Artisten, Freaks und Übermenschen - Monika Pelz - E-Book

Artisten, Freaks und Übermenschen E-Book

Monika Pelz

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Beschreibung

Billie lebt in der Welt des Varietés und des Zirkus. Seit sie denken kann, ist sie mit Madame Bacclavia auf der Bühne. Madame ist Wahrsagerin, aber die eigentliche Attraktion ist Billie, die ein drittes Auge auf der Stirn hat: Sie ist ein Freak. Billies Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, erregt die Aufmerksamkeit der Nazis und bringt sie in die Villa eines SS-Offiziers, der ihr - im Glauben, er habe eine Gesinnungsgenossin vor sich - immer mehr geheime Details der Nazi-Pläne erzählt. Billie begreift, dass sie mit diesem Wissen von der SS nie mehr freigelassen werden wird und flüchtet. Unterschlupf findet sie bei einem Karikaturisten, der eine Figur erfunden hat, die den typischen österreichischen Mitläufer symbolisiert. Der Karikaturist wird einberufen und überlässt Billie sein Schrebergartenhaus mit der Auflage, dass sie seinen Hund versorgen muss. Er verschafft ihr einen Ausweis und Lebensmittelmarken. Billie versucht nicht aufzufallen und schlägt sich durch.

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Seitenzahl: 162

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Impressum

ISBN 978-3-7026-5877-9

1. Auflage 2015

Einbandgestaltung: b3k unter Verwendung eines Fotos von plainpicture

© Copyright 2015 by Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Monika Pelz Artisten, Freaks und Übermenschen

Jungbrunnen

Autorin

Monika Pelz wurde 1944 in Klosterneuburg geboren. Sie arbeitete als Journalistin, Sekretärin, Übersetzerin und Antiquariatsbuchhändlerin, bevor sie Philosophie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte studierte. Schon während des Studiums war sie als Lokalreporterin und Fernsehjournalistin tätig, heute arbeitet sie als Schriftstellerin in Wien.

Inhalt

1 Bittere Tage

2 Zornige Nächte

3 Seltsame Zeichen

4 Erste Ahnungen

5 Verschwinden

6 Judith

7 Der „Weißclown“

8 Der Freund

9 Das menschliche Chamäleon

10 Asyl

11 Nachtrag: „Herr Hirneder“ entwickelt sich

GLOSSAR

Erklärung von Namen und Begriffen im Glossar ab Seite 132.

1 Bittere Tage

Billie erinnerte sich noch gut an den Moment, in dem sie sich zum ersten Mal im Spiegel gesehen hatte. Ein großer Spiegel war das, in einem halbdunklen Raum. Oder war er innen an einer Kleiderschranktür angebracht gewesen?

Jedenfalls sah Billie mitten auf ihrer Stirn ein drittes Auge. Bestimmt hatte sie schon vorher davon gewusst, doch damals, so kam ihr vor, hatte sie es zum ersten Mal gesehen. Sie war ja noch klein – fünf, sechs Jahre alt –, und alle anderen Spiegel waren wohl zu hoch oben für sie gewesen. Jedenfalls hatte Billie damals begriffen, dass dieses dritte Auge etwas Besonderes war, etwas, das nur sie besaß.

Denn alle anderen Leute hatten zwei Augen.

Billie erinnerte sich nicht daran, dass ihr Anblick im dunklen Spiegel – rundes, blasses Gesicht, blondes, gescheiteltes Haar, drei helle Augen – sie verwundert oder erschreckt hätte. Viele Menschen um sie herum hatten etwas Besonderes! Sie waren über und über tätowiert, sodass ihr Körper aussah wie ein Bilderbuch. Sie waren am ganzen Körper dicht behaart und nannten sich „Löwenmenschen“ oder „Affenmenschen“. Ein Fräulein Saveta, die schwerste Frau der Welt, trat als „Kolossin“ auf. Andere, die so dünn waren, dass sie nur aus Haut und Knochen zu bestehen schienen, wurden als „lebende Skelette“ angepriesen. Die „Kautschuk-Menschen“ oder „Kontorsionisten“ hatten Gliedmaßen, die sie völlig verbiegen konnten, ohne dass sie sich dabei etwas zerrten oder ausrenkten. Sie bogen ihren Körper nach hinten, bis der Scheitel die Fersen erreichte, um dann den Kopf zwischen den Füßen hindurchzustecken.

