Aschermittwochsmord - Brunhilde Witthaut - E-Book

Aschermittwochsmord E-Book

Brunhilde Witthaut

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Beschreibung

Köln in den 70er Jahren ... Der junge Inspektor Roland Römer ist am Ziel seiner Träume: Eine Stelle in Köln, dem "Chicago am Rhein", wo Pokerchips und Champagner gleichermaßen fließen. Gleich am ersten Tag muss er den Mord an einer jungen Sekretärin aufklären. Ein Terminkalender, eine zerrissene Zeichnung und eine verschwundene Akte machen Römer misstrauisch – auch gegen die eigenen Reihen. Ist sein Chef in den Fall verstrickt? Inmitten eines sozialen Umbruchs wird Römer mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert. Doch er ist nicht allein: Anke, die engagierte und auch etwas schuldbewusste Freundin der Toten, überlässt nicht alles der Polizei. Kann sich Römer mit Hilfe seines psychologischen Spürsinns durchsetzen und den Mörder überführen?

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Seitenzahl: 345

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Brunhilde Witthaut

Aschermittwochsmord

Ein 70er Jahre Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Impressum neobooks

Kapitel 1

16. Februar 1972

Der Paderborner Bahnhof lag im dichten Nebel, die Luft war klamm. Seine Mutter fröstelte, obwohl sie ihren Nerzmantel trug. Genau so würde Roland Römer sie wohl in den nächsten Wochen in Erinnerung behalten: verzagt, wehmütig, mitsamt den blassen Resten des Aschenkreuzes auf der Stirn, das sie sich vorhin in der Frühmesse im Dom geholt hatte. Er umarmte sie, nahm den Duft ihres Parfums wahr und hörte ihr zu, wie sie ihm viel Glück wünschte und er sollte auf sich aufpassen im großen Köln und seine Lederjacke wäre doch bestimmt nicht warm genug. Sie strich ihm über das Haar, als wäre er ein kleiner Bub.

Ein wenig verlegen gab er ihr einen Kuss auf die Wange, der Austausch von Zärtlichkeiten war in seiner Familie kaum üblich. Doch dies war ein wichtiger, lang ersehnter Abschied.

„Mama, mach dir keine Sorgen. Ich bin doch nicht auf einer Himalaya-Expedition“, sagte er und drückte sie ein letztes Mal an sich. So wie nun der Karneval vorbei war, war auch sein altes Leben vorbei, heute, am Aschermittwoch. Winteraustreiben, das Ende seines persönlichen Winterschlafs. Dass nun die Fastenzeit begann, schob er zur Seite. Er wusste auch so, dass es in der ersten Zeit nicht einfach für ihn sein würde.

Er stieg in den Zug und bugsierte seine zwei Koffer in den Gang. Am geschlossenen Fenster winkte er seiner Mutter zu. Die Diesellok wirbelte den Nebel auf und ihre zierliche Gestalt verlor sich im Dunst. Ein wenig fühlte er sich wie ein Verräter. Andererseits konnte er aufatmen. Es gab kein Zurück mehr. Er setzte sich in Fahrtrichtung und seine Gedanken liefen mit den Gleisen in die Zukunft.

Nach zwei Stunden tauchten Türme auf, deren Anblick er seit einem Jahr sehnlich erwartet hatte. Und kaum hatte er den Bahnhof verlassen, ging er seinem Empfinden nach: Er legte die kurze Strecke zurück, nachdem er seine Koffer in ein Gepäckfach eingeschlossen hatte, und presste die Hände an die kühle Wand des Kölner Doms - Wahrzeichen der Stadt, die immer noch als das Chicago am Rhein galt.

*

Frau Gülek hob die Hand zur Klingel, doch dann stutzte sie. Die Wohnungstür, vor der sie stand, war tatsächlich schon einen Spalt breit geöffnet. Nanu, dachte sie, das ist ja nett von Fräulein Stedtfeld. Frau Gülek nahm Schrubber und Eimer wieder an sich, stieß die Tür weiter auf und trat ein.

„Guten Tag“, rief sie und betrat die Küche, wo sie den Eimer unter den Wasserhahn stellte und den Schrubber an die Wand lehnte. Keine Antwort. Vielleicht war ihre Kundin noch im Schlafzimmer, sie hatte mittwochs frei und schlief etwas länger.

Nachdem sie ihre Jacke über einen Stuhl geworfen hatte, hielt sie ihre kalten Hände an die kleine Nachtspeicherheizung und genoss für einen Moment die Wärme des Metalls. Auf einem Regal lag eine Karnevalsmaske, die rosa Federn ein wenig zerfleddert. Die Kölner und ihr Karneval ... Sie schüttelte den Kopf, sagte leise „Yallah“, band sich das Kopftuch etwas strammer, krempelte sich die Ärmel auf und schaltete das kleine Radio ein. 11 Uhr, die Nachrichten. Der Sprecher sagte etwas von Willy Brand und Ost-Verträgen, dann berichtete er von der mittelprächtigen deutschen Medaillenausbeute in Sapporo und vom Rosenmontagszug. Politik, Sport, selbst Karneval - das interessierte sie nicht sonderlich, sodass sie das Gerät wieder ausschaltete und die Antenne vorsichtig einschob, damit sie später nicht beim Staubwischen störte. Sie ging hinüber zum Schlafzimmer und öffnete langsam die Tür. Sie erwartete, die schlanke Frau am Schminktisch in der Ecke zu sehen, wo sie sich die Lippen nachzog oder das lange blonde Haar mit energischen Strichen bürstete. Aber das Zimmer war leer, die Rollläden waren heruntergelassen, die runde Kugellampe tauchte das ordentlich gemachte Bett in eine warme orange Helligkeit. Als in der Küche der Schrubber von der Wand rutschte und mit einem Knall auf das Linoleum fiel, zuckte Frau Gülek zusammen. Doch selbst jetzt blieb Fräulein Stedtfeld stumm, anstatt irgendwo um die Ecke zu sehen.

Wie seltsam, wo war sie nur?

Die Badezimmertür war nur angelehnt. Frau Gülek klopfte an.

„Fräulein Stedtfeld, ich bin da!“ Vorsichtig trat sie ein. Feuchte Wärme schlug ihr entgegen. Auf dem Boden schimmerte eine Wasserpfütze im gedimmten Licht der Deckenlampe. Aha, Frau Gülek verdrehte die Augen. Vielleicht Männerbesuch, ein gemeinsames Bad in der großen Badewanne, in der alle kleinen Güleks Platz finden würden. Sie ging sofort in die Küche zurück, um den Aufnehmer zu holen. Als sie sich im Badezimmer zum Aufwischen hinkniete, hob sie den Kopf und schrak zurück. Auf Augenhöhe, über dem Wannenrand, hing eine leblose, blasse Hand. Mit klopfendem Herzen betrachtete Frau Gülek die rot lackierten Fingernägel, die sich wie Blutstropfen von der weißen Haut und den hellen Fliesen abhoben, dann rappelte sie sich auf und trat näher.

