Arkanes Hamburg - Nils Krebber - E-Book

Arkanes Hamburg E-Book

Nils Krebber

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Beschreibung

Willkommen in einer Hansestadt voller Geheimnisse und Magie – dem arkanen Hamburg. Nixen und Vampire schmieden finstere Pläne gegeneinander und spielen mit den Bewohnern der Metropole ein undurchschaubares Spiel. Elwine, die rachsüchtige Herrin der Elbe, windet sich unruhig in ihrem Grab. Eigentlich war sie dazu verdammt, auf ewig zu schlummern ... Willkommen zu einer Anthologie, die im eigentlichen Sinn keine ist. Jede Kurzgeschichte ist andersartig, aber mit der darauffolgenden verknüpft, und so erzählt dieses Buch eine gemeinsame Geschichte. Wiederkehrende Figuren, Schauplätze und Pläne offenbaren Hamburgs Mysterien. Niedergeschrieben haben diese Geheimnisse Marco Ansing, Nils Krebber, Stefanie Mühlenhaupt, Katja, Rostowski, Gordon L. Schmitz, Charlotte Weber und Vincent Voss.

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Impressum
Einleitung
Moin, moin, liebe Leserinnen und Leser, willkommen in einem Hamburg voller Geheimnisse.
Phantome in Altona
Pock! Pock! Pock!
Das Rote Horn
Hamburger Deckel
Das Blutopfer
Sehnsucht nach der Elbe
Die letzte Reise der Balthasar
Vitae

Arkanes Hamburg

Marco Ansing (Hrsg.)

Impressum

Lektorat: Calin Noell https://ww.calin-noell.de

Korrektorat: Roland Blümel www.roland-bluemel.de

Cover-Illustration: Saskia Lackner https://www.saskia-illustration.de

Umschlaggestaltung: Julia Strauch

ISBN 978-3-947805-88-4 (E-Book)

ISBN 978-3-947805-91-4 (Print)

1. Auflage, 2021

© Epyllion Verlag – alle Rechte vorbehalten.

Epyllion Verlag

Jochen G. Fuchs

Ludwigstraße 23

76709 Kronau

[email protected]

www.epyllion.de

Einleitung

Moin, moin, liebe Leserinnen und Leser, willkommen in einem Hamburg voller Geheimnisse.

Haben Sie jemals von den Elbgeistern gehört, die das Wasser des wichtigsten Flusses Hamburgs gegen die Deiche jagen? Oder von den Nixen, die immer wieder am Ufer gesehen werden? Und dann gibt es noch die unheimlichen Geschöpfe, die den Fischern in die Netze gehen. Unzählige Sagen und Geschichten ranken sich um die Freie und Hansestadt Hamburg.

Feenwesen, Kreaturen der Elemente, sind in Hamburg schon lange bekannt. Und daher stützen wir uns bei unseren sieben Geschichten auf die Legende: „Die Elbjungfer“, die als wunderschönes, junges Mädchen regelmäßig auf dem Markt der Stadt einkaufen geht. Und wie das so ist in einem Märchen, dauert es nicht lange, bis ein junger Mann vollkommen von ihrem Anblick verzaubert ist. Er wagt es, sie anzusprechen und beide sind einander schnell zugetan. So erfährt er, dass sie die Tochter des Elbkönigs ist und gemeinsam mit ihm und ihren Brüdern im Wasser des mächtigen Flusses,Ұ 㭑der Elbe, lebt.

Da sie sich weigert, bei ihm an Land zu bleiben, schlägt er schwer verliebt vor, mit ihr gemeinsam in der Tiefe zu leben. Angetan von seinem Angebot taucht die junge Nixe hinab, um ihren Vater um Erlaubnis zu bitten. Sehnsüchtig erwartet der junge Mann das verabredete Zeichen: Einen an der Wasseroberfläche aufsteigenden Apfel als Zusage, dass er seiner Geliebten folgen darf. Stattdessen aber färbt dunkles Blut die Elbe und berichtet von ihrem grausamen Tod durch den Zorn ihrer Brüder. Aus dem jungen Mann wird zwar ein reicher Kaufmann, doch sein Herz gehört für immer der getöteten Elbjungfer.

Damit ist die Geschichte jedoch noch nicht beendet. In der Sage „Die zornigen Wassergeister“ heißt es, dass die Geschöpfe des Meeres den Tod der Elbjungfer an den Menschen rächen. Nixen locken Schwimmer und Spaziergänger an und reißen sie in die Tiefen der Elbe. Bauten am Ufer werden durch auftauchende Meermänner zerstört, und auch die Elbgeister machen den Hamburgern durch Flutkatastrophen das Leben immer wieder schwer ...

Diese Legenden sind wunderbare Grundlagen, um über die Geheimnisse der Hansestadt zu schreiben. Denn obwohl Hamburg als „Tor zur Welt“, mit einem berühmten Hafen und durchzogen von unzähligen Kanälen – auch Fleete genannt – so modern wirkt, offenbaren diese Sagen eine ganz andere Seite der Stadt.

Aus diesem Grund trägt diese Anthologie den Titel: „Arkanes Hamburg“, denn arkan bedeutet geheim bzw. Geheimnis.

Das größte Geheimnis ist allerdings keines: In Wirklichkeit handelt es sich gar nicht um einen Kurzgeschichtenband, sondern um einen Episodenroman. Alle Geschichten sind miteinander verknüpft und stehen doch für sich. Jede einzelne bringt Sie ein Stück näher an die wahren Machenschaften hinter Deichen, in den Kontoren und Kaufmannshäusern, auf den Brücken und in den Fleeten: Alles dreht sich um Elwine, die Elbjungfer.

In der Geschichte von Nils Krebber, „Phantome in Altona“, untersucht Kommissar Jan Smit den Selbstmord mehrerer Kinder, die dem Augmented Reality-Spiel XCess verfallen waren und nahe der Elbe verschwunden sind.

Stefanie Mühlenhaupt erzählt in „Pock! Pock! Pock!“ Die Geschichte des Naturwissenschaftlers Professor Doktor Schlacker. Spukt es in seinem Anwesen? Und was planen die nassen Bewohner des Nebenhauses?

