte. Er atmete schwer. Seine Hände zitterten leicht, als er eine Packung Erdnüsse öffnete.
»Vielleicht war es auch richtig so. Wir waren an einem Punkt, an dem die KI selbstständig zu denken begann – und wer weiß, was wir da erschaffen hätten. 2071 hätte sie uns fast ausgelöscht, weil wir uns selbst widersprochen haben. Vielleicht hatte Gustav recht. Vielleicht hat er uns gerettet.«
»Uns gerettet?!«, rief Erik fassungslos. »Er hat uns sabotiert! Jahrelange Forschung – einfach weg! Und jetzt haben wir endlich die Kontrolle, Joel. Dieses Mal geht nichts schief. Dieses Mal schauen wir genau hin. Dieses Mal…«
»…kommt Gustav uns nicht mehr in die Quere«, beendete Sam den Satz.
Joels Blick fror ein. »Was meinst du damit – ‚kommt uns nicht mehr in die Quere‘?«
Sam und Erik tauschten einen stummen Blick. Dann nickte Sam leicht.
»Ganz einfach«, begann Erik ruhig. »Er war vorgestern hier unten. Jemand – vielleicht du – hat den Zugang offen gelassen, als wir Fußball geschaut haben.«
»Die kleine Ratte hat uns direkt gedroht«, fügte Sam hinzu. »Er wollte zur Regierung gehen. Also mussten wir sicherstellen, dass er niemandem mehr etwas erzählt. Jetzt liegt er… im Lake. Niemand wird ihn finden.«
»Ihr habt was getan?!«, schrie Joel, und seine Stimme zitterte. »Ihr habt ihn… getötet?!« Ein Brechreiz stieg in ihm auf. »Ihr habt ihn… in den Lake geworfen?«, fragte er noch einmal, um sicherzugehen, dass er es richtig verstanden hatte.
Beide nickten. Die Vorstellung traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Der Lake – verseucht, verlassen, ein Mahnmal des Krieges gegen die Maschinen. Und jetzt… ein weiteres Grab.
»Was hätten wir anderes tun sollen?«, fragte Sam kalt. »Uns verpetzen lassen wie Alfred? Wir hatten keine Wahl.« Er schüttelte den Kopf: »Nein, darauf hatte ich keine Lust!«
Joel starrte ihn benommen an. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Das Atmen wurde schwer, ein brennender Druck legte sich auf seine Brust, und ihm wurde übel – richtig übel. Seine Freunde, seine gutgeglaubten Freunde, hatten gerade einen weiteren Kameraden eiskalt ermordet. Und was, wenn er selbst der Nächste war?
»Joel, ich finde, Sam hat recht«, sagte Erik ruhig, fast beschwichtigend. »Er musste nicht leiden – du weißt, es war die einzige Möglichkeit, ihn zum Schweigen zu bringen.«
Joel nickte mechanisch. »Ja… ja, du hast recht.« Er zwang ein schwaches Lächeln auf seine Lippen. »Ich hab völlig vergessen, dass ich meine Frau heute abholen muss. Sie hat gleich Feierabend – wir wollten noch in die Oper.« Während er sprach, dachte er nur an eines: Raus hier.
Er fuhr den PC herunter, die Lüfter verstummten, und das Summen des Raumes wurde plötzlich lauter. Sam und Erik wechselten Blicke, still, bedeutungsvoll. Joel tat, als bemerkte er es nicht. Als die Monitore schwarz wurden, erhob er sich langsam, fast beiläufig, und schlenderte Richtung Ausgang.
»Gustav«, murmelte er kaum hörbar, »ich hatte dich doch gewarnt, diesen Raum zu betreten. Und jetzt…«
An der Tür angekommen, schlüpfte er in seine Sneakers, zog sie fest und warf sich die Jacke über die Schulter. Er ahnte nicht, dass Sam und Erik sich längst hinter ihm bewegten – lautlos, wie Schatten.
Dann ein stechender Schmerz. Etwas Brennendes, Kaltes drang in seine linke Schulter. Joel zuckte zusammen, blickte verwirrt hinab – eine Spritze. Blaue Flüssigkeit. Eriks Hand.
»Was… habt ihr getan?«, keuchte er, taumelnd, die Knie weich. Niemand antwortete.
Der Raum begann zu schwanken. Seine Sicht zog sich zusammen, die Luft schmeckte metallisch, trocken. Jeder Atemzug schnitt in die Kehle. Panik breitete sich aus, heiß und lähmend.
Sterbe ich jetzt?Nach all dem, was ich für dieses Projekt getan habe?Vielleicht hatte Gustav doch recht – mit allem, was er über Sam und Erik gesagt hat.
Joel verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Die Kraft wich aus seinen Armen, und er stürzte nach vorn, bis seine Brust den kalten Boden berührte. Für einen Moment blieb er liegen, keuchend, der Atem flach und rau. Dann hob er mühsam den Blick und ließ seine Finger über das glatte Material gleiten, zog sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts – dem Medikit entgegen, das neben der Tür lag.
Seine Augenlider wurden schwer, doch er kämpfte dagegen an. Fast… fast war er da. Er streckte die Hand aus, spürte die Kante unter seinen Fingerspitzen – da packte ihn jemand an der Schulter und drehte ihn grob auf den Rücken. Sein Blick flackerte, das Licht über ihm verschwamm in tanzenden Schlieren. Er blinzelte, zwang seine Augen, sich zu fokussieren. Über ihm: Sam. Und Erik. Verschwommen. Verschwommene Gesichter, verzerrt durch das Licht.
»Sorry, Joel«, sagte Sam mit bedauerndem Lächeln. Seine Stimme war leise, fast sanft, als ob er sich wirklich entschuldigen wollte. »Aber wir meinen es nur gut. Wir können nicht ins Gefängnis. Es hat uns zu viel gekostet.« Er beugte sich näher, seine Augen bohrten sich in Joels, als wollte er ihm diese Worte unauslöschlich einbrennen. »Ein gut gemeinter Rat an dich: Belüg deine Freunde nicht.«
Das war das Letzte, was Joel hörte. Die Welt wurde dumpf, die Farben zerflossen ineinander, bis alles in einem undurchdringlichen Schwarz versank.
