Armut in einem reichen Land - Christoph Butterwegge - E-Book

Armut in einem reichen Land E-Book

Christoph Butterwegge

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Beschreibung

Vermehrte Fluchtmigration, Angst vor gesellschaftlichem Abstieg und soziale Ungleichheit: Obwohl diese Themen viele Menschen umtreiben, wird Armut in Deutschland, so Christoph Butterwegge, nicht konsequent bekämpft, sondern verharmlost und "ideologisch entsorgt". In der aktualisierten Auflage seines Standardwerks diskutiert er auch, was getan werden muss, um die Kluft zwischen Arm und Reich wieder zu schließen. "Dieses Buch besticht durch analytische Klarheit und präzise politische Urteile. Wer sich über alle Aspekte von Armut informieren möchte, kommt an ihm nicht vorbei." Süddeutsche Zeitung

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Christoph Butterwegge
Armut in einem reichen Land
Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird
4., aktualisierte Auflage
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Vermehrte Fluchtmigration, Angst vor gesellschaftlichem Abstieg und soziale Ungleichheit: Obwohl diese Themen viele Menschen umtreiben, wird Armut in Deutschland, so Christoph Butterwegge, nicht konsequent bekämpft, sondern verharmlost und „ideologisch entsorgt“. In der aktualisierten Auflage seines Standardwerks diskutiert er auch, was getan werden muss, um die Kluft zwischen Arm und Reich wieder zu schließen.
„Dieses Buch besticht durch analytische Klarheit und präzise politische Urteile. Wer sich über alle Aspekte von Armut informieren möchte, kommt an ihm nicht vorbei.“ Süddeutsche Zeitung
Über den Autor
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, war von 1998 bis 2016 Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.

Inhalt

Einleitung
1.  Armut in der Bundesrepublik – Begriffsdefinition und Bestandsaufnahme
Armut und Reichtum: Begriffe, Geschichte und Kontroversen
Empirische und theoretische Grundlagen
Globalisierung als neoliberales Projekt zur Vergrößerung der sozialen Ungleichheit
Von der Alters- zur Kinderarmut und wieder zurück?
2.  (Zerr-)Bilder der Armut: Wie man das Problem leugnet, verharmlost und verdrängt
Legenden und Illusionen im Wirtschaftswunderland: Wohlstand für alle
Mit der Rezession und der Massenarbeitslosigkeit kehrt das Armutsrisiko ins Bewusstsein zurück
Die rot-grüne Koalition, Gerhard Schröders »Agenda 2010« und die sog. Hartz-Gesetze
Gerechtigkeit im Wandel: Folgen der neoliberalen Hegemonie
Missbrauchsdebatten auf Stammtischniveau: Stimmungsmache gegen Arme und Sozialstaat
Debatten über die »neue Unterschicht« und das »abgehängte Prekariat«
Wenn die Armut deutsche Durchschnittsbürger/innen trifft: Absturz der Mittelschicht?
Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip
Finanzmarktkrise und Armutsentwicklung: Droht ein autoritäres Sicherheitsregime?
Hartz IV auf dem Prüfstand: »menschenwürdiges Existenzminimum« oder »anstrengungsloser Wohlstand«?
Deutschland im Übergang zu Hartz V?
3.  Wege und Irrwege der Armutsbekämpfung
Der »aktivierende (Sozial-)Staat« – Garant einer Verringerung der Arbeitslosigkeit und der Armut?
Bildung für alle statt Umverteilung des Reichtums zugunsten der Armen?
Das bedingungslose Grundeinkommen
Bürgerversicherung und bedarfsorientierte Grundsicherung
Andere Schritte zur Verringerung und Verhinderung von Armut
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Literaturauswahl
Personenregister

Einleitung

Armut, in den meisten Regionen vor allem der »Dritten« und »Vierten« Welt schon immer traurige Alltagsnormalität, hält seit geraumer Zeit auch Einzug in Wohlfahrtsstaaten wie die Bundesrepublik, wo sie zumindest als Massenerscheinung lange weitgehend unbekannt war. Obgleich die Armut hier noch immer viel geringere Ausmaße hat und auch weniger dramatische Formen annimmt, deshalb eher subtil in Erscheinung tritt und oft selbst von damit tagtäglich konfrontierten Fachkräften wie Erzieher(inne)n und Pädagog(inn)en nicht einmal erkannt wird, wirkt sie kaum weniger bedrückend als dort.
Über mehrere Jahrzehnte hinweg hörte und las man selten etwas über die Armut in der Bundesrepublik, und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit besonders spektakulären Ereignissen bzw. tragischen Einzelschicksalen: dem Kältetod eines Obdachlosen, dem Verhungern eines Kleinkindes oder der Gründung einer »Tafel«, wie die Suppenküchen heutzutage beschönigend genannt werden. Derweil interessierte sich die hypermoderne »Kapital-Gesellschaft« offenbar mehr für Aktienkurse als für Babyklappen, Straßenkinder, Sozialkaufhäuser, Kleiderkammern und Wärmestuben, wie es sie mittlerweile in vielen deutschen Städten gibt.
Zuletzt avancierte »Armut in Deutschland« aus einem Tabu- beinahe zu einem Topthema, das in Talkshows über die Wirkung der sog. Hartz-Gesetze, die Benachteiligung von Kindern und Familien, den Zerfall der Mittelschicht, die zu erwartenden Folgen der Weltfinanzkrise oder die Angst vieler Menschen vor einem sozialen Absturz sehr häufig erörtert wird. Man spricht jetzt zwar viel mehr darüber als noch vor wenigen Jahren, nimmt sie aber, wie mir scheint, ebenso wenig als gesellschaftliches Kardinalproblem wahr bzw. ernst wie früher. Die in der wohlhabenden, wenn nicht reichen Bundesrepublik stark zunehmende Armut wird deshalb auch nicht konsequent bekämpft, sondern von den meisten Politiker(inne)n, Publi|7|zist(inn)en und Wissenschaftler(inne)n immer noch geleugnet, verharmlost und verschleiert.
Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass die Armut im Gefolge der globalen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrisen zunehmen wird. Da die Angst vor dem sozialen Abstieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft vorgedrungen ist, können sie Politiker/innen der etablierten Parteien nicht mehr ignorieren, wie das viel zu lange geschah. Deshalb werden das Problem der Armut und das Thema der sozialen Gerechtigkeit in nächster Zeit nicht wieder von der Tagesordnung verschwinden, vielmehr öffentliche Diskussionen, Parlamentsreden und Wahlkämpfe beherrschen. Umso unerlässlicher ist es für Sozialwissenschaftler/innen, deren neues Megathema die Armut werden könnte, falls sich das Problem – wie zu befürchten – drastisch verschärft, diese Entwicklung als zentrale Herausforderung zu begreifen. Armut in einem reichen Land verweist auf das Kardinalproblem der sozialen Ungleichheit national wie auch weltweit und wirkt nicht bloß entwürdigend auf die Betroffenen, ist vielmehr mindestens genauso beschämend für die Gesellschaft sowie ausgesprochen unchristlich und inhuman.
Das vorliegende Buch wendet sich an Leser/innen, die sich nicht bloß über das Problem der Armut, der Unterversorgung und der sozialen Ausgrenzung von Menschen bzw. seine Dimension, Entstehung und Entwicklung informieren, sondern auch den Umgang von Politik, (Medien-)Öffentlichkeit und Fachwissenschaft damit fundiert kritisieren und sich an der Diskussion über seine Ursachen sowie mögliche Gegenmaßnahmen in unterschiedlichen Bereichen, etwa der Wirtschafts-, Steuer-, Bildungs-, Gesundheits-, Familien- und Sozialpolitik, sachkundig beteiligen wollen. Es geht weniger um die Theorie sowie die Empirie als um jene Zerrbilder der Armut, die in den Massenmedien und der politischen genauso wie in der Fachöffentlichkeit dominieren und die Ideologie stützen (sollen), wonach »wirkliche« Not und »tatsächliches« Elend hierzulande verschwunden bzw. im Wesentlichen längst überwunden sind.
Leser/innen, die in einem Buch über Armut neue Zahlen, aktuelle Daten und »harte Fakten« sowie aufschlussreiche Diagramme zur Einkommens- und Vermögensverteilung suchen, sich also – dem üblichen (journalistischen) Zugriff folgend – hauptsächlich für die statistische Erfassung und die möglichst exakte Quantifizierung von Armut interessieren, bitte ich dafür um Verständnis, dass ihren Erwartungen kaum entsprochen werden dürfte. Stattdessen habe ich mich bemüht, in einem stärker analyti|8|schen Zugriff die gesellschaftlichen Hintergründe der Armut zu beleuchten und im öffentlichen wie im Fachdiskurs ausgeblendete Zusammenhänge herzustellen. Schließlich dreht sich der Streit um die Armut weniger um Zahlen als um deren Interpretation und damit verbundene Schuldzuweisungen.
Sowenig das Schwein durchs Wiegen fett wird, wie eine Bauernweisheit lautet, sowenig macht die Armen satt, dass sie ständig gezählt werden. Zudem weichen statistische Erhebungen und empirische Untersuchungen zur Armut oftmals nicht nur hinsichtlich ihrer Resultate erheblich voneinander ab – was zur Verwirrung statt zur Aufklärung der Öffentlichkeit über Dimensionen und Wesen des Problems beiträgt –, sondern sie können nach dem Winston Churchill zugeschriebenen Bonmot »Ich glaube nur den Statistiken, die ich selber gefälscht habe« auch von wichtigeren Fragestellungen ablenken: Wie kommt es, dass die (Angst vor der) Armut in einem reichen Land wie der Bundesrepublik inzwischen sogar die gesellschaftliche Mitte erreicht? Wer trägt dafür politisch die Verantwortung und wie lässt sich der skandalöse Zustand ändern?
Hier wird hauptsächlich nach den gesellschaftlichen, also nicht den individuellen Entstehungsursachen von Armut und nach den unterschiedlichen Wirkungsmechanismen gefragt, die es der etablierten Politik, weiten Teilen der Öffentlichkeit und einer Minderheit der Sozialforschung ermöglichen, sie ganz zu leugnen oder zu verharmlosen. Mich interessiert des Weiteren, wann man hierzulande als bedürftig oder arm gilt, und weniger, wie viele Arme es gibt und wo genau die »Armutsrisikoschwelle« liegt. Deshalb steht die Frage im Vordergrund, wie unsere reiche Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die sie selbst für »nicht dazugehörig« erklärt, marginalisiert oder sozial ausgrenzt.
