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Am untersten Ende des Laternenpfahls, da wo alle hinpinkeln, wo es am meisten stinkt, am weitesten entfernt vom Licht, beginnt Sörens Kindheit im Nachkriegs-Deutschland. Als Träumer und Spätentwickler macht die Bildung einen großen Bogen um ihn. Nur seine Naivität, seine Neugierde und Resilienz schützen ihn vor Schlimmerem und helfen ihm, trotz schlechten Starts ins Leben einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Nachdem er die Hilfsschule mit Ach und Krach beendet hat, absolviert er anschließend erfolgreich eine Malerlehre. Dabei entdeckt er aber auch andere Seiten des Lebens, wie soziale Missstände und vor allem das andere Geschlecht … Ein authentischer Einblick in das Nachkriegsdeutschland mit allen Facetten: Kriegsversehrten, sozialem Überlebenskampf und Aufbruch sowie freier Liebe.
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0624-2
ISBN e-book: 978-3-7116-0625-9
Lektorat: Tobias Keil
Umschlagfoto: Antonio Gravante | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Vorwort
Am untersten Ende des Laternenpfahls, da wo alle hinpinkeln, wo es am meisten stinkt, am weitesten vom Licht entfernt, begann Sörens Kindheit im Nachkriegs-Deutschland.
Als Träumer und Spätentwickler machte die Bildung einen großen Bogen um ihn.
Nur seine Naivität, seine Neugierde und seine Resilienz schützten ihn vor Schlimmerem.
Ohne die Sisyphusarbeit meiner Frau Margret beim Korrigieren wäre dieses Buch überhaupt nicht denkbar gewesen.
Doch erst durch den Anstoß meiner Freundin Marga fing ich an zu schreiben.
Und ohne die Unterstützung meiner Freundinnen Annette, Tanja, Angelika wäre es nicht so schön geworden.
Herzlichen Dank dafür.
Sven Dethlefsen, 2024
Der vierte Geburtstag
Ortrud war ganz zerrissen, wusste sie doch nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie hatte zum ersten Male ihre ganze Familie beisammen. Es war bereits Sörens vierter Geburtstag, der Tag, an dem sich alles verändern sollte. So saßen die vier, Vater Heinrich, Mutter Ortrud, Schwester Sonja und Sören, um den Geburtstagstisch, und Sören durfte die vier Kerzen auf dem Kuchen ausblasen. Ortrud war überglücklich, sollten doch ab jetzt die Kinder für immer bei ihnen bleiben. Die Zeit der Trennung war vorbei. Doch schon eine Stunde später rief erneut die Arbeit, und die erste Geburtstagsfeier nach vier Jahren war schon wieder zu Ende, denn am nächsten Tag war Freitag, und das ist der Hauptverkaufstag in einem Fischgeschäft. Da brummt es dann so richtig. Die meisten Sachen, die da verkauft werden sollten, waren allerdings noch nicht fertig.
Die Geschwister-Kinder waren sich noch nie zuvor begegnet und an diesem Nachmittag allein auf sich gestellt. Sie erkundeten gemeinsam diese für sie neue Umgebung. Am spannendsten war das Karpfenbecken, in dem vier dicke, fette Karpfen im Kreis herumschwammen. Am unheimlichsten war eine Art Aquarium, in dem krabbelnde Tiere mit zangenartigen Händen lebten. So etwas hatten beide noch nie gesehen. Überall lagen tote Fische herum, in Metallwannen, und waren halb mit Eis bedeckt. Der Kracher aber war eine große Eisentür mit einem riesigen Hebel als Türgriff. Dahinter lagen gefrorene, ganze Fische, mit aufgerissenen Mäulern, toten milchigen Augen, und ganz viele Blöcke aus Eis, die fast größer als Sören, aber total klar waren, sodass man durchgucken konnte, und in denen Sörens Schwester, mit ihrem verzerrten Gesicht, nicht wiederzuerkennen war. Die Kinder schnitten noch viele Grimassen und wussten nicht, ob sie sich fürchten oder amüsieren sollten. Doch da kam auch schon Ortrud um die Ecke gepest und verbot ihnen strengstens, diesen Raum jemals wieder zu betreten. Denn die Tür sei nur von außen zu öffnen, und es sind schon mal Menschen in so einem Raum erfroren, weil sie nicht rauskonnten.
Es sollten später noch viele Verbote folgen.
Ortrud sah dem Treiben mit großer Skepsis zu, gab es doch zu viele gefährliche Gegenstände, wie Messer, die extra scharf, und Gabeln, die extra spitz waren. Es war doch genau das eingetreten, wovor sie immer Angst hatte, nämlich nicht ihrer Aufsichtspflicht nachkommen zu können, weil gerade Kundschaft ihrer Aufmerksamkeit bedurfte. Nicht nur das waren damals die Gründe, weswegen sie die Kinder in ein Heim gegeben hatten. Der Laden war auch noch extra kalt, extra nass und extra dunkel. Nun, vier Jahre nach Sörens Geburt, waren die Kinder doch schon aus dem Gröbsten raus und nicht mehr so anfällig für Krankheiten.
Oder doch?
Diese Umgebung schrie förmlich nach Verletzungen, Lungenentzündung und Blutvergiftung. Gerade, als der Laden gerammelt voll war, entdeckten die beiden die Tür zum Privat-Bereich, Sonja war auch schon groß und stark genug, um diese Tür öffnen zu können. Und schon entzogen sich die dem Blickfeld ihrer Mutter. Hatte Ortrud tatsächlich alles fortgeräumt, was gefährlich sein könnte? Gleich hinter der Tür entdeckten die beiden einen winzigen Flur, von dem ein einfaches, kleines WC, von einem Quadratmeter Größe und mit einem kleinen, kalten Handwaschbecken, abging. Daneben war die Tür zur Küche, die sperrangelweit aufstand, ein dunkler, schmaler Schlauch von höchstens drei Metern Tiefe und zwei Metern Breite. Dahinter gab es eine zweiflügelige Tür, durch die die Sonne zu sehen war, und sie führte in einen kleinen sonnigen Hinterhof. Doch diese Tür bekamen die nicht auf, irgendwie klemmte diese. Durch die Scheiben konnten sie jede Menge Zink-Töpfe und Wannen sehen und auch einen Gartenschlauch, überdies jede Menge Unkraut und Pusteblumen, die die Fugen in den Betonplatten zu sprengen schienen.
Der nächste Raum, der von diesem kleinen Flur abging, war das Schlafzimmer. Hier standen typischerweise ein Doppelbett und zwei große Kleiderschränke. Ganz in der Ecke beim Fenster gab es noch ein kleines Kinderbett mit weißen Gitterstäben. Um die Betten herum lag ein ein Meter breiter Teppichläufer, und zwischen Wand und Schrank war noch ein Bügelbrett geklemmt. Nicht so ein modernes aus Aluminium zum Auseinanderklappen, nein, ein richtiges Holzbrett, das mit weißem Leinen bespannt und mit einer Wolldecke gepolstert war. Dafür war es dann aber auch zwei Meter lang. Die Kinder rätselten sofort, für wen wohl dieses Bett gedacht sei? Sonja war da ganz praktisch und hüpfte so gleich in das Bett und stellte fest, dass es für sie zu klein war. Dabei sah Sören zum ersten Mal so eine komische Schiene an Sonjas rechtem Bein. Unter ihrem langen Kleid war dieses lange Ding von der Hüfte herab bis zum Fuß mit einem Gelenk in Höhe des Knies gar nicht aufgefallen. Erst als sie wieder herauskletterte, bemerkte er ihre Behinderung. Einige Bewegungen gingen gar nicht und viele waren ihr nur eingeschränkt möglich. Natürlich kam Ortrud genau in dem Moment ins Zimmer, als Sonja mit beiden Füßen und in ihren Straßenschuhen im Bett stand. Da wurde dann auch gleich lautstark erklärt, dass sie doch bitte ihr Beinchen schonen sollte – dieser Satz ist später zum Running Gag geworden – und das nächste Verbot wurde erteilt. Sie konnte plötzlich nur noch mit Ortruds Hilfe über das Gitter kommen und das Bett verlassen.