Ein dumpfes Hämmern dröhnte durch die Dunkelheit. Erst weit entfernt, dann näher – wie ein Herzschlag, der in seinem Kopf widerhallte. Dean fuhr ruckartig hoch. Schweiß rann ihm über die Schläfen, sein Atem raste, und für einen Moment wusste er nicht, ob das Geräusch noch aus dem Traum kam oder schon aus der Wirklichkeit. Dean wachte schweißgebadet auf und setzte sich keuchend an die Bettkante. Kalter Schweiß klebte an seinem Rücken, während er versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Sein Herz pochte wild gegen seine Rippen, als wolle es sich aus seinem Brustkorb befreien. Die Bilder des Traumes waren noch glasklar in seinem Kopf – jedes Wort, jede Bewegung. Es fühlte sich echter an als jemals zuvor.
»Dean, könntest du bitte aufwachen?«, rief Amelia hinter der Zimmertür. Es klang, als würde sie schon länger dort stehen. Sie klopfte energisch dagegen. »Du verpennst sonst schon wieder und du hast es mir versprochen.«
»Ja, ich bin gerade wach geworden. Ich komme, wenn ich mit meinem Morgensport fertig bin«, rief Dean laut genug, dass Amelia ihn hörte.
»Okay«, antwortete sie, und Dean hörte, wie ihre Schritte sich von der Tür entfernten.
Die Anspannung in seinen Muskeln löste sich langsam, als er sich wieder zurücksinken ließ. Doch der Traum hing wie ein Nebel in seinem Kopf. Die Bilder verblassten nicht – sie brannten sich ein, als wären sie Erinnerungen. »Irgendwas stimmte mit diesem Traum nicht«, murmelte Dean und starrte auf die Holzbohlen unter seinen Füßen. »Die anderen Male war es nicht so intensiv wie heute.«Er sah zur Tür – mit der vagen Sorge, dass Amelia vielleicht doch noch einmal dort stehen und hereinkommen könnte – und schüttelte dann den Kopf. Die Realität fühlte sich fremd an, als ob ein Schleier über allem läge.
»Wer ist eigentlich Joel, Erik, Sam und Gustav? War ich Joel? Bin ich wiedergeboren? Nein… völliger Schwachsinn. Und wenn überhaupt – warum sollte ich so etwas träumen?« Sein Blick wanderte zurück auf den Boden. Die knarzenden Holzdielen unter seinen Füßen wirkten fester, realer, als er sie je gespürt hatte. »Aber irgendwie kam mir das alles so… vertraut vor. Und dieses Mittel, das Erik Joel injiziert hat… ich habe es selbst in mir gefühlt. Was war das nur?«
Wie so oft entschied Dean, den Gedanken abzubrechen. Antworten hatte er nie gefunden – und er war sicher, dass ihn niemand verstehen würde. Es war vor einem Jahr – an seinem vierzehnten Geburtstag –, als alles begann. Und nach seinen ersten Berichten an Amelia, Uwe, Anna und Paul hatten sie ihn für verwirrt gehalten. Sie wollten ihn sogar auf Gifte oder Kräuter untersuchen lassen. Seitdem sprach er nicht mehr darüber. Doch vergessen konnte er es nie.
Nachdem er diese Gedanken verbannt hatte, blickte er wie jeden Morgen auf das Bild auf dem Nachttisch – und nahm es sanft in die Hand. Es war eingerahmt in dunklem Holz, an den Ecken leicht abgenutzt. Dean wischte mit dem Daumen über das Glas, als wolle er Staub entfernen, obwohl keiner da war. Es zeigte eine fröhliche Szene aus der Vergangenheit: den jungen Dean und zwei andere Kinder, etwa zehn Jahre alt. Dean stand links, mit tiefschwarzem, kurzem Haar, ein schlichtes weißes T-Shirt mit leichten Falten, eine kurze Hose. Sein Lächeln war ein wenig gezwungen, fast melancholisch. Rechts von ihm ein Elfenmädchen mit zusammengebundenem blondem Haar, in dem eine weiße Haarnadel mit Blumenmuster steckte. Ihre spitzen Ohren schimmerten im Licht, ihr seidenweißes Kleid ließ sie fast märchenhaft wirken. In der Mitte stand ein blondhaariger Junge, breit grinsend, der beide mit seinen Armen umschlang. Er trug edlere Kleidung – ein faltenfreies, blaues T-Shirt und eine beigefarbene kurze Hose. Die drei wirkten unzertrennlich. Ein Moment voller Freundschaft, aufgenommen in einer Welt, die längst vergangen war.
Dean betrachtete das Bild eine Weile mit einem traurigen Lächeln und strich dann sanft mit dem Daumen darüber.
»Guten Morgen, Anna«, flüsterte er leise. In seiner Stimme lag Trauer.
Anschließend begann er seinen Morgensport – als wäre es das Einzige, das ihm blieb, um den Traum zu vergessen.
Kapitel 3
Gerüchte
»Nicht jedes Flüstern ist eine Lüge. Manchmal ist es der einzige Weg, die Wahrheit zu überleben.« — Anna Silvaris
Er begann seinen Tag wie immer: mit Bewegung. Um den Kreislauf in Schwung zu bringen, machte er einige Dehnübungen, streckte sich nach oben, beugte sich nach vorn, bis er mit den Fingerspitzen den Boden berührte. Danach folgten einfache Techniken mit dem Holzschwert – Bewegungsabläufe, die er von Herrn Baldouar gelernt hatte, angeblich inspiriert von Kriegern eines fernen Königreichs. Kniebeugen, Ausfallschritte, ein imaginärer Sprung über einen Bach – das Holz unter seinen Füßen knarrte dabei leise. Zum Abschluss: zehn Minuten Meditation. Die Augen geschlossen, der Atem fließend. In diesen stillen Momenten schien die Welt um ihn herum zu verschwinden – nur er, der gleichmäßige Rhythmus seines Atems und das sanfte Knarren des Holzes unter ihm existierten noch. Als er schließlich die Augen öffnete, fühlte er sich wach. Bereit.