Einer von ihnen, genannt „Hoppi, der Froschmensch“, jagte Billie Angst ein. Das war aber nicht wegen seiner Verrenkungen und wilden Sprünge, sondern wegen seiner großen Glotzaugen – eine Art Brille oder Maske, die er bei seinen Auftritten trug, um noch froschähnlicher auszusehen. „Hoppi, der Froschmensch“ war ihr unheimlich, doch er war harmlos und tat ihr nichts zuleide. Keine der sogenannten Abnormitäten oder der – wie sie im Schaugeschäft genannt werden – Freaks tat ihr etwas zuleide.

Die einzige, vor der sie sich wirklich in Acht nehmen musste, war Madame Bacclavia, ihre Großmutter oder Großtante.

Niemals, so glaubte sie zu wissen, war ihr gesagt worden, welcher Art die Verwandtschaft war, die zwischen ihr und Madame Bacclavia bestand. Madame danach zu fragen, hatte keinen Sinn.

„Wenn du nochmals so dumm fragst, fängst du eine!“, hieß es.

Oder: „Freches Ding! Dir sollte man den Mund zukleben!“

Einmal hatte Madame Bacclavia ihre Drohung wahr gemacht und ihr wirklich den Mund mit Klebeband zugeklebt. Es tat weh, weil Billie den Kopf hin und her warf, und es tat noch mehr weh, als Madame das Klebeband wieder herunterriss. Billie hörte also auf, Fragen an sie zu richten.

Aber Madame Bacclavia konnte sich nicht genug darüber aufregen, was für ein schlimmes Kind Billie war und dass sie ihr nichts als Sorgen machte.

Früher hatte es Billie leidgetan, Madame Bacclavia aufzuregen und ihr nichts als Sorgen zu machen. Jetzt tat es ihr längst nicht mehr leid. Allerdings war sie aus Vorsicht braver geworden. Wenn auch nicht brav genug; da gab es noch viel zu lernen.

Einmal hatte man Billie zu einer Kindergeburtstagsjause im Zirkus eingeladen, und sie war später zurückgekommen, als sie Madame Bacclavia versprochen hatte. Alle dort hatten sie inständig gebeten, doch länger zu bleiben. Auch Mirza, die Schlangentänzerin, die Billie anschließend zurück in die Pension bringen wollte, redete ihr zu: „Du kannst jetzt noch nicht heimgehen! Es kommen doch noch die Clowns!“

Billie blieb. Aber sie konnte sich über die Clowns nicht so recht freuen. Sie ahnte nur zu gut, was sie bei ihrer Rückkehr erwartete.

Schließlich war Mirza zum Aufbruch bereit. „Hat es dir gefallen, Billie?“

„Ja, sehr! Schade, dass Sie Ihre Schlange nicht mitgebracht haben!“

„Weißt du was? Komm doch morgen in meinen Wohnwagen, und ich lass dich Putzi streicheln!“

Als sie die kleine Suite betraten, die Billie mit Madame Bacclavia und der Zofe Judith bewohnte, ging Madame vor aller Augen mit einem Kleiderbügel auf sie los und schlug auf sie ein. Sie schlug sie, bis der Kleiderbügel zerbrach. „Damit du es dir ein für alle Mal merkst, du Fratz!“

Die Schlangentänzerin wollte Billie beistehen und versicherte Madame Bacclavia, dass die Kleine nichts dafür konnte. Sie hätte schon früher heimgehen wollen, sei aber von allen gedrängt worden, noch ein wenig länger zu bleiben. Und es sei ja nur eine Stunde später geworden.

Madame Bacclavia aber fuhr fort zu toben, und die Schlangentänzerin ging.

Am nächsten Tag nahm Mirza ihre Schlange Putzi (eigentlich hieß sie Boadicea) aus dem Terrarium, und Billie durfte sie streicheln. Sie erinnerte sich daran, wie überraschend warm der Schlangenleib war, wie stark die Muskeln waren.

Billie hatte Schmerzen an Armen und Schultern und blaue und grüne Flecken. Aber daran war sie gewöhnt.