Wie die Armut gesehen und der davon Betroffene eingeschätzt wird, hängt entscheidend vom jeweiligen Betrachter ab. Da zumindest Reiche und Hyperreiche kein Interesse an einer tiefgreifenden Veränderung der Einkommens-, Vermögens- und Herrschaftsverhältnisse haben, sträubt sich die von ihnen maßgeblich beeinflusste Öffentlichkeit gegen Wahrheiten wie die, dass der Finanzmarktkapitalismus mehr Armut als nötig erzeugt hat, oder die, dass ein moderner Industriestaat wie die Bundesrepublik in der Lage wäre, sie zu beseitigen, würde nicht der politische Wille dazu fehlen.
Je länger mich das Thema »Armut« umtreibt, desto weniger Verständnis habe ich für die Gleichgültigkeit, mit der ihm ein Großteil der Öffentlichkeit begegnet, aber auch für Beschönigungen und Beschwichtigungen. |9|Noch nie hat es den Wohlhabenden und Reichen an triftigen Argumenten dafür gemangelt, warum es Armut gibt, diese nicht zu beseitigen ist und die davon Betroffenen ihr Los »verdient« haben. Wer sich mit dem Armutsproblem beschäftigt, muss deutlich Stellung beziehen und Partei für oder gegen die Betroffenen ergreifen. Eine »wertfreie« oder »-neutrale«, quasi über den gesellschaftlichen Interessengegensätzen schwebende Sozialwissenschaft gibt es sowenig wie unbeteiligte Beobachter/innen der Gesellschaftsentwicklung oder unvoreingenommene Armutsforscher/innen. Schon die Wahl des Untersuchungsobjekts erfolgt auf der Basis bestimmter Erkenntnisinteressen sowie politischer, weltanschaulicher und religiöser Grundüberzeugungen. Armutsforscher/innen sollten sich über ihre persönliche Befangenheit sowie ihre »Vorprägung« durch eigene Lebenserfahrungen klar sein und die inhaltlichen genauso wie die methodischen Prämissen ihrer Arbeit offenlegen.
Das meiner Frau, meiner Tochter und meinem Sohn gewidmete Buch versteht sich als Beitrag zu einer Sozial- und Diskursgeschichte der Armut. Es gliedert sich in drei Teile: Im ersten Kapitel wird der Armutsbegriff erörtert und nach den Ursachen des Problems sowie Möglichkeiten seiner empirischen Untersuchung gefragt. Das zweite Kapitel unternimmt einen Streifzug durch die Armutsentwicklung und -debatten der letzten Jahrzehnte. Abschließend geht es um Wege und Irrwege der Armutsbekämpfung. Die umfangreiche, nach inhaltlichen Kriterien gegliederte Literaturauswahl am Ende des Buches eröffnet seinen Leser(inne)n die Möglichkeit, bestimmte Aspekte des Themas zu vertiefen.
Durch die vermehrte Fluchtmigration sind häufig mittellose Zuwanderer ins Zentrum der deutschen Armutsdiskussion gerückt. Einerseits zeichnet sich eine tiefgreifende Veränderung der Sozialstruktur ab, andererseits liefert die »Flüchtlingskrise« denjenigen Kommentatoren neue Munition, die den Begriff »Armut« am liebsten so eng fassen würden, dass es sie hierzulande kaum noch gäbe. Eines Tages könnte womöglich als arm höchstens gelten, wer nicht mehr als das hat, was er am Leibe trägt. Das »importierte« Flüchtlingselend darf aber nicht zur Messlatte für Armut in Deutschland gemacht werden. Vielmehr gilt umgekehrt: Je wohlhabender eine Gesellschaft ist, desto weiter sollte ihr Armutsverständnis sein, fördert ein hoher Lebensstandard doch soziale Ausgrenzungsbemühungen gegenüber Menschen, die beim Konsum nicht mithalten können.
Köln, im Spätsommer 2016
Christoph Butterwegge|10|

1.  Armut in der Bundesrepublik – Begriffsdefinition und Bestandsaufnahme

Aufgabe dieses Kapitels ist es, einen stichwortartigen Überblick zum Thema »Armut« zu geben, anders gesagt: wissenschaftliche Definitionen, relevante Forschungsrichtungen, wichtige Erscheinungsformen, damit verbundenene Funktionen und Betroffenengruppen zu umreißen. Bisher existiert weder eine überzeugende, das Phänomen der Armut plausibel erklärende Theorie noch eine umfassende, es sowohl qualitativ wie auch quantitativ bestimmende Empirie. Sogar der Begriff ist selbst unter Fachleuten umstritten und wird es auch bleiben, weil keine Armutsdefinition für alle Länder und alle Zeiten gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen kann. Umso wichtiger ist es, sich mehr Klarheit darüber zu verschaffen, welche Alternativen einer Armutsdefinition es gibt, warum es zu teils sehr unterschiedlichen Auffassungen darüber kommt und wie man damit in Zukunft produktiv umgeht.

Armut und Reichtum: Begriffe, Geschichte und Kontroversen

Armut in einem reichen Land – das ist eine mehr oder weniger extreme Ausprägung der sozialen Ungleichheit. Deshalb muss geklärt werden, was darunter zu verstehen ist und in welchem Verhältnis sie zum Reichtum als begrifflichem Pendant steht. Zunächst soll der Armutsbegriff erörtert werden, um eine terminologische Grundlage für die kommenden Ausführungen zu schaffen. Wenn möglich, dürfen keine Missverständnisse im Hinblick auf die Frage mehr aufkommen, was Armut und ihr Kontrastbegriff: Reichtum bedeuten.|11|
Versuch einer Arbeitsdefinition: Was man unter dem Begriff »Armut« versteht
Jede/r glaubt zu wissen, was »Armut« ist, versteht darunter allerdings etwas anderes. Umso notwendiger erscheint eine wissenschaftliche Begriffsklärung – gerade auch angesichts der unzähligen mehr oder weniger unvermittelt nebeneinander stehenden Versuche von Fachwissenschaftler(inne)n, den Begriff »Armut« zu definieren. Um nicht abgehoben zu wirken, sondern auch für Laien verständlich und überzeugend zu sein, darf sich eine Armutsdefinition allerdings nicht allzu weit vom Alltagsbewusstsein entfernen.1
»Armut« ist kein Begriff wie jeder andere, sondern seit jeher höchst umstritten und immer noch heiß umkämpft. Machen wir uns nichts vor: Wer ihn benutzt, betritt ein ideologisch vermintes Gelände, auf dem über die sozioökonomische Architektur und die Machtstruktur unserer Gesellschaft verhandelt wird. Obwohl seit Jahrhunderten fest im Alltagssprachgebrauch verankert, ist »Armut« ein mehrdeutiger, missverständlicher sowie moralisch und emotional aufgeladener Terminus, welcher in der hiesigen Öffentlichkeit vorsichtiger und seltener als im Ausland verwendet, manchmal falsch aufgefasst und z.T. auch bewusst fehlinterpretiert wird.
Da die Armut nie im luftleeren Raum vorkommt, sondern von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen abhängt, unter denen sie herrscht, kann kein Wissenschaftler ein für alle Mal festlegen, was darunter fällt und was nicht. »Es gibt keine allgemeingültige Definition von Armut, sondern nur eine jeweils zu einem gewissen Zeitpunkt in einer gegebenen Gesellschaft herrschende Definition. Sie prägt die Politik gegenüber den Armen, entscheidet darüber, ob sie das Etikett Armut erhalten, die zur Unterstützung berechtigt, oder ob sie anders etikettiert werden.«2
Auch existiert keine objektive, über den gesellschaftlichen Lagern, Politikern wie Parteien stehende Sozialwissenschaft, die eine »ideologiefreie« Definition liefern und damit den Konfliktstoff, welchen das Thema bietet, entschärfen kann. Nein, was Armut ist, muss immer wieder im öffentlichen bzw. im Fachdiskurs – und das heißt: möglichst kontrovers – erörtert werden. Denn eine »sterile« Behandlung des Armutsproblems ist undenkbar: »Der Rückzug der Wissenschaft, insbesondere der Soziologie, auf die Position wertneutraler Beobachtung ebnet am Ende nur der technokratischen Vernunft den Weg, indem er den jeweils hegemonialen politischen Eliten die normative Ausdeutung der vermeintlich wertneutralen Fakten überlässt.«3|12|
»Armut« ist ein politisch-normativer Begriff, der sich bloß äußerst schwer und nicht ein für alle Mal definieren lässt, weil kein Grundkonsens aller Gesellschaftsmitglieder darüber existiert, was man hierunter subsumieren kann, je nach sozialer Stellung, Weltanschauung und Religion vielmehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Auffassungen dazu existieren. Gleichzeitig ist »Armut« auch ein relationaler Begriff, der nur im Verhältnis zu jener Gesellschaft einen Sinn ergibt, in der ein davon Betroffener lebt. Umso wichtiger erscheint es, im Rahmen eines möglichst breit angelegten öffentlichen Diskurses darüber zu streiten, ob es Armut ausschließlich in der sog. Dritten Welt oder auch hierzulande gibt, wo sie anfängt, was sie konkret für die Betroffenen selbst sowie für die Gesellschaft bedeutet und womit ihr politisch am ehesten begegnet werden kann.
Ebenso wie ihr Pendant, der Reichtum, ist die Armut ein schwer abgrenzbares und zahlenmäßig nicht genau erfassbares Phänomen, wie Leopold von Wiese um die Mitte der 1950er-Jahre in der von ihm herausgegebenen Kölner Zeitschrift für Soziologie bemerkte: »Wo Reichtum beginnt, wo Armut aufhört, kann niemand sagen. Zieht man den Begriff des Existenzminimums zur Klärung heran, so ist die Beweislast nur verschoben; denn dieses Minimum ist rechnerisch ebenso schwer erfaßbar.«4 Zwar kann die Statistik helfen, sich dem Problem quantitativ anzunähern, sein Wesen muss die Sozialwissenschaft aber durch qualitative Analysen erschließen.
Armut ist ein nicht bloß für manche Sozialwissenschaftler/innen faszinierendes und zudem ein ausgesprochen merkwürdiges Phänomen: Niemand will davon betroffen sein, bejaht sie offen oder wünscht sie anderen. Gleichzeitig wähnt fast jeder in ihrer Existenz eine Gefahr für das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu sehen. Obwohl zumindest ein so reiches Land wie die Bundesrepublik ihre Entstehungsursachen beseitigen könnte, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre und entsprechende Anstrengungen unternommen würden, gibt es sie immer noch, und zwar seit geraumer Zeit in wachsendem Maße.