Die Protagonistin Sirena in „Das rote Horn“ von Charlotte Weber ist eine Meerjungfrau, die in Hamburg das rote Horn sucht. Einer Legende nach soll es magische Fähigkeiten besitzen, und schnell wird der jungen Frau klar, dass es niemals in die falschen Hände geraten darf, wenn ihre menschlichen Freunde überleben sollen.

Vincent Voss lenkt in „Hamburger Deckel“ zwei Beamte der Finanzbehörde zur Baustelle der Autobahn A7. Der Deckel wird gebaut, doch weshalb wurden dafür Unmengen an Salz bestellt? Und wieso sind vor Ort immer wieder Herren in schwarzen Anzügen zu sehen?

In meiner Geschichte „Das Blutopfer“ wird klar, dass die wahren Herrscher Hamburgs die Vampirfamilien sind. Doch als eines ihrer Mitglieder, der Exekutor Jonathan, eine merkwürdige Flüssigkeit untersucht, stellt sich plötzlich die Frage, ob das Machtgefüge so bleiben wird.

Wer einmal unter Elwines Bann gestanden hat, wird für immer die Elbe lieben. So ergeht es auch Katja Rostowskis Hauptfigur in „Sehnsucht nach der Elbe“. Doch als Anja ein Handel aufgezwungen wird, der diese große Liebe in Gefahr bringt, steht sie plötzlich vor der Frage, wem sie eigentlich vertrauen kann.

In Gordon L. Schmitz’ Geschichte „Die letzte Reise der Balthasar“ begleitet der Student Finn eine Expedition: Es soll nach dem Wrack der Gottfried getaucht werden, einem Zweimaster, der 1822 vor Cuxhaven gesunken ist. Dann aber geschehen seltsame Dinge an Bord und die Besatzung scheint nirgendwo mehr sicher zu sein.

Genug geschnackt. Treten Sie ein, machen Sie es sich gemütlich, tauchen Sie hinab und entdecken Sie die Geheimnisse dieser wunderschönen Hansestadt.

Viel Spaß mit „Arkanes Hamburg: Fluch aus der Tiefe“.

Tschüss Marco Ansing (Herausgeber)

Arkanes Hamburg

Fluch aus der Tiefe

Ein Episodenroman

Nils Krebber

Stefanie Mühlenhaupt

Charlotte Weber

Vincent Voss

Marco Ansing

Katja Rostowski

Gordon L. Schmitz

Willkommen in einer Hansestadt voller Geheimnisse und Magie.

Phantome in Altona

von Nils Krebber

Die Begegnung mit den Eltern zehrte an Jan Smit. Er war heilfroh, dass seine Kollegin Linda Pöhl ihn begleitete, denn er selbst wusste nie, was er in solchen Fällen sagen sollte. Seine eigene Tochter war knapp ein Jahr nach dem Tod seiner Frau ebenfalls ins Wasser gegangen. Das machte es kein Stück einfacher, es anderen zu erklären.

Und das Grausamste dabei: Er musste in den Gefühlen der Eltern herumpfuschen, ihnen Hoffnung machen, wo es fast keine gab. Denn nachdem Taucher, Hubschrauber und Wärmebildkameras nichts gefunden hatten, lag die Chance, dass ihr Sohn noch lebte, quasi bei null.

Danach würden die Schuldzuweisungen folgen, weil sich jeder wünschte, dass es sich nicht um Suizid handelte, und dass es irgendjemanden gab, den man verantwortlich machen konnte.

Bei ihm waren es die Dealer gewesen. Er hatte da ganz harte Saiten aufgezogen und seinen Zuständigkeitsbereich einige Male erheblich überschritten. Aber geholfen hatte es ihm nicht, nur seine Karriere ruiniert.

Wenn dann nichts dabei herauskam, war das Erwachen noch furchtbarer: die Erkenntnis, dass der Mensch einen verlassen hatte. Denn danach fing man an, sich selbst zu beschuldigen.

Jeder, der glaubte, dass Suizid nur ein einziges Opfer forderte, hatte noch nie mit Hinterbliebenen gesprochen.

Aber zu Smits Überraschung gab es diesmal tatsächlich eine Spur, etwas Greifbares.

„Es hat bestimmt mit diesem Spiel zu tun. Er ging jede Nacht raus, rannte durch die ganze Stadt und traf sich mit anderen Kids. Wer weiß, was die da treiben?“ Daran klammerte sich der Vater. Er stammte aus Smits Generation, Mitte vierzig. Zu alt, um ein digitaler Eingeborener zu sein, aber jung genug, um die Gefahren sozialer Medienphänomene zu erfassen.

„Kennen Sie einen von diesen Kids?“, hakte Pöhl nach. Sie war Vollprofi. Warum sie sich mit einem Versager wie ihm abgab, würde Smit nie verstehen.

„Eigentlich nicht. Die haben alle so komische Spitznamen.“ Er nannte einige nichtssagende Kürzel und Zahlenkombinationen. Smit notierte sie trotzdem. Pöhl setzte die Befragung fort, führte das Gespräch vorsichtig weg von ihrer Besessenheit mit dem Handyspiel und klapperte die anderen typischen Anzeichen ab: Mobbing, Schulleistungen, Drogen. Sie machte sich nicht grade beliebt, aber im Gegensatz zu Smit konnte sie ihre Gefühle in solchen Momenten im Zaum halten. Sie ließ die Wut, Angst und schließlich die Verzweiflung der Eltern nicht an sich heran.

Als sie gingen, fiel auch Pöhls Fassade. Im Dienstwagen legte sie die Stirn ans Lenkrad und atmete einmal tief durch.

„Verdammt, Jan, das ist doch alles Scheiße!“ Sie richtete sich wieder auf, strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht und anschließend eine verirrte Träne aus dem Augenwinkel. Dann klappte sie die Sonnenblende herunter, um ihr Make-up zu kontrollieren. Smit wusste, dass sie darunter blass war, auch wenn sie das gut kaschierte. Aber an den geröteten Augen war wenig zu machen.

Pöhl nahm man das Nordlicht ab, obwohl sie aus Gelsenkirchen kam. Smit mit seinen schwarzen, krausen Haaren und seinem kaffeefarbenen Teint glaubte das kein Mensch, ungeachtet der Tatsache, dass seine Familie seit über hundert Jahren in Hamburg lebte.