*

Im Flur war es still, niemand rührte sich. Offenbar war jeder im Einsatz oder auf einem Lehrgang. Der Hausmeister hatte ihn eingewiesen und war in seine kleine Kammer zurückgekehrt. Roland musterte sein Zimmer, müde und aufgekratzt zugleich. Drei mal vier Meter groß, mehr hatte das neue Männerwohnheim für ledige Polizeibeamte in Köln-Kalk nicht zu bieten. Weißes Raufaser, Linoleumboden, Neonröhre, Scheibengardinen, die versuchten, den Raum gemütlicher wirken zu lassen. Doch Roland gab nicht viel auf Äußerlichkeiten. Er war an seinem Ziel angekommen und nahm sich vor, sich in aller Ruhe einzurichten, so karg die Umgebung und so spärlich seine Habseligkeiten auch waren.

Er legte einen der Koffer auf die schmale Pritsche, tastete unwillkürlich seine Lederjacke ab und zog die verdächtig knitterige Packung HB heraus. Hoffentlich gab es im Gebäude einen Zigarettenautomaten. Er fummelte die zweitletzte Zigarette heraus, steckte sie sich mit dem Feuerzeug an und inhalierte tief. Der Tabak entspannte ihn, die Erschöpfung von der langen Fahrt im Bummelzug verflüchtigte sich.

Die Aussicht aus dem Fenster haute ihn jetzt nicht um. Er sah einfache Mehrfamilienhäuser, eine Kirche in Buntsandstein. Die jungen Bäume wirkten im feinen Nieselregen verloren, so nackt und blattlos. An einer Reklamewand hing ein verblasstes Plakat, das zu einer Karnevalssitzung einlud. Auf der Fahrt mit dem Taxi hatte er Fabriken und Industrieanlagen gesehen, Reihenhäuser, Lagerhallen, Eisenbahnschienen. Das war Köln-Kalk, nicht gerade ein Bezirk mit Charme. Aber es war Köln - und das war das Wichtigste.

Roland drückte den Zigarettenstummel im Waschbecken aus und machte weiter. Mit 65 Mark war das Zimmer eine echt günstige Bleibe. Hier waren kleine Wohnungen weder zu bekommen noch zu bezahlen. Mit energischen Bewegungen begann er, seine Klamotten aus den Koffern in einen schmalen Metallspind einzuräumen. Er freute sich auf morgen, auf seinen ersten Tag bei der Kölner Kriminalpolizei. Zum Glück war das Präsidium nicht weit von hier entfernt. Und hoffentlich die nächste Pommesbude auch nicht, sein Magen knurrte bereits.

Die zwei geliebten Schallplatten, auf die er nicht verzichten wollte, legte er behutsam auf ein Regal. The Mamas and the Papas und Uriah Heep. Unwillkürlich begann er, „Monday Monday“ zu summen und legte ein paar Bücher ab. Um einen eigenen Plattenspieler würde er sich später kümmern.

Ein schrilles Klingeln durchbrach die Schläfrigkeit des Gebäudes. Das Telefon, das im Flur an der Wand hing, gab keine Ruhe, selbst nicht, als Roland eine halbe Minute wartete. Wo war denn nun der Hausmeister? Er warf den Schlafanzug aufs Bett, ging in den Flur hinaus und nahm ab.

„Polizeiwohnheim, Inspektor Römer hier.“

„Römer, na endlich. Hauptkommissar Baumann hier, vom Präsidium Kalk. Haben Sie sich schon eingerichtet?“

Sein neuer Chef! Das Herz rutschte ihm für einen Moment in die Hose.

„Bin gerade dabei, Herr Hauptkommissar, Danke der Nachfrage.“

War doch nett, dass Baumann ihn willkommen hieß.

„Ja ja. Lassen Sie mal alles stehen und liegen und kommen Sie her. Es gibt einen Fall, bei dem ich Sie gut einsetzen kann. Melden Sie sich an der Pforte, dann wird man Sie zu mir führen. Bis gleich.“

„Aber ...“ Doch Baumann hatte bereits aufgelegt. Roland starrte den Telefonhörer an, der schwer in seiner Hand lag, dann hängte er ein. Von wegen willkommen heißen – er sollte arbeiten, jetzt sofort.

Und das war klasse! Roland grinste, bis seine Wangen schmerzten, und eilte in das Zimmer zurück. Schnell die Jacke an, her mit dem Zimmerschlüssel. Die Pommesbude musste warten. Beim Abschließen traf er den schmächtigen, mit einem grauen Kittel bekleideten Hausmeister, der prüfend die Luft einsog. Sein Schnurrbart zitterte.

„Rauchen ist hier verboten, im gesamten Haus!“

Roland betrachtete den tabakgelben Zeigefinger, der mahnend vor seiner Nase aufragte.

„Hm, das muss Ihnen schwerfallen“, gab er zurück und steckte seinen Schlüssel in die Jackentasche. Er verließ den Flur und ignorierte das Gemurmel des Mannes. Einzig das Wort „Klugscheißer“ hörte er noch heraus.

Zügig schritt er aus. Die Stadt war zu hören, das dumpfe Brausen, die Kirchenglocken um 12 Uhr, hier und da Hupen. An einem Büdchen standen zwei Männer und unterhielten sich, die Flasche Bier in der Hand. Der Inhaber hinter der Glasscheibe blickte mürrisch auf die Straße. Aus einer Fleischerei strömte der Duft von frischer Wurst und machte ihn noch hungriger.

Hier würde er nun leben und vor allem arbeiten. In Paderborn hatte er zwei Jahre lang alles bearbeitet, wirklich alles, was nach einer Straftat aussah. Egal, ob zerstochene Reifen oder eine Körperverletzung auf einem Schützenfest.

Nicht, dass es ihn gelangweilt hätte. Aber mal ehrlich, für einen Kriminalbeamten spielte die Musik doch in einer Großstadt. Und gerade hier in Köln, der Hochburg des Verbrechens und der Korruption, in der Stadt, in der Champagner und Roulette-Chips in Strömen flossen – und niemand dachte sich etwas dabei, es war einfach so!

Köln war immer ein Reizthema zwischen ihm und seinen Eltern gewesen. Seine Eltern hatten alles Schlechte und alles Gute der letzten 50 Jahre mitgemacht und überstanden. Sein Vater war – vorsichtig ausgedrückt - einer von der alten Garde, seine Mutter brav und besorgt, als lebte sie jetzt noch in seinem Geburtsjahr, 1946.