Weshalb, fragt man sich natürlich, wird die Armut trotzdem oft entweder gar nicht wahrgenommen oder von der (Fach-)Öffentlichkeit, Politik und Publizistik bewusst verdrängt? Wie jede andere ist die soziale Wahrnehmung vom (politischen) Standpunkt und vom Blickwinkel des Betrachters abhängig. Dies gilt gerade im Hinblick auf den mangelnden Wohlstand und die Armut von Menschen: Wenn man z.B. selbst dem Bildungs- oder Besitzbürgertum entstammt und kaum etwas entbehrt, fällt es bisweilen schwer, Unterversorgungslagen in diversen Lebensbereichen als solche zu |13|erkennen und entsprechend zu würdigen. Lehrer/innen, die der Mittelschicht angehören und dementsprechend eher in einem »besseren« Stadtteil wohnen, werden der materiellen Not ihrer Schüler/innen, die sie an einer typischen »Brennpunktschule« unterrichten, vielfach überhaupt nicht gewahr.
Für die verbreitete Fehlwahrnehmung der Armut gibt es viele weitere Gründe, von denen nur einige genannt seien: Erstens ist unser Armutsbild durch die Massenmedien von absoluter Not und dem Elend in den Entwicklungsländern geprägt, was viele Bürger/innen hindert, analoge Erscheinungen »vor der eigenen Haustür« auch nur zu erkennen, zumal sich Armut hier weniger spektakulär manifestiert. Zweitens waren in der Nachkriegszeit meistenteils ältere Menschen, und zwar hauptsächlich Kleinstrentnerinnen, von materieller Not betroffen. Später beschränkte sich Armut eher auf gesellschaftliche »Randgruppen«, vor allem »Nichtsesshafte«, Trebegänger/innen, Obdachlose und Drogenabhängige, die weder Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung noch als Wählerpotenzial nennenswerte Bedeutung für die Parteien haben. Ein dritter Grund, warum Armut leicht »übersehen« wird, liegt in den von Reichen, die über viel Geld, Macht und (medialen) Einfluss verfügen, aus naheliegenden Motiven unterstützten oder gar lancierten bzw. finanzierten Bemühungen begründet, die Schuld dafür den Betroffenen selbst in die Schuhe zu schieben, welche angeblich »faul« sind, »saufen« oder »nicht mit Geld umgehen« können. Man erwartet in einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft, die der Ideologie frönt, jeder könne durch entsprechenden Arbeitseinsatz ein Vermögen aufbauen, dass sich die Armen gewissermaßen nach der Münchhausen-Methode »am eigenen Schopf« aus ihrer misslichen Lage befreien, ignoriert hierbei jedoch, dass dies einerseits sinnvoller Angebote der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die es aber immer weniger gibt, und andererseits der Ermutigung durch eine tolerante Gesellschaft bedarf. Viertens glaubt man irrtümlich, Armut in Kamenz, Karlsruhe oder Kassel sei weniger problematisch als solche in Kalkutta, Kapstadt oder Karatschi, sodass es sich überhaupt nicht lohne, darüber zu reden. Dabei kann Armut hierzulande sogar erniedrigender, bedrückender und bedrängender sein, weil vor allem Kinder und Jugendliche in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren einem viel stärkeren Druck seitens der Werbeindustrie wie auch ihrer Spielkamerad(inn)en und Mitschüler/innen unterworfen sind, durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz immer neuer, möglichst hochwertiger Konsumgüter »mitzuhalten«, als in einer weniger |14|wohlhabenden Umgebung. Empathie und Solidarität erfahren die von Armut betroffenen Menschen hingegen in einem geringeren Maße, als dies normalerweise dort der Fall ist, wo kaum jemand ein großes (Geld-)Vermögen besitzt. Mit der Armut und den Armen hat fünftens kaum jemand gern zu tun, weil selbst der Umgang damit stigmatisiert und die Betroffenen nach eher negativen Erfahrungen selten zu denjenigen Menschen gehören, deren offenes Wesen ihnen Freunde und Sympathie einbringt.
Werfen wir einen Blick auf die Sozialgeschichte der Armut, so zeigt sich, dass die hiervon Betroffenen in aller Regel keine eigene Klasse oder Bevölkerungsschicht, vielmehr eine heterogen zusammengesetzte Gruppe bilden, in der sich »Deklassierte aller Klassen« sammeln. Gleichwohl ist die Armut nicht losgelöst von den bestehenden Klassen-, Eigentums- und Produktionsverhältnissen zu verstehen. Olaf Groh-Samberg, damals wiss. Mitarbeiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), gehört zu jenen Armutsforschern, die den Zusammenhang von Armut und Klassenstruktur hervorheben: »Nach wie vor ist die soziale Klassenzugehörigkeit eine der prägendsten Determinanten der sozialen Ungleichheit von Lebenschancen.«5 Obwohl die Armut nur durch eine miteinander verbundene Klassentheorie und -analyse in ihrer genetischen, phänomenologischen und systemfunktionalen Dimension richtig erfasst werden kann, liegen dazu bisher kaum Untersuchungen vor.
Man ist nicht »von Natur aus«, durch »göttliche Fügung« oder aufgrund biologischer Determinanten arm, wird dazu vielmehr von der Gesellschaft bzw. den diese sozioökonomisch entscheidend bestimmenden Kräften gemacht. »Armut ist selten selbst verschuldet. Armut wird erzeugt, entweder durch die Mechanismen des ökonomischen Systems oder durch konkrete politische Handlungen beziehungsweise Unterlassungen.«6 Entscheidend ist, was in einem Land als spezifisches Maß für Armut gilt und wie die davon Betroffenen behandelt werden. »Jede Gesellschaft geht mit der Armutsfrage auf ihre Weise um, und davon hängen der Status der Armen sowie die damit einhergehenden Erfahrungen ab.«7 Wie eine Gesellschaft ihre Armen sieht und behandelt, ist der Prüfstein dafür, ob sie als human, sozial und demokratisch gelten kann.
Der »klassische« Armutsbegriff, welcher von der Antike über das christliche Mittelalter bis zur Neuzeit im Gebrauch war, bezog sich auf die Frage, ob jemand mehr besaß, als er zum Überleben und bloßen Dahinve|15|getieren benötigte. Wer dieses Kriterium heute noch anlegt, verschließt sich der Erkenntnis, dass ein moderner Armutsbegriff sehr viel differenzierter sein muss und mit zu berücksichtigen hat, in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt bzw. wie groß der ihn umgebende Wohlstand ist. Es gibt kein zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt gleichermaßen adäquates Maß, das als Armutsindikator dienen könnte. Um ein angemessenes Armutsverständnis zu entwickeln, reicht die Alltagserfahrung des barmherzigen Samariters nicht aus. Vielmehr sollte man sich bemühen, keinen naiven oder primitiven, sondern einen zeitgemäßen und möglichst komplexen, d.h. jedoch nicht unbedingt einen sehr komplizierten Armutsbegriff zu verwenden.
Der US-amerikanische Historiker Gabriel Kolko bestimmt den Terminus folgendermaßen: »Armut ist die wirtschaftliche Unfähigkeit, ein Minimum an ärztlicher Betreuung, Ernährung, Schutz und Sicherheit aufrechtzuerhalten.«8 Wolfgang Glatzer und Werner Hübinger verstehen unter Armut »inferiore Lebenslagen, die hinsichtlich ihrer materiellen und immateriellen Dimensionen unterhalb von Minimalstandards zu finden sind; diese Minimalstandards sind in Relation zu den durchschnittlichen Versorgungsniveaus in der Gesellschaft zu bestimmen und zu begründen.«9 Schließlich liefert Olaf Groh-Samberg eine Arbeitsdefinition, die geeignet erscheint, sich dem Problem wissenschaftlich zu nähern: »Eine Person gilt in dem Maße [als; Ch.B.] von Armut betroffen, wie sie sich im Hinblick auf ihre ökonomischen Ressourcen und die mit ihnen in unmittelbarer Wechselwirkung stehenden Lebenslagen dauerhaft unterhalb des gesellschaftlichen Wohlstandsniveaus bewegt.«10
Weniger die Armut selbst als vielmehr das Bild, welches sich die Gesellschaftsmitglieder davon in politischen, medialen und Fachdiskursen machen, bestimmt den Umgang mit ihr. Petra Buhr, Lutz Leisering, Monika Ludwig und Michael Zwick haben darauf hingewiesen, dass die bestehenden Armutsbilder von der objektiven Realität abweichen können und wechseln, dabei jedoch öffentliche Aufmerksamkeiten und Problemwahrnehmungen widerspiegeln: »Armutsbilder drücken aus, wer in einer Periode als arm gilt, auf welche Weise Armut mit anderen sozialen Problemlagen in Verbindung gebracht wird (z.B. psychische Deprivation, Asozialität, Arbeitslosigkeit), welche Stellung den Armen in der Gesellschaft zugeordnet wird und welche Art von Hilfe angezeigt erscheint.«11 Man muss kein radikaler Konstruktivist sein, um daraus den Schluss zu ziehen: Wer die Situation der Betroffenen ändern will, tut gut daran, die offiziellen, poli|16|tisch einflussreichen und massenmedial vermittelten Armutsbilder zu beeinflussen. Nur wenn diese verändert werden, lässt sich auch die Armut verringern und verhindern, dass neue entsteht.
Was vielen Menschen als großes Manko erscheint, die Tatsache nämlich, dass der Armutsbegriff nicht statisch, sondern veränderbar und dynamisch, zumindest jedoch äußerst dehnbar ist und keine in Stein gemeißelte Definition zulässt, muss als positiv angesehen werden, macht sie doch gerade den besonderen Reiz dieses Forschungsfeldes aus. Armut ist kein Phänomen, das alle Menschen in gleicher Weise betrifft und wahrnehmen, sondern eine Zuschreibung bzw. ein gesellschaftliches Konstrukt,12 das Politik, Wissenschaft und Medien entwerfen bzw. formen, das im öffentlichen Diskurs jedoch auch laufend Veränderungen unterliegt. In der Bundesrepublik wurde und wird das politisch und medial vorherrschende Armutsbild entscheidend durch das Mittelalter und die sog. Dritte Welt geprägt, wo die Menschen im Extremfall am Straßenrand verhungern.