„Hoffentlich sind wir da nicht tatsächlich an so eine Suizidcommunity geraten“, murmelte sie. „Blue Whale machte doch grade Schlagzeilen.“

Jan schnaubte verächtlich. „Es gibt keine Beweise, dass diese Spiele wirklich zu Suiziden geführt haben.“

„Allein der Medienrummel ist schon ein Problem. Jugendsuizid ist bei uns zwar nicht so häufig wie in anderen Ländern, aber jeder Fall ist einer zu viel. Und wenn man dann noch über soziale Medien dazu ermutigt wird ...“ Sie verstummte und schaute ihn kurz an. „Sorry, ich ...“

„Ist okay.“ War es nicht, und das musste ihr klar sein. Doch selbst unter Partnern ließ man einige Dinge ungesagt. „Lass uns diese Freunde aushorchen. Wenn ich das hier richtig lese, gibt’s heute Abend ein Treffen.“ Er hielt sein Smartphone hoch, auf dem ein Google Hangouts Termin zu sehen war.

XCess Emerald Knights – Chapter Altona.

„Wie hast du die so schnell gefunden?“

„Sie sind alle bei Google+“

„Google+?“

Er zuckte mit den Schultern. „Als Vater war es wichtig, ein Auge auf sowas zu haben. Man gewöhnt sich schnell dran.“

„Ja, aber Google+ – das nutzt doch keine Sau, oder?“

Jan ignorierte die Spitze und nannte Pöhl die Adresse.

Sie trafen die Gruppe abends am Straßenpflaster, einem Jugendclub in der Altonaer Altstadt. Im Hof warfen ein paar Jungs Körbe, auf der Straße davor stand eine Gruppe, bei der sie vermuteten, dass es sich um die Emerald Knights handelte. Es war eine überraschend gemischte Truppe. Eine weiße Frau mit Kopftuch und ein hellhäutiger Mann mittleren Alters, drei Teenager und ein vielleicht zehn- oder elfjähriges Mädchen befanden sich vor dem Clubgebäude. Sie wischten auf ihren Mobiltelefonen herum und unterhielten sich währenddessen leise. Viele von ihnen trugen einen Stecker im Ohr und hatten die Smartphones noch an tragbare Akkus angeschlossen. Sie beachteten die beiden Polizisten erst, als diese direkt vor ihnen stehen blieben.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass das hier das Treffen der Emerald Knights ist?“, fragte Smit.

Die Frau lächelte ihn an und nickte. „Und wer seid ihr? Galvatron? Nekroskop? Oder ganz Neue?“ Während sie sprach, fingerte sie weiterhin auf dem Smartphone herum, musste aber anscheinend gar nicht mehr auf das Display schauen.

„Weder noch. Pöhl, mein Name. Mordkommission.“ Sie zückte ihren Ausweis und hielt ihn hoch. „Das ist mein Partner, Kommissar Smit.“ Die Teenager zuckten zusammen. Der hellhäutige Mann sah sie misstrauisch an. Dann hob er sein Smartphone, machte erst ein Foto ihres Ausweises und dann von ihnen.

„Was soll das?“, fragte Smit genervt.

„Kann ja erstmal jeder behaupten, dass er von der Polizei ist. Und so ein Ausweis ist schnell ausgedruckt und einlaminiert.“ Er tippte auf seinem Telefon herum. „Hm, sieht auf den ersten Blick gut aus, aber eine Onlineüberprüfung gibt’s immer noch nicht. Ehrlich, ihr hängt ein bisschen hinterher, was die neuen Technologien angeht.“

Pöhl blieb ruhig, Smit kochte innerlich. Er war es gewohnt, dass ihm niemand den Polizisten abnahm. Das hatte er mit Pöhl gemeinsam. Eine Blondine und ein Schwarzer, das ging doch gar nicht. Andererseits gab es wirklich genug Betrugsfälle mit falschen Beamten. Ein gesundes Misstrauen begrüßte er, solange es nicht jedes Mal aufgrund seiner Hautfarbe aufkam.

„Wenn Sie uns nicht glauben, wählen Sie einfach 110 und fragen nach.“

Leere Blicke folgten als Antwort.

„Ihr habt da doch alle Smartphones in der Hand, dann ruft halt an. Dafür ist die Nummer da.“

Die Frau schien peinlich berührt. „Nein, ist schon in Ordnung. Ich glaube, wir können den beiden vertrauen, Leute.“

Die Jugendlichen murmelten miteinander und spielten weiter auf ihren Smartphones herum, dann kicherten sie.

„Also, Herr und Frau Kommissar, wie können wir Ihnen helfen?“

Pöhl kam direkt zur Sache. „Wann haben Sie Markus Schierenbeck das letzte Mal gesehen?“

Wieder die leeren Blicke. Dann, ohne von seinem Telefon aufzublicken, meldete sich einer der Teenager, ein asiatisch aussehender Junge mit einem langen Pony, der ihm ins Gesicht fiel. „Er meint Phantomjäger.“

Das schien den Anwesenden etwas zu sagen.

„Ach so – der war seit zwei Wochen nicht mehr bei den Treffen“, erklärte die Frau, anscheinend die Sprecherin der Gruppe. „Leider! Er ist Level 15, davon haben wir nicht viele. Aber er hat die Sache mit dem Phantom zu ernst genommen.“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Ich heiße Fatima, Fatima Ata. Die anderen kennen mich als LaLeLu.“ Sie stellte den Rest der Knights vor, die sich mit ihren Spitznamen aus dem Spiel ansprachen. Der ältere Herr war Klaus Kramski, bekannt als Exilbremer, die Jungs nannten sich Craccer2k, Biterolf und IcePeak, während die Kleine einfach nur PrettyPony hieß.

Fatima schaute Pöhl besorgt an. „Was ist denn mit Markus? Hat er Ärger?“

„Markus Schierenbeck wird seit gestern Nacht vermisst. Er wurde das letzte Mal beim Dockland gesehen. Dort ist er in die Elbe gestürzt. Warum, ist noch unklar, ebenso, was er da wollte. Sein Vater gab uns den Tipp, mal bei Ihnen nachzufragen. Laut seiner Aussage waren Sie oft miteinander unterwegs“, skizzierte Pöhl den Fall.

Fatima war bleich geworden, und die Kids starrten Smits Kollegin jetzt ungläubig an. Der Exilbremer schlug die Hände vor sein Gesicht.