Im Bad wusch er sich grob ab. Kaltes Wasser prickelte auf seiner Haut und vertrieb die letzten Reste der Müdigkeit. Im Spiegel sah ihn ein jugendliches Gesicht mit markanten Zügen und leicht gebräunter Haut an. Schwarzes Haar fiel ihm leicht ins Gesicht, und seine grauen Augen wirkten wach und aufmerksam. Er zog sich ein beiges Hemd und eine dunkelbraune Hose an. Dazu seine knöchelhohen, schwarzen Lederstiefel – ein Geburtstagsgeschenk von Amelia und Uwe. Ohne weiter Zeit zu verlieren, verließ er seinen Rückzugsort und ging die Treppe hinunter.
Der Duft von frisch gebackenem Brot und brutzelndem Speck kam ihm entgegen, vermischt mit Stimmen und Gemurmel aus dem Gastraum, als er sich der Treppe näherte. Unten wartete Amelia bereits auf ihn – mit verschränkten Armen und dieser leicht strengen Miene, die sie immer aufsetzte, wenn sie sich bemühen musste, ernst zu bleiben. Ihr olivgrünes Kleid, schlicht, aber praktisch, ließ ihr genug Bewegungsfreiheit, und die feine Stickerei auf der Schürze verriet ihre gewohnte Sorgfalt. Der Zopf war ordentlich gebunden – erstaunlich genug, denn an manchen Tagen landete er trotzdem in der Suppe.
»Na endlich. Ich hatte schon Angst, dass du wieder eingeschlafen bist und ich den Einkauf selbst schleppen muss«, sagte sie, die Augenbrauen leicht hochgezogen.
Dean grinste verlegen. »Entschuldigung, Amelia. Ich war nur ein bisschen länger im Bad«, murmelte er und kratzte sich am Hinterkopf.
Ihre Miene entspannte sich und ein sanftes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »War nur Spaß. Eigentlich bin ich überrascht, dass du heute schon so früh unten bist. Normalerweise lässt du dir ja Zeit – besonders, wenn ich dich um etwas bitte. Und… ich hab übrigens was für dich.« Sie zog einen Brief hervor und reichte ihn ihm.
Dean nahm ihn entgegen, das Papier war sauber gefaltet, doch es fehlte etwas Offensichtliches.
»Kam eben mit einem Boten. Vom lieben Herrn Baldouar«, erklärte sie und zwinkerte ihm zu.
Er bekam nie Briefe – höchstens mal einen zum Geburtstag. Dean runzelte die Stirn und drehte den Brief in seinen Händen. Kein Siegel. Die Kanten waren ungebrochen, einfach nur zusammengefaltet – keine Wachsmarke, keine Bestätigung.
»Kein Siegel?«, fragte Dean verwundert.
Amelia schnaubte. »Du kennst doch Herrn Baldouar… Vergisst gerne mal was. Ich hab den Boten dreimal gefragt, aber er hat geschworen, dass es von ihm kommt.«
»Und was will er wieder von mir?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Lies ihn in Ruhe. Ich bring dir gleich dein Frühstück – aber danach gehen wir einkaufen, klar? Uwe lässt mich sonst noch durchdrehen.«
Dean nickte, nahm den Brief und setzte sich in die hinterste Ecke des Gasthauses. Der Umschlag fühlte sich schwerer an, als er war. Mit einem unguten Gefühl öffnete er ihn – und las:
Sehr geehrter Herr Cornwell.Wie Sie sicher bereits gehört haben, gab es in den vergangenen Wochen haufenweise Angriffe von Dämonen und Banditen im nördlichen Wald. Außerdem munkelt man schon von einem Angriffsplan vom Königreich Dislane. Da Ihre verstorbenen Eltern mir die Vormundschaft über Sie übergeben haben, bitte ich Sie entweder dem Militärtrupp oder der Abenteurergilde beizutreten. Kommen Sie heute um 13:45 ins Verwaltungsgebäude und tragen Sie sich für die Militärtruppe ein oder melden Sie sich bei der Abenteurergilde an und geben Sie die Bestätigung Ihrer Anmeldung bei mir ab. Des Weiteren bitte ich Sie, jegliche Vorkommnisse oder Verdachtsfälle eines Landesverrates sofort bei der örtlichen Militärtruppe zu melden.
Mit hochachtungsvollen GrüßenLehnsheer Baron Benedikt Baldouar
Dean warf den Brief achtlos zur Seite. »Kann mich dieser alte Sack nicht einmal in Ruhe lassen?«, murmelt er genervt.
Er wollte momentan einfach in Ruhe gelassen werden und das verstand anscheinend Herr Baldouar nicht.
Da erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm: »Nicht so traurig, Prinzessin. So etwas gehört sich nicht für eine zukünftige Königin.«
Dean stöhnte innerlich. Nur eine einzige Person nannte ihn so – Paul. Das war ein Spitzname der er ihm gegeben hatte, weil Dean öfters länger schläft. Diesen Namen verabscheute er und wäre es nicht sein bester Freund, wäre er schon längst gewalttätig gegenüber ihm geworden.
»Wie oft noch? Hör auf, mich so zu nennen!«, giftete Dean, während er sich umdrehte. »Und außerdem… dachte ich schon, ich sehe dich nie wieder.«
Paul grinste breit. Er war etwas größer als Dean, gerade mal einen Monat älter – und für Dean gleichzeitig sein größter Nervfaktor und sein bester Freund. Seine blonden Haare glänzten im Licht, seine blauen Augen funkelten wie eh und je. In seinem edel schimmernden Hemd und der beigen Hose sah er aus wie der brave Sohn eines wohlhabenden Händlers. Nur die Narbe an seiner Wange – ein Relikt von Amelias fliegender Bratpfanne – störte das perfekte Bild.