Armut ist ein mehrdimensionales Problem, das ökonomische (monetäre), soziale und kulturelle Aspekte umfasst. Dabei sind neben anderen, weniger relevanten besonders die folgenden Merkmale entscheidend:
eine weitgehende Mittellosigkeit oder monetäre Defizite (sprich: miserable Einkommens- und Vermögensverhältnisse), was in marktwirtschaftlich-kapitalistisch organisierten Gesellschaften den Verzicht auf bestimmte Güter und Dienstleistungen bedeutet, weil diese normalerweise mit Geld bezahlt werden müssen;
ein länger dauernder Mangel an lebensnotwendigen bzw. allgemein für unverzichtbar gehaltenen Gütern und Dienstleistungen, der einen gravierenden Ansehensverlust bei anderen Gesellschaftsmitgliedern hervorruft;
die Notwendigkeit, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, auf vergleichbare Formen der »Fremdalimentierung« zurückzugreifen oder den eigenen Lebensunterhalt durch Bettelei, evtl. auch durch illegale Formen des Broterwerbs zu bestreiten, verbunden mit dem Zwang, »von der Hand in den Mund zu leben«, also keinerlei längerfristige Lebensplanung betreiben zu können;
Mängel im Bereich der Wohnung, des Wohnumfeldes, der Haushaltsführung, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Freizeit und Kultur, die fast zwangsläufig zum Ausschluss der betroffenen Personen von einer Beteiligung am gesellschaftlichen Leben führen, wie sie anderen möglich ist;|17|
die Macht- bzw. Einflusslosigkeit der betroffenen Personen in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen, d.h. den Gremien von Wirtschaft, Politik, staatlicher Verwaltung, Wissenschaft und Massenmedien, wo die ganze Gesellschaft betreffende und auch für sie selbst bindende Entscheidungen getroffen werden;
eine allgemeine Missbilligung der Lebensweise davon Betroffener, die marginalisiert, negativ etikettiert und stigmatisiert, d.h. ausgegrenzt und in der Regel selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden, während man dessen gesellschaftliche Determiniertheit und seine strukturellen Hintergründe tunlichst ignoriert bzw. negiert.
Armut als mehrdimensionales Phänomen zu begreifen heißt, neben der materiellen auch ihre nichtmonetäre und ihre subjektive Seite ernst zu nehmen. Denn davon Betroffenen fehlt außer Geld die damit jedoch meist verbundene Artikulations-, Politik- und Konfliktfähigkeit, also die Möglichkeit, sich in gesellschaftliche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einzumischen. Schließlich hat die Armut – wie oft bemerkt wird – ganz viele Gesichter: Monetäre und mentale Armut sowie Kontakt- und Zeitarmut sind nur einige Spezialformen, die das Problem annimmt. Es gibt kein Synonym, das den Begriff »Armut« sinnvoll zu ersetzen vermag: Not und Elend beispielsweise können damit verbunden oder Teil davon sein, müssen es aber nicht. Da sich die Erscheinungsformen der Armut ständig verändern, ist es unerlässlich, nach jüngeren Entwicklungstrends auf diesem Gebiet zu fragen.
Typologien und neuere Erscheinungsformen der Armut
Durchgesetzt und bewährt hat sich in der zeitgenössischen Armutsforschung die grundlegende Unterscheidung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits und relativer Armut andererseits. Von »absoluter Armut« spricht man dann, wenn Menschen die für ihr Überleben nötigen Dinge fehlen, also ausreichend Nahrung, Wasser, Kleidung, Obdach, Heizung und medizinische Versorgung. Richard Hauser weist darauf hin, dass selbst das physische Existenzminimum und damit die Grenze zur absoluten Armut nur schwer festzulegen sind, weil sie beispielsweise davon abhängen, ob es sich um ein warmes oder um ein kaltes Land handelt, in dem jemand lebt. Außerdem spielten kulturelle bzw. religiöse Tabus im Hinblick auf die Frage, was gegessen und getrunken wer|18|den darf, eine Rolle: »Selbst eine absolute Armutsgrenze kann also nur relativ im Hinblick auf die natürliche Umgebung und die Gesellschaft, in der die Menschen leben, bestimmt werden.«13
Arm ist aber nicht bloß, wer für eine längere Zeit das physische Existenzminimum für sich und seine Familie kaum zu gewährleisten, sondern auch, wer aufgrund materieller Defizite nicht einmal annähernd den durchschnittlichen Lebensstandard jener Gesellschaft, in welcher er lebt, zu sichern vermag. Von »relativer Armut« spricht man dann, wenn der Lebensstandard und die Lebensbedingungen von Menschen zu weit unter dem durchschnittlichen Lebensstandard und den durchschnittlichen Lebensbedingungen in einem Land liegen.14 »Absolute Armut stellt einen auf die Unfähigkeit zum physischen Überleben reduzierten Begriff dar, dessen einziges Kriterium in der Subsistenz, d.h. der Fähigkeit zur Selbsterhaltung des Individuums, besteht.«15 Während man bei absoluter Armut am physischen Existenzminimum existiert und das Leben auf dem Spiel steht, wird bei relativer Armut »nur« das soziokulturelle Existenzminimum unterschritten.
Die sozialwissenschaftliche Relativitätstheorie, wie ich sie der Einfachheit halber nennen möchte, besagt im Wesentlichen, dass Armut nie ohne ihr jeweiliges soziales Umfeld zu begreifen ist, sondern nur, wenn man das spezifische Verhältnis berücksichtigt, in dem die Betroffenen zu ihren Mitbürger(inne)n und deren Lebensweise stehen. Anders drückte es von Wiese in dem bereits zitierten Grundsatzartikel aus: »Wenn die Bedürftigen nicht den Eindruck hätten, daß manche anderen Personen reich wären, gäbe es keine Armut.«16 Eigentlich sind alle Mangellagen, die nicht sofort zum Tod der davon betroffenen Menschen führen, relativ. Auch die zerlumpten Bewohner/innen der Slums von Nairobi erscheinen uns nur deshalb als arm, weil wir nicht dort, sondern in anderen, und zwar meist sehr viel besseren materiellen Verhältnissen leben. Dies dürfte neben der persönlichen Scham ein weiterer Grund dafür sein, warum sich viele (scheinbar objektiv) Arme gar nicht für arm halten, sondern andere Menschen zu kennen behaupten, denen es noch schlechter geht und die sie deshalb eher so bezeichnen als sich selbst.
Für manche Beobachter existiert Armut jedoch bloß dort, wo Menschen total verelenden oder gar wie Vieh auf den Straßen verenden. So klagte Meinhard Miegel, damals Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, als Liberalkonservativer kurz nach der Jahrtausendwende darüber, dass Armut »ständig thematisiert« und »in voluminösen |19|Berichten« dokumentiert werde, und empfahl aufgrund des vermeintlichen Rückgangs von Not und Elend durchaus folgerichtig, »in Deutschland und weiten Teilen der Europäischen Union auf den Begriff der Armut für die Beschreibung der hier herrschenden Zustände zu verzichten. Das wäre ein Akt der sozialen Hygiene und Gerechtigkeit denen gegenüber, die in unserer eigenen Geschichte Not gelitten haben und in anderen Weltregionen heute noch Not leiden.«17
In den Medien dominieren seit jeher Armutsbilder, die stark vom Massenelend der sog. Dritten Welt bzw. des europäischen Mittelalters (Verhungernde, Obdachlose und Bettler) bestimmt sind. Hierzulande handelt es sich heutzutage zwar vornehmlich um relative Armut, die sich auf einem hohen Wohlstandsniveau verfestigende Ungleichgewichte in der Einkommens- und Vermögensverteilung widerspiegelt, während in vielen Entwicklungsländern absolute (existenzielle oder extreme) Armut dominiert.
Armut in Bangladesch, Burkina Faso und Mosambik unterscheidet sich zweifellos ganz wesentlich von Armut in der Bundesrepublik. Daraus abzuleiten, deutsche Transferleistungsempfänger/innen jammerten »auf einem hohen Niveau«, wie dies häufig geschieht, ist gleichwohl nicht berechtigt. Denn einerseits kann Armut in einem reichen Land sogar deprimierender und demoralisierender sein als jene in einem armen. Dies gilt wie gesagt besonders für Kinder und Jugendliche, die nicht nur den Einflüssen der Werbeindustrie sehr viel direkter ausgesetzt sind als Erwachsene, sondern auch den Anpassungszwängen ihrer Clique bzw. ihrer Klassen- und Spielkamerad(inn)en unterliegen, zumal in einer Gesellschaft, die immer stärker kommerzialisiert wird.18 Weshalb sollte nur ein Kind arm sein, das in einer Lehmhütte, aber nicht jenes, das in einem Hochhaus aufwächst, ohne ähnliche Entwicklungschancen und Entfaltungsmöglichkeiten zu haben wie seine Altersgenoss(inn)en, die in großzügigen Altbauwohnungen, freistehenden Einfamilienhäusern oder gar Villen wohnen? Andererseits ist auch die Bundesrepublik von Elendserscheinungen keineswegs frei, wie Werner Schönig gezeigt hat.19 Von einem Lebenslagenansatz ausgehend, betrachtete der Kölner Hochschullehrer unterschiedliche Dimensionen wie den Wohnbereich, die Bildung und die Gesundheit. Er schätzt die Zahl der von absoluter Armut betroffenen Menschen hierzulande kurz nach der Jahrtausendwende auf 200.000 bis 800.000 Menschen.
Politisch ist die Frage, ob Armut ein relatives Phänomen darstellt oder nicht, von eminenter Bedeutung. Wer die Existenz zu großer sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft konzediert und sie in relativer (Einkom|20|mens-)Armut materialisiert glaubt, akzeptiert damit nämlich zumindest implizit auch die Legitimität und die Notwendigkeit der Umverteilung von oben nach unten. Hier dürfte einer der wichtigsten Gründe dafür liegen, warum die relative Armut gerade von denjenigen oft geleugnet wird, die zu den Privilegierten, Besserverdienenden und Vermögenden gehören. Damit die Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen illegitim erscheint, sprechen Wohlhabende gern von einer »Neiddiskussion«, wenn die Verteilungsverhältnisse in der Gesellschaft als ungerecht bezeichnet werden. für die meisten Reichen ist »Armut« ein politischer Kampfbegriff, der ihrer Meinung nach mithilft, »Sozialneid« ihnen gegenüber zu schüren. Die Journalistin Dorothee Beck und der Gewerkschaftsfunktionär Hartmut Meine halten den zuletzt genannten Begriff für »eine Worthülse, die jene ins Unrecht setzen soll, die die ungerechte Verteilung des Wohlstands und damit der Lebenschancen anprangern.«20
Während es m.E. nicht nur verständlich, sondern auch gerechtfertigt ist, dass sozial Benachteiligte jenen Lebensstandard anstreben, den gut situierte Mitbürger/innen schon lange erreicht haben, überrascht eher, was man vielleicht als einen in unserer Gesellschaft ziemlich weit verbreiteten Sozialneid nach unten bezeichnen kann: Bessersituierte gönnen Arbeitslosengeld-II- bzw. Sozialhilfeempfänger(inne)n ihre relativ kümmerlichen Transferleistungen nicht, werfen ihnen vielmehr häufig vor, »Sozialschmarotzer« und menschliche Parasiten zu sein, die es sich in der »Hängematte des Sozialstaates« bequem machen, obwohl sie selbst weder jemals in einer ähnlichen Situation waren noch jemals mit solchen Personen tauschen würden.