Roland dachte an seinen alten Herrn, der morgens hinter der Zeitung missbilligend den Kopf schüttelte. Die Albrecht-Entführung, die palästinensischen Terrorgruppen, Banküberfälle, Razzien – das störte die Menschen in ihrem seligen Schlummer. Roland selbst hatte auch ziemlich lange gepennt. Bis er nach langen Diskussionsnächten in den Kneipen und Studentenwohnheimen begriffen hatte, dass er so nicht weitermachen konnte. Keine Karriere, keine eigene Praxis, tut mir leid, Vater, dachte er. Er war aufgewacht mit dem Plan, zur Polizei zu gehen. Ausgerechnet zur bösen staatlichen Gewalt. Seine Kommilitonen hatten ihn für verrückt erklärt. Doch warum dem Neuen keine Chance geben, auch bei der Polizei? Neue Ideen, neue Verfahren und Strukturen – das war es, was ihn antrieb. Sein Vater verstand das nicht und wollte es wohl auch gar nicht verstehen.

Als er vor dem Präsidium angekommen und die Eingangstreppe hinaufgegangen war, betrachtete er sich kurz in der Spiegelung der Glastür. Automatisch fasste er sich an die Schläfe. Nicht, dass die Haare über seinen Ohren lagen, er kannte die Launen von Vorgesetzten. Sein Wuschelhaar machte sich oft selbständig, aber momentan lag es gut. Er holte tief Luft, dann umschlossen seine Finger die kühle Stange der Glastür und er zog sie auf.

Nachdem der Pförtner ihm den Weg gewiesen hatte, stieg Roland ins erste Stockwerk, ging durch einen Flur, vorbei an einem kleinen Büro, in dem der Fernschreiber stand und eine Sekretärin eifrig auf ihrer Schreibmaschine tippte. Seine Nervosität verflog allmählich, es sah aus wie auf jedem Revier. Jetzt galt es, einen Fall zu lösen.

Walter Baumann war ein Baum von Mann. Mit einem gewissen Respekt schüttelte Roland seinem Vorgesetzten die Hand. Der Hauptkommissar trug schon seinen Mantel, der seine breiten Schultern betonte und ungewöhnlich elegant geschnitten war. Auf dem etwas groben Gesicht quälte sich ein Lächeln durch seine Züge. Sein Chef mochte um die 50 Jahre alt sein, schätzte er.

„Willkommen in der Abteilung für Kapitalverbrechen, Inspektor Römer.“

Kapitalverbrechen, wie aufregend sich das anhörte. Rolands Herz klopfte schneller und sein Blick erfasste die etwas vergilbten Wände, die mit Akten bedeckten Schreibtische, an denen zwei Männer saßen, die Holzschränke mit geschlossener Rolllade, den Resopaltisch, auf dem eine Thermoskanne und Tassen standen, die Gebietskarte an der Wand, das Fahndungsfoto der Baader/Meinhof-Bande daneben.

„Darf ich kurz vorstellen? Die Inspektoren Ralf Kaminski und Klaus Hengsmann.“ Baumann wies mit dem Kopf auf seine Kollegen. Kaminski, dünn, agil, dunkelhaarig, die Zigarette im Mundwinkel, nickte ihm nur kurz zu, da er den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr presste und sich etwas notierte. Hengsmann war trotz des schütteren blonden Haares wohl in Rolands Alter, er erhob seine massige Gestalt und reichte ihm die etwas feuchte Hand.

Baumann redete schon weiter. „Ich nehme Sie sofort mit. Wir haben eine tote Frau. Da können Sie sofort einsteigen, denn die Herren haben noch andere Fälle zu bearbeiten.“

Kaminski hatte inzwischen aufgelegt und die Zigarette im Aschenbecher abgelegt. Hengsmann wedelte missmutig die Rauchfahnen weg.

„Ich habe noch etwas Luft, Chef. Soll ich zur Unterstützung mitkommen?“, fragte Kaminski. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Roland, dass sein neuer Kollege ein wenig verkatert aussah.

„Lassen Sie mal.“ Baumann winkte ab, und Kaminski zuckte mit den Schultern.

Das Letzte, was Roland wollte, war eine Neiddiskussion. „Ich berichte ausführlich“, sagte er mit einem Zwinkern zu seinem neuen Kollegen.

„Sie berichten das, was ich freigebe“, raunzte Baumann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Er setzte sich einen schnittigen Hut auf und rauschte hinaus. Kaminski erwiderte das Zwinkern und Roland eilte seinem Chef hinterher.

*

Natürlich hatte Roland auch schon Mordfälle bearbeitet. Doch der Reiz des Neuen packte ihn, sobald er in den Ford Taunus neben seinem Chef einstieg. Unterwegs fiel ihm auf, dass die Straßen an vielen Stellen ausgebaut wurden. Als Baumann den Wagen endlich über eine Rheinbrücke steuerte, drückte sich Roland fast die Nase platt. Vater Rheins Anblick war trotz Nieselregens imposant und der Blick auf den nahen Dom für ihn, der schon Hautkontakt mit ihm aufgenommen hatte, irgendwie tröstlich.

„Die Tote heißt Conny Stedtfeld und war eine junge Sekretärin.“

„Conny, also Cornelia.“

Baumann nickte vage. Er fuhr souverän und konzentriert, eine Weile ging es am Rhein entlang, dann in ein Viertel und in eine Straße mit gepflegten Mehrfamilienhäusern. Als der Wagen hielt und sie ausstiegen, erfasste Römer die Umgebung der Maternusstraße: eine normale Wohngegend, ein Spielplatz vor dem Haus, die Treppe aus Travertin im blitzsauberen Treppenhaus.

„Warum übernehmen wir den Fall?“

„Die Kollegen hier haben einen hohen Krankenstand. Die haben Rosenmontag noch nicht verdaut.“ Baumann schnaufte. „Die haben uns angefordert, ich kenne den Leiter ganz gut.“

„Was wissen wir über den Tod der Frau?“„Nur, dass sie wohl erwürgt wurde.“

Baumann stieg vor ihm die Stufen hinauf. Im Treppenhaus roch es nach Bratwurst. Roland legte die Hand auf seinen Magen und starrte auf die Hosenbeine seines Chefs. Die Hose war aus erlesenem Stoff, keinesfalls Stangenware, fiel Roland auf.

Sein Chef redete gedankenverloren weiter. „Immer schade um ein Mädel, das etwas auf dem Kasten hat. Sonst haben wir es meistens mit Bandenmorden oder einem tödlichen Ehestreit zu tun. Oder mit toten Prostituierten. “

„Und die haben nichts auf dem Kasten?“, murmelte Roland, doch zum Glück war Baumann schon drei Stufen weiter und hatte ihn nicht gehört.