»Warum das? Kaum geht man einmal mit einem Mädchen aus, wird man schon vermisst«, lachte Paul.
»Ich dachte, du lebst längst mit Frau und Kind auf einer Farm und lässt die Glocken baumeln«, konterte Dean trocken.
»Na warte, du kleiner – «, sagte Paul mit knirschenden Zähnen, während er sich auf Dean stürzte und begann ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.
»Paul, lass Dean sofort los!« zischte Amelia drohend mit einer Pfanne in ihrer rechten Hand, als sie aus der Küche kam. »Ich dulde hier kein Fehlverhalten. Sonst fliegt die zweite Pfanne diesen Monat!«
»Meine Zuckermaus, bitte nicht mit der Pfanne drohen. Die Spiegeleier wären fast rausgeflogen«, sagte eine neue Stimme, die gerade das Gasthaus betrat.
»Uwe!« schnappte Amelia. »Du hast schon wieder mit Dieter und Hans durchgemacht, stimmt’s? Schön mich allein das Gasthaus betreiben lassen und – « Bevor sie weitermachen konnte, küsste Uwe sie kurzerhand.
Dean grinste. Das Schauspiel kannte er. Uwe war kräftig, gutmütig. Sein Hemd spannte über dem Bauch, sein Schnurrbart glänzte frisch eingeölt. Zu Deans Verwunderung, war er Barfuß unterwegs.
»Du bist immer so süß, wenn du dich aufregst«, sagte Uwe mit einem Lächeln und rief dann fröhlich: »Guten Morgen meine Lieben, ich hoffe meiner Frau ihr Essen schmeckt und ich würde mich freuen, wenn ihr heute Abend euch mit zum Speis und Trank zu uns gesellt.«
»Guten Morgen Uwe!«, begrüßten ihn alle.
Amelia verdrehte die Augen. »Also echt jetzt«, sagte sie, während sie ihn mit dem Kopf schüttelnd anschaute. »Du bist heute auf jeden Fall hier, wenn du schon alle motivierst hierherzukommen, dann kannst du sie ruhig bedienen!«
»Na klar – hab eh nichts vor.«
»Das hoffe ich! Und außerdem, wo hast du wieder deine Schuhe gelassen?«, zischte sie ihn fragend an, als sie gerade die Spiegeleier auf dem Teller neben dem Speck und das frisch gebackene Laib Brot kippte. Diesen und einen Krug voll Wasser stellte sie mit einem Lächeln auf Deans Platz und mit einem: »Hier, iss erstmal was.«
»Naja, die hat der Fluss«, beantwortete Uwe zögernd ihre Frage.
»Wie der Fluss?«
»Es war so«, begann Uwe zu erklären. »Dieter, Hans und ich haben uns mit Sachen abgeworfen. Als mir die Möglichkeiten ausgingen und wir betrunken waren, habe ich meine Schuhe nach den beiden geschmissen und diese sind in den Fluss gefallen.«
»Ihr Männer seid mir welche. Du erklärst mir alles – in der Küche!«, zischte Amelia. Dann wandte sie sich Dean zu, der sein Frühstück noch nicht angerührt hatte, und sagte: »Lass es dir schmecken. Und Paul – du lässt ihn in Ruhe essen.«
»Versprochen!« grinste Paul und setzte sich auf den freien Stuhl vor Dean.
Ohne weitere Worte, packte sie Uwe am Ohr und schleppte ihn Richtung Küche. Dean fiel über seinen Teller her – Speck, Spiegeleier, ein Stück Brot –, während Paul nervös auf seinem Stuhl hin und her wippte. Dean schenkte ihm keine Beachtung und aß still weiter. Die Tischplatte knarrte leise unter seinen Bewegungen, doch Dean ließ sich davon nicht ablenken.
Paul wartete geduldig, seine Finger trommelten leicht auf die Tischkante, doch er hatte aufgehört, mit dem Stuhl zu wippen. Dean schob sich den letzten Bissen Speck in den Mund, kaute langsam und legte die Gabel neben den Teller. In dem Moment, als er aufsah und Paul in die Augen sah, atmete dieser hörbar aus –als hätte er darauf gewartet.
»Also, du meintest, du musst mir unbedingt etwas erzählen. Na los.«
Paul zögerte. Sein Blick wanderte kurz zum Fenster, als würde er dort nach den richtigen Worten suchen. Schließlich atmete er tief ein. »Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll…«
Dean hob eine Augenbraue. »Dann sag’s einfach oder lass es.«
Paul schob sich etwas näher an den Tisch heran und senkte die Stimme. »Es geht um… Anna.«
Die Atmosphäre im Raum schien sich augenblicklich zu verändern. Dean erstarrte. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, nur das gedämpfte Gemurmel der anderen Gäste drang noch an seine Ohren.
»Ich habe es dir schon mehrmals gesagt«, erwiderte Dean vor Wut. »Anna ist tot und du sollst es nicht mehr ansprechen!«
»Ich weiß… aber ich habe etwas gehört. Vielleicht lebt sie noch.«
Deans Augen flackerten, als hätte ihn jemand aus einem Traum gerissen. Er blinzelte, schwieg. Paul beugte sich weiter vor, sein Blick war intensiv und ernst.
»Vor 2 Tagen habe ich beim Wachdienst einen betrunkenen Abenteurer gesehen, der mit seiner Gruppe im Dämonenwald unterwegs war, um Goblins zu erlegen. Und sie haben was gefunden.«
»Und was?«, fragte Dean in einem gereizten Ton, aber so leise, dass es nur Paul hören konnte.
»Er sagte sie hätten auf einer Waldlichtung im westlichen Teil des Waldes ein Elfenmädchen mit blondem Haar und einer weißen Haarnadel mit Blumenmuster gesichtet. Sie wird in einem Käfig von Banditen gefangen gehalten«, fuhr Paul leise fort.