Eine wichtige und wohl nie verstummende, wenngleich ziemlich kurios anmutende Kontroverse dreht sich um die Frage, ob man überhaupt zwischen absoluter und relativer Armut unterscheiden kann und ob die Letztere, wenn man das tut, wirklich »richtige« Armut oder nur ein falscher Name für soziale Ungleichheit ist. Was in der Armutsforschung bereits seit langem zum wissenschaftlichen Grundkonsens weltweit gehört, nämlich die Tatsache, dass Armut nicht in sämtlichen Ländern über denselben Leisten geschlagen werden kann, sondern dass unterschiedliche Maßstäbe nötig sind, um dem jeweiligen sozioökonomischen Entwicklungsstand angemessen Rechnung zu tragen, stört hierzulande viele, die den Begriff »Armut« am liebsten so eng fassen würden, dass in der Bundesrepublik kaum noch davon die Rede sein könnte.|21|
Zu den wenigen Wissenschaftlern, die heute noch explizit leugnen, dass es Armut hierzulande in nennenswertem Umfang gibt, gehört Walter Krämer. Dieser lange an der Universität Dortmund lehrende Wirtschafts- und Sozialstatistiker nennt den Armutsbegriff »überfordert« und bekennt in seiner Streitschrift zu diesem Thema: »Ich halte es für hochgradig pervers, in einer Zeit, in der weltweit 18 Millionen Menschen jährlich verhungern, einen deutschen Halbstarken nur deshalb ›arm‹ zu nennen, weil er anders als seine Klassenkameraden keine Diesel-Lederjacke oder Nike-Turnschuhe besitzt.«21 Krämer behauptet, hierzulande existiere kaum Armut, sondern nur eine »Jammerlobby in der deutschen Presse«, die nicht zur Kenntnis nehmen wolle, dass die Sozialhilfe vollkommen ausreiche, um »durchaus passabel« zu leben; dass »Zufriedenheit und Glück nicht notwendig mit Geld zu kaufen« und Reiche deshalb manchmal eben auch »arm dran« seien; dass schließlich in 100 Jahren »alle deutschen Armen mit Rolls-Royce zum Golfplatz fahren« könnten.22
Umgekehrt wird jedoch ein Schuh daraus: In einer Gesellschaft notleidend bzw. unterversorgt zu sein, in der keiner oder kaum einer viel hat, ist leichter zu ertragen, als in einer Gesellschaft arm zu sein, in der es als »normal« gilt, dass Kinder nicht nur teure Markenkleidung tragen, sondern auch ein Smartphone, einen Tablet-PC oder eine Playstation besitzen. Da die kapitalistische Gesellschaft immer mehr Bereiche ökonomisiert, privatisiert und kommerzialisiert, d.h. beinahe alle Lebensabläufe stärker denn je über das Geld regelt, führt Einkommensarmut zu einer größeren sozialen Abwertung, als dies in früheren Geschichtsperioden der Fall war. Je höher das Wohlstandsniveau eines Landes ist, desto niedriger fällt allerdings der wissenschaftliche und politische »Gebrauchswert« eines Armutsbegriffs aus, der sich auf das physische Existenzminimum bezieht.
Krämer wendet sich einerseits dagegen, die Armut eines Menschen an seinem geringen Einkommen oder an seinem fehlenden Vermögen festzumachen. für ihn ist »klar, dass es weder das Einkommen noch das Vermögen sind, die über arm und reich bestimmen, sondern was man aus dem Einkommen und aus dem Vermögen macht, der ›Nutzen‹, im Jargon der Ökonomen, den das Einkommen erzeugt.«23 Andererseits warnt Krämer davor, Armut mit (einem hohen Maß an) sozialer Ungleichheit zu identifizieren oder darauf zu reduzieren, indem beispielsweise 50 oder 60 Prozent des bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens zum Maßstab für die Existenz relativer Armut herangezogen würden: »Eine derartige a-theoretische, rein politisch-willkürliche Definition der ›Armut‹ macht […] das |22|Bekämpfen dieser ›Armut‹ zu einem aussichtslosen Unterfangen.«24 Denn auch wenn alle Gesellschaftsmitglieder erheblich mehr verdienten, würde sich die Armut dadurch nicht einmal ansatzweise verringern.
Wolfgang Ludwig-Mayerhofer und Eva Barlösius widersprechen der Auffassung von Walter Krämer, wer eine 50- oder 60-Prozent-Grenze als »Armutsrisikoschwelle« definiere, setze Ungleichheit und Armut in eins. Vielmehr werde dadurch nur eine spezifische Form von Ungleichheit markiert, nämlich jene, die in einer signifikanten Abkopplung bestimmter Personengruppen vom durchschnittlichen gesellschaftlichen Wohlstandsniveau bestehe. Auch sei ein Erfolg im Kampf gegen die relative Armut sehr wohl möglich: »Wenn die Einkommensverteilung so gestaltet ist bzw. wird, daß niemand zu weit nach unten vom Durchschnitt abweicht, kann relative (Einkommens-)Armut ohne weiteres verschwinden.«25 Einen relativen Armutsbegriff, der sich auf die unzulängliche Teilhabe an jenen Lebensstandards und -gestaltungsmöglichkeiten beziehe, die im konkreten Fall von der Gesellschaft vorgegeben seien, halten Ludwig-Mayerhofer und Barlösius sogar für wissenschaftlich anspruchsvoller als einen absoluten Armutsbegriff, der nur die Illusion nähre, dass Armut eindeutig, unabhängig von der Beobachterperspektive bestimmbar und nicht mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verquickt sei.
Krämer gibt in einer Randbemerkung aus jüngerer Zeit zu erkennen, welches mächtige ökonomische Interesse hinter seiner Polemik gegen die »DGB-Armut« steckt, wie er den relativen Armutsbegriff nennt: »Denn wahre Armut kann man nur verringern, indem man den Armen etwas gibt, nicht, indem man den Reichen etwas nimmt.«26 Das heißt im Umkehrschluss: Wenn man die Armutsdefinition darauf verkürzt, was Krämer als »wahre Armut« bezeichnet, nützt den davon Betroffenen keine Umverteilung von oben nach unten und lässt sich diese Forderung als reines Propagandamanöver der Gewerkschaften abtun. Kein Wunder, wenn »die da oben« eine Begriffsbestimmung präferieren, wie sie ihnen Krämer liefert. Auf diese Weise wird Umverteilung als Maßnahme zur Armutsbekämpfung delegitimiert, was eine der zentralen Botschaften fast aller politischen, medialen und Fachdiskurse darüber bildet.
Der französische Soziologe Serge Paugam hält es für die Aufgabe seiner Fachdisziplin, das Phänomen der Armut nicht nur quantitativ zu erfassen und möglichst exakt zu beschreiben, sondern auch diesen Begriff selbst zu hinterfragen: »Wie ausgefeilt und präzise die Definition einer Armutsschwelle auch sein mag, stets haftet ihr etwas Willkürliches an.«27 Paugam |23|stützt sich bei seinem Versuch einer Begriffsklärung auf Georg Simmel, einen soziologischen Klassiker, der Armut schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Tatsache bestimmt hat, dass jemand der (staatlichen) Unterstützung bedarf, um existieren zu können. Arme unterscheidet demnach von anderen Menschen, dass sie weder über ihr Schicksal bestimmen noch ihr Leben selbst gestalten können. Letztlich ist Armut laut Simmel ein Abhängigkeitsverhältnis bzw. ein persönliches Ohnmachtsgefühl. »Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von Mangel und Entbehrung, sondern dadurch, dass er Unterstützung erhält oder sie nach sozialen Normen erhalten sollte.«28 Simmel sprach auch von einer »Klasse der Armen« bzw. einer »Schicht der Armen«, nicht ohne zu bemerken, dass diese aufgrund des wachsenden Drucks, sich zu verstecken, von sich aus und in sich weniger »soziologisch vereinheitlichende Kräfte« entwickeln können.29
Die meisten Typologien der Armut überzeugen nicht, sondern erwecken den Eindruck von Beliebigkeit. Beispielsweise unterscheidet Heinrich Strang zwischen »primärer«, »sekundärer« und »tertiärer Armut«. Unter der primären Armut versteht er das Problem vor- und frühindustrieller (Agrar-)Gesellschaften, aufgrund fehlender Produktivität nicht einmal die menschlichen Grundbedürfnisse nach Ernährung, Kleidung und Unterkunft befriedigen zu können; unter der sekundären Armut einen Mangel an Gebrauchsgütern, deren Besitz in modernen Gesellschaften unabdingbar geworden zu sein scheine; unter der tertiären Armut schließlich eine Form der sozialen Desorganisation und Desintegration, die zur Beeinträchtigung und Behinderung der normalen Lebenschancen führt, ohne unbedingt mit Besitzlosigkeit und materieller Bedürftigkeit verbunden zu sein.30 Ausgehend von dieser Begriffstrias hält Strang eine differenzierte, drei Ansätze miteinander kombinierende Gegenstrategie für notwendig: »Die primäre Armut verlangt Abhilfe durch elementare Verbrauchsgüter, durch Sach- und Geldleistungen. Die sekundäre Armut erfährt Linderung durch den Erwerb und Konsum prestigebesetzter Gebrauchsgüter und immaterieller Statussymbole. Die tertiäre Armut umfaßt individualspezifische Mangelsituationen, die weitgehend persönliche Hilfestellung erforderlich machen.«31
Paugam unterscheidet drei elementare Formen der Armut, wie er sie nennt: die »integrierte«, die »marginalisierte« und die »disqualifizierende Armut«, mit denen sich bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen verbinden.32 Die integrierte Armut betrifft viele Menschen, die in »unter|24|entwickelten« bzw. »wenig industrialisierten« Gesellschaften leben und sich wenig von den übrigen Bevölkerungsschichten unterscheiden. Die marginale Armut betrifft nur eine kleine Randgruppe der Bevölkerung, die mit dem großen Wachstumstempo nicht Schritt und sich nicht an die normativen Vorgaben der modernen Industriegesellschaft hält. Die disqualifizierende Armut beruht auf Prekarisierungsprozessen, die kollektive Ängste hervorrufen und sich zu einer Bedrohung für die Gesellschaftsordnung wie deren Kohäsion entwickeln können.
