Wohlfahrtsstaat am Scheideweg - Christoph Butterwegge - E-Book

Wohlfahrtsstaat am Scheideweg E-Book

Christoph Butterwegge

0,0

Beschreibung

Der Schock ist noch zu spüren: Die bisherige Regierungspartei FDP wurde am 22. September aus dem Bundestag gewählt. Ist damit ein sozialpolitischer Bremsklotz beseitigt, oder wird auch die neue Regierungskoalition den neoliberalen Umbau des Sozialstaats vorantreiben? Christoph Butterwegge, engagierter Politikwissenschaftler und Deutschlands führender Armutsforscher, fasst in seinem aktuellen Essay die Entwicklungen der letzten Jahre zusammen und warnt mit Blick auf die neue Legislaturperiode: Wenn es um die Bewahrung einer solidarischen Gesellschaft geht, dürfen wir uns auf die Regierung nicht verlassen. Nur durch ständigen inner- und außerparlamentarischen Druck ist der Wohlfahrtsstaat zu retten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 85

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christoph Butterwegge

WOHLFAHRTSSTAAT AM SCHEIDEWEG

Wohin steuert die neue Koalition?

Campus VerlagFrankfurt/New York

Inhalt

1. Was macht die neue Bundesregierung?

2. Beschleunigung des Wachstums oder der Umverteilung von unten nach oben?

3. Das sogenannte Zukunftspaket: »Sparen« auf Kosten der (Langzeit-)Arbeitslosen, ihrer Kinder und des Sozialstaates?

4. Hartz IV als sozialpolitische Dauerbaustelle: Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens oder Übergang zu »Hartz V«?

5. Beendigung der paritätischen GKV-Finanzierung, Etablierung der Kopfprämie durch die Hintertür und Einführung des »Pflege-Bahrs«

6. KiTa-Ausbau und Betreuungsgeld: ein familien-, gleichstellungs- und sozialpolitischer Rückschritt

7. Der völlige Verzicht auf Maßnahmen gegen Altersarmut – ein Armutszeugnis für CDU, CSU und FDP

8. Kontroversen um den 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

9. Mehr soziale Ungleichheit durch Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip

10. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und LINKE: Perspektivlosigkeit als Programm der Opposition

11. Alternativen der Wohlfahrtsstaatsentwicklung: Niedergang oder Neubegründung des Sozialen?

Über das Buch

Über den Autor

Impressum

1. Was macht die neue Bundesregierung?

Die Bundestagswahl am 22. September 2013 endete mit einer faustdicken Überraschung: Die FDP hat es mit 4,8 Prozent der Zweitstimmen nicht wieder in den Bundestag geschafft und die Union damit ihren bevorzugten Koalitionspartner verloren. So wurden die parlamentarischen Kräfteverhältnisse zu Beginn der 18. Legislaturperiode durcheinandergewirbelt und die politischen Karten neu gemischt. An einer historischen Wegscheide befindet sich auch die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates: Entweder wird der »Um-« beziehungsweise Abbau des sozialen Sicherungssystems, welcher seit Mitte der 1970er-Jahre im Gang ist und mit der als »Hartz IV« bezeichneten Arbeitsmarktreform seinen bisherigen Höhepunkt erreicht hat,1 modifiziert fortgesetzt und der Übergang vom Sozialversicherungsstaat à la Bismarck zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat besiegelt. Oder aber es wird ein Neuanfang in Richtung der Rekonstruktion des Wohlfahrtsstaates und seines Ausbaus zu einer solidarischen Bürgerversicherung gewagt, die zur Programmatik aller neben CDU und CSU im Parlament vertretenen Parteien (SPD, Bündnis 90/Die Grünen und LINKE) gehört.