Ein wenig belustigt fuhr Baumann fort: „Nicht, dass Sie sich wundern, wenn Sie abends durch die Innenstadt gehen. Die gewerblichen Damen sollen jetzt von den Bürgersteigen der Brinkgasse ins neue Eros-Center in der Hornstraße umziehen, damit sie leichter zu kontrollieren sind und das kriminelle Gesindel aus der Altstadt weg bleibt. Die meisten der Nutten wollen aber nicht.“

„Klar, weil sie ihre Freier am bekannten Ort haben.“ Roland gab sich so erfahren, als hätte er seit Jahren bei der Sitte gearbeitet.

Baumann nickte. „Sie haben Angst, dass die Männer den langen Weg in den Außenbezirk scheuen. Aber falsch gedacht. Als das Hochhaus vor einigen Tagen eröffnet wurde, standen früh morgens schon siebzig Männer vor der Tür. Da war vielleicht was los.“ Baumann schnaufte vom Treppensteigen. „Drei Frauen waren gerade mal eingerichtet, die anderen waren noch am Auspacken und zurechtmachen. Hat etwas gedauert, bis die Herren an die Reihe kamen“. Der Kommissar grinste tatsächlich.

„Das glaube ich“, sagte Roland, der sich kaum vorstellen konnte, wie so ein großes Bordell betrieben wurde. Wohnten die Frauen auch dort? Doch eher nicht. Wer wohnt schon gern an seinem Arbeitsplatz …

Sie waren im dritten Stockwerk eingetroffen, und Baumann beendete seine redselige Phase. Im Flur der Wohnung standen zwei Streifenpolizisten und nahmen Haltung an, als der Kommissar ihnen zunickte.

„Niemand hat sich hier zu schaffen gemacht?“

„Nein, Herr Hauptkommissar, nicht, solange wir hier sind. Dies ist Frau Gülek, die Reinemachfrau.“

Eine Frau mit Kopftuch und Kittel stand an einen Türrahmen gelehnt, ihre Figur wirkte dank des Gürtels wie eine Sanduhr und die dunklen Augen glitzerten neugierig. Interessiert betrachtete Roland die Türkin, die anscheinend keinen Schock davongetragen hatte.

Baumann schob sich an den Beamten vorbei und betrat vorsichtig ein Badezimmer. Um keine Spuren zu verwischen, machte er nur einen großen Schritt. Die Kacheln waren in einem angenehmen hellen Rosé-Ton gehalten, ein Waschbecken, eine Wasserlilie auf der Fensterbank. Ein flauschiger Bademantel hing am Wandhaken. Das Licht war gedimmt, und Roland hütete sich, den Schalter zu drehen, um es heller zu machen.

Der Kommissar drehte sich zur geräumigen Badewanne um, die im hinteren Bereich des Raums installiert war. Roland lugte ihm über die Schulter und erkannte eine nackte blonde Frau, die in der großen, leeren Wanne lag. Ihre Haare waren zu einem lockeren Knoten am Hinterkopf hochgesteckt, sodass sie wie auf einem Kissen ruhte. Nur ein paar dekorative Strähnen klebten an ihrem Hals. Die Augen standen offen. Er unterdrückte ein Seufzen. Eine so junge, hübsche Frau mit hohen Wangenknochen.

„Hat Frau Gülek das Wasser abgelassen?“, fragte Baumann laut.

Die Putzfrau hatte die Frage gehört. „Ich nix machen, gar nix.“

„Haben Sie Ihre Aussage schon bei dem Polizisten abgegeben?“, fragte Roland. Bevor die Frau antworten konnte, sagte der Beamte: „Ja, hat sie. Frau Gülek hat die Tote aufgefunden. Nichts Ungewöhnliches, alles war wie immer. Nur die Wohnungstür stand schon offen und sie brauchte nicht zu klingeln.“

„Gut“, sagte Roland. Der Pathologe würde gleich eintreffen, doch schon jetzt waren die dunklen Würgemale am Hals der Toten nicht zu übersehen.

„Totenstarre?“, fragte Roland, worauf Baumann ihren Arm drückte.

„Ziemlich fest. Also in der Nacht passiert.“

„Ein Freund vielleicht.“

„So ist es meistens“, bestätigte Baumann.

„Oder eine Karnevalsbekanntschaft, die sich als Soziopath entpuppt ...“ Roland zog die Augenbrauen zusammen.

„Als was?“, hakte Baumann nach, winkte dann aber ab und rief in den Flur: „Und das ist wirklich Fräulein Stedtfeld?“

„Ja, ist sie!“, rief Frau Gülek zurück.

Er drehte sich zur Tür, und Roland beeilte sich, ihm Platz zu machen. Baumann ging durch den Flur. „Ich schaue mich mal eben um. Sie befragen die Putzfrau noch mal etwas intensiver.“

„Mach ich, Chef.“ Roland juckt es in den Fingern, anzufangen.

Er winkte Frau Gülek heran und lud sie ein, sich an den Küchetisch zu setzen. Der Blick der Frau glitt abschätzend über seine volle Länge, dann setzte sie sich ein wenig widerstrebend auf den Stuhl aus glänzendem Stahlrohr. Die Küche war in weiß gehalten und nicht sonderlich verschmutzt. Eine halbvolle Weinflasche stand neben der Spüle, flankiert von einer elektrischen Kaffeemühle und einem Toaster.

„Frau Gülek, wie lange putzen Sie schon für Fräulein Stedtfeld?“

„Ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr.“ Sie nickte zu ihren eigenen Worten.

„Es ist hier ziemlich sauber. Hatten Sie viel zu tun?“

„Nein, sie war ordentlich. Ich nur Boden wischen, Fenster putzen, Bad putzen. Im Bad war Wasser auf Erde. Ich aufgewischt, dann ich habe sie gesehen.“ Nun atmete sie tief ein und nagte an der Unterlippe. Der Tod ihrer Kundin hatte sie doch mehr aufgewühlt, als sie zeigen wollte.

„Hatte sie Familie? Eltern? Freundinnen?“

„Ja, Eltern. Keine Kinder, die Arme.“ Frau Gülek presste mit einem bedauernden Ausdruck die Lippen zusammen.

„Sie haben Kinder, nicht wahr?“ schloss Roland aus ihrem Verhalten. Da begann sie zu strahlen. „Oh ja, ich habe drei Kinder.“

„Sehr schön.“ Er lächelte. „Sind Sie immer Mittwochmittags hierher gekommen?“

„Ja, weil sie dann frei hat.“

„Was für ein Mensch war sie? Können Sie mir Ihren Eindruck beschreiben?“

„Warum fragen Sie nach einem Eindruck, Römer?“ hörte er Baumanns Stimme hinter sich und drehte sich um. Sein Chef stand in der Tür und runzelte die Stirn.