Hierzulande hatte der Frankfurter Armutsforscher Werner Hübinger um die Mitte der 1990er-Jahre den Begriff »prekärer Wohlstand« in die Fachdebatte eingeführt und sie damit wesentlich befruchtet. Hübinger fasste darunter die Situation jener Menschen, die nahe der Armutsgrenze leben und jederzeit (wieder) darunter gelangen können. Ihm war die starke Häufung von Personen knapp oberhalb der damals mit 50 Prozent des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens angesetzten Armutsschwelle aufgefallen, die sowohl von der Armuts- als auch von der Sozialstrukturforschung vernachlässigt werde: »Schaut die Ungleichheitsforschung zu einseitig auf die sozialen ›Mittellagen‹, so verengt sich der Blick der Armutsforschung auf das unterste Bevölkerungssegment und verkürzt auf diese Weise das Spektrum sozialer Ungleichheit.«33
Terminologisch ist zwischen einer »Prekarisierung« der Lohnarbeit als Prozess, in dem Millionen Beschäftigte gesicherter Arbeits- und Lebensbedingungen beraubt werden, der »Prekarität« als schwieriger Soziallage und dem »Prekariat« als einem Kunstwort zu unterscheiden, das diesen Begriff mit dem Terminus »Proletariat« zur Kennzeichnung der davon betroffenen Personengruppe amalgamiert. Der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu hat diese Terminologie auch international bekannt gemacht, als er in einer Brandrede gegen den Neoliberalismus mit der Behauptung provozierte: »Prekarität ist überall.«34 Mittlerweile prägt die genannte Begriffstrias maßgeblich den europäischen Armutsdiskurs, zumindest was jene sozialwissenschaftlichen Fachkreise betrifft, die ihn auf der Grundlage einer kritischen Gesellschaftsanalyse führen.35
Prekarität meint eine Art sozialen Schwebezustand zwischen Armut und Wohlstand, den Klaus Kraemer als »transitorische Zwischenlage« bezeichnet.36 Von einer sozialen Entgrenzung der Prekarität könne man jedoch deshalb nicht sprechen, meint Kraemer, weil sich die Prekarisierungsrisiken in bestimmten Berufs- und Bildungsgruppen, erwerbsbiografischen Phasen und Alterskohorten häuften. In einer Arbeitswelt, die durch |25|massiven Druck auf die abhängig Beschäftigten, und zwar Kern- ebenso wie Randbelegschaften, gekennzeichnet ist, wird Prekarität immer mehr zur Normalität. Stefanie Hürtgen weist denn auch darauf hin, dass heute – dies galt besonders in der Weltwirtschaftskrise mit ihren negativen Konsequenzen für die Absatzchancen der Unternehmen – kaum ein Stammbeschäftigter noch sicher sein kann, dass sein Unternehmen, sein Betrieb, seine Abteilung und/oder sein Arbeitsbereich längerfristig bestehen bleibt. »Wenn Prekarisierung als Verunsicherung der sozialen Kohäsion begriffen wird (und dazu gehört die Möglichkeit, die individuelle und familiäre Existenz planen und gestalten zu können, nicht zuletzt um politisch tätig zu werden), dann macht es keinen Sinn mehr, ›normal‹ Beschäftigte den prekären gegenüberzustellen, weil auf diese Weise die systematische, reale Verunsicherung auch der Stammbeschäftigten ausgeblendet bzw. auf die ›prekär‹ Beschäftigten reduziert wird.«37
Berthold Vogel charakterisiert Prekarität und Prekariat als »Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten«, die geeignet seien, sich grundlegend verändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Armut und Unterversorgung zu kennzeichnen, zumal damit der Einfluss von Regierungshandeln auf deren Reproduktion markiert werde: »Das Prekariat – die Grenzgänger des Arbeitsmarktes – sind wesentlich ein Produkt politischer Entscheidungen. Die Neujustierung der Arbeitsmarktpolitik (›Hartz-Gesetze‹), die ein wesentlicher Teil der Geschichte der Prekarität ist, hat zu einer partiellen (nicht generellen) Aufweichung arbeitsrechtlicher Begrenzungen geführt, sie hat die Vervielfältigung von Beschäftigungs- und Statusformen vorangetrieben, und sie hat sich von der Leitlinie verabschiedet, den erreichten Qualifikations- und Sozialstatus derer zu schützen, die ihre alte Arbeit verloren haben und auf der Suche nach neuer sind.«38
Bourdieus früherer Pariser Kollege Robert Castel differenziert mit Blick auf die »neue soziale Frage« bzw. die Prekarisierung vieler Arbeitsverhältnisse im gegenwärtigen Kapitalismus zwischen einer »Zone der Integration«, einer »Zone der Verwundbarkeit«, einer »Zone der Fürsorge« und einer »Zone der Exklusion«, die er auch als »Zone der Entkopplung« bezeichnet.39 Ungeklärt bleibt, in welchem Verhältnis diese Zonen zu den Soziallagen einzelner Klassen und Gesellschaftsschichten stehen, anders formuliert, ob es sich um damit verbundene oder davon losgelöste Risiken handelt. Klaus Dörre, der sich Castel anschließt, weist auf die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit, das Wachsen der Existenzängste auch im Kernbereich der industriellen Stammbelegschaften und die mentalen Auswir|26|kungen solcher Erosionsprozesse hin: »Einem Bumerangeffekt gleich sorgt die Konkurrenz der Prekarier dafür, dass die Stammbelegschaften ihre Festanstellung als Privileg empfinden, das es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt. Auch die Mobilisierung von Ressentiments gegen Andere, weniger Leistungsfähige, Arbeitslose und Arme kann dafür ein Mittel sein.«40 Empirisch bestätigt haben diesen Trend einschlägige Untersuchungen des Bielefelder Rechtsextremismus- und Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer, der im Zeichen einer »Dominanz des Marktes« und einer »Ökonomisierung des Sozialen« erhebliche negative Folgen für »Überflüsse« bzw. »Nutzlose« sieht.41 Vor allem Langzeitarbeitslose – und damit meistenteils Arme – würden in jüngster Vergangenheit aufgrund ökonomistischer Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft abgewertet.
Man kann die Armut nach den davon Betroffenen (z.B. Kinder-, Frauen-, Mütter-, Familien-, Migranten- und Altersarmut), nach ihrer Dauer (Kurzzeit-, Langzeit- bzw. Dauerarmut) oder nach der Region (ländliche bzw. städtische Armut) unterscheiden, in welcher sie vorkommt. Sinnvoller wäre allerdings eine Klassifizierung der Armut nach den Ursachen, die zu ihrer Entstehung führen. Denkbar erscheint die Einteilung in kontingente Armut (für von unvorhersehbaren Schicksalsschlägen wie einem schweren Unfall ausgelöste Formen), inkonsistente Armut (für vorübergehende Notlagen einzelner Menschen) und systemimmanente Armut (für volkswirtschaftlich bedingte Formen wie auf Massenarbeitslosigkeit beruhende Nichterwerbs- und Erwerbsarmut im expansiven Niedriglohnsektor, die größere Gruppen oder ganze Schichten treffen), wenngleich die Grenzen zwischen ihnen fließend sind. Armut zeigt zukünftig ein doppeltes Gesicht: Dispositionsarmut, bei der ein an sich weniger dramatisches Ereignis im Lebensverlauf, etwa Frühinvalidität, der Verlust des (Ehe-)Partners und/oder des Arbeitsplatzes, aber auch die Geburt von Kindern, zur zeitweiligen Unterversorgung führt, wird überlagert durch Deprivationsarmut, die den Ausschluss von allgemein anerkannten Lebensstandards bedeutet.
Laszlo A. Vaskovics unterschied in seiner Untersuchung zur Randgruppenbildung in Notunterkünften, die Mitte der 70er-Jahre erschien, zwischen einer »Notstands-« und einer »Wohlstandsarmut«, die er folgendermaßen charakterisierte: »Die ›Notstandsarmut‹ ist vom Gesichtspunkt der Betroffenen her gesehen ein Problem der Entbehrungen mangels ausreichender ökonomischer Mittel. Die ›Wohlstandsarmut‹ ist zwar von ihrer Ursache her ebenfalls ein ökonomisches Problem, aber von ihrer Erscheinungsform her ein soziales Problem.«42 Wieso die »Notstandsarmut« nur ein |27|ökonomisches und nicht auch ein soziales Problem bildet, ist aber schwer verständlich und die begriffliche Abgrenzung von der »Wohlstandsarmut« eher schwammig.
In einem reichen Land wie der Bundesrepublik arm zu sein bedeutet mehr, als wenig Geld zu haben, und zwar vor allem:
einen dauerhaften Mangel an unentbehrlichen und allgemein für notwendig erachteten Gütern, die es Menschen ermöglichen, ein halbwegs »normales« Leben zu führen;
Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen, Freizeit und Sport;
den Ausschluss von (guter) Bildung, (Hoch-)Kultur und sozialen Netzwerken, welche für die gesellschaftliche Inklusion nötig sind;
eine Vermehrung der Existenzrisiken, Beeinträchtigungen der Gesundheit und Verkürzung der Lebenserwartung (»Arme müssen früher sterben«);
einen Verlust an gesellschaftlicher Wertschätzung, öffentlichem Ansehen und damit meistens auch individuellem Selbstbewusstsein.
Überlegungen zur Sozialgeschichte der Armut
Armut gibt es, seitdem Menschen die Erde bevölkern. Wie die Sozialgeschichte der Armut zeigt, unterlag diese einem ständigen Wandel hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen, aber auch der Art und Weise, wie damit umgegangen wurde. Was man darunter verstand, war vom erreichten Wohlstandsniveau, von der Produktivkraftentwicklung, den Einkommens- und Vermögensverhältnissen sowie den hierauf basierenden Normen und Werten, ihrer Widerspiegelung im Alltagsbewusstsein und kulturellen Traditionen der Gesellschaft abhängig. Genauso vielfältig wie die Armut selbst erscheint auch der Umgang von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit ihr gewesen zu sein.