Dean schluckte, seine Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. Erinnerungen fluteten über ihn hinweg, Bilder von der Kutsche, blutüberströmt, herrenlos wieder in der Hauptstadt zurückgekehrt.
»Unmöglich! Wir haben die Kutsche doch mit eigenen Augen gesehen. Sie kann nicht leben…«
»Ich weiß, aber ist dir nichts an dem Abend aufgefallen, als die Kutsche blutverschmiert in den Hof gefahren kam?«, fragte Paul, um Dean zu beruhigen. »Wenn ich nochmal so nachdenke, dann habe ich da keine Kleidungsfetzen von ihr gesehen. Von ihren Wachen schon.«
Dean schwieg. Er ließ die Worte auf sich wirken, suchte in seinen Erinnerungen nach einem Anzeichen, nach einem Beweis. Doch je länger er darüber nachdachte, desto weniger fand er. Langsam schüttelte er den Kopf.
Paul stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Dean, nicht nur du leidest darunter«, sagte zögernd Paul und es bildeten Tränen in seinen Augen. »Am Vortag stritten sie und ich. Ich habe sie verflucht ohne jegliche Grenzen. Als die Kutsche am nächsten Tag ohne sie zurück kam, habe ich dann mich selbst verflucht.«
Er machte eine Pause und wies mit seinem rechten Zeigefinger auf dem Krug. Dean nickte und Paul trank einen Schluck draus.
Als er ihn wieder auf seinem vorherigen Platz abstellte, fuhr er ermutigt fort: »Wenn es eine Möglichkeit gebe, dass sie überlebt hat, dann möchte ich sie ergreifen und deswegen müssen wir Abenteurer werden, um in den Wald zu dürfen.«
Als er dies sagte, sah Dean in Pauls Augen einen funken Hoffnung, den er seit jeher verloren hatte. »Und was ist mit deinem Dienst im Militärtrupp? Darfst du Abenteurer überhaupt werden?«, fragte Dean verwundert.
»Ich bin ausgestiegen, als ich diese Nachricht erfahren habe. Du weißt, dass das Militär aktuell für die Stadt zuständig ist und nur Abenteurer in den Wald dürfen«, antwortete Paul.
»Was sagt dein Alter Herr? Er ist doch bestimmt sauer, dass sein Sohn nicht in seinen Fußstapfen tritt«, wollte Dean wissen.
»Der braucht sich gar nicht aufregen. Außerdem ist er gerade auf einer Aufklärungsmission gegen das Königreich Dislane unterwegs und wird erst in einem Monat diese Nachricht erfahren. Also mach dir mal keine Sorgen um mich«, versicherte Paul ihm. »Und was sagst du? Du musst dich laut Herrn Baldouar entscheiden zwischen Militärtrupp und Abenteurer.«
Das, dass Anna noch leben würde, war zu schön, um wahr zu sein. Aber er hatte Bedenken – vor allem, weil es nur ein Gerücht von einem betrunkenen Abenteurer war. Er erinnerte sich wieder an den Vorabend mit den drei Monden, der Sternschnuppe und der Legende. Vielleicht war doch etwas dran… vielleicht lebte Anna wirklich. Dean ging in Gedanken noch einmal die Geschichten der vielen verletzten Abenteurer durch, die von starken Dämonen und heimtückischen Banditen erzählten. Laut ihren Aussagen sollen manche dieser Dämonen und Banditen zusammenarbeiten, doch Beweise gab es nie. In ihren Gesichtsausdrücken spiegelte sich jedoch Angst – echte Angst –, als ob sie die Wahrheit sagten und fest davon überzeugt waren.
»Na gut«, sagte Dean etwas hoffnungsvoll, aber zögernd. »Dann werden wir uns in der Abenteurergilde einschreiben lassen und dann retten wir Anna.«
Paul atmete hörbar aus – und grinste dann über das ganze Gesicht.
Sie wechselten dann das Thema. Paul erzählte von seinem Date und gab an das Mädchen heute Morgen in herrgottsfrühes verlassen zu haben. Dean war nicht so begeistert, da Paul ein alter Schürzenjäger wurde, als er vor 2 Jahren mit dem ersten Mädchen schlief und seitdem nicht genug kriegen konnte. Diese Angewohnheiten hätte er von seinem Vater vererbt bekommen und sah da keine weiteren Probleme, solange diese nicht Schwanger wurden.
»Ich sag es dir«, begann Paul schmatzend, als er ein Teil von Deans Laib Brot kaute. »Sie sind alle gleich, kaum macht man schöne Augen und dann springen sie mit einem ins Bett.«
»Irgendwann triffst du die Falsche und dann herrscht Krieg«, belehrte ihn Dean.
Doch Paul, der nie bei sowas zuhörte, winkte die Kritik seines besten Freundes einfach nur mit einer Handbewegung ab. »Ach was«, fing Paul an zu lachen, als er den letzten Bissen herunterschluckte. »Die sind doch am Abend zu betrunken, um meinen Namen oder Aussehen sich zu merken. Letzte Woche zum Beispiel gab es einen Steckbrief. Und sie haben mich falsch beschrieben.«
Paul kramte etwas aus der Tasche und hielt Dean ein zerknittertes Blatt hin. Dean erkannte es sofort – der Steckbrief hing in der ganzen Stadt verteilt, sogar im Gasthaus hatte man einen aufgehängt:
Gesucht ein Schwerenöter
Dieser vergriff sich letzte Nacht an meine Tochter und laut ihrer Beschreibung war dieser ungefähr 19
Jahre alt, braunes Haar, kräftig gebaut, hatte sich mit dem Namen Kaul Agner vorgestellt.
Bitte finden Sie diesen und melden Sie sich bei mir.