Das Wohnzimmer war genauso klein. Neben einem typischen Wohnzimmerschrank der fünfziger Jahre mit Glastür, mit dem GUTEN Kaffeegeschirr für Gäste, waren da noch eine Truhe, ein altes Röhren-Radio, ein, zwei Stühle, ein Klappsofa und ein ovaler Tisch zum Kurbeln. Der stand auf einem Teppich mit Fransen, die nahezu täglich gekämmt werden mussten. In der Ecke stand, mit allem Zubehör, ein dicker fetter Hamburger Kachelofen. Ein zweites Kinderbett für Sonja konnten die beiden nicht finden.
Ein Bad und warmes Wasser gab es nicht. Die sechste Tür war groß, mit zwei Flügeln, die in das Treppenhaus führte.
Als die beiden wieder den Laden betraten, waren die Eltern gerade dabei, alles zusammenzupacken, die Schaufensterauslagen und die vielen Fischsalate mussten über Nacht in Kisten in den Kühlraum. Dann wurde alles noch mit einem Schlauch abgespritzt und mit einem Gummilippen-Abzieher getrocknet, wobei deutlich zu erkennen war, dass der Laden einen „blutigen“ Teil hatte, in dem Heinrich lebende Tiere schlachtete, und einen „unblutigen“, in dem die fertigen Filets verarbeitet wurden. Der Hit war zu der Zeit ein geräucherter Matjes-Hering mit Zwiebeln, Äpfeln ganzen, grünen Pfefferkörnern, alles kleingeschnitten, mit Öl und Essig zum Salat angerichtet. Dann wurde der Küchentisch quer zur Wand gedreht, so dass alle vier an den Tisch passten. Die Kinder saßen auf einer Eckbank aus Eiche, hart, dunkel und unbequem, im Rücken ein Kissen, das an einem Brett aus Eiche, im selben Stil hing, und auf vielen Umwegen Ortrud durch den Krieg hindurch begleitet hatte. Dann gab es Abendbrot. Die restlichen Fischsalate, Eier mit Appetitsild auf Schwarzbrot, und alles, was am Vortag nicht verkauft worden war, wurde hungrig verspeist. Anschließend mussten die Kinder ins Bett, denn die Eltern brauchten noch Zeit für so viele Dinge, die noch nicht fertig waren.
Noch nicht einer der vielen Fischsalate, für die dieses Geschäft berühmt war, war fertiggestellt, und es brauchte noch eine lange Nacht, bis auch Ortrud und Heinrich damit fertig waren und erschöpft in die Betten fielen. Sören konnte lange nicht einschlafen, war doch alles neu für ihn. Nur sein Schnuffeltuch, sein Teddy und der Daumen, an dem er lutschte, waren ihm vertraut. Noch in der letzten Nacht lag er in einem Schlafraum mit vierzig anderen Kindern, die natürlich bis spät in die Nacht hinter dem Rücken der Schwestern Fez gemacht hatten, und dort bot immer irgendwo ein kleines Lichtlein Orientierung. Hier war es stockdunkel, und er war ganz allein, so allein wie noch nie. Die Geräusche, die aus der Küche zu ihm durchdrangen, kannte Sören nicht und machten ihm Angst. Schließlich schlief er doch ein.
Alle Erlebnisse dieses Tages liefen wie ein Film in seinem Kopf ab: die lange Reise von Rönneburg nach Hamburg Eimsbüttel, auch hier waren es wieder die vielen Geräusche, die automatischen Türen von Bussen und Bahnen, das Quietschen der Straßenbahnräder in der Kurve. Doch immer öfter wiederholte sich so ein Film, wo ein Haifisch auf seinen Schwanzflossen hinter Sören herläuft und Sören nicht fliehen kann, denn er kann die Tür nicht öffnen, weil sie keinen Türdrücker hat.
Bei Sonja war es eigentlich ganz ähnlich und doch wieder ganz anders. Hatte sie sich doch noch in der letzten Nacht mit zwanzig alten Männern in einer Klinik in Sahlenburg ein Zimmer geteilt. Jetzt lag sie hier alleine auf einer Schlafcouch zum Ausklappen. So etwas hatte sie nie zuvor gesehen. Das Bettzeug war unter der Schlafebene in einem Bettkasten, und sie spürte im Rücken diese Naht zwischen Lehne und Sitzfläche.
Das Licht der Straßenlaterne warf komische Schatten in den Falten des Vorhangs, und immer, wenn jemand an dem Haus, dicht am Fenster vorbeiging, konnte sie seine Schritte hören, wie sie langsam auf sie zukamen, einen unheimlichen Schattenriss auf den Vorhang warfen, und die Schritte danach wieder langsam verebbten. Sonja kannte nur diese alten metallenen Krankenhausbetten, wo die Rückenlehne angehoben werden konnte, und auch ihr Bein wurde geschient in die Höhe gezogen und an diesen dafür vorgesehenen „Galgen“ gebunden. In ihrem Traum ging der Schattenriss nicht am Fenster vorbei, sondern wurde immer größer und größer, immer lauter und kam auf sie zu. Dann erkannte sie ihn, es war der Pfleger, der sie an diesen „Galgen“ wickelte und er hatte auch so komische Hände, die wie Zangen aussahen, wie diese Tiere im Aquarium. Schweißnass war sie aus diesem Traum erwacht, und muss wohl laut geschrien haben, denn Ortrud saß neben ihr auf der Sofakante und sah wohl auch sehr erschreckt aus, denn Ortrud wollte sie trösten und ihre Hand halten, aber Sonja wollte sich in ihrem Traum von dem Pfleger lösen. So haben sich dann beide voreinander erschreckt.
Ortrud hatte sich sofort Vorwürfe gemacht: Kann sie ihre eigene Tochter nicht trösten?Offenbar ist das Urvertrauen in diesen vier Jahren abhandengekommen, dachte sie.
Sonja hatte einen langen und anstrengenden Tag hinter sich. War sie doch solche Strapazen nicht gewöhnt, im Gegenteil wurde sie zwecks Heilung in ihrem Bett über Monate fixiert. Jeden Schritt musste sie erst üben, und kleine Wege mussten trainiert werden. Erst diese lange Fahrt mit dem Sonderbus aus der Klinik nach Hamburg. Am Dammtorbahnhof an der Moorweide holte sie dann ihre Patentante Käte ab und brachte sie mit einem Taxi in das Fischgeschäft, wo Sören schon auf sein Geburtstagsgeschenk wartete. Tante Käte hatte immer an jeden Geburtstag gedacht, nie hatte sie einen vergessen. Auch für Sören hatte sie immer eine kleine Überraschung, obwohl es Sonjas Patentante war. Tante Käte war immer laut, aufgedreht, guter Laune und unternehmungslustig. Sie war Ortruds beste und einzige Freundin. In der Kriegszeit waren sie Nachbarn in der Rentzelstraße, nach dem Krieg kam ihr Mann nicht zurück. Irgendwann hat sie dann der „Schupo“, der Schutzpolizist, von der Kreuzung unten getröstet.
Noch mitten in der Nacht wurde Sören aus seinen Alpträumen von einer Höllenmaschine eines Weckers gerissen. Heinrichs Tag begann schon morgens um vier. Musste doch noch Ware auf dem Fischmarkt eingekauft werden. Heinrich hatte zwar keinen Führerschein, aber einen dreirädrigen „Tempo“ als Lieferwagen. Also war er darauf angewiesen, dass ein Freund-Kollege ihn chauffierte, der auf diese Weise auch seine Einkäufe erledigen konnte. Sören durfte sich noch einmal umdrehen, bis das Frühstück fertig war. Noch immer viel zu früh, gab es unter laufendem kalten Wasser eine Katzenwäsche. Jetzt im Herbst wurde es über Nacht schon richtig kalt, der Kachelofen im Wohnzimmer schien nur zu Weihnachten oder für Besuch angemacht zu werden. In dieser Küche mit Terrazzo-Fußboden war es selbst im Sommer kalt und noch bevor die Kinder wirklich angezogen waren, wurden die Fenster aufgerissen und intensiv gelüftet. Hier musste alles und jeder funktionieren, denn der Laden wurde pünktlich um acht Uhr geöffnet.