Von der Etablierung des Christentums bis zum Spätmittelalter galten Arme hierzulande fast durchgängig als »Kinder Gottes«, die von den Bessersituierten miternährt werden mussten. Da sie von Almosen lebten, deren Gabe für die Reichen unerlässlich war, wenn sie ihr Seelenheil sichern wollten, stellte niemand die Existenzberechtigung, die Lebensweise und die Würde der Armen in Frage. Dies änderte sich grundlegend an der Schwelle zur Neuzeit, wiewohl strittig ist, ob die religiösen Wandlungen jener Epo|28|che, die Kultur der Renaissance oder das Entstehen des Kapitalismus dafür verantwortlich waren.43 Seither zieht sich durch die mehrhundertjährige Sozialgeschichte der Armut wie ein roter Faden die Aufteilung der davon Betroffenen in »würdige« und »unwürdige Arme« bzw. in »verschämte« und »unverschämte Arme«. Man unterstellte den Letzteren, die gesellschaftlichen Konventionen ohne Grund zu missachten bzw. sich ihnen aus wenig ehrenvollen Motiven zu widersetzen. »Die Überzeugung, unwürdige Arme hätten keine Moral, sie seien hartnäckige Schwindler, sittenlose Müßiggänger und Diebe, diese Überzeugung also stammt aus dem Mittelalter und lebt in der einen oder anderen Form bis heute fort.«44
Alle nur möglichen negativen Eigenschaften werden ihnen angedichtet, was die subjektive Seite der Armut so unerfreulich macht. Arme sind gesellschaftliche Außenseiter, die nicht als Mitmenschen wie du und ich, sondern als »Fremde im eigenen Land« behandelt werden. Das kränkt sie erheblich mehr, als wenig Geld zu haben und sich nicht alles kaufen zu können, was andere schon längst besitzen. Was die angebliche Wildheit, Unsittlichkeit und Verworfenheit der Armen betrifft, sind Parallelen zur rassistischen Sicht der Kolonialmächte auf die Bewohner/innen der von ihnen eroberten Gebiete unübersehbar. Rebekka Habermas hat die Armenbilder im deutschen Kaiserreich untersucht und dabei auffallende Ähnlichkeiten zwischen den Darstellungen außereuropäischer »Eingeborener« und innereuropäischer Unterschichten festgestellt.45
Stigmatisierung, Diffamierung und Kriminalisierung der Armen sind nur dann möglich, wenn es sich dabei um eine Minderheit (oder eine machtlose Mehrheit wie die Schwarzen im Südafrika der Apartheid) handelt, der man die Schuld für ihre soziale Misere selbst in die Schuhe schieben kann. Armut ist aber in der Regel gar kein persönlich verschuldetes Schicksal, sondern ein gesellschaftlich erzeugtes Problem, das eben deshalb auch nur politisch, nicht (sozial)pädagogisch oder psychotherapeutisch gelöst werden kann.
Verbunden war die begriffliche Differenzierung zwischen würdigen und unwürdigen Armen mit einer teilweise höchst unterschiedlichen Behandlung dieser beiden Gruppen durch Bevölkerung wie Obrigkeit. Während man den ehrenhaften »Haus-Armen« mildtätige Gaben zukommen ließ, war man gegenüber dem »fahrenden Volk«, das der Spielsucht, der Prasserei und der Unzucht verdächtigt wurde, wenig zimperlich. Robert Jütte schildert die Mechanismen, mittels deren (bettelnde) Arme in früheren Jahrhunderten stigmatisiert und kriminalisiert wurden. Als subtile Me|29|thoden nennt er Verachtung und Verleumdung, Beleidigung und Beschimpfung, bei denen es allerdings nicht immer blieb.46 Neben der brutalen Ausgrenzung, die bis zum An-den-Pranger-Stellen und zum öffentlichen Auspeitschen der Bemitleidenswerten reichte, wurde auch die relativ humane Ausweisung bzw. mehr oder weniger freiwillige Auswanderung praktiziert, bevor sich in fast allen europäischen Staaten während der frühen Neuzeit die Zucht- und Arbeitshäuser durchsetzten. Sie erfüllten Funktionen, die Christian Marzahn drei unterschiedlichen Sphären (Ökonomie, Ordnungspolitik und Ideologie) zuordnet: »Auf der ökonomischen Ebene bedeutet das Zucht- und Arbeitshaus eine Entlastung der Armenkassen und damit eine allgemeine Zentralisierung, Rationalisierung und Ökonomisierung des Armenwesens. […] Auf der ordnungspolitischen Ebene war das Zucht- und Arbeitshaus ein Instrument der Sozialdisziplinierung, dessen sich das aufsteigende Bürgertum mittels der Kommunalisierung der Armenpflege immer mehr bemächtigte und mit dem es seine eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen an der Hervorbringung des disziplinierten Lohnarbeiters und an der sozialen Kontrolle abweichender Verhaltensweisen absicherte. Auf der ideologischen Ebene erzwang, demonstrierte und verbreitete das Zucht- und Arbeitshaus pädagogisierend jene neuen Orientierungen und Normen, deren Verinnerlichung den freien Lohnarbeiter erst funktionstüchtig und verwertbar macht.«47
Arbeitshäuser waren »Besserungsanstalten«, in denen eine Umerziehung der Armen stattfinden sollte, weil man allgemein glaubte, diese seien bisher nur einem schlechten Einfluss ausgesetzt gewesen und müssten daher mit der nötigen Härte auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden. Umgekehrt entwickelten die Armen subversive Überlebens- bzw. Gegenstrategien und teils sehr diffizile Techniken, um der staatlichen Repression zu entgehen.48 Später trat die materielle Integration durch staatliche Sozialpolitik an die Stelle der systematischen Repression. Sie war allerdings ebenfalls mit dem fortwährenden Bemühen privilegierter Gruppen verbunden, einen möglichst großen Teil der Hilfebedürftigen als »faul« zu brandmarken, um den Kreis der Unterstützungsberechtigten auf diese Weise klein zu halten und die (von ihnen) dafür meist durch Steuern aufzuwendenden Finanzmittel zu minimieren. Nicht unterschätzt werden darf auch der Abschreckungseffekt, den eine Gesellschaft durch Diskreditierung und Kriminalisierung der Armen erzielt.|30|
Gefahren für die Demokratie: Armut und Reichtum – ein Interdependenzverhältnis?
Armut existiert – wie gesagt – nie unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie umgeben. Dazu gehören in der Welt von heute ein früher unvorstellbares Maß an Wohlstand und Reichtum. In unserer Gesellschaft ist der Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum allerdings geradezu mit einem Tabu belegt,49 vermutlich deshalb, weil man sich mit seiner Durchdringung den Ursachen von Ersterer nähert. Armut ist jedoch nicht aus sich heraus, sondern nur im Kontext ihres Gegenstücks, des Reichtums, wirklich zu verstehen. Daher kann man, eine berühmte Sentenz Max Horkheimers über den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus abwandelnd, mit einiger Berechtigung formulieren: Wer vom Reichtum nicht sprechen will, sollte auch von der Armut schweigen! Anders gesagt: Gäbe es keine riesigen Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Menschen, würde man zumindest in einem reichen Land auch niemanden arm nennen können.
Armut und Reichtum sind zwei Seiten einer Medaille, oder pointierter formuliert: Ohne den Reichtum existiert keine Armut und ohne die Armut kein Reichtum. Armut und Reichtum gehören ebenso fest zusammen wie Schwarz und Weiß, wie Licht und Schatten oder wie Tag und Nacht. Das eine kann es jeweils ohne das andere gar nicht geben, und beide bilden nicht nur einen begrifflichen Gegensatz, sondern auch eine strukturelle Einheit. Armut und Reichtum stehen zueinander in einem dialektischen Wechselverhältnis, was sich am Beispiel der kapitalistischen Profitwirtschaft zeigt. Der dieser innewohnende Drang nach Gewinnmaximierung und die Tendenz zur Verarmung eines Teils der Bevölkerung gehen Hand in Hand. »Reichtum produziert unter diesen Umständen Armut: Die Lohnkürzung des einen ist die Dividende des anderen.«50
Alexander Schubert bestimmt Armut gleichfalls in Relation zum gesellschaftlichen Reichtum: »Armut ist das Ergebnis der Art und Weise, wie Reichtum produziert wird. Und wie er verteilt wird.«51 Zwar hat der Kapitalismus wie keine andere Gesellschaftsformation vor ihm die Produktivkräfte entwickelt und den gesellschaftlichen Reichtum vermehrt, falsch wäre es jedoch, daraus zu schließen, er könne das Armutsproblem lösen. Schon Georg Friedrich Wilhelm Hegel hatte in seiner »Rechtsphilosophie« festgestellt, »daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche |31|Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.«52 Armut kann im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigt werden, da beide systembedingt und konstitutive Bestandteile des Kapitalismus sind.
Bertolt Brecht hat es 1934 in dem Kindergedicht »Alfabet« folgendermaßen ausgedrückt: »Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Dass sich Reichtum und Wohlstand auf Kosten der Armen entwickeln, zeigt Jens S. Dangschat für die freie Hansestadt Hamburg.53 Armut entsteht nicht trotz, sondern durch Reichtum. Da die Fähigkeit, finanzielle Ressourcen nicht für die private Lebensführung zu verausgaben, genauso wie die Sparneigung mit der Höhe des Einkommens und Vermögens einer Person tendenziell zunimmt, entzieht die Kapitalkonzentration (Monopolisierung) der Volkswirtschaft die zur Ankurbelung der Binnenkonjunktur und damit zur Bewältigung von Wirtschaftskrisen nach keynesianischem Muster nötigen Mittel und lähmt so die Wachstumskräfte, wodurch die Krisenhaftigkeit des Systems steigt und der zunehmende private Reichtum wiederum mehr Armut schafft.54
Günther Salz, der sich auf die Klassiker des Marxismus einerseits und neomarxistische Theoretiker andererseits stützt, stellt Armut in den strukturellen Zusammenhang der Kapitalakkumulation, betont die Notwendigkeit zur materiellen Reproduktion der Arbeiterklasse und nimmt Bezug auf den Terminus der »industriellen Reservearmee« (Karl Marx), welcher für ihn den Schlüssel zur Erklärung von Not und Elend des modernen Proletariats bildet. Weder stellt die Armut laut Salz einen Fremdkörper im Kapitalismus dar, noch kann das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem funktionieren, ohne dass es sie gibt. »Die Armut ist daher nicht nur ein lästiger Stachel im Fleisch des Wohlstands, sondern sie ist Fleisch vom Fleische der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Produktionsweise. Integraler Teil dieser Produktionsweise ist der Staat, der die grundlegenden Risiken der Kapitalproduktion zwar nicht aufheben kann, sie dennoch beständig modifiziert, und der die ›Soziale Frage‹ dennoch keineswegs ›löst‹, sondern sie auf Dauer stellt.«55
Hingegen würde eine Stärkung der Massenkaufkraft die Konjunktur ankurbeln sowie die Kluft zwischen Arm und Reich zumindest ansatzweise schließen helfen. Als das als »Konjunkturpaket II« der Bundesregierung bekannte Gesetzzur Sicherung von Beschäftigung und Stabilitätin Deutschland im |32|Januar/Februar 2009 von Bundestag und -rat verabschiedet wurde, übten fünf Professoren für Politikwissenschaft (darunter der Verfasser) per gemeinsamer Erklärung heftige Kritik: »Arme und Arbeitslose werden von der Regierung systematisch vernachlässigt.«56 Vor allem die Kaufkraft der untersten Einkommensgruppen, etwa durch eine generelle Anhebung der Grundsicherung für Arbeitsuchende und deren Angehörige nach dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV), dauerhaft zu erhöhen, wäre aus ihrer Sicht nicht bloß sozial gerechter, vielmehr auch ökonomisch sinnvoller gewesen. Gefordert wurden ein Sofortausgleich der Einkommensverluste der Hartz-IV-Empfänger/innen seit Amtsantritt der zweiten Großen Koalition (12 bis 15 Prozent), die Erhöhung des Eckregelsatzes auf 500 EUR und der Kinderregelsätze um mindestens 100 EUR monatlich sowie ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 10 EUR pro Stunde.