Euer Dieter
Dean konnte sich das Lachen kaum verkneifen. »Du bist ein wandelndes Risiko«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Ich nenne es: Talent. Außerdem – sie haben mich falsch beschrieben. Ich hab blondes Haar. Siehst du? Ich bin unschuldig.«
Dean schüttelte erneut den Kopf. »Irgendwann triffst du die Falsche. Und dann herrscht Krieg.«
Paul zuckte nur mit den Schultern. »Nur, wenn sie besser zielt als Amelia.«
Nach weiteren Belehrungen von Dean an Paul und Themen wie Kampftraining in der Militärtrupp, Verteidigung gegen Hausfrauen mit Pfannen, brachte Dean seinen Teller in die Küche, doch Amelia war nicht zu sehen. Die dampfenden Töpfe auf dem Herd verströmten den Geruch von gebratenem Speck und frischem Brot. Dean stellte den Teller auf die Anrichte und blickte sich um.
»Amelia?«, rief er in den Raum, vielleicht war sie in der Speisekammer, doch es kam keine Antwort.
Mit einem Schulterzucken wandte er sich ab und ging die knarrende Holztreppe hinauf. Die Stufen gaben unter seinem Gewicht leise nach, als er in sein Zimmer zurückkehrte. Oben angekommen öffnete er den Kleiderschrank und holte einen abgenutzten, dunkelbraunen Lederbeutel hervor – ein Geschenk von Uwe zu seinem 13. Geburtstag, überreicht nach einer legendären Saufwette mit Hans. Der Beutel war äußerlich schlicht, aber mit Raummagie versehen: Er konnte weit mehr fassen, als man ihm ansah. Werkzeuge, Proviant, selbst das Bild vom Nachttisch – mit einem klaren Gedanken konnte Dean jeden Gegenstand wieder hervorrufen. Er lächelte kurz. Das Symbol eines stilisierten Sterns an der Kordel war sein Geheimnis.
Danach kramte er sein altes Kurzschwert hervor – ein günstiger Kauf von einem Händler. Die Klinge war stumpf, aber notfalls konnte man auch mit dem Griff zuschlagen. »Zur Not werfe ich dem Letzten das Ding einfach an den Kopf«, murmelte Dean und ließ es ebenfalls im Beutel verschwinden.
Er packte ebenfalls ein paar Kleidungsstücke, das Bild und ein paar Münzen in den Beutel. Dann schloss er seine Tür ab und lief die Treppe hinunter.
Die Luft im Gasthaus war erfüllt von Stimmen und Gelächter, das Gemurmel der Gäste hallte zwischen den Holzbalken wider. Unten im Schankraum wartete Paul bereits, der sich mit Uwe angeregt unterhielt. Paul schwenkte ein Glas Wasser in der Hand und lachte über etwas, das Uwe gerade erzählt hatte.
Als Dean näher trat, grinste Paul breit. »Na endlich, Prinzessin. Ich dachte, du bist wieder eingeschlafen.«
»Halt den Mund. Können wir los?«, fragte Dean und zog die Lederriemen seines Beutels fester.
»Gleich. Amelia packt uns noch was zu essen ein.«
Dean hob überrascht die Augenbrauen. »Du hast es ihr also schon gesagt?«
Paul nickte – aber Uwe war schneller: »Sie war begeistert. Ihre Sorge, dass du nie wieder unter Leute gehst, hat sie zu dem Einkauf überredet. Damit du wenigstens rauskommst.«
Dean sah überrascht zu Uwe. »Also ging’s ihr nur darum, dass ich unter Menschen komme?«
»Genau. Und jetzt gehst du sogar noch einen Schritt weiter. Dean – der Abenteurer! Wenn ich zehn Jahre jünger wär… ich wär mitgekommen.«
»Wieso bist du eigentlich nie einer geworden?«, fragte Paul neugierig.
Uwe lächelte, seine Augen leuchteten kurz auf. »Ich wollte. Früher. Aber dann hab ich meine Zuckermaus kennengelernt«, sagte er und nickte zur Küche. »Seitdem hab ich mich im Gasthaus ihrer Eltern niedergelassen. Und ich bereue es bis heute nicht.«
»Dafür gammelt er seitdem mit Dieter und Hans rum und lässt mich alles machen! Mein Gott, hätte ich doch nur auf meine Eltern gehört und wäre mit James durchgebrannt«, tönte Amelia, als sie mit zwei Wickeltüchern aus der Küche kam – gefüllt mit Essen und Wasser.
Uwe öffnete den Mund, doch ließ es bleiben. Er grinste nur.
»Hier. Für euch beide. Verhaltet euch wie vernünftige Abenteurer – helft, wo ihr könnt.« Sie reichte Dean sein Tuch. Bei Paul zögerte sie kurz und sah ihm streng in die Augen. »Und du… bitte verhüte. Und zieh Dean nicht in deine Geschichten rein.«
Paul hob beide Hände, als wollte er einen Schwur leisten. »Versprochen. Ich pass auf ihn auf.«Amelia musterte ihn einen Moment und seufzte schließlich. »Ich tu mal so, als glaub ich dir.«
»Und der Einkauf?«, fragte Dean.
»Ich frag Pauls Mutter. Und du musst dich beeilen – es ist gleich halb zwölf. Bald stehen die Leute vor der Gilde Schlange.«
Dean schob das Päckchen sorgfältig in seinen magischen Beutel und verstaute es sicher. Zu Deans Überraschung hatte Paul einen ähnlichen Beutel wie seinen dabei. Anscheinend hatte er damit gerechnet, dass Dean sich für die Abenteurergilde entscheiden würde – um Anna zu retten.
Sie verabschiedeten sich, bekamen beide eine feste Umarmung von Amelia, ein Schulterklopfen von Uwe – dann traten sie nach draußen. Die schweren Holztüren des Gasthauses fielen hinter ihnen ins Schloss und ließen das Murmeln der Gäste und den Geruch von gebratenem Speck zurück. Die Sonne schien warm, aber eine angenehme Brise ließ die Luft frisch wirken. Der Duft blühender Pflanzen lag in der Luft. Vögel sangen, Insekten summten. Die Straßen waren belebt.
