Askeria: Stadt der Fragmente - Juliet May - E-Book

Askeria: Stadt der Fragmente E-Book

Juliet May

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Beschreibung

Risse in längst vergessenen Farben überziehen den Himmel über Mitaeria. Ungläubig müssen die Menschen mitansehen, wie der erste der sieben Souveräne sich in ihrer Mitte niederlässt. Unter dem Schutz der Götter stehend, kann selbst der Orden Corasils ihm nichts anhaben. Der perfekte Nährboden für Unruhen und Gerüchte, die durch das Auftauchen eines unheilverkündenden Barden weiter entfacht werden - und in all diesem Chaos verschwindet ein gezeichnetes Kind. Getrieben von Schuld flüchten Piara und Souta sich in die Arme des Feindes. Immer häufiger suchen sie seltsame Erinnerungen ihres Bruders heim: kristallene Fragmente, ein Echo der Vergangenheit, das sich auch anderen Mitgliedern Askerias offenbart. Mit Band 3 der Reihe fügen sich weitere Scherben eines Spiegels zusammen, der uns den dunkelsten Ort einer zerbrochenen Seele zeigt. Zwischen Hoffnung und Schmerz, Sehnsucht und Reue, stellt sich eine Frage: Für das Schicksal dieser Welt, einen Menschen, den du verloren hast, und die Chance, alles Ungesagte endlich auszusprechen: Wie weit würdest du gehen?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ruinen

Auf Silberschwingen

72 Stunden

Ich will dir was versprechen

Kleines Nachwort

Danksagung

Playlist

Juliet May

Stadt der Fragmente

Askeria – Band 3

Fantasy-Roman © 2021 Juliet May

Juliet May

Rogue Books I.Service

Carolin Veiland

Franz-Mehring-Str. 70

08058 Zwickau

[email protected]

https://julietmay.at

Social Media: @prinnycup

Für alle, deren Reise schon länger her ist …

… folgt auf den nächsten Seiten eine kleine Zusammenfassung, um euch den Wiedereinstieg in die Welt von Askeria zu erleichtern.

Das Universum

Zwei Drittel des Planeten Xist gedeihen im Sonnenlicht. Die Menschen bevölkern den dort gelegenen Kontinent Mitaeria und huldigen ihrem Gott, Corasil, dessen Lehren die einzig zugelassene Religion entsprungen ist. Malluma liegt hingegen in völliger Dunkelheit. Es ist die Heimat der Ceri, die mit schimmernder Haut und Hörnern nach dem Ebenbild des Gottes Valeris erschaffen wurden. Seit jeher existieren Geschichten darüber, wie es zur Trennung der beiden Völker kam. Die Ceri gelten als gefährliche Wesen, die nur aufgrund ihrer niederen Gesinnung vom Angesicht der Sonne verbannt wurden und nun ihr Dasein in Dunkelheit fristen müssen. Dass diese Zuschreibungen und düsteren Legenden über die Ceri nicht der Wahrheit entsprechen, zeigt sich im Laufe der ersten beiden Bände von Askeria mehr als deutlich.

Die Bücher der Menschen sprechen von zwei Monden, die den Planeten umgeben: Während Azethaneris schneller um Xist kreist und für einen regelmäßigen Rhythmus aus Tagen und Nächten sorgt, schiebt sich Nerva nur alle paar Wochen zwischen die Sonne und den Planeten. Dieses Phänomen ist als Smaragdnacht bekannt. Das grün schimmernde Licht verleiht dem gesamten Kontinent eine mystische Atmosphäre und ist außerdem dazu in der Lage, Luft und Gewässer zu reinigen. Den technologischen Fortschritt verdanken Menschen und Ceri der Kultivierung von Kristallen des Mondes Azethaneris, dessen Licht sie unentwegt mit neuer Energie anreichert. Azeth-Magie ermöglicht unter anderem Teleportation, den Antrieb von Zügen und Schiffen, die Erschaffung künstlichen Lichts und Verwendung von Warmwasser.

Verbotene und weitestgehend ausgelöschte Aufzeichnungen erzählen jedoch von drei Monden, die Xist umgeben: Neben Azethaneris und Nerva soll es den rot schimmernden Trabanten Gol geben. Der zweite Band von Askeria endet mit dem Wiedereintritt dieses Mondes, nachdem er hinter einer vom Orden Corasils erschaffenen Kuppel aus Magie über Jahrhunderte hinweg von Xist abgeschirmt worden war.