Um das Ausmaß der sozialen Polarisierung in einer Gesellschaft zu erfassen, muss man Armut und Reichtum gleichermaßen berücksichtigen, weil sonst ein schiefes, zumindest jedoch ein unvollständiges Bild der Verteilungsrelationen entstehen würde. Erschwert wird ein solches Vorhaben dadurch, dass der Letztere normalerweise auf Diskretion pocht und sich möglichst gut versteckt bzw. tarnt, vor allem dann, wenn sich ein Wissenschaftler bemüht, seine genaue Höhe offenzulegen. Ernst-Ulrich Huster, der im Unterschied zu den meisten seiner Fachkollegen sowohl Armuts- wie auch Reichtumsforscher ist, schrieb dazu in einem von ihm 1993 herausgegebenen Sammelband mit süffisantem Unterton: »Reichtum gleicht einem scheuen Wild, die Sozialstatistik und die öffentliche Forschungsförderung tragen dem in hohem Maße Rechnung.«57
Die wissenschaftliche Bestimmung von Reichtum ist nicht weniger schwierig als die von Armut. In dem Bestreben, das Ausmaß des Reichtums empirisch zu erfassen, suchte Huster nach einer operationalisierbaren Definition. Dabei orientierte er sich an einem relativen Armutsbegriff und bestimmte eine Reichtums- in Analogie zu der seinerzeit im EG-Rahmen allgemein anerkannten Armutsschwelle von 50 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens: »Wenn ein Leben unterhalb der Hälfte dessen, was – im gewichteten Durchschnitt – einem Haushalt zur Verfügung steht, die Grenze zur Armut markiert, so bedeutet das Überschreiten des doppelten durchschnittlichen gewichteten Haushaltseinkommens ebenfalls einen besonderen Einschnitt, der […] als Reichtumsgrenze gefaßt werden soll.«58 Darüber hinaus sei der Nachweis einer besonderen Qualität beim Ver|33|brauch in diesen Haushalten relevant. Auf dieser Grundlage gelangte Huster damals zu der prägnanten Zahl von 1 Mio. reichen Haushalten im vereinten Deutschland, die man getrost anzweifeln darf, denn wenn jemand die genannte Einkommensschwelle überschritt, gehörte er sicher zu den Besserverdienenden, aber nicht unbedingt zu den Reichen. Der in der Wissenschaft, aber auch der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes mittlerweile gebräuchliche Schwellenwert von 200 Prozent des bedarfsgewichteten Durchschnittseinkommens markiert eher eine Wohlstandsgrenze, weil Reichtum mehr ist, als ein doppelt so hohes Nettoäquivalenzeinkommen (gegenwärtig ca. 3.300 EUR pro Monat) wie der Bevölkerungsdurchschnitt zu haben.
Reichtum bedeutet die Möglichkeit, wirtschaftlich und politisch Macht auszuüben, wie Armut umgekehrt bedeutet, ökonomische und soziale Ohnmacht zu erfahren. Wieder geht es nicht bloß um Geld, obwohl dieses das Fundament des privaten Reichtums bildet. Hans-Jürgen Krysmanski spricht von einem »Geldmachtapparat«, der das Netzwerk einer Finanzoligarchie bilde und es ganz unterschiedlichen Gruppen von Hyperreichen ermögliche, unter dem Schleier der neoliberalen Deregulierungsideologie ein neuartiges Regime zu errichten, das auf einer »kapitalismusbasierten High-Tech-Refeudalisierung« beruhe.59 An dem Grundproblem, dass auf den Finanzmärkten nicht zuletzt durch spekulative Geschäfte fast über Nacht riesige Vermögen entstehen und manchmal auch genauso schnell wieder vergehen, werden eine internationale Kontrollinstanz, eine strengere Bankenaufsicht und mehr Transparenz in diesem Bereich, wie sie die G-20-Staaten fordern, wenig ändern.
In einer wohlhabenden Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, sozial, gerecht und demokratisch zu sein, müssen Armut, sofern sie nicht auf Einzelfälle beschränkt ist und man ein persönliches Versagen der davon Betroffenen unterstellen kann, wie Reichtum, der ein vernünftiges Maß übersteigt, öffentlich gerechtfertigt werden. Dies geschieht primär über die Lehre, wonach es Leistungsträgern in der Sozialen Marktwirtschaft besser geht und besser gehen soll als den weniger Leistungsfähigen oder gar den »Leistungsverweigerern«, »Faulenzern« und »Sozialschmarotzern«. Reinhard Kreckel bezeichnet die Leistungsideologie als wichtigstes Mittel zur Legitimation von sozialer Ungleichheit in Fortgeschrittenen westlichen (und östlichen) Staatsgesellschaften. Er spricht von einer »meritokratische(n) Triade« von Bildungsabschluss, beruflichem Rang und Geldeinkommen – in der genannten Reihenfolge: »Die Qualifikation eines Indivi|34|duums soll in eine entsprechende berufliche Position konvertierbar sein, die berufliche Position soll mit einem ihr angemessenen Einkommen ausgestattet sein – so will es die Leistungsideologie.«60
Dass es sich hierbei um einen Mythos handelt, hat der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann empirisch belegt. Seine breit angelegten Untersuchungen zeigen nicht bloß, dass sich die Leistungseliten gegenwärtig auf geradezu inzestuöse Weise hauptsächlich aus ihrem eigenen Herkunftsmilieu reproduzieren und eine »geschlossene Gesellschaft« bilden.61 Gleichzeitig vertreten sie ihre Interessen heute auch sehr viel massiver und rücksichtsloser als in der »alten« Bundesrepublik, weil sich seither die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit spürbar zu ihren Gunsten geändert und durch den Aufstieg des Neoliberalismus ideologische Deutungsmuster an Bedeutung gewonnen haben, die ihre soziale Privilegierung legitimieren.
Armut und Reichtum werden gerechtfertigt, indem man sie als Sachzwang darstellt. So hält die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer nichts von allgemeinen Klagen über steigende Armut, die es schon lange gebe, denn Chancen und Risiken, wie sie eine moderne Leistungsgesellschaft nun einmal mit sich bringe, müssten akzeptiert werden: »Armut oder, besser gesagt, relative Armut ist wahrscheinlich die notwendige Begleiterscheinung einer von ihrer Ausrichtung her meritokratischen Gesellschaft, in der sich ein jeder nach seiner Leistung einen Platz erobert.«62 Tatsächlich ist Armut unter den gegenwärtigen Bedingungen funktional, d.h. für die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse erforderlich, diszipliniert sie doch unmittelbar Betroffene, Erwerbslose und Arbeitnehmer/innen gleichermaßen. Dies bedeutet jedoch weder, dass Armut immer von jedem einzelnen politisch Verantwortlichen gewollt, noch dass sie für das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem völlig ungefährlich ist. Außerdem eröffnen sich bessere Aufstiegsmöglichkeiten für Einzelne, wenn möglichst viele Mitkonkurrent(inn)en niedergehalten werden. »Obwohl gerade in der Bundesrepublik die Ressourcen zur Überwindung von Armutslagen vorhanden sind, wird Armut mitsamt ihren individuellen und sozialen Folgen gesellschaftlich in Kauf genommen.«63
Früher verkörperten die Armen ein »soziales Worst-case-Szenario« für Gesellschaftsmitglieder, die sich nicht systemkonform verhielten; ihnen blieb jedoch (fast) immer die Hoffnung, ihre Lage durch eigene Anstrengungen und/oder glückliche Fügungen des Schicksals zu verbessern. Auch wenn diese Erwartungen fast nie erfüllt wurden, steckte darin ein wichtiger |35|Lebensimpuls, der sonst schwer vergleichbare Gruppen miteinander verband, weil soziale Grenzlinien zumindest prinzipiell – wiewohl real eben nur im Ausnahmefall – überwunden werden konnten. Armut diente also der Disziplinierung, Motivierung und Loyalitätssicherung. Die (Angst vor der) Armut war ausgesprochen nützlich für den Fortbestand des politischen und Gesellschaftssystems.64
Nur ganz selten wagt ein Wissenschaftler, solche unbequemen Wahrheiten offen auszusprechen. Jens S. Dangschat gehört zu den wenigen Soziologen, die konstatieren, dass es Profiteure und Ideologen der Armut gibt: »Arbeitslosigkeit, eingeschränkte Sozialstaatlichkeit, Armut und sozial(räumlich)e Ausgrenzung sind […] kein Mißgeschick und kein Unfall – sie sind Folge und Voraussetzung einer ›Freien Marktwirtschaft‹ und als solche Bestandteil einer neoliberalen Gesellschaftsordnung, wie sie bereits durch Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA durchgesetzt wurde.«65 Das kapitalistische Wirtschaftssystem setze auf einen Staat, der nicht mehr in erster Linie sozial sein will und immer weniger Geldmittel zur Erfüllung dieser Aufgabe zur Verfügung hat: »Insofern ist die Öffnung der sozialen Schere gewollt, wird zumindest so lange billigend in Kauf genommen, wie die Auswirkungen gesellschaftlicher Spaltungen erträglich bleiben.«66 Armut sei damit geeignet, Prozesse der Flexibilisierung und Deregulierung zu unterstützen und Arbeitnehmer/innen zu disziplinieren.