Der „Tempo“ wurde zum Be- und Entladen auf dem Gehweg geparkt. Diverse Kisten mit toten Fischen und wieder diese Eisblöcke wurden in die Kühlkammer geschleppt und schon standen die ersten Kunden ungeduldig vor dem Laden. Viele der Kunden tätschelten Sonja und Sören an den Köpfen, was Sören gar nicht gut fand. Denn diese scheinbar freundlichen Frauen mit ihren viel zu hohen Stimmen redeten alle gleichzeitig und waren viel zu neugierig und übergriffig. Sie wollten wissen, wessen Kinder das waren und wo die plötzlich herkamen. „Wohnten die auch hier, hier in diesem kalten Laden, und wie machen Sie das bloß? Die müssen doch zur Schule!“ Die Kinder waren auf diesen Überfall überhaupt nicht vorbereitet. Ortrud wurde als Rabenmutter angeklagt und kam ins Stottern und wurde in ihrer Angst bestätigt, versagt zu haben, und hatte selbst für ihre Kinder erkennbar Ausreden benutzt. Zum Beispiel, dass die Kinder wegen der Geschäftsgründung und der vielen Kinderkrankheiten von den Großeltern betreut wurden.
Sören fand das komisch, denn alle seine Großeltern waren schon vor seiner Geburt gestorben. Er spürte, wie peinlich das alles für Ortrud war. War es doch die prägendste Zeit für Sören in allen seinen Entwicklungen, aber er hatte überhaupt keine Erinnerung, wusste keinen Namen und wer ihn getröstet hatte in all diesen Jahren?
Bei Sonja war es ähnlich, aber sie war schon viereinhalb Jahre älter und hatte noch Erinnerungen aus der Zeit vor der Klinik, an ihre Oma, den Onkel, Lars und Tante Käte in der Rentzelstraße. Sie war zwischen all diesen tuberkulosekranken, alten Männern der Liebling, war aber die meiste Zeit an das Bett „gefesselt“, während Sören rumspringen durfte und konnte.
Wer diesen Aufenthalt in dem Kinderheim und im Krankenhaus beendet hat, ist den Kindern nie erzählt worden. Es schien so, als ob die Eltern dieses Thema aus den Köpfen der Kinder so schnell wie möglich eliminieren wollten.
Die Knochentuberkulose ist bei Sonja nie nachgewiesen worden, es ist aber auch nie eine wirklich andere Diagnose bekannt geworden.
Bei Sören war es ein Rotes Kreuz-Heim für Kriegswaisen, und auch hier fehlt jede Begründung für diese vier Jahre Aufenthalt.
Das letzte Jahr
in der Hartwig-Hesse-Straße begann mit der Heimkehr der Kinder in das Fischgeschäft. Was die Kinder nicht merkten, Ortrud aber immer mehr Kopfzerbrechen bereitete, war der Alterungsprozess und das Fortschreiten aller seiner Krankheiten, die Heinrich aus dem Krieg mitgebracht hatte. Das Bücken und das Laufen wurden immer schwieriger und langsamer. Er war noch 8 Jahre von seiner Rente entfernt, aber schon vollkommen „auf“, und es war zu erkennen, dass er diesen Job nie bis dahin durchhalten würde. Es fehlte eine dritte Arbeitskraft in diesem Laden, erst recht jetzt, wo die Kinder zu Hause waren und auch Ortrud weit über ihre Grenzen hinaus gehen musste, jeden Tag und jede Nacht.
In der Anfangszeit half Lars, Heinrichs Sohn aus erster Ehe, regelmäßig mit. Er machte den Einkauf und brachte jedes Mal ein kleines Fass gesalzene Heringe von seinen Reisen mit. Auch er war Schiffskoch auf einem Fischdampfer, und das sogar in derselben Reederei. Viele Jahre sind sie sich auf dem Atlantik begegnet, wenn sie in denselben Fanggebieten unterwegs waren. Manchmal waren ihre Schiffe sogar so nahe aneinander vorbeigefahren, dass sie sich durch das Bullauge hindurch zuwinken konnten. Einmal hat Lars sogar ein Foto davon gemacht.
Nun fehlte er. Es war der typische Abnabelungseffekt, als Lars andere Interessen entwickelte, als immer nur seinem Vater zu helfen, und er lernte dann eine ganz liebe Freundin, Eva, im Fischgeschäft kennen.
Die kurze Zeit, die er an Land war, reichte nicht für beide, und es kam, was kommen musste.
Ortrud wurde nicht nur immer eifersüchtiger auf Eva, sie war auch enttäuscht und traurig darüber, dass sie ihn loslassen musste, wo sie doch so viel für ihn getan hatte. Die ganze Kriegszeit hindurch hatte sie für ihn gesorgt, und jetzt entglitt er ihr.
Einmal wollte Lars mit seiner süßen Eva tanzen gehen und dazu brauchte er neue Schuhe. Weil er aber immer nahezu alles zu Hause abgab, musste er sich das Geld von Eva leihen. Ausgerechnet in dieser Woche fehlte Geld in der Laden-Kasse. Eigentlich fehlte immer Geld in der Laden-Kasse. Ortrud hatte die Gabe, sich Dinge vorzustellen, die, je länger sie in ihrem Kopf herumgeisterten, wahrer wurden. Sie war sofort und unumkehrbar eingeschnappt und von dem Tag an hat sie nie wieder mit ihm gesprochen. Lars zog aus und Ortrud hat für alle Zeit den Kontakt mit Lars verboten. Heinrich traute sich nicht, sich mit Lars zu treffen, nicht einmal heimlich.
So erfuhren Sonja und Sören kein Sterbens-Wörtchen von Lars’ Existenz. Nur Sonja hatte Lars noch ein wenig in Erinnerung, aus der Zeit vor dem Laden.
Am Sonnabendnachmittag war „Badetag“, das hieß, die kleine Zinkbadewanne wurde vom Hof reingeholt und höchstens mit zwei Kesseln heißem Wasser gefüllt. Damit sich die Kinder nicht verbrannten, kam nochmal die gleiche Menge kaltes Wasser hinzu. Sonja war meistens weniger schmutzig und wurde zuerst stehend in dieser Wanne abgeseift. Dann war Sören dran, bis dahin war diese Brühe ganz abgekühlt, er zitterte und klapperte, und es wurde mit dem Waschlappen, in dem ein dicker Finger steckte, in alle Körperöffnungen gebohrt. Das war nicht nur kalt, sondern auch schmerzhaft. Der Abend war tatsächlich ein warmer, gemütlicher Familienabend mit Mikado, Mau-Mau, „Mensch ärgere Dich nicht“ oder Halma.
Sonntagmorgens wurde noch im Bett bereits früh um 6 Uhr das Radio eingeschaltet. Alle vier saßen vor der Kiste und hörten Heinrichs Lieblingssendung im NDR, das Hafenkonzert. Schon bei der Eingangs-Melodie, „Wo die Nordseewellen trecken an den Strand“ hatte Heinrich Tränen der Rührung in den Augen. Solange wie Heinrich lebte, hörte er diese Sendung und einmal gewann er sogar einen großen Präsentkorb, denn er konnte die Preisfrage richtig beantworten: „Wenn ein so und so großer Fisch-Trawler da und da im Atlantik eine Woche lang fischt, mit wie viel Tonnen Fisch kommt er dann zurück?“ Auch die Weihnachtsgrüße auf See vom Norddeich-Radio haben sich immer alle angehört.
Montags war der Laden immer geschlossen und Ortrud ging mit Sonja erst in die gegenüberliegende Grundschule für Mädchen und dann mit Sören in den Kindergarten in der Müggenkampstraße.