Die junge Frau fasste sich zuerst. „Das stimmt, wir waren oft gemeinsam unterwegs, um Portale zu hacken und Muster zu bauen, aber wir passen aufeinander auf. Seit Markus hinter dem Phantom her war, haben wir ihn kaum noch gesehen.“ Sie drehte sich zu den Kids um. „Jemand von euch?“

Die Jungs schüttelten den Kopf, die Kleine schaute zu Boden. Exilbremer antwortete: „Gesehen ist zu viel gesagt, aber er war nachts unterwegs. Ich habe seine Portalhacks verfolgt, doch auf den Chat hat er nicht reagiert.“

„Portalhacks?“, hakte Smit nach.

„Darum geht es in XCess. Wir erobern Portale für unsere Fraktion und versuchen, so viel Gebiet wie möglich abzudecken.“

Pöhl und Smit wechselten einen skeptischen Blick.

Fatima lächelte. „Das hört sich komplizierter an, als es ist. Wir wollten grade los. Kommen Sie doch mit, dann können wir unterwegs über Markus sprechen und Sie kriegen gleich einen Eindruck, um was es bei XCess und den Knights geht.“ Sie wandte sich an die Gruppe. „Wenn das für euch okay ist? Wenn einer von euch nach Hause will, ist das in Ordnung.“ Sie kniete sich neben das Mädchen, das tapfer gegen seine Tränen ankämpfte. „Ich bin sicher, Phantomjäger geht es gut. Er wurde nur noch nicht gefunden. Bestimmt ist er irgendwo elbabwärts an Land geschwommen.“ Sie sah die Polizisten hilfesuchend an.

Smit sah weg, als Pöhl die üblichen Phrasen herunterratterte: Noch ist nichts sicher, viele verschwundene Jugendliche tauchen wieder auf, und so weiter und so fort.

Seit er all das selber hatte hören müssen, konnte er es nicht mehr ertragen.

Pöhls Smartphone summte. Sie nahm das Gespräch sofort entgegen. Nach einem kurzen Wortwechsel verzog sie das Gesicht, als hätte sie einen beherzten Bissen von einer Zitrone genommen. Sie legte auf und nahm Smit zur Seite.

„Geh du mit ihnen. Böhmer hat mich zu einer Sonderbesprechung abberufen. Nargov hat ihm wieder irgendeinen Floh ins Ohr gesetzt.“

Smit verdrehte die Augen. „Diese Sondereinsätze von Nargov stinken zum Himmel.“

„Ich pass auf mich auf. Schau du, was du hier noch rausfinden kannst.“

Smit stimmte zu. Wenn ihm das einen Einblick in das übliche Umfeld des Jungen gab, konnte das nur helfen.

Sie verabschiedete sich mit einem Boxhieb gegen seine Schulter und eilte zum Wagen. Smit ging zurück zu Fatima.

„Okay, dann zeigen Sie mir mal, was Markus und Sie so gemacht haben.“

Fatima winkte den anderen zu, und die Kids liefen los. Exilbremer und LaLeLu blieben auf Smits Höhe.

Der Mann blieb meist still, während Fatima Smit erklärte, was sie eigentlich taten.

Zunächst gingen sie in Richtung einer kleinen Kirche nahe dem Fischmarkt, eine schöne Nebenstraße, überschattet von dichten Baumkronen. Eine bunte Mischung an Hamburgern war unterwegs. „Da vorn wurde Louis Gurlitt geboren, wussten Sie das?“ Fatima deutete auf ein Eckhaus. Tatsächlich prangte eine Plakette daran, die das Geburtshaus des Landschaftsmalers kennzeichnete.

„Sie interessieren sich für Malerei?“ Smit war beeindruckt.

„Nicht besonders, aber das ist das Schöne an XCess: Man entdeckt viel und lernt etwas über seine Umgebung.“ Sie zeigte ihm ihr Smartphone. Auf dem Display schwebte über dem Haus ein blauer Kristall, daneben ein Bild der Plakette und einige Zeilen Beschreibung.

„Die Portale sind von ganz normalen Menschen erstellt worden, die sich einfach umgesehen und interessante Orte markiert haben. Daraus besteht die Welt von XCess. Sie lenkt spielerisch den Blick auf Dinge, die man im Alltag schlicht ignoriert.“

Sie tippte auf das Portal, die Kids und der Exilbremer taten anscheinend dasselbe. Grüne Strahlen umspielten den Kristall auf dem Display, und nach kurzer Zeit änderte das Portal seine Farbe in Smaragdgrün.

„Und jetzt haben Sie gesehen, wie die Knights ein Portal für die Defender eingenommen haben. Das ist unsere Fraktion, unsere Mannschaft, wenn Sie so wollen. Wir verteidigen den Planeten gegen die Eindringlinge, die die Invader in unsere Welt bringen wollen. Dazu müssen wir die Portale kontrollieren.“

Während sie weitergingen, tippte die junge Frau ein paarmal auf ihr Display. Statt des Kamerabildes erschien jetzt eine Karte der Umgebung. Grüne und blaue Punkte waren darüber verteilt, viele von ihnen verbanden sich durch farbige Linien. Wo die Linien geschlossene Muster bildeten, nahm das Gebiet darunter die entsprechende Farbe an.

Sie erreichten die Kirche und überquerten die Straße, die zu einem kleinen Park führte. Fatima zeigte ihm weitere diverse Portale. Mal handelte es sich um offensichtliche Dinge wie der Eingang der Kirche oder eine große Pelikanfigur, mal um kleinere, verstecktere Orte, wie zum Beispiel ein Graffito an der Unterführung oder ein Gedenkstein, der an das jüdische Leben erinnerte, fast vollständig verdeckt von den umliegenden Büschen.

Smit war erstaunt, wie viele Dinge ihm das Spiel zeigte, die er ohne diese Hinweise sicherlich übersehen hätte.

„So, jetzt müssen wir aufpassen. Es kann jederzeit zu Feindkontakt kommen.“

„Sie haben Feinde?“ Smit horchte auf.