Die Suche nach der Wahrheit

Der erste Band widmet sich der Reise von Piara und ihrem älteren Bruder Souta, die zu Beginn der Geschichte aus ihrem Heimatdorf fliehen. Ihr Bruder Ineas, der ihnen die Flucht ermöglicht hat, bleibt jedoch zurück. Schatten durchbohrten ihn, nachdem er dem Orden von Corasil Widerstand geleistet hatte. Piara gibt sich die Schuld an allem, was passiert ist, da sie mit einem Mal der Ceri gezeichnet ist: Kleine, spitze Hörner ragen aus ihrem Kopf, die sie unter gekonnt gesteckten Haarballen verbirgt.

In Ascot, einer dicht bevölkerten Hafenstadt, bemerkt Piara, dass Souta zunehmend herumschleicht und Geheimnisse vor ihr hat. Als er sie verlässt, um einer Aufgabe nachzujagen, reist sie selbst überstürzt ab, um zurück nach Clay zu gehen. Dort wird sie jedoch abermals von den Schatten mit ihren schlimmsten Gedanken, Ängsten und Zweifeln konfrontiert. Sie glaubt, Ineas zu sehen und kann sich nur mit Mühe zurück ins nächste Dorf schleppen. Dort lauern jedoch bereits Mitglieder des Ordens, von denen Piara aufgegriffen wird.

Rigoras, Sohn des obersten Clanführers von Fayon, kommt ihr im letzten Moment zur Hilfe. Er hatte von der Kirche den Auftrag bekommen, nach einem Kind aus Clay zu suchen und es dem Orden auszuliefern. Stattdessen nimmt er Piara jedoch mit nach Myrefall. Erst später offenbart Rigoras ihr, dass er und Piaras Brüder gemeinsam aufgewachsen sind und seit Kindertagen eng befreundet sind. Obwohl er ihre Hörner unterwegs bei einem Unfall zu Gesicht bekommt, liefert er Piara nicht aus, da auch er ein Geheimnis verbirgt: eine tiefe, unebene Narbe, zwischen der die schimmernde Haut eines Ceri nachgewachsen ist. Diese Gemeinsamkeit veranlasst sie dazu, Nachforschungen anzustellen. Beide haben seit jeher das Gefühl, dass alle um sie herum etwas zu verbergen haben. Die Zeit, die Piara und Rigoras miteinander verbringen können, ist jedoch begrenzt: Aufgrund seiner Hochzeit mit Senia, der ältesten Tochter des Takamori-Clans, blieben ihnen nur drei gemeinsame Monate.

Piara erfährt von Vahel, einer Art Zwischenwelt, in der sich Restenergie und die Seelen Verstorbener sammeln. Starke Gefühle können diesen Ort beeinflussen und formen. Rigoras vermutet, dass Souta sich dort aufhalten könnte. Er verrät Piara außerdem, dass es sich bei Askeria um eine Gilde aus Trissae handelt, die ihre Eltern vor ihrer Geburt gegründet haben. Auch Hattou, sein Vater, sowie Marcie, seine Leibwächterin, zählen zu den Gründern. Piara und Rigoras kommen sich näher, obwohl sie genau weiß, dass er einer anderen versprochen ist. Als die Hochzeit bevorsteht, trennen sich die beiden schweren Herzens voneinander, ehe sie gemeinsam mit Marleen, einer jungen Novizin des Ordens von Corasil, nach Trissae aufbricht.

Dort läuft sie Tesiph, einer temperamentvollen Schmiedin, in die Arme, die sie mit nach Askeria nimmt. Es stellt sich heraus, dass sie, genauso wie Souta, Ineas und Piara eine Nachfahrin der ursprünglichen Gründer ist: eines jener Kinder, für die Askeria aufgebaut worden war. Die Gilde steht für die stille Rebellion gegen den Orden von Corasil und soll den Hinterbliebenen aller Forscher verbotener Wissenschaften ein Zuhause sein. Leider kann ihr jedoch auch in Askeria niemand Genaueres darüber sagen, wo Souta hingegangen ist.

Die Nachricht von der Verhaftung Hattous wegen Besitzes verbotener Literatur trifft Piara unerwartet und heftig. Lange Zeit, dieses Ereignis zu verarbeiten, bleibt ihr jedoch nicht: Senia taucht in der Gilde auf und erzählt ihr, dass Rigoras spurlos verschwunden ist. Zusammen mit Tesiph reisen die beiden jungen Frauen nach Jedroya, der nördlichsten Provinz Mitaerias, in der stets Frost und Kälte herrschen. Alten Aufzeichnungen zufolge, soll es dort eine Verbindung nach Vahel geben. Piara glaubt, Rigoras dort zu finden. Ihnen stellt sich jedoch Yrea entgegen, eine Ceri, über die zahlreiche finstere Legenden existieren. Ein erbitterter Kampf bricht aus, den Piara und die anderen nur durch Soutas Einschreiten für sich entscheiden und aus Vahel fliehen können. Dabei verletzte er sich jedoch so stark, dass er mit dem Tod ringt.