„Das gehört doch dazu, finde ich. Das Leben des Opfers ist beim Ermitteln genauso wichtig wie der Tod.“

„Schon, aber was hilft uns die subjektive Sicht von Außenstehenden? Fragen Sie lieber nach Fakten.“

„Gut, Chef.“ Roland war irritiert. Außenstehende? Wen sollte er denn sonst fragen? Das Opfer? Doch als er gerade fortfahren wollte, unterbrach Baumann erneut.

„Die Wohnung macht den Eindruck, als wäre sie durchsucht worden. Schauen Sie sich das auch noch mal an. Ich fahre jetzt für einen kurzen Bericht zum Staatsanwalt, dann ermittle ich die Eltern und versuche, sie zu erreichen. Die müssen die Leiche ja identifizieren. Sie befragen dann die Nachbarn, wenn die Spurensicherung da ist. Fragen Sie, wer sie zuletzt gesehen hat und ob sie Besuch gehabt hat.“

„Wie komme ich zurück?“, fragte Roland. „Straßenbahn?“

„Richtig. Oder Sie finden zufällig einen Streifenwagen.“

„Alles klar, Herr Baumann.“ Roland versuchte sich an einem Lächeln, das sein Ziel jedoch verfehlte. Der Hauptkommissar nickte ihm nur kurz zu und verließ die Wohnung. Was Roland jedoch ganz recht war. Den ersten Anschiss zu bekommen, dazu vor einer Zeugin, war nicht gerade angenehm gewesen.

„Also, was für ein Mensch war denn Fräulein Stedtfeld nun? War sie freundlich oder launisch, schien sie zufrieden zu sein, hatte sie ein gutes Herz und so weiter.“

Frau Gülek lächelte ihm verschwörerisch zu, als er die Frage stellte. Sein Chef musste ja nicht alles wissen.

„Ja, sie war freundlich. Und fleißig. Und gute Laune sie hat gehabt, meistens.“

„In letzter Zeit auch?“

Ihre Augen blitzten. „Oh nein, in letzter Zeit nicht so gute Laune.“ Sie senkte den Kopf. „Und jetzt tot“, fuhr sie fort und zog die Falten der Mitteldecke glatt.

„Was meinen Sie damit? Wie hat sie sich verhalten?“

„Komisch. Sie erschrak sich immer, wenn mir was runter fiel. Sie schloss immer zwei Mal ab, wenn ich ging. Deshalb ich war erstaunt, dass Tür heute auf war.“

Das war ein wertvoller Hinweis. „Seit wann war das so?“

„Ein, zwei Wochen.“

Conny hatte sich vor jemandem gefürchtet. Das war interessant. Der zeitliche Zusammenhang war augenscheinlich.

„Haben Sie je einen Mann bei ihr gesehen?“

„Ja, manchmal. Zwei, drei Mal, aber nicht der gleiche. Und gerochen. Rasierwasser.“

„Als hätte sich der Mann morgens frisch gemacht.“

„Ja, kann sein.“ Ihre Hände suchten Beschäftigung, sie wischte unsichtbaren Staub vom Tisch.

„Kennen Sie Namen? Oder können Sie einen von ihnen beschreiben?“Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich nix gucken nach anderen Männern. Ich verheiratet.“

Roland hatte noch nie mit einer Türkin geredet. Es gab nicht viele Türken in Paderborn, eher Italiener und Spanier. Mit Frau Güleks Sichtweise und der Vorstellung, dass sie vielleicht an Allah glaubte, konfrontiert zu werden, war für ihn recht ungewohnt. Ob sie denn nie mit ihren Nachbarinnen oder Verwandten über Männer redete? Das konnte doch nicht sein. Doch er wollte nicht nachfragen, es gehörte nicht zum Fall. Er räusperte sich.

„Wo hat Fräulein Stedtfeld gearbeitet? Wissen Sie das zufällig?“

„Firma Kuhlmann, große Firma. Sie hat für ... für kleinen Chef gearbeitet. Wie heißt das …. Junior ….“

„Juniorchef. Wissen Sie, wo sie normalerweise ihre Handtasche oder Papiere aufbewahrte?“

„Schlafzimmer. Da gibt es eine Ecke für Kleider und so. Oder in ihrem kleinen Wohnzimmer.“

„Gut. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was uns weiterhilft, melden Sie sich.“

„Nix mehr putzen jetzt?“ Sie wies auf den Schrubber.

Um Gottes Willen! „Nein, gehen Sie ruhig heim.“

Als sie aufstand und sich eine warme Jacke überzog, verdüsterte sich ihr Blick. „Aber wer bezahlt mich für diesen Monat?“

Er hob bedauernd die Schultern. „Das müssen Sie später klären.“

Sie schmollte noch ein wenig, packte ihre Utensilien zusammen, dann verließ sie die Wohnung.

*

„Was meinst du?“ fragte Kaminski.

Hengsmann stand auf und öffnete das Fenster, um den Zigarettenrauch abziehen zu lassen. „Dass ich hier keine Luft kriege, das meine ich. Da kriegt man ja Asthma.“ Der Lärm drang herein und dazu leider feuchte Luft, angereichert mit Abgasen. Kurzerhand schloss er das Fenster wieder, es brachte nichts außer einer Erkältung.

„Klaus, ich meine den Typen.“

Hengsmann seufzte. „Was soll ich jetzt schon zu dem sagen, nach ungefähr 30 Sekunden? Dass er aussieht wie einer vom Land? Dass er aussieht wie ein Student der Psychologie?“

Kaminski blickte auf. „Er hat studiert? Woher weißt du das?“

Er grinste. „Römer war bis zum Abi in einer dieser strengen Jesuitenschulen in Paderborn, dann Studium der Psychologie in Bielefeld, dann Polizei. Hab einen Blick in die Dokumente werfen können.“

„Klaus, es wird mal ein schlimmes Ende mit dir nehmen.“ Mit diesen Worten kam Kaminski zu ihm und setzte sich mit einer Arschbacke auf den Schreibtisch. „Und? Was stand noch da drin? Warum ist der so toll, dass er direkt zu uns kommt?“

Hengsmann lehnte sich zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. „Naja, er hat Beziehungen. Hat ihm wohl einer dabei geholfen.“

„Ach, so einer.“ Kaminski schob die Unterlippe vor. „Dabei sah der ganz intelligent aus.“

Hengsmann verdrehte die Augen. „Ralf, wenn jemand vier Semester Psychologie durchhält, ist der intelligent. Oder verrückt.“

„Ach, so einen Psycho-Heini von der Uni brauchen wir doch gar nicht. Denkt der etwa, dass Mörder immer durchgeknallte Verrückte sind? Das sind sie nicht, das weiß jeder von uns.“