Fatima lächelte verschmitzt. „Nur im Spiel. Der Fischmarkt und die Umgebung sind traditionell Invadergebiet. Kommt wohl von den vielen besetzten Häusern und dem Hafenklang.“

„Die Invader sind Linke?“

„Na ja, im Spiel sind die Invader diejenigen, die den Status quo über den Haufen werfen wollen, während die Defender für die Regierungen der Welt arbeiten. Ich denke, Sie verstehen, warum die linke Szene eher Invader spielt.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Sie dagegen wären klassischer Defender, wie wir Knights.“

„Was hat es mit dieser Phantomgeschichte auf sich?“, fragte Smit.

„Es kursiert das Gerücht, dass nicht alles im Spiel dokumentiert ist. Immer wieder gibt es Posts von Spielern, die behaupten, andere Dinge gesehen zu haben. Es gibt Screenshots, aber nie Aufzeichnungen im Spielelog. XCess dementiert das und behauptet, es gäbe keine Easter Eggs. Zumindest nicht in Form eines Phantoms, das nur nachts und nur für kurze Zeit über die Augmented Reality zu sehen ist, nur, um dann wieder zu verschwinden.“

Sie waren inzwischen an der Elbe angelangt. Der Blick auf das andere Ufer wurde kurz von einem gewaltigen Kreuzfahrtschiff verdeckt. Fetzen von Animationssprüchen und Partymusik wehten herüber, während sich der Fischgeruch der neuen Auktionshalle auf Smits Nasenwände legte.

Smit kratzte sich am Kopf. „Sorry, alter Mann hier. Augmented Reality? Easter Eggs?“

Fatima unterdrückte ein Lachen. „So viel älter als ich sind Sie nicht, aber Sie haben recht. Man gewöhnt sich so schnell an den Jargon. Augmented Reality ist der Begriff dafür, wenn man mittels eines Geräts, wie unseren Smartphones, etwas anderes über seine Umgebung erfährt. Es bedeutet verbesserte Realität, weil die Informationen im Gegensatz zur virtuellen Realität an die wirkliche Welt gebunden sind.“ Sie zeigte ihm nochmal ein Portal auf ihrem Schirm. „Und ein Easter Egg, also Osterei, ist ein kleines Geheimnis, das Programmierer in Spielen oder Software verstecken. Zum Beispiel sind in manchen Büroanwendungen wie Excel ganze Spiele versteckt. Aber meist wird der Begriff für Dinge verwendet, die man in Spielen nur besonders schwer findet.“

Smits nickte. „Wie dieses Phantom.“

Fatima zuckte mit den Schultern. „Markus glaubte an sie. Er war überzeugt, dass sie entweder von einem Programmierer heimlich eingebaut wurde, oder dass es eine Prüfung ist, das Phantom zu fangen. So als Eintritt zu einem ganz exklusiven Club.“ Smit wunderte sich über den falschen Artikel, wagte aber nicht Fatima zu unterbrechen. Sie strich ihr Kopftuch glatt, das von den scharfen Windböen entlang der Elbe ein wenig gelüftet worden war. „Also suchte er nach merkwürdigen Mustern in den Portalen, denn das Phantom spielt selbst mit.“ Sie zeigte ihm mit dem Smartphone das Portal des Kreuzfahrtterminals, das gerade von den anderen Knights attackiert wurde. „Angeblich zieht sie von Portal zu Portal und erschafft so ein Muster durch die Stadt. Und wenn man dieser Spur von Anfang bis zum Ende folgt, nur dann kann man sie sehen und fangen.“ Sie rollte mit den Augen. „Ganz ehrlich, für mich klang das extrem konstruiert und viel zu kompliziert, doch andererseits wäre es genau das, was ein Easter Egg ausmacht.“ Sie senkte die Stimme. „Markus war besessen von ihr.“

Smit wunderte sich weiter – war das Phantom etwa weiblich? Aus Erfahrung wusste er, dass es bei Zeugenaussagen immer besser war, die Leute erstmal sprechen zu lassen, weil dadurch oft unbewusste Informationen zutage kamen, die sie sonst verheimlichen würden.

Sie rief ein Forum auf dem Smartphone auf, während sie die Straße herunterspazierten. Smit geriet ins Stolpern, weil er versuchte, den kleinen Bildschirm im Auge zu behalten, fing sich dann jedoch wieder.

„Er schrieb ganze Abhandlungen über die Muster, die er beobachtete. Darin lag seiner Meinung nach das Geheimnis, um das Phantom zu fangen. Man musste nur das richtige Schema vorhersehen, um sie zu erwischen.“

Sie traten aus dem Schatten des Kreuzfahrtterminals hinaus. Der Ausblick über den Fluss ließ Smit einen Moment überrascht und ergriffen innehalten.

Die Sonne versank tief im Westen und tauchte den breiten Körper der Elbe in ein strahlendes Rotgold. Die Silhouette des Dockville-Gebäudes ragte einem Schiffsbug gleich in den Himmel, und die Fenster schimmerten wie Wasser, während auf der anderen Seite die Kräne des Hafens ihr ewiges Ballett aufführten. Er konnte nicht verstehen, dass so viele Leute die Schönheit um sich herum gar nicht mehr wahrnahmen und lieber auf ihre winzigen Bildschirme starrten. Da Fatima anscheinend am Ende ihrer Erklärung angelangt war, hakte Smit jetzt nach: „Wieso sagen Sie ständig sie anstatt es?“

Craccer2k, der Asiate, murmelte etwas an Biterolf gewandt, der daraufhin den Kopf in den Nacken warf und stöhnte.

„Weil Phantomjägerglaubt, dass sein Phantom in der Realität ein Mädchen ist“, antwortete Biterolf auf Smits und offensichtlich auch Craccer2ks Frage. Der boxte seinem Freund dafür gegen die Schulter. Eine freundliche Kabbelei brach zwischen ihnen aus.

Der Exilbremer trat neben Smit und hielt sein eigenes Mobiltelefon hoch. „Ein ganz besonderes Mädchen sogar. Er denkt, dass seine Angebetete, Angeldust, in diesen geheimen Club aufgenommen wurde und jetzt als Phantom spielt. Er hat das hier gepostet. Angeblich war das ihre letzte XCess-Aktivität.“ Auf dem Bildschirm standen zwei Zeilen:

Angeldust hat das Spiel verlassen.

Altonaer Phantom hat das Spiel betreten.