Obwohl Piara überglücklich ist, ihren Bruder wieder bei sich zu haben, quälen sie immer mehr Fragen und Zweifel. Souta offenbart ihr, dass er Blutmagie beherrscht, eine verbotene und nur den Ceri zugeschriebene Magieform. Außerdem erfährt sie, weshalb er und Ineas Piara ihr ganzes Leben lang beschützen sollten: Ihre Hörner sind ein Zeichen Lycenars, einem der sieben Souveräne der Ceri, der sie als seinen Spross ausgewählt hat. Um ihn wieder freizusetzen und Mitaeria so vor dem Untergang zu bewahren, muss Piara jene Sünde wiederholen, für die Lycenar einst verurteilt und vom Angesicht Xists verstoßen wurde: ihren Bruder zu töten. Während sie sich zunächst weigert, auch nur über diese absurde Offenbarung nachzudenken, kann Souta sie nach und nach davon überzeugen, dass er einen Weg gefunden hat, Ineas zu retten, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt.

Das Seelenfeuer als letzte Hoffnung

Soutas Zeit in Malluma ist geprägt von Gewissensbissen, unermüdlichem Training und selbstauferlegtem Druck. Bereits in Ascot hatte er Hinweise gefunden, dass ihr Vater noch lebt. Während er diesen nachjagt, lässt er Piara schweren Herzens zurück und reist auf den dunklen Kontinent Malluma, wo er Drandon nach über fünfzehn Jahren tatsächlich wieder gegenübersteht. Er hatte jahrelang nach einer Möglichkeit gesucht, bei der Piara ihre Aufgabe zwar erfüllt, den anderen sechs Gezeichneten jedoch gleichzeitig erspart, den Sünden der Souveräne zu folgen. Ein spezielles Material, aus denen sie einen Dolch schmieden, soll es Piara ermöglichen, Ineas den Todesstoß zu versetzen und Lycenar nach seiner Wiedergeburt zu töten, um den Kreislauf der Sieben zu durchbrechen. Monate vergehen, in denen Souta sich mit seiner Gabe der Blutmagie vertraut macht, um Ineas wiederzubeleben, wenn Piara ihre Aufgabe erfüllt hat. Seine Verbindung zu Lia, einer Ceri und jungen Meisterin dieser uralten Disziplin, entpuppt sich als letzter Anker in seinem Vorhaben: Die beiden teilen sich eine Seele, die vor Jahrtausenden von den Göttern getrennt worden war.

Die Verurteilung von Hattou hat zur Folge, dass nicht nur Rigoras’ Ehe annulliert wird, sondern sein Vater der Todesstrafe entgegensieht. In einer waghalsigen Aktion gelingt es Souta und Drandon, Hattou aus dem Gefängnis zu befreien. Die beiden Väter fliehen nach Malluma, während Rigoras seiner Halbschwester Aerin temporär all seine Ämter überschreibt und zu den anderen stößt.

Bei dem Versuch von Souta und Lia, ihr Seelenfeuer zu entfachen, taucht Lycenar auf. Piara muss mitansehen, wie Ineas ihren Bruder angreift und mit sich in den Tod reißen will. In ihrer Verzweiflung gibt sie sich Lycenars Versprechen hin, den Todeskampf ihrer Brüder zu stoppen, wenn sie ihn in seine Seele lässt. So, wie es die Welt von ihr erwartete, stößt sie Ineas den Dolch zwischen die Rippen und hofft auf Soutas Magie, um ihm das Leben zu retten. Doch trotz all ihrer Bemühungen und Opfer geschieht rein gar nichts. Zum Entsetzen aller manifestiert sich Lycenars Gestalt vor ihnen. Sein Deal mit Piara ermöglichte es dem Souverän letztendlich, dem Todesstoß zu entrinnen, als er mit Ineas verschmolzen war.

»Caraleris.

Die Stadt meiner Erinnerung. Die Stadt meiner Träume.

Die Stadt, in die ich nie wiederkehren wollte.

Doch erst jetzt sehe ich sie für das, was sie wirklich ist:

Ein Ort mit tausend Türen, die nur existieren,

um das Innere ihrer Kammern zu schützen:

Szenarien, geboren aus den Fragmenten meiner Seele.

Erinnerungen, mit blutenden Splittern verwoben, bilden Mauern.

Sich selbst zu behüten, ist ihr Ziel.

Sie stützen und formen diesen Ort, um ewig fortzubestehen.

Es sind Mauern, die entzweien und willkürlich ihre Schranken ziehen.