Mirza wollte sie trösten. „Madame Bacclavia hat die Nerven verloren, weil sie große Angst um dich hat. Sie fürchtet, du könntest entführt werden. Es gibt Verbrecher, die so etwas tun. Freaks wie du sind ziemlich wertvoll, weil sie viel Geld bringen!“

Es war ein schreckliches Erlebnis gewesen. Vor allem, weil Billie sich vor Mirza und Judith so geschämt hatte. Doch seither wusste sie immerhin, warum Madame Bacclavia sie bei sich behielt, obwohl sie ihr so viel Ärger bereitete: Ein Freak wie Billie brachte viel Geld.

Mehr noch als die künstlichen Freaks, die sich tätowieren oder verstümmeln hatten lassen, und die falschen Freaks, wie es die „Damen ohne Unterleib“ zumeist waren, stellten die geborenen Freaks für ihre Aussteller ein einträgliches Geschäft dar.

So viel Billie wusste, hatte es außer ihr nur eine Katze mit einem Auge auf der Stirn gegeben: in der berühmten Freak-Show von „Barnum & Bailey“. Und diese Katze – sie hieß „Poly“ – hatte außer ihrem Stirnauge keine weiteren Augen. Mit drei Augen durfte Billie sich daher als absolut einmalig betrachten.

Schon tierische Abnormitäten wie „Poly“ oder „Fidan, die dreiköpfige Schlange“ machten ihre Besitzer reich – dabei war ihre Lebensdauer begrenzter. Menschliche „Kuriositäten“ aber, wie Barnums „General Däumling“ oder der „Rumpfmensch Kobelkoff“ waren eine Goldgrube. Und den Haupttreffer machte der amerikanische Zirkus „Ringling Brothers“ mit einem Mann, dem ein Zwilling aus dem Brustkorb wuchs. „Die Brüder Liberra“ wurden die beiden genannt, „das einzigartigste und seltsamste Phänomen der Welt“.

War damals, als Mirza ihr gesagt hatte, wie wertvoll so ein Freak wie sie war, schon der böse Verdacht bei Billie entstanden? Der Verdacht, Madame Bacclavia habe sie aus Geldgier einst selbst entführt? Oder war ihr der Gedanke erst mit der Zeit gekommen? Allmählich glaubte Billie nämlich nicht mehr, dass sie auf irgendeine Weise mit Madame verwandt war.

Möglicherweise waren ihre Eltern früh gestorben, und man hatte sie daraufhin in die Obhut von Madame Bacclavia gegeben.

Nur konnte Billie sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand ein kleines Kind einer so bösen Frau anvertraute.

Nein, Madame muss mich entführt haben. Und sie hat deshalb überhaupt kein Recht auf mich! Sie hat kein Recht darauf, mit mir viel Geld zu verdienen! Wenn ich größer bin, haue ich ab!

Madame Bacclavia reiste mit ihrer Zofe Judith und Billie, die mit vollem Namen Sibylle hieß, von Stadt zu Stadt. Sie gastierte in Zirkussen und Varietés, auf Jahrmärkten und großen Messen. Überall dort, wo Menschen zusammenströmten, um sich zu unterhalten und zu staunen. „Tante Judith“, wie Billie die Zofe nannte, chauffierte den Wagen, packte umsichtig die zahlreichen Koffer ein und aus und bediente Madame Bacclavia. Tante Judith hätte Billie nie geschlagen. Sie war freundlich und geduldig und hätte ihr bestimmt jede noch so neugierige Frage beantwortet. Doch Tante Judith war stumm; es war ihre Besonderheit. So wie einigen Freaks die Arme oder Beine fehlten (den „Rumpfmenschen“ fehlte beides), so fehlte Tante Judith die Stimme. Manchmal, wenn Madame Bacclavias Vorwürfe besonders ungerecht und gehässig waren und Billie in Tränen ausbrach, tätschelte Tante Judith Billies Hand. Aber nur heimlich, wenn Madame es nicht sehen konnte.

Erst mit der Zeit, als Billie verständiger wurde, begann sie sich darüber zu wundern, dass Madame Bacclavia nichts davon zu wissen schien, dass Tante Judith sie heimlich tröstete. Als Billie begriffen hatte, was Madames eigene Besonderheit war und was sie bedeutete: Madame Bacclavia verfügte über die Fähigkeit der Telepathie. Sie trat als Hellseherin auf. Sie sagte den Leuten, was sich irgendwo anders soeben ereignete. Sie wusste sogar, was sich in Zukunft ereignen würde. Okkultisten, Wahrsager nannte man solche Leute.