Drei Kinder spielten – jagten sich, riefen »Abenteurer und Banditen!« und lachten laut, während sie mit Stöcken kämpften.
Dean blieb stehen. Er ließ den Blick über das Kopfsteinpflaster der Straße gleiten, vorbei an den kleinen, vereinzelten Marktständen und den Händlern, die ihre Waren anpriesen, in der Hoffnung, die Leute hier früher abzufangen, bevor sie weiter ins Innere der Stadt gelangten. Mütter führten ihre Kinder an der Hand und liefen in Richtung Marktplatz.
»Das weckt Erinnerungen«, murmelte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Als wär’s gestern gewesen«, stimmte Paul zu. »Du, Anna und ich. Genau hier.«
Dean schluckte. Die Erinnerungen stachen wie kleine Nadeln in seinem Herzen. Genau an dieser Stelle hatte er ihr die weiße Haarnadel mit Blumenmuster geschenkt. Ihr Lächeln, als sie die Nadel ins Haar gesteckt hatte, war noch immer klar in seinem Gedächtnis.
»Okay, Paul. Ich bin bereit. Sag mir, wo es langgeht.«
Paul grinste breit. »Nichts lieber als das! Über den Marktplatz – direkt neben dem Verwaltungsgebäude. Ich führ dich, keine Sorge.«
Dean nickte, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
KAPITEL 4
Begegnung
»Wer der Welt den Rücken kehrt, sieht manchmal klarer als alle anderen.« — Kommandant von Baldouar Berthold Pendragon
Dean kannte den Weg zum Marktplatz – doch wo genau die Abenteurergilde und das Verwaltungsgebäude lagen, wusste er nicht. Trotzdem ließ er Paul den Anführer spielen, um ihm das Gefühl zu geben, die Kontrolle zu haben. Die Sonne stand hoch am Himmel und tauchte die gepflasterten Straßen in ein warmes Licht. Von weitem schon drangen Stimmengewirr und der Duft von frisch gebackenem Brot, gegrilltem Fleisch und exotischen Gewürzen herüber. Überall drängten sich Menschen in dichten Gruppen, Händler priesen lautstark ihre Waren an. Als sie gemeinsam den anderen Passanten folgten, öffnete sich vor ihnen der Platz: ein lebendiges Meer aus Farben, Stimmen und Gerüchen. Heute schienen die Preise besonders niedrig zu sein, denn der Marktplatz war voller Menschen – und nicht nur Menschen: Halbmenschen, Elfen, Zwerge, Reisende aus aller Welt schlenderten geschäftig durch die Reihen. Überall standen Stände, mit Blumen geschmückt, auf denen exotische Früchte, Tränke, Kräuter und Handwerkswaren verkauft wurden. Händler überboten sich gegenseitig im Geschrei. Kinder lachten und tanzten um einen Straßenkünstler, der mit flammenden Fackeln jonglierte. Aus einer Seitenstraße ertönten Zaubersprüche – jemand führte eine Trankverwandlung vor. Über allem flatterten bunte Banner im warmen Wind.
»Schau mal, Dean. Ein Lästersandwich«, sagte Paul grinsend und deutete auf drei Frauen, die sich über einen Bettler beugten und tuschelten.
Dean hatte sie längst gesehen – und mied ihren Blick.»Armer Kerl. Und die drei zerreißen ihn in der Luft«, murmelte er. Für einen kurzen Augenblick betrachtete er die Szene, dann wandte er sich ab und ließ seinen Blick über die Ständer gleiten. »Ich wusste gar nicht, dass heute so viel los ist. Und die vielen Angebote!«
»Kein Wunder«, grinste Paul, »du sperrst dich ja auch ständig im Gasthaus ein oder trainierst wie ein Besessener im Hof.«
Dean war zu sehr mit den Ständen beschäftigt, um zu reagieren. Die Vielfalt der Waren faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue – ob funkelnde Edelsteine, geschnitzte Holzfiguren oder magische Amulette, die angeblich Glück bringen sollten.
»Wenn das nicht Dean und Paul sind!«, rief eine vertraute Stimme durch das Gedränge des Marktplatzes.
Dean drehte sich zu dem Stand, von dem die Stimme kam. Hinter einem Stand mit Eiern, Milch und Fleisch saß Dieter, Uwes jüngerer Bruder. Sein Gesicht war wettergegerbt, die Hände rau, doch ein freundliches Lächeln lag auf seinen Lippen. Er war drahtiger als Uwe, sonnengebräunt vom Feld, trug ein hellblaues Hemd mit ausgefransten Ärmeln und eine fleckige Leinenhose. Seine abgenutzten Stiefel zeugten von harter Arbeit. Dean mochte ihn. Dieter hatte ihm früher viele Geschichten erzählt – und ihm gezeigt, wie man auf dem Feld arbeitet.
Dean trat näher und reichte ihm die Hand. Dieter schüttelte sie fest. »Hey Dieter, wie läuft’s mit deinem Stand?«, fragte Dean, während Dieter Paul die Hand schüttelte.
Dieter lachte zufrieden, als er sich wieder an die Arbeit machte. »Bestens! Meine Eier, der Speck – alles geht weg wie warme Semmeln. Die Leute lieben meine Kühe!«, sprach er, während er Eier in eine Kiste vor ihnen sortierte.
»Und Dieter, wie geht es deiner Tochter Samantha? Habt ihr was Neues über den Lustmolch von letzter Woche gehört – oder habt ihr die Suche aufgegeben?«, warf Paul scheinbar beiläufig ein, als wolle er prüfen, ob die Luft rein war.
Augenblicklich gefror Dieters Lächeln. Seine Hände, die gerade noch Eier in die Kiste gelegt hatten, hielten inne. Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. »Dieser verdammte Kaul Agner«, fauchte er plötzlich und zog die Hände zurück. »Wenn ich diesen Sohn eines Viehtreibers erwische, dann könnte ich am liebsten –« Er ballte die rechte Faust und schlug sie wütend in die offene Handfläche.