Unüberwindbar für jeden, der ihnen fremd ist.

Tiefe Verzweiflung mit purem Glück, zwei Gegensätze,

die einander genügend Halt geben, um zu existieren; hier, in Caraleris.

Geschützt und verborgen, umgeben von einem Friedhof,

der die Leichen jener Erinnerungen birgt, die gekämpft haben.

Gekämpft und verloren gegen eine Übermacht, mit der sie nicht gerechnet hatten. Lichtdurchflutet bleiben die Hallen hinter meinen Mauern zurück,

zerstört von dieser Macht, der sie nichts entgegensetzen konnten:

Liebe.«

Der Kontinent Malluma

Im Gegensatz zu Mitaeria gliedert sich Malluma nicht in Provinzen, sondern besteht aus zwölf autonomen Ländern:

1. Aspana

2. Prau-Flela

3. Chioze

4. Driola

5. Ot’rana

6. O’bren

7. Espring

8. Oclya’n

9. Aluria

10. Ecros

11. My

12. Ye

Eine Landkarte findet ihr hier:

Der Kontinent Mitaeria

Der Kontinent gliedert sich in acht Provinzen:

1. Acea Liore mit der Hauptstadt Ilyria: Sitz des Ordens von Corasil.

2. Vrin: Spezialisiert auf Azeth-Magie, liegt jenseits enger Gebirgsketten.

3. Iporaz: Sitz der Geisteswissenschaften. Regenreich und städtisch.

4. Sithrieta: Flüsse, tiefe Gewässer und weite Ebenen, eher ländlich.

5. Fayon: Dicht bewaldete und naturbelassene Region im Süden.

6. Saetam: Vielseitige Wüsten- und Steppenlandschaft im Süd-Westen.

7. Jedroya: Kalte Bergregion im Norden. Bekannt für seine Bodenschätze.

8. Mim’Atoll: Inselgruppe mit warmem Klima und vielfältiger Kultur.

Eine Landkarte findet ihr hier:

Prolog

In düstere Wolken und Dunst gehüllt lag sie vor ihnen, die Cograt Wüste. Doch was einst einem Paradies aus roten Sanden glich, bestand nur noch aus Tod und Zerstörung; und selbst das war untertrieben. Ihre einstige Heimat hatte mehr als nur ihren Glanz verloren: Sie zeigte sich finster und kalt, ein Gräuel der Verheerung.

»Alles okay? Wir können jederzeit umkehren, wenn du …«

Piara schüttelte den Kopf und blickte zu Souta auf, den sie in dem dichten Sandgestöber kaum erkannte. »Lass uns weitergehen. Lia meinte doch, dass es nicht mehr weit sein kann, stimmt’s?«

»Richtig.« Ein Moment verstrich, in dem ihr Bruder seinen Gedanken nachhing. »Das waren ihre Worte, ja.«

Piara spürte einen Arm um ihren Rücken, als sie sich wieder in Bewegung setzten und dem Sturm trotzten.

»Bleib dicht bei mir, falls es noch dunkler wird.« Souta zog den Kragen seiner Jacke schützend über den Nacken, ehe er auch seinen Schal enger wickelte. Es war kalt hier, fast schon eisig. Und abermals stellte Piara fest, dass dieser Ort nichts mehr mit den Weiten Saetams gemein hatte, die sie bereits ihr Leben lang kannte.

Seit ihrer Flucht, seit dem Angriff auf Clay und den Schatten, die ausgeschwärmt waren, lag dieser Teil der Wüste für alle Menschen hinter geheiligten Barrikaden abgeriegelt. Piara erinnerte sich an ihren eigenen Versuch im vergangenen Jahr, dieses Gebiet zu durchqueren. Doch was ihr damals eine Gänsehaut beschert und sie Vahel nahe gebracht hatte, erschien ihr im Vergleich zu dem Bild, das sich ihr hier nun bot, wie ein Spaziergang. Vahel. Ein Ort, der sich mit Worten kaum beschreiben ließ: Zwischen Mitaeria und der Welt der Seelen gelegen, sammelten sich dort sämtliche Überreste, die aus der Sphäre der Lebenden geschieden waren. Beständigkeit gab es hier nicht, was sich in den bizarrsten und albtraumhaftesten Szenarien zeigte: Einzelne Knochen ragten aus dem Sand empor, unvollständige Gerippe sowie zusammengewürfelte Pflanzen, die es in dieser Form nicht geben konnte, wechselten einander ab.