Smit ließ sich den Screenshot schicken und machte sich weitere Notizen. „Wie hieß das Mädchen wirklich?“

Der Mann zuckte die Schultern. Fatima scrollte auf ihrem Display, bis sie alte Veranstaltungseinträge fand. „Ich weiß nicht. In den Einladungen steht immer nur ihr Nickname. Sie war nur bei einer Handvoll Treffen dabei.“ Sie ließ das Smartphone sinken. „Antje, Anja oder so? Ich denke, Craccer hat Recht. Markus war wohl ein bisschen in sie verknallt.“

Bei dem Namen setzte Smits Herz einen Schlag aus.

Das ist ein Zufall, sagte er sich. Anja ist ein häufiger Name.

„Sie war immer ganz vernarrt in Die Elbe“ erklärte Fatima, und zeigte auf eine kleine Skulptur vor dem Dockland.

Smit musste nicht hinsehen, um zu wissen, was sie meinte. Die Bronzeskulptur erschien unfertig, wenn nicht gar entstellt. Die Form erinnerte vage an eine weibliche Figur, aber die Gliedmaßen sahen unvollendet aus, als wären sie verformt oder abgetrennt. Das Ganze wirkte verstörend.

„Sie meinte immer, das wäre ein Sinnbild dafür ...“

„... was wir der armen Elbe mit den Begradigungen und Vertiefungen antun würden. Sie verstümmeln, ihre natürliche Schönheit verderben“, führte Smit den Satz zu Ende.

Fatima schaute ihn überrascht an.

„Meine Tochter war auch sehr interessiert an dieser Figur. Und genau hier haben wir Markus’ Mobiltelefon gefunden“, erklärte er.

Und hier war Anja ins Wasser gegangen ...

„Das kann kein Zufall sein“, murmelte Smit, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und kämpfte um seine Selbstbeherrschung. Er haderte einen Moment mit sich selbst, griff in seine Tasche und zog die Hand wieder heraus.

Konnte es wirklich sein? Und wenn ja, wollte er es wissen?

Diese Frage hatte er sich so oft gestellt. Aber er konnte nicht anders. Zögernd nahm er sein eigenes Telefon und starrte ein paar endlose Sekunden auf den Bildschirm. Dann drehte er es um und zeigte Fatima das Hintergrundbild. „Ist sie das?“

Fatima nickte heftig. „Ja, das ist sie! Etwas älter vielleicht, aber ...“ Sie blickte Smit mit großen Augen an. „Wer ist sie?“

Smit schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten.

Anja?

PrettyPony hat das Spiel betreten.

Kommissar Smit verfolgte ihre Bewegungen auf dem Smartphone. Es war kurz nach elf Uhr nachts. Ein kleines Mädchen hatte um diese Zeit nichts auf der Straße zu suchen. Es wurde Zeit, die Verfolgung aufzunehmen.

Der Staatsanwalt vom Dienst hatte ihm zugesichert, eine Anfrage an XCess bezüglich der Datenoffenlegung zu stellen, aber sie wussten beide, dass das ein harter Kampf werden würde. Es gab gerade diverse Verfahren um das Thema Datenschutz. Unternehmen wie XCess verfügten über Legionen von Rechtsanwälten, die jeden Antrag auf Herz und Nieren prüften.

Also hatte Smit improvisiert und sich einfach selbst das Spiel heruntergeladen. Jetzt verfolgte er über den Aktivitätenlog, was die Emerald Knights so trieben.

Das erste Portal, das PrettyPony hackte, war der Brunnen im Park südlich des Altonaer Bahnhofs. Smit machte sich von der Polizeiwache aus auf den Weg, immer ein Auge auf dem Display für neue Updates. Der Altonaer Drache wurde von PrettyPony übernommen und seine Vermutung bestätigte sich. Sie lief schnurstracks den Park entlang Richtung Elbe.

Er beschleunigte seine Schritte. Hoffentlich bremste sie die Ansammlung der Portale am Platz der Republik ein wenig. Der Vorplatz des weißen Rathauses wurde im Gegensatz zum Park gut ausgeleuchtet und überwacht. Er konnte das Gebäude bereits am Ende der Straße sehen. Aber das Glück war ihm nicht hold. Alle Portale vor dem Rathaus leuchteten schon im Grün der Defender, sodass PrettyPony nur im Vorbeigehen einige Verbindungen setzte und sich bereits am Blücher Denkmal westlich des Rathauses befand.

Als er die Palmaille erreichte, eine der ältesten Straßen Hamburgs, blickte er zur knapp dreißig Meter entfernten Ampelanlage, an der PrettyPony sich jetzt befinden müsste. Doch alles Starren half nicht, das Zwielicht machte es ihm unmöglich, dort irgendetwas oder jemanden zu entdecken. Zähneknirschend warf er einen erneuten Blick auf sein Display und fluchte. Die Bronzeplastik war bereits vor zwei Minuten verbunden worden, also konnte er das Mädchen hier nicht mehr finden.

Er lief los, erreichte schnell die Bronzeplastik Fischer die drei Fischer mit erhobenen Rudern zeigte und blickte über den neuen Fischmarkt. Unter ihm befand sich das Dockland, ein sechsstöckiges Gebäude, das durch seinen markanten Querschnitt wie ein Schiffsbug über die Elbe hinausragte. Daneben 'Die Elbe', die Skulptur, bei der Markus Schierenbeck ins Wasser gegangen war, davor ein alter Schiffsverladekran. Er fragte sich, ob das Mädchen sich nach links wenden würde, in den Park hinein, am Café vorbei zu den Treppen, die der Junge benutzt hatte? Oder rechts den Elbberg hinunter? Schnell scrollte Smit durch den Aktivitätenlog des Spiels. Das nächste Portal, das PrettyPony nutzte, würde ihm die Richtung weisen.

Eine Minute verstrich, noch eine. Nichts passierte. Das ergab keinen Sinn. Allein hier oben auf der Aussichtsplattform befanden sich ein halbes Dutzend Portale, mit denen sie interagieren könnte, aber nichts geschah.

PrettyPony hat den ‚Alten Elbkran‘ eingenommen.

Smit starrte auf sein Display. Wie war sie denn jetzt schon so weit gekommen? Dann dämmerte es ihm.

Er trat an den Zaun, der den steilen Elbhang absperrte. Anja war ihn früher auch mit Freunden heruntergekraxelt, trotz seines Verbotes und gegen jeden gesunden Menschenverstand.