Sonja ist in der Schule sofort aufgenommen worden, doch in dem Kindergarten gab es für Sören eine längere Wartezeit. Die Vormittage gingen für Sören viel zu langsam vorbei, hatte er doch niemanden zum Spielen. Auch für Sonja war die Schule kein Honigschlecken. Denn sie war die größte, dickste, dümmste und hässlichste Schülerin in den Augen ihrer Mitschülerinnen. Das kam daher, dass sie die letzten vier Jahre aufgrund ihrer Erkrankung nur zwei Mal die Woche durch eine ehrenamtliche Rentner-Lehrerin nachmittags unterrichtet wurde und so ihre Defizite einfach zu groß waren. Sonja konnte auch richtig Stress machen, wenn sie etwas zum Naschen wollte, erst recht, wenn sie Hunger hatte. Die Köchinnen in der Klinik hatten Sonja geliebt, verstanden und verwöhnt. Auch die alten Männer hatten immer etwas zum „Schnoopen“ für Sonja. Geld war nie genug da, schon gar nicht für Kleidung. Die bezogen sie aus der Kleiderkammer vom Roten Kreuz. Selbst Sören schämte sich in der „Billig-Nieten-Hose“ statt Marken-Jeans und mochte damit nicht vor die Tür gehen. Am schlimmsten aber war es, wenn Ortrud Sonja das Essen wegnahm und Sören das Essen reinzwang, weil er unterernährt aussah und immer nicht essen wollte. Diese Eifersucht, die da entstand, ist nie verheilt.
Sörens erste Spielkameraden waren die „noch lebendigen“ Karpfen in dem großen Becken. Hatte doch der Kescher, der mit groben Maschen geknüpft war, eine gerissene Masche, und Sören hatte einen Riesenspaß, damit den Karpfen zu fangen, ihn aus dem Becken zu heben, und den Kescher so lange herumzudrehen, bis der Karpfen durch das Loch zurück in das Bassin fiel. Zu Weihnachten hatte Sören den Karpfen blau machen wollen und hatte den letzten unverkauften im Visier. Einen restlichen Schluck Rotwein hatte er sich auch irgendwo her organisiert. Jedes Mal, wenn der Karpfen auftauchte, um zu atmen, goss Sören ihm einen kleinen Schluck Rotwein in das Maul, und von Mal zu Mal drehte dieser Karpfen seine Runden immer schneller. Irgendwann trieb dieser leblos an der Oberfläche, und es gab natürlich Schimpfe und am nächsten Tag „Karpfen-Blau“. Jene krabbelnden Tiere mit diesen komischen „Zangen-Händen“ hießen Hummer, hatte Sören inzwischen gelernt, und kamen von Helgoland, doch vor ihnen hatte er Angst und ließ sie zufrieden.
Immer wieder schafften es die Eltern, sich der Kinder zu „entledigen“, oder besser gesagt, wussten sie ganz genau, dass es besonders für die beiden immer zu kalt, zu nass und zu gefährlich in diesem Laden war. So hatte Sören schon bald eine Kinder-Land-Verschickung nach Trittau, da wurden die „unterernährten“ besonders gemästet und wie immer gingen diese Reisen von der Moorweide los. Da gab es das allererste Müsli in seinem Leben, das liebte er total. Zumal er das Marmeladenbrot, das er immer gegen seinen Willen morgens, und das viel zu früh, von seiner Mutter reingestopft bekam, noch nie mochte. Sein Magen schlief doch noch. Wo Sonja in dieser Zeit war, wusste Sören nicht, obwohl sie auch dringend eine besondere Ernährung gebraucht hätte, eine Diät. Wieder zuhause hatte er seiner Mutter vergeblich versucht, das Müsli schmackhaft zu machen, aber Ortrud hatte ihn nicht verstanden oder nicht verstehen wollen oder können. Irgendwann hatte sie Haferflocken in Wasser angerührt, das war nicht annähernd nach seinem Geschmack.
Doch dann war endlich die Wartezeit beim Kindergarten vorbei und die beiden waren zumindest vorübergehend, für Stunden den Eltern unter den Füßen „raus“. Da gab es viele kleine Ausflüge, häufig auf Spielplätze, aber auch an Seen, Planschbecken und an die Elbe.
Manchmal im Sommer kam auch die Nachbarstochter in den sonnigen Hof hinter der Küche und planschte mit Sören in einer dieser Zinkwannen. Sie war blond und blauäugig und ein paar Jahre älter als er. In sie war er total verliebt und sie hat maßgeblich sein Frauenbild, sein Beuteschema für all die Freundinnen, die da noch kommen sollten, geprägt.
Doch Heinrich wurde immer kranker und langsamer, auch seine Hände wurden immer zittriger. Die Arbeit fiel ihm immer schwerer. Der Krieg, die zermürbende Schlacht um Stalingrad, die vier Jahre Gefangenschaft in Sibirien, die Gelbsucht, die Syphilis und all die noch nicht bekannten Krankheiten forderten ihren Preis.
Die Schulden, die Bankkredite waren gerade eben abbezahlt. Ab jetzt hätten sie es eigentlich verdient, noch ein kleines Vermögen für die Rente zurückzulegen. Stattdessen gaben sie vollkommen mittellos dieses Geschäft auf. Wie Ortrud das alles geschafft hat, ist unvorstellbar. Sie hat das Geschäft abgewickelt, eine neue Sozialbau-Wohnung angemietet, den Umzug gepackt und organisiert, und einen Halbtags-Job als Verkäuferin in einer kleinen Drogerie in der Weidenallee gefunden, ganz in der Nähe der neuen Wohnung.
Das erste Jahr
In der Amandastraße stand ein völlig neu gebautes Hochhaus mit 7 Etagen und einem Fahrstuhl. Die Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der ersten Etage hatte 64 Quadratmeter, ein Vollbad mit einem schier unendlichen Vorrat von 80 Litern warmem Wasser, eine Zentralheizung, eine Küche mit einer eingebauten Speisekammer und dem Platz für die Eckbank aus Eiche. Einen Kühlschrank gab es noch nicht, eine Waschmaschine stand im Gemeinschaftskeller, gleich neben dem Trockenraum. Dort gab es auch einen 6 Quadratmeter großen Abstellraum, in dem auch die Kartoffelkiste Platz fand.
Gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite, der Martastraße, sind auch neue Wohnungen bezogen worden. Da waren die Arbeiten an der Tiefgarage noch nicht fertig, und der Aushub der tief-schwarzen Muttererde war direkt daneben aufgetürmt zu einem fast zehn Meter hohen Erdwall, der nochmal dreißig Meter lang und zwanzig Meter breit war. Sören war nicht zu bremsen und kletterte mit seinen frisch gewaschenen Sonntags-Nachmittags-Ausgehklamotten auf den Berg. Da waren auch schon andere Kinder, die schwer am Buddeln waren. Sören hatte mit seinen neuen Freunden das wahrscheinlich tiefste Loch in seinem ganzen Leben gebuddelt. Das war immerhin eineinhalb Mal tiefer, als Sören groß war, und er kam auch nur heraus, wenn er in dieser engen Röhre sich gegenüberliegende Löcher bohrte, die er als Aufstiegshilfe benutzte. Er war rundum glücklich und so schmutzig wie noch nie. Das hellgraue Mäntelchen mit dem weißen Stehkragen war als solches nicht wiederzuerkennen. Seine Eltern wollten noch einen kleinen Spaziergang mit Sonja und Sören zum Eismann machen, doch alle drei hatten Sören nicht wiedererkannt, als er vor ihnen stand. Als Ortrud ihn dann doch an der Stimme erkannte, brach sie sogleich in Tränen aus, hatte sie doch sofort den Tiefgang dieses Schadens erkannt. Diese nagelneuen Klamotten bekam sie nie wieder sauber, und sie mussten in den Müll geworfen werden. Diese waren erst kürzlich auf Kreditbasis eingekauft worden und mussten noch über Monate hinweg abbezahlt werden. Ortrud war richtig verzweifelt.