Um Madame Bacclavia Fragen zu stellen und ihre Prophezeiungen zu hören, kamen die Leute in ihre Show und zahlten Geld. Und sie kamen natürlich auch, um „Sibylle, das Wunder der Natur“ zu bestaunen, wie Madame Bacclavia ihren Freak vor versammeltem Publikum nannte. Billie saß dann auf einem hohen Stuhl. Ein Polster war noch zusätzlich unter ihren Hintern geschoben, damit auch alle sie gut sehen konnten. Den seidenen Schal, den sie sonst immer um die Stirn gebunden hatte, nahm Tante Judith ihr ab. Billie trug einen langen, dunkelblauen Mantel aus Samt, der mit Monden und Sternen bestickt war und sehr schön aussah. Wenn er auch nach Mottenkugeln roch und sie immer Angst haben musste zu niesen. Das durfte natürlich nicht geschehen. Sie hatte bei ihrem Auftritt zu schweigen, sich nicht zu bewegen und nur zu zeigen, was für ein Wunder der Natur sie war.

War Billie brav gewesen und hatte sich die ganze Zeit über nicht gemuckst, erhielt sie zur Belohnung anderntags nach der Jause Süßigkeiten. Madame Bacclavia schlug Billie nicht nur, wenn sie schlimm war, sondern sie belohnte sie auch, wenn sie brav war und genau das tat, was ihr gesagt wurde. Sie gab ihr ein köstliches türkisches Konfekt, das „Rosen-Rahat“ hieß.

Billie mochte Madame Bacclavia deshalb allerdings kein bisschen lieber. Ja, sie merkte, dass Madame ihr gerade dann besonders zuwider war, wenn sie ihr mit falschem Lächeln die rosafarbene, mit roten Rosen bedruckte Konfekt-Schachtel reichte.

Billie bedankte sich auch längst nicht mehr für die Süßigkeit, so, wie man es ihr von klein auf beigebracht hatte: mit einem Knicks und einem gemurmelten „Küss die Hand, Madame Bacclavia“. Sie nahm sich nur das Konfekt und blieb stumm. Was Madame sonderbarerweise nichts auszumachen schien.

Doch obwohl Billie zu trotzig war, es zu zeigen – sie war ganz versessen auf das Naschwerk. Mit dem süßen Geschmack auf der Zunge und am Gaumen erschien ihr auf einmal alles nicht so schlimm. Und sie fürchtete sich nicht mehr so vor Madame Bacclavias erhobener Hand. Billie verdrückte das Konfekt und tröstete sich mit dem Gedanken, dass das Leben bei Madame Bacclavia irgendwann ein Ende haben würde. Vielleicht hatte Madame sie nur für einige Zeit gemietet, um sie herzuzeigen und damit Geld zu verdienen. Einen Teil der Einkünfte hob sie vielleicht sogar auf, um ihn ihr später zu geben? Mit diesem allzu zuversichtlichen Gedanken schlief Billie abends ein.

Trost und Aufmunterung fand sie auch bei den Zirkus- und Varietékünstlern. Billie wusste zwar: Madame Bacclavia sah es nicht gern, wenn sie sich anderen Menschen anschloss und mit ihnen plauderte. Doch auf die Dauer konnte Madame es nicht verhindern.

Die kleine Billie hatte sie sozusagen anbinden können, und wenn Billie zu wild war, wenn sie strampelte oder um sich schlug, tat Madame Bacclavia es tatsächlich: Sie band sie mit einem Springseil an ein Tischbein oder an einen Bettfuß. Manchmal, wenn Billie dann einen Wutausbruch hatte und schrie, schüttete sie ihr so lang kaltes Wasser ins Gesicht, bis sie sich beruhigte.

Oder zumindest verstummte.

Mittlerweile war Billie neun oder zehn Jahre alt (schätzte sie) und zu kräftig, um angebunden zu werden. Zu schlau, um sich schlagen zu lassen (zumindest hielt sie sich dafür). Nachmittags, wenn Madame ihren Geschäften nachging oder sich von Tante Judith eine Pediküre machen ließ oder mit anderen Pensionsgästen Karten spielte, schlich Billie sich unauffällig davon. Es zog sie in den Zirkus. Zu den Artisten, bei deren Munterkeit und Freundlichkeit ihr das Herz aufging.

Die Zirkuskinder nahmen sie mit auf ihre Streifzüge, bei denen sie unter den Gerüsten für die Sitzplätze nach Dingen suchten, die die Zuseher verloren hatten. Da fanden sich Zuckerln und Münzen, und alles wurde gerecht unter ihnen aufgeteilt.