Smit schob sein Smartphone in seine Manteltasche, schwang seine Beine über die hüfthohe Absperrung und suchte Halt an einigen der verkrüppelten Büsche, um irgendwie die zwanzig Meter Höhenunterschied zu bewältigen. Er schaffte zwei, bevor er abrutschte.

Er überschlug sich mindestens dreimal, prellte sich den Ellenbogen schmerzhaft an einem Stein und zerriss sich Hemd und Unterarm am Gestrüpp. Ausgerechnet jetzt hörte er Pöhls Stimme in seinem Hinterkopf, als stünde sie direkt neben ihm: „Das Glück ist mit den Dummen.“

Verdammt, warum war sie nicht hier?

Als das Klingeln in seinen Ohren und die Übelkeit ein wenig nachließen, rollte er sich erst auf alle viere und kam schließlich torkelnd auf die Beine. Langsam, dann entschlossener schritt er über die Straße und suchte verzweifelt nach dem kleinen Mädchen. Zumindest war er den Hang schneller heruntergekommen als sie. Er ertastete das Smartphone in seiner Manteltasche und zog es hervor. Wie durch ein Wunder war es unversehrt geblieben. Er sah genau die Meldung, die er befürchtet hatte.

PrettyPony greift ‚Die Elbe‘ an.

Und da war noch etwas anderes. Unsicher hielt er das Display näher an sein Gesicht. Um das Portal herum schien irgendetwas zu wabern, wie eine blaue Aura. Das hatte er noch nie gesehen. Er hob den Blick und bemerkte die Silhouette des kleinen Mädchens neben der Skulptur. Er versuchte, etwas zu rufen, brachte aber nur ein Krächzen hervor. Was war das?

Er schaute wieder auf das Display, während er weiterlief. Dort meinte er noch andere Figuren zu sehen, schemenhaft. Er glaubte einen Moment, Namen und Zahlen erkennen zu können. Das blaue Wabern auf dem Bildschirm wurde heller, schien sich über sein Gesicht zu legen.

Er erreichte den Schlagbaum, der das Gelände des Docklands absperrte und duckte sich darunter hindurch. Als er sich wieder aufrichtete, war ihm schwindelig und einen Moment lang sah er drei Gestalten neben der Skulptur statt einer. Es rauschte in seinem Kopf, als würde er sich eine Muschel ans Ohr halten. Wie durch Wasser kämpfte er sich voran, schnappte nach Luft.

Er war vielleicht noch fünf Meter von PrettyPony entfernt, als die kleine Gestalt einen Schritt nach vorn machte und ins Wasser stürzte.

„Nein!“, hörte er sich schreien.

Kurz bevor sie auf der Oberfläche auftraf, reckten sich ihr zwei bläulich schimmernde Arme entgegen und nahmen sie in Empfang wie eine Mutter ein lange verloren geglaubtes Kind. Es gab kein Klatschen, keine Wasserfontäne. Sie war fort. Es schien, als wäre das Mädchen nie da gewesen.

Ohne Zögern sprang er hinterher. Die Kälte umfing ihn wie eine eiserne Faust, drückte die Luft aus seinen Lungen. Die Dunkelheit umfasste all seine Sinne.

Verzweifelt strampelnd bewegte er sich nach unten in die Tiefe. Sah er dort ein blaues Licht? Eine Flosse? Er kämpfte sich weiter, ignorierte das Rauschen in seinem Kopf und den Druck auf seiner Brust. Wenn er es nur erreichen könnte ...

Das Licht erlosch.

Er hatte keine Ahnung, woher er die Kraft nahm, um wieder an die Oberfläche zu schwimmen. Oder wie er sich eine der Leitern an der Kaimauer hochkämpfte und dann zu Boden ging. Warum er überhaupt versuchte, sein Smartphone zu benutzen, wusste er später nicht mehr. Das Letzte, was er bewusst sah, waren zwei Zeilen.

PrettyPony hat das Spiel verlassen.

Altonaer Phantom3 hat das Spiel betreten.

„Und somit bleibt abschließend zu sagen: Der menschliche Geist sehnt sich nach dem Übernatürlichen, seien es Sirenen, Wassermänner oder kleine graue Männchen. Solange es Menschen gibt, werden sie sich wünschen, da draußen wäre etwas Übersinnliches, das so neidisch auf uns ist, dass es uns entführen will. Es ist die grundlegendste Form des Eskapismus. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit in einer unpersönlichen Welt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren.“

Lautes Klopfen ertönte im großen Hörsaal des Zoologischen Museums. Smit klopfte aus Höflichkeit, taxierte den kleinen Mann mit dem zerzausten, weißen Haar jedoch eindringlich: Professor Adalbert Schlacker, promovierter Biologe und Experte für das Entlarven kryptozoologischer Phänomene, Wolpertinger und Ähnliches. Aber auch, und deshalb war Smit hier, Geister, Erscheinungen und Meerjungfrauen.

Er schob sich an einer Traube Studenten vorbei, die Schlacker mit Fragen bombardierten und hielt seinen Dienstausweis in die Höhe.

„Professor Schlacker? Jan Smit, Kriminalpolizei Hamburg. Ich muss mit Ihnen sprechen.“

Schlacker sah ihn skeptisch an. „Jan Smit, sagen Sie? Ist das ein blöder Scherz?“

Na großartig, dachte Smit. Die alte ‘wo kommen Sie her, nein ursprünglich, nein Ihre Eltern’-Unterhaltung. Er hatte jetzt keinerlei Lust auf eine derartige Diskussion über Alltagsrassismus und zwang seine Konzentration auf den Fall.

„Keineswegs, Professor. Tatsächlich geht es um eine sehr ernste Angelegenheit. Können wir vielleicht irgendwo sprechen, wo es ruhiger ist?“

Jetzt betrachtete Schlacker seinen Ausweis. Er schüttelte den Kopf. „Na ja, Zufälle gibt es halt. Sie entschuldigen, aber bei meiner Arbeit werde ich oft mit mehr oder weniger lustigen Scherzen konfrontiert. Sie glauben nicht, wie viele Dorian Grays, Frankensteins und Moreaus mir schon ihre Aufwartung gemacht haben.“ Er packte seine letzten Unterlagen akribisch in eine alte, lederne Aktentasche, während sich die Studenten nach einem Blick auf Smits Dienstmarke zum Glück schnell verzogen.