Um die genannten Entwicklungsalternativen beurteilen zu können, muss man einen Blick zurück werfen und erkunden, ob die abgewählte CDU/CSU/FDP-Regierung, anders als von den sie tragenden Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 versprochen, eine »Koalition der sozialen Zumutungen« war oder die Weichen für eine positive Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates gestellt hat. Im Bundestagswahlkampf 2013 haben die Haltung der Grünen zur Pädophilie während ihrer Entstehungsphase neben der von der Kanzlerin im Fernsehduell mit ihrem sozialdemokratischen Herausforderer Peer Steinbrück getragenen Halskette sowie dessen Mimik und Gestik („Stinkefinger«-Affäre) beinahe eine gewichtigere Rolle gespielt, als Schlüsselfragen der Gesellschaftsentwicklung, der Sozialphilosophie und der Regierungspolitik („Was ist Gerechtigkeit und wie haben CDU, CSU und FDP sie zu verwirklichen gesucht?«). Hier aber soll der im damaligen Koalitionsvertrag mit dem Titel »Wachstum – Bildung – Zusammenhalt« erhobene Anspruch des schwarz-gelben Regierungsbündnisses, bei einem konjunkturellen Aufschwung der Wirtschaft mehr für die Zukunftsperspektiven der jungen Generation zu tun und die gesellschaftliche Kohäsion zu stärken,2 auf den Prüfstand gestellt und mit der Gesetzgebungstätigkeit dieser Parteien konfrontiert werden. Schließlich geht es um sozialpolitische Alternativkonzeptionen und Kernforderungen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und LINKEN, die wegen der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse aber mit darüber entscheiden könnten, ob ein weiterer Niedergang oder eine Renaissance des Wohlfahrtsstaates bevorsteht.

2. Beschleunigung des Wachstums oder der Umverteilung von unten nach oben?

Die nach ihrem Stimmenzuwachs auf 14,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2009 überaus selbstbewusst auftretende FDP verstand sich als wirtschaftspolitischer Motor und als sozialpolitischer Bremsklotz des neuen Regierungsbündnisses. Man betonte »Eigenverantwortung und Eigeninitiative«, meinte damit aber hauptsächlich Mehrbelastungen für Arbeitnehmer/innen und Rentner/innen, während die Arbeitgeber von Sozialversicherungsbeiträgen („Personalzusatzkosten«) und Kapitaleigentümer ebenso wie Topverdiener von Steuerlasten befreit werden sollten. Frappierend waren die inhaltlichen Schnittstellen zwischen CDU/CSU und FDP im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Wenn die damaligen Vorsitzenden der Koalitionsparteien Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle unisono von der Bildung einer »Regierung der bürgerlichen Mitte« schwärmten, wärmten sie nicht das Herz des Citoyens als eigentlichem Souverän der demokratischen Republik, sondern sprachen bewusst den Bourgeois als Geschäftsmann und Kapitaleigner an. Die besitzbürgerlichen Interessen brachen sich unter Schwarz-Gelb denn auch noch unverblümter Bahn als unter Schwarz-Rot und Rot-Grün. Gefragt war in erster Linie der Wirtschaftsbürger, wohingegen die sozialen Bürgerrechte weiter beschnitten wurden.

Ungefähr zur selben Zeit, als das Bundesverfassungsgericht am 20. Oktober 2009 darüber verhandelte, ob die Bedürfnisse der in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften lebenden Kinder bei der Regelsatzbemessung angemessen berücksichtigt wurden oder zumindest die Hartz-IV-Kinderregelsätze das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verletzten, trieb CDU, CSU und FDP offenbar sehr viel stärker die Sorge um, »Leistungsträger« und »Besserverdiener« könnten – auch für ihre Kinder – zu viel Steuern zahlen. Denn sie beschlossen nicht etwa, die Armut von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien zu verringern, sondern den steuerlichen Kinderfreibetrag zunächst von 6.024 EUR auf 7.008 EUR und später auf die für Erwachsene geltende Höhe (2013: 8.130 EUR; 2014: 8.354 EUR) anzuheben sowie das Kindergeld von 164 EUR auf 184 EUR monatlich zu erhöhen.