Einmal im Jahr wurden die Kinder neu eingekleidet. Das Prozedere sah immer so aus: Ortrud ging mit Sonja und Sören in das Alsterhaus. Als Erstes mussten sie in die dritte Etage in die Kreditabteilung. Das war für Ortrud immer der unangenehmste Teil dieses Vorhabens. Da musste sie buckeln und dienern und erklären, wie sie diesen Kredit wieder zurückzahlen wollte und dazu musste sie sich vor den Augen ihrer Kinder ganz mächtig verbiegen, wusste sie doch da bereits, dass sie sich dieses Geld wird vom Munde absparen müssen.
Aus Sörens Sicht war das für Sonja ein Festtag. Bekam sie doch im Herbst für den Winter mindestens zwei Kleider, oder Hosen, Mantel und Schuhe, dicke Unterwäsche und Strümpfe. Sören musste überall mit und geduldig warten. Es dauerte Stunden, denn dann stellte sich raus, dass das, was Sonja wollte, zu teuer war, und was Ortrud bezahlen konnte, gefiel Sonja nicht. Von zehn Kleidern, die Sonja anprobierte, waren neun nicht bezahlbar und das zehnte nicht das richtige für die kommende Jahreszeit. So auch bei allen anderen Artikeln. Als Sören dann endlich an der Reihe war, waren alle erschöpft und müde, und das Geld war auch alle. Dennoch reichte es immer noch für eine Hose. Der Höhepunkt dieses Festtages war, dass alle in das Café im vierten Stock gingen und einen großen gemischten Fruchteisbecher mit Sahne aßen. Jedes Mal, wirklich JEDES MAL hat Sonja beim Aufstehen den leeren Eisbecher umgeworfen, so dass er laut krachend zerbrach. Alle drehten sich um und Sören schämte sich für Sonja und für diese armselige Familie. Jedes Mal das gleiche Gezeter. Am Schluss haben alle geheult. Drei Tage später musste dann die Hälfte von Sonjas Klamotten getauscht werden, weil sie nicht auf genügenden Zuwachs geachtet hatte, denn diese Sachen sollten in einem halben Jahr immer noch passen. Doch jedes Mal kam Sonja doch mit den Kleidern vom Umtausch zurück, die vorher nicht bezahlbar waren.
Schon bald reichte das Geld auch nicht mehr für die Ratenzahlung beim Alsterhaus aus und die Kinder wurden von da an vom Roten Kreuz neu eingekleidet. Denn mit einer Rente für Heinrich war frühestens in sieben Jahren zu rechnen und für eine Erwerbsminderungsrente oder sogar eine Kriegsversehrtenrente musste Ortrud mit Hilfe des VDK (Verband deutscher Kriegsopfer) erst noch vier Jahre klagen. Bis dahin lebten sie zu viert von Ortruds Halbtagslohn als Verkäuferin in der Drogerie Steegemann in der Weidenallee, Höhe Margaretenstraße. Mit der Kleidung, die sie anhatten, sahen sie aus wie „Plüddensammlers Pflegekinder“. Die Kleidung war immer sauber, heil und neuwertig, aber sie sah sehr, sehr, sehr ärmlich aus.
Kein Schnitt, kein Sitz und auf gar keinen Fall Markenkleidung. Statt einer Wrangler oder Lee gab es eine Nietenhose. Sonja und Sören wurden auf der Straße dafür gehänselt, und sie schämten sich für ihre Armut. Dieses war zwar ein Arbeiter-Stadtteil, doch jeder Mülleimerfahrer oder Hilfsarbeiter brachte das Drei- bis Vierfache als Lohn mit nach Hause und auch Ortrud war unglücklich. Doch davon merkten die Kinder nichts. Direkt über Sören wohnte Peter bei seinen Großeltern. Seine Mutter lebte in Scheidung und die Sache mit dem Unterhaltsrecht war lange nicht geklärt und doch hatte er immer die tollsten und neuesten Klamotten an. Sein Vater war Festmacher, ein wirklich gefährlicher Hilfsarbeiter-Job im Hafen, denn die großen Schiffe, die auf „Reede lagen“, also nicht am Kai, zum Be- und Entladen, wurden am „Dugdalben“ festgemacht, bis sie beladen wurden und dann wieder ausliefen. Da fuhr der Festmacher, „Fassmooker“, mit einem kleinen Bötchen hin und musste dann den dicken Tampen (Tau) am Dugdalben festmachen, damit das Schiff nicht abdriftete. Allein das Hamburger Platt mit all diesen Spezialausdrücken des Hafens hat die beiden fasziniert, wenn sie Peters Papa im Hafen besuchten. Das machten die beiden sehr häufig, denn jedes Mal gab es eine Leckerei, meistens ne Cola. Peters Mutter war Putzfrau in der Polizeikaserne in der Bundesstraße, Ecke Sedanstraße. Das war so ein riesiger Rotklinker-Bau mit mehreren Blöcken und mit einem noch viel größeren Kasernenhof, wo sie auch oft die Bereitschaftspolizei marschieren sahen. Hier bekamen sie jedes Mal ne Mark zum Schnoopen (Naschen) von der Mutter, um Süßigkeiten kaufen zu können. Der Oberhammer aber war, dass sie in einem der Mülleimer eine alte ausgediente Polizeimütze fanden. Ortrud war immer ängstlich, wenn jemand Unbekanntes an der Tür klingelte. Sie öffnete erst die Tür, wenn sie vorher durch den Spion geguckt hatte und dann auch erst mit dem Riegel, bevor sie ganz öffnete. Jetzt legte sie diese Polizeimütze auf die Hutablage an der Garderobe und öffnete völlig angstbefreit die Wohnungstür.
Tatsächlich ist der eine und der andere Schnorrer direkt umgedreht und abgehauen, als er die Polizeimütze sah. Ortrud freute sich also über diesen Fund.
Peter war zwei Jahre älter als Sören und ging bereits in eine Volksschule für Knaben, und Sören freute sich schon sehr darauf, einen großen Freund an dieser Schule zu haben, wenn er auch dort eingeschult werden würde. Im Moment hatte er noch nicht einmal einen Kindergartenplatz. Warum, wusste er nicht, aber es war sehr wahrscheinlich, dass dieser nicht in das Budget seiner Eltern passte. Es könnte aber auch sein, dass sowohl sein Vater nicht zu Hause allein sein sollte als auch die Kinder nicht. Denn wenn Sonja aus der Schule kam, die inzwischen in die Volksschule für Mädchen in der Altonaer Straße ging, war Ortrud noch auf der Arbeit. So kam es denn auch öfter vor, dass Ortrud ihren Mann, damit er sich noch ein bisschen bewegte, zum Einkaufen vormittags auf den Wochenmarkt am Schlump schickte. Damit ihm nichts passierte und der Junge beaufsichtigt war, musste Sören mit und zum Tragen war er auch immer eine gute Hilfe.
Für diesen Weg, ca. einen Kilometer, braucht der normale Mensch dreizehn Minuten. Heinrich machte jedoch nur noch Mäuseschritte und brauchte alle fünfzig Meter einen Verholer und in die Schaufenster wollte er auch noch gucken. Wenn sie den Hinweg in einer Stunde geschafft hatten, waren sie schon richtig schnell. Er als professioneller Koch hat an jedem Stand auf dem Wochenmarkt ein Riesen Palaver ausgelöst über Frische und Qualität der Produkte. Der Fischverkäufer fragte Heinrich: „Was machen Sie denn da mit meinem Fisch?“, „Ich rede mit ihm“, „Und was?“ „Ich fragte ihn, wie das Wetter auf See ist.“ „Und was sagt er?“, „Weiß er nicht, weil er schon zu lange an Land ist.“ Alle lachten sie, bis auf den Fischverkäufer. Auf dem Rückweg füllten sich so langsam die beiden Einkaufsnetze, diese typischen 60er Jahre neonfarbenen, praktischen Teile, die so unglaublich klein zusammengeknuddelt werden konnten, aber mit jedem eingepackten Teil wuchsen sie.