Hengsmann wiegte den Kopf. „Du weißt doch, wie das jetzt ist. Die Polizei gibt sich nicht mehr mit Volks- und Realschülern wie uns beiden zufrieden. Wir werden jetzt wissenschaftlich und Psychologie gehört dazu. Ich habe mal gelesen, dass es beim FBI ...“

Doch Kaminski unterbrach ihn. „Was haben wir mit dem FBI zu tun? Und sonst noch?“

„Nur das übliche. Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei in Bruchsal. Dann zur Kripo Paderborn. Gute Ergebnisse und so.“

Kaminski zog die Augenbrauen hoch. „Bruchsal?“

„Ja, keine Sorge. Der hat von der Pike auf gelernt. Und beim Bund war er auch schon.“

Kaminski nickte. „Also keiner von diesen Drückebergern.“

Hengsmann ließ ein mahnendes Schnalzen hören und Kaminski kehrte zu seinem Platz zurück. Damit war das Thema Römer für Hengsmann aber noch nicht erledigt. Er fragte sich nämlich, warum der Chef nicht wie sonst seinen Liebling Kaminski mitgenommen hatte. Eine tote Sekretärin war doch etwas für den Kollegen Hans Dampf in allen Gassen, der vom Rosenmontag noch etwas angeschlagen war. Baumann hatte geflunkert, als er die Arbeit vorgeschoben hatte. Es war relativ ruhig für die Zeit nach dem Karneval mit seinen Prügeleien, Übergriffen auf Frauen und Diebstählen. Hengsmann zog eine dünne Mappe aus der Schublade, er musste noch einen kurzen Bericht zu einem erledigten Fall schreiben. Baumann legte nämlich Wert auf eine ordentliche Abwicklung. Mit einem Seufzen holte er das Kohlepapier aus dem Regal, legte es zwischen zwei Blätter und spannte alles auf die Walze. Mit zwei Fingern tippte er das, was er zu sagen hatte, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu dem neuen Kollegen mit dem dunklen Wuschelhaar und dem wachsamen Blick aus braunen Augen. Warum nahm der Chef ihn mit?

*

„Mädsche, weißt du es denn noch nischt?“ Die ältere Frau vor der Haustür sah Anke mit fast begieriger Miene an, als wäre sie glücklich darüber, mehr zu wissen als sie.

„Nein, ich weiß nichts“, antwortete Anke hilflos und sah auf die Armbanduhr. Ihre Mittagspause war fast vorbei und sie hatte doch nur eben Conny besuchen und Trost spenden wollen. Es war das erste Mal, dass sie an ihrem Wohnhaus war – und dann stand dort ein Aufgebot an Streifenwagen. Jetzt kam ein Bulli dazu. Drei Männer stiegen aus und holten mit ernster Miene kleine Koffer aus dem Innenraum.

„Na, de Conny is dod. Mausedod.“

Ein kalter Schauer zog über Ankes Rücken. Das konnte sie nicht glauben, nicht jetzt, nicht ausgerechnet jetzt. Das musste ein Irrtum sein.

„Nein…“ hauchte sie.

Die Frau nickte. „Doch, det arme Mädsche. De Putzfrau sachte, se hätt inner Wanne jelegen, janz nackisch. Die Augen janz weit offjerisse.“

„Aber … aber was ist ihr denn passiert?“ Dabei ahnte sie schon, was geschehen war. Logisch, Conny war …

„Wohl ermordet. Deshalb die janze Bullerei hier.“ Die Frau nickte wissend. Anke holte tief Luft. Dann ging sie langsam rückwärts. Es kam ihr vor, als würden die Fenster sie ansehen und das Haus seine Klauen nach ihr ausstrecken. Conny, die arme Conny. Am Fenster des Treppenhauses stand ein junger Mann und sah hinaus. Ihre Blicke trafen sich. Anke zuckte zusammen, doch sie konnte nicht verhindern, dass der Mann sie verwundert ansah, die Augenbrauen zusammenzog und sie mit dem Zeigefinger heranwinkte. Sie sollte zu ihm kommen! Das war ein Polizeibeamter! Anke erschrak, dann drehte sie sich um, lief zurück zu ihrem kleinen Klapp-Fahrrad und trampelte los. Ihr Herz schlug wie verrückt und erst, als sie außer Atem vor dem Gerichtsgebäude angekommen war, fühlte sie sich sicher. Aber konnte sie wirklich sicher sein? Was, wenn der Mörder auch sie … Nein, das war Unsinn. Mit zitternden Händen stellte Anke das Fahrrad ab und ging die Treppe des Amtsgerichts hinauf.

*

Als Roland nun wirklich allein war, kehrte er noch einmal ins Bad zurück und sah sich die Leiche genauer an. Die Augäpfel waren mit hauchdünnen Äderchen durchzogen. Er registrierte, dass die Haut trotz Totenstarre weich wirkte. Warum hatte der Mörder das Wasser abgelassen? Oder war das im Todeskampf geschehen? Die langen roten Fingernägel wiesen kaum Beschädigungen auf, nur ein Nagel war abgebrochen. Nun, all das würde die Spurensicherung herausfinden.

Bei der Inspektion war ihm ein wenig unwohl zumute, wie jedes Mal, wenn er Wohnungen von Opfern besichtigte. Er drang in die Privatsphäre ein, legte Vorlieben und Macken offen und enthüllte Geheimnisse. Doch immer wieder überwog die Neugier über das verborgene Leben eines Menschen, den man überhaupt nicht kannte.

Er fand im Spiegelschrank einen Trockenrasierer und eine noch eingepackte Zahnbürste, aber keine weiteren Anzeichen dafür, dass ein bestimmter Mann öfter als gewöhnlich hier übernachtet hatte. Eine Packung mit winzig kleinen Pillen, die man jeden Tag nehmen musste, lag dort noch. Sieh an, dachte er. Conny hatte die Pille genommen.

Im Schlafzimmer stand ein großes Bett mit Bettzeug aus goldfarbenem Satin, erhellt vom Licht der orangen Lampe. Er zog eine Schublade des Nachttisches auf. Dort lag, zwischen seidigen Schlüpfern verschämt verborgen, eine Packung Kondome. Die Pille und dazu noch Kondome? Das erschien ihm ungewöhnlich. Conny ging auf Nummer sicher.

In einem kleinen Ankleidezimmer fand er nicht wenige Kleidungsstücke und passende Schuhe, dazu drei Handtaschen, die jedoch alle leer waren bis auf ein Taschentuch, das nach Kölnisch Wasser roch und ihn an seine Mutter erinnerte. Wäsche, Strümpfe, keine Papiere.