Damals hatte es Stunden gedauert, bis die Dunkelheit über Piara hereingebrochen war – diesmal hingegen erreichte nicht ein einziger Sonnenstrahl den ausgetrockneten Boden unter ihren Füßen, seit sie und Souta das Jonaugebirge verlassen hatten. Selbst Yoridien, in dem sie einst Zuflucht gefunden hatte, war inzwischen von den Schatten verschluckt worden. Was wohl mit den Menschen geschehen war? Mit den vielen Händlern, Bewohnern und Reisenden, die dort täglich ein- und ausgegangen waren? Der Gedanke an ihr Schicksal ließ Piara noch mehr frösteln. Niemand sprach darüber, die Leute in den Städten tuschelten höchstens hinter hervorgehaltener Hand. Und soweit Piara es beurteilen konnte, stand der Schuldige für den Großteil der Bevölkerung zweifellos fest.

Das Gebiet um Clay hatte sich in eine finstere Ödnis aus kaltem Gestein und frostigen Windböen verwandelt, die ihr abermals Sand in die Augen wehten. Piara fuhr mit Daumen und Zeigefinger ihre Lider entlang und zog ihre Schutzbrille zurück auf die Nase. Sie hatte keine Angst und würde auch nicht umkehren; diesmal waren sie auf alles vorbereitet.

»Warte.« Souta blieb stehen und schloss die Augen. Einen Moment war es still. »Lia meint, wir müssen hier entlang.«

Piara nickte und folgte ihm ein Stück weiter westwärts. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass ihr Bruder selbst über weite Distanzen mit seiner Partnerin kommunizieren konnte, seit sie ihr Seelenfeuer entfacht hatten. Was ihr zunächst gespenstisch vorgekommen war, erwies sich bei ihrem Vorhaben als überaus nützlich. Nicht nur, dass Lia die beiden zurückholen konnte, wenn sie ungewollt nach Vahel gelangten, sie vermochte es dank ihrer Blutmagie auch, eine sichere Route für sie zu finden. Zumindest hofften sie das. Es waren Situationen wie diese, in denen Piara sich manchmal wünschte, sich wie die Bewohner Mitaerias an alle geltenden Gesetze und Verbote halten zu können. Jemand zu sein, dessen Leben nicht so dermaßen außerhalb der Norm verlief, so dass ihre einzige Chance auf ein wenig Normalität sie in abgesperrte Gebiete und an den Rande Vahels führte. Doch nach allem, was im letzten Jahr passiert war, konnte sie über diese absurde Vorstellung nur müde lächeln; stumpf und distanziert auf die Geschehnisse zurückblicken, um das Schicksal nicht für seine Ungerechtigkeit zu verfluchen und diese verdammte Welt bis auf den letzten Grashalm abzubrennen.

Der Wind hatte sich gedreht und schob sie nun vorwärts. Nur mühsam gelang es Piara, sich auf den Beinen zu halten. Steil ragten die Felswände zu beiden Seiten empor, spitzten sich zu und engten ihr Sicht- und Bewegungsfeld zunehmend ein. Die Hügel wurden höher, eine Biegung folgte der nächsten, sie passierten abgestorbene Dornenbüsche und längst vertrocknete Palmen.

»Denkst du, hier lebt noch was?«, fragte Piara. » Pflanzen oder Tiere?«

»Nein, bestimmt nicht.« Obwohl Souta nur einen Schritt von ihr entfernt ging, sah sie ihn verschwommen. »Was überlebt hat, hat sich vermutlich gegenseitig ausgelöscht oder ist nach Vahel gedriftet.«

Immer wieder flirrte die Luft, zog glänzende Spuren durch den herumwirbelnden Sand. Den Blick darauf zu fokussieren, erschien Piara unmöglich; zu unruhig flackerten die schmalen Risse um sie herum und waren bereits verschwunden, sobald sie sich ihrer bewusst wurde.

Irgendwann, als ihre Nasenspitze vor Kälte zu brennen begann, tauchte vor den beiden eine Brücke auf. Lang und schmal spannte sie sich über eine Schlucht, aus der schwarzer Nebel wallte. Und je näher sie traten, desto schwächer wurde der Sandsturm, bis der Wind sich beinahe völlig gelegt hatte und nur noch wenige Meter sie vom Abgrund trennten. Selbst der Himmel hatte seine vollkommene Schwärze durch einen matten, jedoch nicht minder dunklen Ton getauscht und verströmte gerade genug Licht, um die Gegend in Augenschein nehmen zu können.

Souta fuhr sich mit der Hand durch sein wirr in die Stirn hängendes Haar und lockerte den Schal. Auch Piara schob ihre Schutzausrüstung vom Gesicht und ließ sie in den Sand fallen.