Wen man aber nur einen Meter zwanzig groß ist, musst du die Arme anwinkeln, damit das Netz nicht auf dem Boden schleift, oder du musst in die Maschen fassen. Wie sehr sich das dünne Nylon in die Hände einschneidet, wusste damals nur Sören. Der Rückweg dauerte immer doppelt so lange wie der Hinweg. Nicht nur, weil auch bei Heinrich die Erschöpfung immer größer wurde und die Schritte kleiner. Bei Brockmann, einem Feinkostgeschäft, so ungefähr auf Höhe des Elisabeth-Krankenhauses, waren es nur noch halbe Mäuseschritte. Direkt daneben war das Schwesternheim und just in diesem Moment kam Schwester Trude heraus. Sie war es, die Sören, und auch seine Schwester, damals mit einem Kaiserschnitt auf die Welt gebracht hatte, und freute sich wie ein Kind, den Jungen mal wiederzusehen … „Und wie groß er geworden ist.“ Immer hatte sie ein liebes und kindliches Lächeln, wenn sie ihn sah. Doch die Arme wurden länger und länger und das Blöde bei diesen Netzen ist immer noch, du kannst sie nicht abstellen wie eine feste Tasche. Bei den offenen Maschen waren die Lebensmittel direkt im Straßen-Dreck. Und in dieser Gegend gab es viele Hunde. Viel zu viele.
Nicht selten musste Sören inzwischen selbst aufs Klo, und dann war es immer ein Rennen gegen die Zeit und die Geschwindigkeit seines Vaters. Sie haben es immer auf den letzten Drücker geschafft, nur einmal nicht, das war „Scheiße“. Wie so oft trug Sören eine kurze Lederhose, und der Dünnschiss lief ihm am Bein entlang, runter in die Sandalen und tropfte dann auf die Straße. Die Spur der Verwüstung zog sich von der Weidenallee die ganze Amandastraße runter, durch das Treppenhaus bis in die Wohnung. Das Rückwärts-Reinigen bis zurück zur Straße wurde noch ein richtiger Spießrutenlauf. Gerade dann kamen, wie abgesprochen, alle anderen Kinder, die im Haus lebten, vom Spielplatz zurück und fanden das richtig klasse, dass Sören in die Hose geschissen hatte.
Die Nachbarskinder
Eva, die in Peters Alter war, und Angela, die in Sörens Alter war, lebten mit ihrer alleinerziehenden Mutter in der sechsten Etage. Von einem Vater war nie die Rede. Weil die Mutter aber öfter Herren-Besuch hatte und ab und an leicht angetrunken abends spät nach Haus gekommen war und schon mal ein blaues Auge hatte, zerrissen sich die Nachbarinnen im Haus die Mäuler über sie. Auch Ortrud gehörte zu jenen, die es gar nicht gerne sahen, wenn ihre Kinder mit Eva und Angela spielten und erst recht nicht, wenn es in der Wohnung im sechsten Stock hinter verschlossenen Türen war und Ortrud die Kontrolle verlor. Peter und Sören waren öfter bei den beiden, denn sie hatten immer die kleinen Single-Platten, die gerade en vogue waren. Zum Beispiel Gus Backus: „Da sprach der alte Häuptling der Indianer“… Obwohl Sören nun noch wirklich jung war, fand er Angela schon vom ersten Tag an hoch attraktiv. Sie hatte ganz viel Ähnlichkeit mit der Schlagersängerin Manuela, „Schuld war nur der Bossa Nova“.
Auch Ronald, der Nachbarsjunge aus der zweiten Etage, fand das ziemlich cool mit Sörens Hosenschiss.
Ungefähr seit dieser Zeit wollte er von Sören auch nichts mehr wissen, fühlte er sich doch von Sören betrogen. Nach einem gemeinsamen Spielen mit diesen kleinen, metallenen Matchbox-Autos zwischen den Betten in Ortruds Schlafzimmer fehlte doch plötzlich eines. Hätte er gleich etwas gesagt, hätten beide dieses Auto noch gemeinsam suchen und finden können. Ronald hatte sich aber erst abends bei seinen Eltern beschwert und kam dann mit seinem Vater, um mit allen gemeinsam das Auto hinter einem Bettpfosten zu finden. Wie der Zufall es wollte, war dieses Modell ein Taxi. Genauso wie Ronalds Vater eines fuhr, so einen Mercedes 190 mit diesen runden Kotflügeln in Schwarz.
Auch Monika mit ihrer kleinen Schwester Birgit, beide Nachbarskinder und Spielgefährten seit dem Einzug in dieses Haus, waren froh, dass ihnen das nicht passiert war. Monika war zwei Jahre jünger als Sören, fand ihn aber ganz groß. Ihr Vater war selbstständiger Tischlermeister und gleichzeitig der Hauswart.
Sören wurde immer wieder mal runter in das Erdgeschoss geschickt, um den Schlüssel für die Waschküche zu holen.
Selbst Achim, den sie alle Schmiddel nannten und der nur selten bei seiner Oma zu Besuch war, hatte sich ausgeschüttet vor Lachen, denn er war normalerweise ein Kandidat für so einen Ausrutscher.
Gott sei Dank, dass Peter heute nicht dabei war, das wäre wirklich peinlich gewesen. Doch schon drei Tage später sprach Peter ihn darauf an, hatte ihn doch der Haustratsch selbst bei seiner Mutter in Dulsberg erreicht.
Spielkameraden hatte Sören reichlich, denn auch in den Nachbarhäusern gab es viele Kinder in seinem Alter. In der Regel trafen sie sich alle nachmittags, auf dem neuen Kinderspielplatz im „Martastraßen-Park“. Die nagelneue Rutsche, die die höchste im ganzen Viertel war, führte direkt in einen großen Sandhaufen, in die Sandkiste und lud zu spektakulären artistischen Rutschpartien ein. Ein Klettergerüst, eine Wippe, ein kleines Karussell und drei Schaukeln gab es auch. Jeder wollte der Größte, Schnellste und Stärkste sein, selbst beim Pinkeln. Sören war häufig der Jüngste und auch Kleinste auf dem Spielplatz, aber wenn es darum ging, im Wettstreit über die Mauer des öffentlichen Pissoirs zu pinkeln, war er ganz vorne mit dabei.
Dabei lernte er dann Jan kennen. Der war ein ausgesprochener „Indianer“ und wohnte mit seinen beiden Brüdern und seinem alleinerziehenden Vater auch in der Amandastraße. Sören war eigentlich ein Cowboy und zählte die „Indianer“ eher zu den Verlierern und wollte lieber auf der Gewinnerseite stehen. Doch von da an standen Anschleichen und Unsichtbar-Machen auf der Tagesordnung. Da war Jan eindeutig besser als Sören. Irgendwann war es ihm auch zu langweilig, mit so einem Stück Holz in der Hand „peng peng, du bist tot“ zu rufen, wenn dann doch niemand umfiel und tot sein wollte. „In Wirklichkeit hast du doch gar nicht getroffen.“ „Hab ich doooch.“
Bald schon gingen sie gemeinsam als anschleichende, unsichtbare „Indianer“ von Hecke zu Hecke, und hinter jedem Baum musste man mit einem Überfall rechnen. Plötzlich ging es auch um Ringen und Körperkraft und mit dem Gummimesser dem Gegner die Kehle durchschneiden. Da Jan ein Jahr jünger war, lag hier Sören wieder ein bisschen weiter vorn. Irgendwann haben die beiden den Einstieg in den unterirdisch verlegten Isebek-Kanal entdeckt. Das war ein kleiner Bach, der der wachsenden Stadt zum Opfer gefallen war. Vom Eimsbütteler Marktplatz bis zur Christuskirche ist dieser mit Mehrfamilienhäusern überbaut worden. Nur in der Waterloo-Straße in einem Hinterhof gab es die Möglichkeit in diese unwirtliche Unterwelt ein- und unterzutauchen. Hier konnten sie sogar unbemerkt und unsichtbar von einem Ende des Viertels zum anderen schleichen. Diese runden Röhren waren so ungefähr einen Meter im Durchmesser und die Jungs waren etwa zehn bis zwanzig Zentimeter größer und mussten natürlich die ganze Strecke gebückt gehen. Aber es floss ja immer noch die Isebek hindurch, und nur in trockenen Sommern konnten sie, ohne nasse Füße zu kriegen, durchgehen. Schon bei Regen stieg das Wasser enorm an, und das Oberflächenwasser der Straße lief durch die Gullys in diese Röhre. Dann brachte das „Unsichtbarsein“ nicht mehr wirklich Spaß.