Dabei handelte es sich mitnichten um eine Entlastung »der« Familien, wie CDU, CSU und FDP behaupteten, sondern um eine weitere Begünstigung von Besserverdienenden und Begüterten. Die zuletzt Genannten profitierten davon überproportional, Eltern mit einem geringen Einkommen hatten jedoch wenig und Transferleistungsempfänger/innen mit noch so vielen Kindern gar nichts davon. Während ein Spitzenverdiener durch die im Wachstumsförderungsgesetz enthaltenen Maßnahmen jährlich 443 EUR Steuern »spart« und ein Normal- oder Geringverdiener 240 EUR mehr Kindergeld erhält, wurde die Not einer alleinerziehenden Mutter im Hartz-IV-Bezug kein bisschen gelindert. Ganz im Gegenteil: Aufgrund der Länder und Kommunen treffenden Steuerausfälle schränkten Gemeinden, Landkreise und kreisfreie Städte nicht per Gesetz verpflichtend vorgesehene Beratungs- und Betreuungsangebote gerade für solche Familien eher weiter ein.

Die im Wachstumsbeschleunigungsgesetz enthaltenen »Korrekturen« der Unternehmen- und Erbschaftsteuerreform boten den Vorteil, dass sie von der breiten Öffentlichkeit weniger stark wahrgenommen wurden als massive Senkungen des Spitzensteuersatzes oder die Abschaffung der Gewerbesteuer, wie sie die FDP forderte. Deshalb weichte die schwarz-gelbe Koalition eher Regelungen auf oder nahm sie ganz zurück, die ein drastisches Absinken des Steueraufkommens im Unternehmensbereich durch Finanzmanipulationen der Konzerne verhindern sollten, etwa die Einführung der »Zinsschranke« und der Mindestbesteuerung sowie die zeitweilige Aussetzung der degressiven Abschreibung.

Indem CDU/CSU und FDP die Bedingungen, unter denen Witwen und Waisen von Familienunternehmern die betriebliche Erbschaftsteuer erlassen wurden, weiter lockerten (Verkürzung der Behaltensfrist und Absenkung der Lohnsumme, die zur Steuerfreiheit führt), wurden selbst größere Entlassungswellen ohne Folgen für die Steuerbefreiung möglich, ohne dass Erben von Betriebsvermögen ihr Privileg gegenüber Erben anderer Sachwerte und von Geldvermögen verlieren. Gleichzeitig wurden nahe Verwandte (Geschwister, Nichten und Neffen) auf Kosten der Allgemeinheit bessergestellt. Während die Eltern armer Kinder sowohl im Hinblick auf die Erhöhung des Steuerfreibetrages wie auch beim Kindergeld leer ausgingen, machte die Bundesregierung den reichsten Familien des Landes weitere Steuergeschenke in Milliardenhöhe, die den Staat perspektivisch womöglich noch mehr Geld kosten als die Herabsetzung des Mehrwertsteuersatzes für Übernachtungen von 19 auf 7 Prozent, die das bayerische Tourismusgewerbe beflügeln sollte und von der FDP befürwortet wurde. Da sie Parteispenden in Höhe von über 1 Mio. EUR der Substantia AG in Düsseldorf erhalten hatte, die wie die Mövenpick-Hotelkette zur Firmengruppe des Barons August von Finck gehört, war die FDP fortan als »Mövenpick-Partei« verschrien.

3. Das sogenannte Zukunftspaket: »Sparen« auf Kosten der (Langzeit-)Arbeitslosen, ihrer Kinder und des Sozialstaates?

Entgegen ihren wiederholten Beteuerungen im vorangegangenen Bundestagswahlkampf, nicht für eine Politik der »sozialen Kälte« zu stehen, und ihren gleichzeitig abgegebenen Versprechungen, im Falle einer gemeinsamen Regierungsbildung keine weiteren Kürzungen im Sozialbereich vorzunehmen, beschlossen die Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP auf ihrer »Sparklausur«, die am 6./7. Juni 2010 stattfand, mehrere zum Teil gravierende Leistungsreduktionen und Streichungen von Transferleistungen für Arbeitslose beziehungsweise Arme. In dem »Die Grundpfeiler unserer Zukunft stärken« überschriebenen Ergebnispapier der Klausurtagung kündigten sie unter dem Titel »Stärkung von Beschäftigungsanreizen und Neujustierung von Sozialleistungen« moderate Ausgabenkürzungen in diesem Bereich an.3