Die Zirkusleute kamen Billie vor wie eine große Familie, in der einer dem anderen half und immer jemand da war, um Anteil zu nehmen. Natürlich herrschte eine Hierarchie, und die einen galten mehr als die anderen. An der Spitze standen der Direktor oder die Direktorin mit ihren Darbietungen. Also Löwendressur, Pferde, Elefanten. An unterster Stelle die Musiker des Zirkusorchesters und die „dummen Auguste“. Und die Freaks der Side Shows standen überhaupt am Rande. Aber keiner – auch nicht der Herr Direktor – war sich zu schade, mit anzupacken. Und alle redeten miteinander. Scherzworte flogen hin und her. Geschichten wurden erzählt. Billie hörte hingebungsvoll zu.

Die Artisten wiederum sprachen gern über ihr Metier, darüber, wie schwierig ihre Kunst war, was alles dazu gehörte, sie meisterhaft zu beherrschen, und wie sie ihre Darbietung noch verbessern wollten und das Publikum zum Staunen bringen würden.

Monsieur Thetard, der berühmte Großkatzen-Dompteur, hatte Billie ein Dompteur-Geheimnis verraten: Was man bei der Vorführung sähe – die so bedrohlich wirkenden Lufthiebe etwa –, sei zumeist ein Scheinkampf.

„Ich mache eine Geste der Drohung, das Tier täuscht daraufhin einen Angriff vor. Es faucht und hebt die Tatzen. Keinesfalls darf es aber wirklich zum Sprung ansetzen. Alles ist nur Spiel. Doch das Spiel klappt nur, weil das Tier in einem bereits vorher eingeimpften Zustand der Angst ist. Diese notwendige Angst schafft der Dompteur in den ersten entscheidenden Begegnungen. Tritt er seinem Tier erstmals im Käfig entgegen, so schützt er seinen linken Arm mit einem Schild, in der rechten Hand hält er eine schwere Eisengabel. Will das Tier ihn angreifen, so versetzt er ihm einen Schlag auf die empfindliche Nase. Bei einem erneuten Angriff wiederholt er das. Auf diese Weise beginnt es, den Dompteur zu fürchten. In der Arena braucht er dann nur noch die drohende Bewegung auszuführen, und das Tier weicht zurück.“

Wie gut Billie das dem Löwen nachfühlen konnte!

Von anderen Dompteuren sollte Billie allerdings erfahren, dass die Dressur durch Furcht, von der Monsieur Thetard sprach, längst obsolet war und durch die „sanfte“ Dressur ersetzt worden war. Vor allem die viel bewunderten weiblichen Dompteusen, wie Tilly Bébé oder Claire Heliot, dressierten ihre Tiere nicht mit Schlägen oder Peitschenhieben, sondern mit Liebe, Geduld und Ausdauer.

Einig waren sich alle darüber, dass es das wahre Geheimnis eines guten Dompteurs war, den Charakter eines Tieres richtig einzuschätzen. Zu wissen, was es fürchtet, was es mag, was seinen Widerwillen weckt und was es erfreut.

Auch ein „Löwenbändiger“ der alten Schule wie Monsieur Thetard wusste das: „Ein Dompteur, der die Eigenheiten der Tiere genau kennt, kann sie psychologisch richtig nützen. Einem Faulpelz lasse ich lange Ruhepausen. Mit einem Verspielten spiele ich.“

„Dann ist es für einen guten Dompteur also gar nicht so gefährlich?“

Monsieur Thetard wiegte den Kopf. „Das wäre ein falscher Schluss. Wie gut die Dressur auch ist, wie fügsam die Tiere auch sind, das Risiko bleibt. Während der Brunftzeit findet ein Tier zu seinen ursprünglichen Instinkten und seiner zerstörerischen Angriffslust zurück und kann höchst gefährlich sein. Auch Unfälle in der Manege können sein Verhalten ändern. Bei einem heftigen Schreck kennt das Tier seinen Dompteur nicht mehr. Als Beispiel fällt mir die berühmte Tierbändigerin Miss Senide ein, die ihren Kopf in den Rachen ihres Löwen steckte. Bei einer Vorstellung in Dublin ging in diesem Moment das Licht aus, der Löwe erschrak, klappte das Maul zu, und Miss Senide wurde schwer verletzt.“

Billie war tief beeindruckt. „Und was ist ‚Brunftzeit‘, Monsieur Thetard?“, fragte sie ehrfürchtig.