Schlacker führte den Kommissar die Treppe hinauf aus dem Hörsaal.

„Dann ging es nicht darum, dass ein Schwarzer doch wohl nicht Smit heißen kann?“, hakte Smit nach, kaum dass es ruhiger geworden war.

Schlacker hielt einen Moment erstaunt inne. „Wieso das denn nicht? Zwar mag der Anteil von Schwarzen in Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen sein, dennoch sind sie hier seit hunderten von Jahren vertreten. Warum sollten Sie also nicht Smit heißen?“

Smit war erleichtert. „Jetzt muss ich mich entschuldigen. Tatsache ist, dass diese Fakten einen Großteil der Bevölkerung überfordern. Ich scheine in diesem Fall schlecht informiert zu sein. Wie eignet sich mein Name denn als Scherz?“

Plötzlich klang Schlacker streng. „Da haben Sie wohl nicht besonders genau in meiner Vorlesung zugehört.“

Smit fühlte sich ertappt. „Ähm, ich bin erst später dazugekommen“, murmelte er.

„Wir sind in Hamburg, ich referiere über Meerjungfrauen, und danach kommt ein Mann namens Jan Smit auf mich zu. Derselbe Name wie der eines Kapitäns, der laut der Sage seine Mannschaft vor einer Meerjungfrau gerettet hat.“ Schlacker zupfte an seinem Kinnbärtchen und führte Smit in ein Nebenzimmer, in dem einige Studenten herumlungerten. Smit scheuchte sie mit einem bösen Blick und Winken seines Dienstausweises hinaus und schloss die Tür.

„Ein klassisches Beispiel für meine Arbeit. Jan Smit ist mit seiner Mannschaft unterwegs. Da hört er die liebliche Stimme einer Frau, die ihm aus dem Wasser zuwinkt. Seine Männer wollen sie an Bord holen, aber Jan kennt die Geschichten über Meerjungfrauen, die unschuldige Seeleute in ihr feuchtes Grab locken. Um seine Mannschaft zu retten, schnappt er sich ein Ruder und drückt die Frau unter Wasser.“

Professor Schlacker ahmte mit heftigem Gefuchtel den Kampf Kapitän Smits mit der Nixe nach, wobei er beinahe den Kaffeeautomaten umwarf, der die Rolle der Nixe übernehmen musste.

„Jan hält sich für einen Helden, doch zurück in Hamburg verlässt ihn seine halbe Mannschaft. Später gibt es Gerüchte, dass sie gar keine Meerjungfrau, sondern eine Schiffbrüchige gewesen wäre. Oder gar, und hier wird es finster, ein Freudenmädchen, das Smit selbst mit an Bord gebracht hatte, aber zu seinem Ärgernis schwanger geworden war ...“ Schlacker stellte seine Aktentasche auf einen Tisch und bedeutete Smit, sich einen Stuhl zu nehmen. „Aber Sie sind bestimmt nicht hergekommen, um über die Geschichte Ihres Namens zu sprechen, oder?“

„Nein, das bin ich nicht.“ Smit musste sich einen Moment sammeln. Seine Gedanken kreisten noch immer um Anja, daher hatte er von der ganzen Geschichte nur die Hälfte mitbekommen. „Aber tatsächlich interessiere ich mich für ein – verwandtes Thema ...“ Er atmete tief ein, dann sah er dem Wissenschaftler direkt in die Augen. „Ich glaube, ich kann die Geister toter Kinder mit meinem Smartphone sehen. Außerdem gibt es Sichtungen von Meerjungfrauen in der Elbe, nahe dem Ort, wo zwei Kinder vor kurzem ins Wasser gegangen sind.“

Der Doktor verzog keine Miene. Er kramte einen Laptop hervor, ließ ihn ungeschickt auf den Tisch plumpsen und kreischte erschrocken auf, was seiner stoischen Fassade einige Risse zufügte. Kaum eingeschaltet begann er hektisch auf dem Gerät herumzutippen. Er schien etwas zu suchen, offensichtlich erfolglos. Schließlich gab er frustriert auf und drehte den Laptop zu Smit.

„Ich hatte das bestimmt noch anders, aber dieser verdammte Kasten – egal, so was in der Art?“

Auf dem Bild sah Smit eine junge Frau, schwarzweiß, recht unscharf. Sie umgab eine Art Aura. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich um die durchscheinende Gestalt einer weiteren Frau handelte, die über ihr stand. Es bildete einen unheimlichen Effekt, den der ängstliche Ausdruck der jüngeren Frau zusätzlich unterstrich.

„Das ist eine frühe Geisterfotografie“, dozierte Schlacker. „Ein beliebter Trick Anfang des letzten Jahrhunderts, als Fotografie noch zu den neuen Phänomenen zählte, von vielen unverstanden: Doppelbelichtung – Sie verstehen?“ Er klickte umständlich durch eine Reihe weiterer Bilder, die ähnliche Motive zeigten, und endete bei zwei Mädchen, die mit einer handtellergroßen Fee zu spielen schienen.

„Die Feen von Cottingley, einer der prominentesten Fälle. Das ist gut einhundert Jahre her, 1917 war das. Die Mädchen behaupteten, dass ihr Onkel sie mit dem kleinen Volk abgelichtet hätte. Sie wurden Berühmtheiten, man lud sie zu Empfängen und in Universitäten ein. Arthur Conan Doyle hat ein Buch über sie geschrieben und hielt bis zu seinem Tode an seiner Überzeugung fest, dass die Fotografien echt seien. Erst in den sechziger Jahren konnten sie wissenschaftlich widerlegt werden, und trotzdem blieben die Damen bis 1983 bei ihrer Geschichte. Eine späte Einsicht, sie verstarben beide wenige Jahre danach.“

Smit hob genervt sein Mobiltelefon. „Aber bei mir ist das völlig anders. Und eine Digitalkamera kann man außerdem gar nicht doppelbelichten.“

Schlacker winkte ab. „Darauf wollte ich nicht hinaus. Mein Punkt ist dieser: Wissen Sie, wie Ihr Smartdingsda funktioniert? Ich meine, verstehen Sie es wirklich?“

Smit runzelte die Stirn. Was wollte der Mann jetzt von ihm? „Na ja, es ist so eine Art Computer, mit einem Betriebssystem und so weiter, aber genauer ...“