»Hier muss es sein«, murmelte er. Seine Stimme schwang um, überschlug sich vor Aufregung. »Hier! Ich kann es spüren.«

Piara holte tief Luft. Schatten wogten vor ihren Füßen, krochen über die Ränder der Brücke, die weder ein Geländer noch eine Brüstung besaß. Ihr Ende ließ sich höchstens erahnen, verschluckt von nichts als Finsternis, während die Luft stetig dieses seltsam bunte Flimmern von sich gab. Felsen zeichneten sich in dem dichten Nebel ab, ragten hunderte Meter über ihnen empor und verloren sich im weinroten Firmament. Sie verstand beim besten Willen nicht, wie Souta darauf kam, dass sie hier richtig wären.

Piara hielt inne und packte ihren Bruder am Arm, um ihn zurückzuhalten. »Souta, warte. Du kannst doch nicht einfach losrennen. Lass uns doch erstmal überlegen, wie wir weitermachen.«

Unverhofft blieb er stehen und wandte sich um. Eisige Kälte umgab seine Worte. »Da gibt es nichts zu überlegen.« Er befreite sich aus ihrem Griff, trat einen weiteren Schritt nach vorn. Piara zog ihn zurück. »Lass mich los!« Souta schlug ihre Hand beiseite, doch die Finger ihrer linken hielten ihren Dolch bereits fest umschlossen. Die Schatten ringsum loderten auf, tasteten sich zu ihnen herüber. Noch bevor Piara realisierte, was sie da eigentlich tat, traf Soutas Ellenbogen sie hart auf die Wange. Der Schmerz schoss bis in ihre Zähne, sie taumelte und zückte den zweiten Dolch.

»Glaub nicht, dass du deine Klinge auch noch gegen mich richten wirst. Dass du mich aufhalten kannst.«

»Hau doch ab!«, brüllte Piara. »Lauf mitten in dein Unglück und lass mich zurück, wie du es damals schon …«

Souta holte aus, die Klinge seiner Glefe pfiff über ihren Kopf, als sie sich wegduckte. Ihr Atem stockte, doch Piara richtete ihren Dolch erneut auf ihn. Ihr Bruder grinste breit, unnatürlich breit.

»Wir sind nur hier, weil du ihn getötet hast. Du hast ihn auf dem Gewissen. Ich lass mich nicht zurückhalten, schon gar nicht von dir.«

Die Waffe wog schwer in ihrer Hand. Piaras Verstand wurde abermals mit dem Gedanken überflutet, ihrem Bruder damit die Kehle aufzuschlitzen. Was bildete er sich eigentlich ein? Sie hinaus in diese von Corasil verlassene Wüste zu zerren und ihrem Feind geradewegs in die Arme zu laufen, obwohl doch alles an diesem Ort …

»Feind?«, flüsterte sie.

Doch Souta holte wieder aus. Verzweiflung verbarg sich hinter dieser Bewegung, überflutete Piara mit all ihrem Schmerz. Sie rollte sich zur Seite, als er erneut nach ihr schlug. Sie warf sich mit aller Kraft gegen seine Beine. Statt ins Wanken zu geraten, sprang Souta jedoch hoch, wirbelte herum und holte zu einem weiteren Hieb aus.

»Du hast ihn umgebracht. Du hast meinen Bruder umgebracht und jetzt willst du mich davon abhalten, ihn zurückzuholen.«

Piara wusste, dass sie nicht die geringste Chance hatte, gegen Souta anzukommen, doch es kümmerte sie nicht. Ihr Verstand hatte ausgesetzt, ließ sie erneut ausholen. Blindlings stieß sie ihrem Bruder die Klingen ihrer Dolche entgegen, wollte ihn zum Schweigen bringen.

Mühelos wehrte er ihre kläglichen Versuche ab. Immer noch lag dieses süffisante Grinsen auf seinen Lippen. Piara stellte sich vor, wie sie Souta den Dolch wieder und wieder in die Brust rammte, bis er endlich schwieg. Bis all dies vorbei war, bis sie dem Feind endlich wieder entkommen waren.

In einem verzweifelten Schrei warf sie die Dolche in den Sand. Die Schatten zuckten, als die Klingen zu Boden fielen.

»Erinnere dich.«

Piara hob den Kopf. Soutas Gesicht war nicht mehr als eine Maske aus gespannter Haut, der jegliche Züge entglitten waren. Immer noch stand er über sie gebeugt, doch seine Augen waren verschwunden, das Grinsen fehlte. Haut, undurchdringlich, stach ihr entgegen.

»Souta, was …«, stammelte sie und kroch zurück. Panisch blickte sie sich um und krallte die Finger in den eisigen Sand. Kälte. Dabei waren sie doch …

»Souta?« Zu ihrem Entsetzen bewegte sich die Gestalt, ließ sich direkt vor ihr nieder und bettete die Glefe auf seinen Beinen.