Im Unterschied zu Madame Bacclavia, die nur dort auftreten konnte, wo man die deutsche Sprache verstand, waren die anderen Artisten oft in der ganzen Welt herumgekommen, kannten den Orient und Amerika. Die meisten sprachen mehrere Sprachen. Ein alter, weißhaariger Clown hatte seinerzeit seine Karriere als „dummer August“ beim legendären Zirkusdirektor Phileas Taylor Barnum begonnen, wo er noch den großen Zauberer Henry Hawley kennenlernen durfte.

Doch auch der sagenhafte Magier Henry Hawley hatte, so wusste es der alte, weißhaarige Clown zu berichten, einmal ganz bescheiden, mit ein paar ziemlich billigen Tricks angefangen. Und gern pflegte Hawley sich über die Missgeschicke lustig zu machen, die ihm da seinerzeit, als Greenhorn, als Anfänger der Zauberkunst, passierten.

„Meine beliebteste Nummer war ‚Der Eiersack und die alte Henne‘. Dabei zaubere ich aus einem großen, scheinbar leeren Lederbeutel der Reihe nach sechs Eier, die vorher allerdings in einer Seitentasche versteckt waren.

Dann trete ich auf den Sack, um zu zeigen, dass er nun leer ist und hänge ihn an den Tisch vor mir.

Dann sage ich: ‚Und nun, meine Damen und Herren, wollen Sie bestimmt die fleißige Henne sehen, die die sechs Eier in nur zwei Minuten gelegt hat!‘

Ja, natürlich wollen alle sie sehen. Doch ehe ich das gute Tier aus dem Sack lasse, beweise ich meinen Zuschauern, dass es echte, frische Eier sind, die ich aus dem Sack zog. Ich stelle eine Pfanne auf den Tisch, in die ich ein Ei schlage. Während alle Augen auf das Ei gerichtet sind, tausche ich den am Tisch hängenden leeren Lederbeutel gegen einen zweiten aus, in dem sich die Henne befindet. Dieser Trick hat immer wunderbar funktioniert.

Bis auf eine Vorstellung in Montgomery in Alabama. Ich hatte, wie ich es immer tat, einen Boy des Hotels gebeten, eine alte Henne zu besorgen und in den Sack zu stecken. Dafür sollte er bei der Vorstellung umsonst zusehen dürfen.

Mit den Worten ‚Und nun will ich die fleißige Henne zeigen, die die Eier gelegt hat‘ griff ich zu dem zweiten Beutel und stülpte ihn vor aller Augen um. Heraus hüpfte ein Vogel. Aber es war ein Hahn, der sich über seine Gefangenschaft sehr ärgerte und nun über die Bühne stolzierte und die Federn spreizte und anfing zu krähen! Meine Blamage war perfekt und ich hätte dem Hotelboy am liebsten den Hals umgedreht!“

Die Zuhörer lachten schallend. Nur Billie lachte nicht, sondern machte ein ratloses Gesicht. Der alte Clown, dem keine Reaktion seiner Zuhörerschaft entging, wandte sich zu ihr und sagte: „Du findest Henry Hawleys Geschichte also nicht so lustig, Billie?“

„Doch, aber ich hab sie nicht ganz verstanden.“

„Ein Hahn legt keine Eier, mein Kind.“

„Warum?“

„Lass es dir von Madame Bacclavia erklären.“

Billie nickte brav, aber sie beschloss, lieber jemand anderen zu fragen.

Billie durfte bei den Proben zusehen. Sie staunte maßlos über den Fakir Hadji Soliman, der sich mit langen Hutnadeln Ohren, Wangen und Zunge durchbohrte, wobei er keine Schmerzen zu spüren schien. Knirschend zerbiss Hadji Soliman Glasscherben, ohne zu bluten. Er bohrte sich sogar einen Säbel in den Leib.

Billie bewunderte die berühmte Clown-Gruppe „I Fratellini“ und verliebte sich ein bisschen in François Fratellini, den charmanten „Weißclown“.

Und dann gab es noch all die Tiere! Seidige Äffchen, anmutige weiße Tauben, tanzende Hunde. Die kleinen Tiere durfte Billie sogar auf den Schoß nehmen und streicheln.