Einen ganzen Nachmittag lagen die beiden auf der Lauer, auf einem Vordach zu einer Tiefgarage und sie waren mit einem kleinen 20 bis 30 cm langen Metallrohr, ein Zentimeter im Durchmesser, und mit einem Pfund Erbsen bewaffnet. Das silbern glänzende Röhrchen bekamen sie im Eisenwaren-Laden „Stark“ in der Margaretenstraße für ein paar Pfennige und die Erbsen haben sie von zu Hause mitgehen lassen. Aus der sicheren Deckung haben sie mit diesem Blasrohr auf alles geschossen, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Zuerst nur von hinten auf Taschen und Mäntel. Doch schon bald wurden sie sicherer und mutiger und schossen dann auch schon mal auf einen Hut. Das machte so schön plopp. Dies ging so lange gut, bis sie entdeckt wurden, und das nur, weil sie sich über die Reaktion der „Opfer“ kringelig gelacht hatten. Doch durch das Gelächter hatten sie sich selbst verraten und konnten lokalisiert werden. Da wurde das auch schon brenzlig, und sie mussten die Beine in die Hand nehmen, um nicht eingeholt zu werden. Doch sie hatten ihren Fluchtweg eingeplant, machten sich eben schnell unsichtbar und verschwanden im Isebek-Kanal.
Ortrud war natürlich wieder total entsetzt, wie schmutzig der Junge abermals nach Hause kam. Doch noch viel mehr Sorgen bereitete ihr Heinrich.
Heinrich baute immer mehr ab
An Einkäufe zum Wochenmarkt auf den Schlump war schon lange nicht mehr zu denken. Seine Schritte wurden noch kleiner, langsamer und immer wackeliger, sodass er einen Rollstuhl benötigte. Obwohl er den leichtesten, schmalsten und billigsten Rollstuhl bekam, passte dieser nicht durch die schmalste aller Türen, die zum WC. Eine Weile ging das auch gut, und Ortrud konnte ihm alleine helfen. Doch schon bald bekam Heinrich diese vier kleinen Schritte zum Klo nicht mehr hin und jedes Mal, wenn Heinrich musste, wurden alle benötigt. Sonja und Ortrud waren dann auf der Innenseite vom Klo und zogen Heinrich an den Armen und Schultern aus dem Rollstuhl, und Sören blieb auf der Außenseite hinter dem Rollstuhl und musste diesen festhalten, damit Heinrich wieder zurückfallen konnte, wenn die „Mädels“ Heinrich nicht halten konnten, aber auch, weil der Rollstuhl Heinrich in die Hacken schoss, sobald er das Gewicht verlagerte. Dann mussten sie Heinrich auf der Stelle drehen, so dass er vor dem Klo stand. Bis sie dann alle Knöpfe, Gürtel und Hosen geöffnet hatten und er sich mit vereinten Kräften hinsetzen konnte, ging der Schiss trotzdem in die Hose. Solange Heinrich konnte, hatte er jeden Tag das Mittagessen zubereitet, und nicht selten war es versalzen. Dadurch, dass er über Jahre hinweg für etwa vierzig Personen gekocht hatte, war er es gewohnt, eine ganze Hand voll Salz in die Kartoffeln zu geben. Dann sagte er: „Mäuschen, das mit dem Salz stimmt schon, nur die Kartoffeln sind zu wenig.“
Heinrichs Rente war immer noch nicht durch, und Ortrud musste in der nächst höheren Instanz weiter klagen. Immer seltener reichte das Halbtagesgehalt bis zum Ende des Monats. Im Steckrüben-Mus war kein Speck und um ein bisschen Geschmack reinzukriegen, hatte Heinrich Schweineschwarten mitgekocht. Den Umstand, dass die Abfälle vom Schlachter waren, haben die Kinder gar nicht mitbekommen.
Wenn aller Vorrat aufgebraucht war, gab es hartes, eingetrocknetes Brot. In der Speisekammer hing immer ein Stoffbeutel, in dem das Brot, welches nicht mehr zu schneiden war, gesammelt wurde. Am Ende des Monats wurde dieses Brot in Wasser eingeweicht. Am besten ging das mit Weiß- und Graubrot, aber wenn es nichts mehr gab, war auch Schwarzbrot dabei.
Heinrich hatte das Brot über Nacht eingeweicht und erst am nächsten Tag das überschüssige Wasser abgegossen, dann das matschige Brot durchgeknetet und mit den wenigen Resten, die es noch gab, verfeinert, gewürzt und gebunden. Manchmal gab es auch noch Eier und Rosinen, Zucker und Nüsse, Mehl, vielleicht sogar Backpulver. Am leckersten war der Kuchen, wenn da auch noch ein paar Äpfel hineingeschnitten wurden. Für das Backen gab es eine besondere Backform, rund und aus Aluminium, mit einem Schraubdeckel. Diese wurde fertig gefüllt in einen großen Wassertopf mit kochend heißem Wasser getan und so im Wasserbad gegart. In dieser Familie war es immer der große Bottich, in dem auch die Kochwäsche gewaschen wurde. Im Winter gab es dazu eine warme Kirschsoße und im Sommer eher eine kalte Vanillesoße. Das war aber auch schon die Luxusvariante.
Am schönsten war es, wenn Ortrud ihre Bügelwäsche abarbeitete, dann holte Sören seinen kleinen Teddy und sein Schnuffeltuch, setzte sich ihr gegenüber auf die Eckbank und wünschte sich erzählte Kindermärchen von seiner Mutter. Das konnte sie besonders gut. Erzählt war tausendmal schöner als vorgelesen. Ortruds Fantasie beflügelte sie jedes Mal zu neuen Höhenflügen und Varianten, so dass die Märchen jedes Mal spannender wurden als zuvor.
Auch Ortrud genoss diese friedliche, intime gemeinsame Zeit mit Sören. Diese entspannte, ruhige und unaufgeregte Stunde hatte sie sich als Kind auch immer selber gewünscht und nie bekommen. Obwohl ihre Mutter eine fortschrittliche Kindergärtnerin war, hatte sie nie die Muße, in diesem hektischen Geschäftsbetrieb ihren Kindern so eine heimische Atmosphäre zu schaffen. Eigentlich erfüllte sich auch Ortrud auf diese Weise ihre verloren gegangenen Wünsche nach Geborgenheit. Das wurde mit der Aufgabe des Fischgeschäfts erst möglich. Die Vielfalt der Märchen und ihre Erzähler hatte Ortrud immer besonders erwähnt. So lernte Sören schon sehr früh verschiedene Kulturen und Erzähler kennen und unterscheiden. Nicht nur die Brüder Grimm, auch die dunklen Geschichten von Hauf und die hellen von Andersen konnte Sören schon sehr bald unterscheiden. Ebenfalls die Geschichten aus Tausend und einer Nacht hielten ihn oft lange wach, weil er nicht abwarten konnte, wie diese weitergingen, und spann sie in der Nacht selber weiter.
Auf alle Märchen reagierte er extrem emotional und zappelte voller Ungeduld auf der Eckbank, bis endlich das Märchen sein Happy End fand. Der tiefere Sinn dieser Geschichten ging an Sören vorbei. Aber sein Gerechtigkeitssinn ist in dieser Zeit entstanden und gewaltig gewachsen.