Das Wohn- und Esszimmer war modern gehalten. Tapeten mit großflächigem Muster, ein braunes Ledersofa, ein weißer Schrank, eine Bar mit Tresen, zwei benutzte Weingläser, zwei weiße Hocker aus Kunststoff. Ein heller Flokati, der üppige Gummibaum, über dem Esstisch drei tief hängende Kugellampen. Und ein Blumenstrauß aus roten und weißen Rosen, der zusammen mit einem Aschenbecher auf dem niedrigen Wohnzimmertisch stand. Das Wasser in der Glasvase sah klar aus. Ein goldfarbenes Etikett klebte noch auf einem der Blätter: Blumenhaus Döbener. Ein kleines glitzerndes Glücksschweinchen war in den Strauß eingearbeitet und lächelte ihn freundlich an. Wer hatte diesen Strauß mitgebracht? Roland ließ den Anblick der Blumen und seine inneren Bilder dazu eine Weile sacken, dann drehte er sich um. Auf einem Unterschrank stand ein wie neu wirkender Fernseher, sicher ein Buntfernseher. Auf den ersten Blick war kaum zu erkennen, dass jemand hier etwas gesucht hat. Doch er ließ sich nicht täuschen. Ein, zwei Schubladen des Schrankes waren nicht richtig geschlossen worden, im Inneren lag nichts ordentlich gestapelt, sondern irgendwie durcheinander. Er durchsuchte vorsichtig die Schubladen, wo er Versicherungspolicen, Lohnabrechnungen und eine Geburtsurkunde fand, die er interessiert las. Kornelia Stedtfeld war in Bonn geboren und 26 Jahre alt. Nur ein Jahr jünger als er selbst.

Zum Schluss hätte Roland beinahe einen Raum übersehen, der sich dem Wohnzimmer anschloss: ein gemütliches Zimmer, ausgestattet mit Sofa, bestickten Kissen und einem Radio. Einfache Drucke hingen an den Wänden, ein Stapel Romanhefte lag auf einer Kommode neben einem Kerzenleuchter. Das Telefon stand auf einem niedrigen Ecktisch. Hastig öffnete er das Kästchen mit den Karteikarten, das er daneben fand. Einige Namen und Nummern waren notiert, die Schrift war schon leicht verblasst. Kurzerhand steckte er das Kästchen in seine Jackentasche und ließ den Raum auf sich wirken.

Hier hatte sich Conny wohlgefühlt, dies war ihr Reich, die kleine Stube, nicht die gute Stube für Besucher. Das Fenster ging auf einen Garten hinaus. Am Himmel schoben sich zaghafte Sonnenstrahlen durch die letzten Regenwolken.

Die Kommode, in der ebenfalls die Schubladen offenstanden, enthielt Fotoalben, ein Buch über Büroorganisation, diverse Zertifikate für Büroberufe, ein Sparbuch mit 2000 DM Guthaben und Kontoauszüge, dazu ein Umschlag mit 200 DM. Flüchtig blätterte er durch das Album, doch es enthielt nur ältere Familienfotos. Schließlich packte er das Geld und die wichtigsten Dokumente in eine Plastiktüte, die er in einem Küchenschrank entdeckte. Keine Handtasche mit Papieren, keine Geldbörse und auch kein Taschenkalender, in den sie ihre Termine und Treffen eintrug, wie es junge Frauen eben so machten.

Nachdem er noch vergeblich geprüft hatte, ob sich Drogen oder ungewöhnliche Medikamente im Bad und in den Dosen für Müsli und Kaffeepulver befanden, wartete er noch eine Weile auf dem Sofa im kleinen Zimmer auf die Spurensicherung. Sein Fuß stieß an ein Knäuel Wolle, das dazugehörige Strickzeug war unter den Tisch gerutscht.

Warum hatte jemand so viel Hass auf eine junge Frau, die ihr Leben selbst meisterte? Wer waren ihre Freunde gewesen?

Er stellte sich vor, wie Fräulein Stedtfeld ihr Strickzeug aus der Hand legte, weil es klingelte. Wie sie das Radio ausstellte, ihren Gast empfing, sich über die Blumen freute und sie behutsam in eine Vase stellte. Dann der Wein, vielleicht ein gemeinsames Bad. Was für eine Atmosphäre hatte geherrscht? Vertrautheit? War ihr Lachen über seine Bonmots echt gewesen? Hatte er seinen Charme spielen lassen? Warum waren die beiden denn nicht in ihrem kleinen Zimmer gewesen, sondern in der guten Stube, wie die Weingläser ihm sagten? Waren sie nicht so miteinander vertraut? Schämte sie sich für ihr kleines Reich? Und warum der tödliche Umschwung im Bad? Gab es einen Streit? Warum jetzt erst und nicht schon beim Vorgeplänkel im Wohnzimmer? Bevor ein Mord stattfand, gab es oft einen Streit, der vielleicht schon lange schwelte. Etwas, das am Täter genagt haben musste … Er hatte es unterdrückt, bis – ja, bis was? Und was sollte die Durchsuchung? Wollte der Täter die Ermittlungen in die falsche Richtung lenken? Dazu passte, dass die Handtasche nicht auffindbar war.

Fakten, Roland, Fakten, rief er sich zur Ordnung. Keine Psychologie!

Als es an der Wohnungstür klingelte, zuckte er zusammen, dann öffnete er drei Männern, die mit Koffern und einem Fotoapparat im Treppenhaus standen. Sie hielten bereits ihre Latexhandschuhe in der Hand.

Im Treppenhaus des ersten Geschosses hielt Roland inne, blickte aus dem Fenster und dachte über seine nächsten Schritte nach. Unten hatten sich anscheinend die Nachbarn versammelt. Unter ihnen fiel ihm eine junge Frau auf, blond, akkurat gekleidet. Eine ältere Frau redete auf sie ein, sie wurde blass und ihr Ausdruck verriet deutlich, dass sie sehr betroffen war. Aber nicht in der Weise wie die Nachbarn, es gab kein Anzeichen von Sensationsgier oder dem Bedürfnis nach Tratsch und Klatsch. Er war sicher, diese Frau war persönlich betroffen, geradezu schockiert. Vielleicht eine Freundin. Da, nun sah sie zu ihm hinauf, mit weit aufgerissenen Augen, in denen er ihre Fragen geradezu lesen konnte. Er hielt ihren Blick fest und winkte sie mit dem Zeigefinger heran, etwas Besseres fiel ihm gerade nicht ein. Sicher würde sie warten, bis er unten war. Doch da schüttelte sie sachte den Kopf, ging ein paar Schritte rückwärts. Verdammt, sie wollte verschwinden! Roland presste fast die Nase an die Scheibe, doch die junge Frau drehte sich um und rannte davon.

Mist!