Beim Knallen zuckte Paul zusammen, und Dean bemerkte, wie das Gesicht seines Freundes schlagartig blasser wurde. »Also gibt es immer noch keine Anhaltspunkte und Hinweise?«, fragte Dean vorsichtig, ohne den Blick von Dieters zorniger Miene abzuwenden.
»Oder dieser Kaul Agner hat die Stadt verlassen und ist auf der Flucht«, fügte Paul schnell hinzu.
»Wer weiß … das hoffe ich für ihn! Meine arme Samantha hat von ihm einen Heiratsantrag erhalten – sonst hätte sie sich mit ihm nicht eingelassen. Und dann ist er auf einmal verschwunden, und niemand weiß, wo sich diese Ratte versteckt hält!« Dieter atmete schwer aus, als müsste er die Wut mit dem Atem loswerden. Sein Gesicht entspannte sich ein wenig, als er die beiden musterte. »Naja, und ihr schlendert auf dem Marktplatz rum? Oder wo wollt ihr hin?«
»Wir sind auf dem Weg zur Abenteurergilde, da Dean sich entscheiden muss – Abenteurer oder Soldat. Wir müssten auch gleich wieder los, bevor die Zeit um ist: um 13:45 muss er sich beim Lehnsherren Baldouar melden, und wir haben schon 12:30«, erklärte Paul und zeigte während des Sprechens auf die Kirchturmuhr.
Bei den Worten »Lehnsherren Baldouar« grinste Dieter. »Zum lieben alten Benedikt? Ich habe Ewigkeiten nichts mehr von ihm gehört. Grüßt ihn bitte von mir. Er kann gerne mal wieder vorbeischauen und mit uns einen trinken.« Er lief um seinen Stand herum, trat vor die beiden. »Und euch wünsche ich auf jeden Fall viel Erfolg!«
»Machen wir, hab Dank«, verabschiedete sich Dean mit einer Umarmung von Dieter.
Dann wandte sich Dieter zu Paul, den er ebenfalls herzlich umarmte.
»Mach dir nichts draus. Vergiss einfach diesen Kaul Agner und konzentrier dich lieber auf die wichtigen Dinge. Deine Tochter wird sicher jemanden finden, der besser für sie geeignet ist«, sagte Paul zu Dieter mitten in der Umarmung.
»Ach Paul, du wärst sicher ein guter Schwiegersohn. Du bist immer so lieb, nett und vorbildlich. Ich wünschte, du würdest meine Tochter zur Frau nehmen«, flüsterte Dieter mit einem väterlichen Blick, was Dean hören konnte.
Dean unterdrückte ein Lachen. Die Worte klangen so ironisch, dass er kaum an sich halten konnte. Als Dieter sich wieder hinter seinen Stand stellte, winkten beide noch einmal und liefen weiter.
»Hast du das gerade gehört?«, grinste Paul fragend zu Dean, als sie sich schon weit von Dieters Stand entfernt hatten. »Er hätte mich am liebsten als Schwiegersohn.«
»Ja, hab ich. Aber wenn er wüsste, dass er vor sich Kaul Agner hatte und ihm das gesagt hat, dann würde er dich mit der Mistgabel durch die Straßen jagen!«, lachte Dean, bei dem Gedanken, wie Paul fliehend von Dieter beschimpft würde.
»Verdammt, stimmt. Das habe ich vergessen. Durch seine Schmeicheleien habe ich selbst schon Kaul Agner gehasst und wollte mich bei ihm mit Dieter rächen«, sagte Paul und schlug sich mit der Handfläche auf die Stirn.
Sie schlenderten weiter durch die engen Gassen des Marktes und unterhielten sich leise über die Rettungsmission von Anna – darüber, wie sie sie finden und was sie danach tun würden. Gerade als Paul Dean erzählte, wohin er gerne als Erstes reisen würde, baute sich plötzlich eine Gestalt in einem dunklen Umhang direkt vor ihnen auf. Der schwere Stoff umhüllte den Körper wie ein Schatten, und die Kapuze hing so tief ins Gesicht, dass keine Gesichtszüge erkennbar waren. Dean zuckte instinktiv zurück. Es war, als würde der Schatten des Fremden das Licht verschlucken – die Sonne wirkte plötzlich matter, gedämpfter, und ein Hauch von Kälte wehte durch die Luft.
»Was ist?«, fragte Dean vorsichtig und musterte die Gestalt von oben bis unten.
Er hatte schon öfter von solchen zwielichtigen Gestalten gehört, die alles Mögliche verkauften – von Kräutern bis hin zu Häusern. Daher wunderte es ihn nicht, dass niemand in der Umgebung weiter Beachtung schenkte. Ein Moment der Stille folgte, während das geschäftige Murmeln des Marktplatzes sie umgab. Dann sprach die Gestalt leise, mit rauer, kratziger Stimme – kaum mehr als ein Flüstern, das nur für ihre Ohren bestimmt war.
»Ihr beide… seht aus, als würdet ihr bald auf eine Reise gehen.«
Dean und Paul tauschten einen kurzen Blick. Die Augen des Fremden blieben im Schatten verborgen, doch ein leichtes Funkeln schien unter der Kapuze aufzublitzen.
»Ich wollte nicht lauschen…«, fuhr die Stimme fort, »…aber ich habe euch gehört. Und ich habe etwas für euch. Etwas Seltenes.«
Die Gestalt hob langsam ihren linken Arm, schob den Umhang zur Seite – und offenbarte in der Tiefe des Stoffes ein ovales Ei. Es glühte sanft in orange-goldenem Licht, wie eine schlafende Glut. Die Oberfläche war glatt, fast lebendig. Ein sanftes Pulsieren ging davon aus, als würde es in einem eigenen Rhythmus atmen. Ein leiser Hauch von Wärme strömte in die kalte Luft, vermischte sich mit dem Duft der Marktstände.