Immer wieder musste sie alle diese Geschichten wiederholen, und immer hatte Sören viele Fragen dazu. „Warum sind das immer die armen Mädchen, die von den reichen Prinzen abgeholt werden? Ist Sonja auch so etwas wie Aschenputtel? Warum bin ich kein Prinz? Gibt es auch Prinzessinnen, die sich einen armen Mann genommen haben? Warum kommen nie kleine Brüder in den Märchen vor?“
Schon bald wurden die Bremer Stadtmusikanten sein Lieblingsmärchen. Dass diese vier Tiere alle ihr Leben lang gearbeitet hatten und im Alter ohne jede Dankbarkeit und Respekt vom Hof gejagt wurden und ohne ein Zuhause ums Überleben in den Wald fliehen mussten, konnte Sören nicht verstehen. Dass die Diebe, Verbrecher und Halsabschneider ein Haus im Wald hatten, ohne jemals dafür gearbeitet zu haben, ging nicht in seinen Schädel. Ortrud war jedes Mal wieder gerührt, wie emotional Sören auf diese Ungerechtigkeiten reagierte und wie er erleichtert das Ende dieses Märchens begrüßte, wenn die Räuber aus dem Haus vertrieben wurden und die Stadtmusikanten sich „ihr“ Zuhause einfach genommen haben.
Ortrud musste diese Armut und den Hunger beenden und beschloss, an Studenten das kleine halbe, 8 Quadratmeter Zimmer unterzuvermieten und so gleichzeitig für Sonja den so notwendigen Nachhilfeunterricht zu sichern. Und so kam Fräulein Heidi aus Hinterzarten als erste Studentin zur Untermiete. Sie war noch sehr jugendlich und nahm gern am Familienleben teil.
In der Zeit nach dem Abendbrot bis zur „Zu-Bett-geh-Zeit“ spielte sie oft mit der ganzen Familie noch Gesellschaftsspiele. Manchmal auch nur mit den Kindern.
Plötzlich stand noch ein Künstlerpaar vor der Tür. Ob das eine versehentliche Überschneidung, eine Überbuchung oder Ortruds Absicht war, hatte Sören nicht verstanden. Denn es wurde im Wohnzimmer untergebracht. Das bedeutete, dass die Eltern mit den Kindern, zu viert, in einem Zimmer nicht nur schliefen, sondern dort lebten. Sören hatte noch ein Kinderbett, Sonja ein Wandklappbett und die Eheleute Ortrud und Heinrich ihr Ehebett. Vier Menschen in 16 Quadratmetern, und sieben auf 64 Quadratmetern mit nur einem Klo in einem kleinen Bad.
Abby und Bob La Fleur führten im Moulin Rouge, auf der Reeperbahn, lateinamerikanische Tänze auf und gastierten dort regelmäßig drei bis vier Mal im Jahr, für etwa eine Woche. Abby war eine zierliche, kleine, schwarze Tänzerin von den Bahamas, und Bob war ein großer muskulöser Mann aus Wien, der dazu trommelte. Sie hatten den wohl größten Kombi, den Sören je gesehen hatte, einen Citroën DS 21. Manchmal wurde Sören auch zum Zigarettenautomaten geschickt, aber er konnte nur eine Marke ziehen, denn er kannte nur H und B. Die anderen Buchstaben waren noch nicht dran.
In der Altonaer Straße gab es sogar eine kleine Gang, so etwas wie eine Straßenbande; deren Anführer, Walter, war für seine Brutalität bekannt. Er war der Erste, den Sören kannte, der sogar mit Fäusten ins Gesicht schlug, bis es blutete. Aus irgendeinem Grund ist Sören dem Walter immer aus dem Weg gegangen und hat einen großen Umweg um sein Revier gemacht. Bevor er sich versah, kam Walter mit vier weiteren Jungs aus dem zweiten Hinterhof der Altonaerstraße und hat Sören geschlagen, gefesselt, in seinen Hof verschleppt und an den einzigen Baum gebunden, den dieser dunkle Hof hatte.
Sören kannte diese Szene schon aus Winnetou 2, glaubte aber, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Was am bedrückendsten war, dass keiner der Erwachsenen, die den Hof durchquerten, sein Schicksal bemerkt oder sein Winseln gehört hat. Selbst als sie Sören mit brennenden Zigarettenkippen die Haare in der Nase verkokelten, dachten sie: Die wollen nur spielen.
Sören war, wie so oft, nicht rechtzeitig zum Mittagessen erschienen, und Heinrich schimpfte bereits. Sonja berichtete davon, dass sie eine Gruppe Jungen aus dem Augenwinkel gesehen hatte, die in den Hof verschwand, als sie aus der Schule kam. Sie wusste aber nicht, ob ihr Bruder darunter war. Wenn ja, wäre das ein schlechtes Zeichen, wusste sie doch um Walters Brutalität und um Sörens Respekt vor ihm. Sonja ist ohne einen weiteren Gedanken zu fassen aus der Wohnung gerannt, in die Altonaerstraße und sah schon von Weitem, wie fünf Jungs um einen Baum herumstanden und alle gleichzeitig pinkelten. Ihren Bruder sah sie allerdings nicht, wusste aber instinktiv sofort, dass dieser in der Mitte stand. Sonja ging erst langsam auf diese Gruppe zu, nahm sich eine metallene Kinderschaufel, die da gerade so rumstand, und erkannte Sören in der Mitte. Jetzt lief sie auf die Jungs zu und rief laut und deutlich: „Lasst meinen Bruder in Frieden.“ Die Jungs erschraken, nicht nur, weil ein Mädchen ihre kleinen Genitalien sah, sondern sie waren unbewaffnet und hatten alle einen offenen Hosenstall und ihre Schwänze in der Hand. Eine größere Überraschung hatten sie, und auch Sören, noch nie erlebt und rannten davon, selbst Walter. Sören war alles so erbärmlich peinlich, nicht nur, dass er am Arm blutete, leichte Verbrennungen an der Nase hatte, er war auch bis zu den Knien bepisst. Am schlimmsten war aber, dass ein Mädchen und besonders seine Schwester ihn befreit hatte. Wie stand er nun da vor den anderen Jungs? Lieber wäre er gestorben, doch dann band Sonja ihn los und mit hängendem Kopf trottete er hinter seiner Schwester her. Gott sei Dank waren sie sonst niemandem begegnet. Zuhause musste er direkt in die Wanne. Aber auch Heinrich konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, hatte er doch in seiner eigenen Kindheit viel Schlimmeres erfahren.
Sonja ging es in der Schule langsam immer besser, sowohl im Unterricht als auch im Klassenverband. Ihre Größe wie auch ihre Stärke hatten anfangs nur Nachteile, zumal sie auch noch eine Beinschiene trug und absolut nicht modisch gekleidet war. Mit der Nachhilfe fand sie auch bald den Anschluss und eine Freundin. Renate lebte ebenfalls in der Amandastraße, in einem Hinterhof. Ihre Mutter war Friseurin, was in diesem Alter von besonderer Bedeutung war. Bald schon hatte Sonja, als eine der Ersten, einen toupierten „Beehive“. Auch gelang es ihr immer besser, die Ansprüche an die Mode zu erfüllen. Als dann auch noch bekannt wurde, dass sie diejenige war, die nicht nur fünf Jungs, sondern auch noch Walter in die Flucht geschlagen hatte, um ihren Bruder zu befreien, war sie wirklich integriert in der Klasse. Nur Ortrud fand, dass Sonja nuttig aussah, und setzte alles daran, dass sie so nicht auf die Straße ging. Als dann auch diese Beinschiene nicht mehr gebraucht wurde, konnte man schon ahnen, dass sich hinter dieser hässlichen Ente ein stattlicher Schwan verbarg. Also doch Aschenputtel? Hin und wieder sollte sie auf Sören aufpassen und musste ihn in ihre Unternehmungen integrieren. Also spielte sie Mutter und Kind, stopfte Sören in irgendeinen Kinderwagen und holte ihre Freundin ab. Wenn Sören nicht still lag und am Daumen lutschte, rutschte ihr auch schon mal die Hand aus. So schoben sie stundenlang durch den Schanzen-Park und wehe, Sören rührte sich.