»I-ich …« Piara keuchte, wandte sich suchend um und doch war da niemand als diese seltsam entartete Version ihres Bruders. Als sie sich wieder zu ihm drehte stockte ihr der Atem. Wo vor wenigen Augenblicken noch nichts gewesen war, kräuselten sich nun schwarze Lippen zu einem übermäßig breiten Grinsen. Woher … woher kannte sie …

»Du brauchst gar nicht nach ihm Ausschau zu halten.«

Der Schock ließ Piara erstarren. Sie blinzelte, streckte ihre Hand nach dem Wesen aus, als die Schatten ringsum erbebten.

»W-was meinst du?«, fragte sie zögerlich und wusste, dass sie die Antwort darauf gar nicht hören wollte.

»Es ist zu spät. Du hast ihn längst verloren.«

Ruinen

»Das höchste Maß der Verzweiflung ist die Hoffnung:

Was alt ist, mag zerbrechen und uns unter sich begraben.

Doch inmitten der eingestürzten Mauern und der Dunkelheit

kann auch neues Leben entspringen.

Und wo einst Wände uns die Sicht versperrten,

verbleibt nichts weiter, das uns zurückhält.

Du kannst deine Zukunft aus allem bauen:

Reue, Sehnsucht, Schmerz und eingestürzten Mauern,

die dir immer Halt gegeben haben;

aus allem, das unter deinen Fingern zerfallen ist.

Der Drang, weiterzumachen, langsam einen Fuß

vor den anderen zu setzen, lässt dich eine ganze Stadt

aus den Ruinen deiner Vergangenheit bauen,

wenn du es nur möchtest.

Und so tanze auf blutigen Scherben,

baue Schlösser aus zerbrochenen Träumen, mein Kind,

und trage ihn mit Stolz, deinen Kampfeswillen.«

• 1 •

Drei Monate zuvor

»Hattest du Erfolg?«

Beklommen schüttelte Lia den Kopf. Es war dunkel auf dem Gang im zweiten Stock der Gilde, als sie und Rigoras sich auf einer der Sitzgarnituren niederließen. Im spärlichen Mondlicht erkannte er die dunklen Ringe unter ihren Augen, die von zahlreichen schlaflosen Nächten erzählten. Niam lag in ihrem Arm und zupfte an einer von Lias langen Silbersträhnen.

»Piara hat ein wenig gegessen, wollte sonst aber in Ruhe gelassen werden. Truffles ist bei ihr geblieben, vielleicht schüttet sie ihm ihr Herz aus. Tiere spüren unseren Kummer, glaube ich.« Rigoras hielt inne, vernahm, wie blass sein Gegenüber geworden war, als ihm etwas dämmerte. »Dass Souta, ich meine«, er überlegte, wie er die Frage formulieren konnte, ohne Lia zu nahe zu treten, »dass er nichts isst, sein Lebenswille …«, er seufzte und fasste sich ein Herz, »du leidest auch körperlich darunter, nicht wahr? Seit das Ritual beendet ist und ihr verbunden seid.«

»Ja, aber so kann ich ihn beschützen. Aus der Ferne. Bevor er verhungert, spüre ich es und kann es ein wenig aufwiegen.« Lia lächelte matt und legte ihre Hand auf Niams Wange.

Rigoras wünschte, dasselbe für Piara tun zu können. Doch im Vergleich zu Souta schien sie die Geschehnisse aus Malluma nicht an sich heranzulassen. Noch nicht.

»Schaffst du das? Auch körperlich, meine ich. Du trägst schließlich auch hier einen Teil seiner Last, nicht wahr?« Immer noch konnte Rigoras sich nur entfernt ausmalen, welche Konsequenzen die Entfachung ihres Seelenfeuers gehabt hatte und was es für Lia eigentlich bedeutete, mit einem Menschen verbunden zu sein, der gerade so litt, wie Souta es tat. War ihr ebenfalls danach, vor sich hinzuvegetieren? Zu verdrängen, wütend zu sein? Hasste sie sich selbst zumindest halb so sehr, wie ihr Partner es tat und wurde ihr schwindelig, wenn er einen Tag lang nicht mal einen Schluck Wasser zu sich nahm? Rigoras wusste es nicht, wollte jedoch irgendetwas tun, um die Sache für alle erträglicher zu machen. So gut es eben ging – denn wie sehr konnte man den Tod des eigenen Bruders schon ertragen, wenn man selbst das Messer in der Hand gehabt hatte? Oder sich einredete, man hätte all das verhindern können?