Während die geplanten Maßnahmen zur Erhöhung/Erhebung von Steuern beziehungsweise Abgaben im Unternehmens- und Finanzmarktbereich entweder bloße Luftbuchungen darstellten, weil sie – wie die Bankenabgabe, die Finanztransaktionssteuer und die Brennelemente- beziehungsweise Kernbrennstoffsteuer – im Rahmen eines »Restrukturierungsfonds« den zu Belastenden selbst zugute kommen beziehungsweise nicht oder nur ansatzweise realisiert oder nach dem schweren Unfall im Atomkraftwerk Fukushima sogar wieder in Frage gestellt wurden, noch ausgesprochen vage klingende und mittlerweile enttäuschte Versprechungen – wie die durch eine vom damaligen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg begonnene Strukturreform der Bundeswehr angeblich frei werdenden Mittel – darstellten oder – wie eine Verschiebung des Baubeginns für das Berliner Stadtschloss – unter dem Strich finanziell kaum ins Gewicht fielen, waren und sind Hartz-IV-Bezieher/innen extrem stark betroffen. Zweckmäßiger wäre es gewesen, die Binnenkonjunktur dadurch zu beleben, dass man gezielt die (Transfer-)Einkommen derjenigen Menschen erhöht hätte, denen das nötige Geld fehlt, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, und es deshalb weder auf ein Sparkonto legen noch damit Finanzspekulationen tätigen würden.

Das größte Aufsehen im »Sparpaket« der Bundesregierung erregte die Absicht, Hartz-IV-Betroffenen das Elterngeld zu streichen beziehungsweise auf die Transferleistung anzurechnen. Da es sich bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende um eine Lohnersatzleistung handle, sei die Gewährung des Elterngeldes analog der Regelung beim Kindergeld systemwidrig, lautete ein weiteres Argument, das allerdings gleichfalls vorgeschoben wirkte, nachdem mit den Unionsparteien zwei der drei Koalitionspartner/innen das Elterngeld anstelle des – für Transferleistungsbezieher/innen noch günstigeren – Erziehungsgeldes in der ab 1. Januar 2007 geltenden Form selbst eingeführt hatten.

Bei der Regierungsbildung im Oktober 2009 hatten CDU, CSU und FDP noch von einer »Weiterentwicklung« und »Entbürokratisierung« des Elterngeldes gesprochen,4 womit offenbar in erster Linie die Erleichterung des Einkommensnachweises für Selbstständige gemeint war, die es in Anspruch nehmen wollen. Denn die emanzipatorische Komponente des Elterngeldes (Förderung der Übernahme von Erziehungsarbeit durch die Väter) wurde nicht ausgebaut: Die neue Familienministerin Kristina Schröder, geb. Köhler, verkündete im April 2011, kurz bevor sie selbst in den Mutterschutz ging, den Verzicht auf die von ihr versprochene, aber unter Finanzierungsvorbehalt gestellte Aufstockung der sogenannten Elternzeit um zwei weitere Partnermonate. Begründet wurde dieser Schritt mit dem wachsenden »Schuldenberg« und den öffentlichen Sparzwängen. Womöglich spielte die prekäre Haushaltslage des Bundes gegenüber handfesten Bedenken und Lobbyinteressen der Wirtschaft für Schröder, die auch bezüglich der weiblichen Unterrepräsentation in Führungspositionen lieber an die großen Unternehmen appellierte, als eine Frauenquote gesetzlich festzulegen, aber nur eine Nebenrolle.