*

Nachdem Roland über sein Missgeschick ausreichend geflucht hatte, wandte er sich den Nachbarn zu. Die junge Frau musste warten. Als er vor der Wohnung gegenüber stand, die laut Klingelschild ein Andreas Sander bewohnte, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er klingelte und fixierte ungerührt den Spion in der Tür. Sofort öffnete sie sich, sodass sein Verdacht bestätigt wurde: ein neugieriger Nachbar. Ein junger Mann mit schulterlangen Haaren, bekleidet mit einem Rollkragenpullover und einer Jeans mit weitem Schlag, sah ihn teilnahmsvoll an, als bedauere er, dass Roland nun seinen Dienst tat.

„Da ist was passiert, nicht wahr?“, fragte er.

Da fiel Roland ein, dass er noch nicht einmal einen Dienstausweis hatte. „Inspektor Römer von der Kriminalpolizei. Herr Sander?“

„Genau der.“

„Es geht um Fräulein Stedtfeld. Leider wurde sie tot aufgefunden.“

Sander riss die Augen auf und trat einen Schritt zurück. „Kommen Sie rein.“

Roland betrat eine typische Studentenbude – klein, unordentlich und kunterbunt. Sander bot ihm einen Platz auf dem abgesessenen Sofa an, er selbst warf sich in einen knallroten Sitzsack und strich sich nervös über das Haar.

„Ich habe mir sowas schon gedacht“, murmelte Sander und schüttelte den Kopf.

„Was haben Sie sich gedacht?“ bohrte Roland sofort nach. Solch spontanen Aussagen ging er gern auf den Grund, sie brachten oft ein wichtiges Detail hervor. Oder Fakten für den Chef.

„Dass da was passiert ist. Die zeternde Putzfrau, die Bullen, dann Sie. Ist doch logisch.“

„Sonst nichts?“

„Nein.“

Roland starrte ihm direkt in die Augen, worauf der Mann sich die Lippen leckte und zu Boden sah, aber nichts mehr von seinen Gedanken preisgab. Roland war auf der Hut.

„Sind Sie berufstätig? Oder studieren Sie?“

Sander nickte. „Deutsch und Sport fürs Lehramt.“

„Kannten Sie Fräulein Stedtfeld gut? Sie sind ja ungefähr im gleichen Alter.“ Roland holte den Notizblock und einen Bleistift aus der Innentasche der Lederjacke, um sich den Namen zu notieren.

„Gut nicht, nein. Manchmal haben wir etwas gequatscht, auf der Treppe. Und als sie einzog, hat sie mir ihren Ersatzschlüssel gegeben. Falls mal was ist mit dem Wasser oder dem Strom.“

Das war interessant. „Wo haben Sie den Schlüssel? Den würde ich gern an mich nehmen. Sie braucht ihn ja nun leider nicht mehr.“

„Stimmt auch wieder.“ Sander stand auf und ging zu einem alten Holzschreibtisch, wo er eine geschlagene Minute lang in einer Schublade wühlte. „Irgendwo muss er doch sein ...“ Diese fast demonstrative Suche gefiel Roland nicht. Wollte Sander ihn verarschen?

„Ah, hier ist er!“

Er überreichte ihm den kleinen Schlüssel, ohne ihn dabei anzusehen. „Ist es ein Mord gewesen? Oder Totschlag?“

Roland ignorierte die Frage, versuchte nur wieder, ihm in die Augen zu blicken und fragte: „Haben Sie gestern Abend oder im Lauf der Nacht irgendetwas oder irgendjemanden gesehen, gehört, bemerkt? Einen Streit, das Klingeln eines Besuchers, Türenschlagen oder etwas anderes?“

Sander hob die Schultern. „Tut mir leid. Ich war gestern Abend im Friesenviertel, hab mit einem Kumpel den Veilchendienstag ausklingen lassen, in einer Kneipe.“

„Wann genau?“

„Von acht bis halb zwölf oder so. Weiß ich nicht mehr genau. Danach bin ich sofort schlafen gegangen.“„Name und Anschrift Ihres Freundes bitte.“

Nachdem er ihm die nötigen Angaben gemacht hatte, überlegte Roland, was er sonst noch fragen konnte. Die beiden Personen waren Nachbarn. Conny Stedtfeld war tagsüber arbeiten, während er in der Uni saß. Abends ging Conny vielleicht früh schlafen, während Sander ein fröhliches Studentenleben führte. Er musste ein Gefühl für Conny bekommen, denn momentan war sie ein schwammiges Etwas, eine unklare Vision.

„Was für ein Mensch war sie?“

Sander sah ihn überrascht an und blies auf der Suche nach einer Antwort die Backen auf. „Wie war sie? Naja, meist gut gelaunt, sie war recht offen und freundlich. Nette Frau eben.“

Das deckte sich fast mit den Angaben von Frau Gülek.

„Und in letzter Zeit?“

Sander hob die Schultern. „Hab sie in letzter Zeit kaum gesehen.“

„Wann zuletzt?“, fragte Roland.

Sander dachte eine Weile nach. Irgendetwas beschäftigte ihn, denn er rieb sich die Nase und er blinzelte häufiger, als es normal war. Übersprungshandlungen, wusste Roland. Warum war er plötzlich so nervös? Es war doch nur eine normale Frage gewesen.

„Das weiß ich gar nicht so genau. Ich glaube, ich hab ihre Schritte gehört, als sie gestern Nachmittag heimkam. Und heute morgen habe ich länger geschlafen und nichts gehört. Bis die Putzfrau Terror im Haus gemacht hat.“

„Haben Sie Männer gesehen, die sie besucht haben?“

Er wiegte den Kopf. „Hin und wieder. Ich würde sagen, zwei Männer, die sie manchmal hereingelassen hat. Aber ich bin ja nicht immer hier und es geht mich auch nichts an.“

Roland dachte sich seinen Teil und fragte weiter: „Wie war so der Tagesablauf Ihrer Nachbarin?“

Der Mann machte eine vage Geste. „Keine Ahnung. Normal. Sie ging morgens arbeiten und kam am Nachmittag wieder, so um drei, halb vier. Danach war sie vielleicht mal einkaufen oder ihre Freundin besuchte sie.“

„Eine Freundin? Kennen Sie den Namen?“

„Nein, ich habe sie nur manchmal gesehen. Braune Haare, groß, hübsche Frau.“

Braune Haare, groß? Die Unbekannte draußen war eher klein gewesen. „Kennen Sie auch eine Freundin mit blonden Haaren, eher zierlich?“

„Nein, nie gesehen.“

„Wenn Sie diese braunhaarige Dame in den nächsten Tagen hier zufällig sehen, geben Sie ihr doch bitte Bescheid, sich auf dem Präsidium Köln-Kalk zu melden.“ Roland erhob sich.

„Mach ich.“ Sander begleitete ihn zur Tür. „Viel Erfolg noch.“

Roland registrierte, dass dieser Wunsch aufrichtig klang, und sah ihn noch einmal an. Sanders Blick war offen, das Blinzeln hatte er eingestellt.