»Ich schaffe das, keine Sorge.« Lias Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. »Wir haben es einander versprochen: Egal, was passiert, wir tragen das Leid des anderen mit. Ich ruhe mich mehr aus als sonst und tue mein Bestes, um genug Energie für uns beide zu haben. Bislang gelingt es mir, ich bin also zuversichtlich.«

»Das ist gut.« Rigoras rang sich ein Lächeln ab. »Ich frage mich, wann sie mitbekommen, was vor sich geht. Und ob wir ihnen nicht …«

»Noch nicht.« Sanft, aber bestimmt war Lias Tonfall, als sie ihm das Wort abschnitt. »Du kennst die beiden doch. Sie würden sich für alles die Schuld geben, das passiert ist. Lass uns warten, bis sie sich ein wenig gefangen haben. Ihnen fehlt doch jegliche Stabilität, um mit den Geschehnissen fertig zu werden.«

Zögerlich nickte Rigoras. »Stimmt schon, aber irgendwann merken sie es ja doch. Denkst du nicht, dass sie dann jegliches Vertrauen in uns verlieren?« Immerhin, ergänzte er gedanklich, hatten er und Piara sich doch versprochen, einander nie zu belügen und immer alle Karten auf den Tisch zu legen.

»Was denkst du, würde geschehen, wenn wir ihnen erzählen, was während unserer Zeit in Malluma hier passiert ist? Was aus Askeria geworden ist? Dies hier ist das einzige Zuhause, das sie noch kennen. Obwohl Souta voreilig aus der Gilde ausgetreten ist. Tesiph hat ihm seine Kette doch schon längst zurückgegeben und versucht, ihm zu erklären, warum seine Abwesenheit in den Büchern aufscheint.«

»Und da hat sie nichts weiter verraten?« Rigoras winkelte eine Braue an. »Das sieht ihr nicht ähnlich.«

»Tesiph hat gerade selbst viel Kummer«, entgegnete Lia und blickte aus dem Fenster in Richtung der Schmiede. Man konnte sie von hier nicht wirklich sehen, da der Innenhof Askerias und der Trakt im Osten die Sicht versperrten, doch Rigoras konnte ihre Geste deuten. »Es ist eben nichts mehr wie zuvor.«

»Wenn überhaupt, muss ich mir die Schuld daran geben«, ergänzte er, ohne groß nachzudenken.

Niam lächelte ihn an und streckte seine Arme aus. Obwohl er erst knappe zwei Monate alt war, konnte der Junge bereits aufrecht sitzen und erweckte eher den Eindruck eines Kleinkindes. So schnell, wie Lias Schwangerschaft im letzten Jahr vorangegangen war, schien Niam auch zu wachsen und sich zu entwickeln. Die dunkle Haarpracht des Kleinen wurde stellenweise von den silbrigen Strähnen, wie seine Mutter sie hatte, unterbrochen. Um ihn in Mitaeria zu schützen, trug er bereits jetzt eine Kontaktlinse auf seinem linken Auge, das eindeutig das eines Ceri war. Die bläulich schimmernden Hautflecken, die seine gemischtrassige Herkunft verrieten, bedeckten sie mit derselben Paste, die Rigoras seit Jahren über seiner Narbe auftrug. Auch die kleinen Hörnchen waren in dem vielen Haar nicht zu erkennen und wurden zusätzlich unter einer Mütze versteckt, sofern jemand mit ihm die Gilde verließ. Fürs Erste konnten sie zumindest in dieser Angelegenheit aufatmen.

Es dauerte einen Moment, bis Lia etwas auf Rigos Schuldbekenntnis entgegnete, doch für ihre wohl gewählten Worte war er ihr zutiefst dankbar. »Es gibt Dinge, an denen niemand Schuld hat. Sie passieren, über kurz oder lang. Und wenn das Verschwinden deines Vaters jetzt nicht ausgelöst hätte, dass der Orden Askeria auseinandernimmt, wäre es bei der nächsten Gelegenheit passiert, die sich ihnen bietet. Tesiph meinte, dass sie schon seit Jahren nach einem Grund suchen, um diesen Ort hier aufzulösen. Dein Vater war zu Unrecht in Haft, niemand von euch hat Schuld an dem, was danach passiert ist.«

Ihre Worte sickerten in Rigoras’ Verstand; er hörte sie, doch wirklich an sich heranlassen konnte er ihre Bedeutung nicht. Trotzdem wusste er, dass sie es alle gut meinten. »Danke, Lia.«

Sie nickte wohlwollend und stand schließlich auf. »Lass uns mal tauschen. Ich bringe Niam ins Bett und sehe dann nach Piara, ja? Vielleicht kommt sie bei einem heißen Bad auf andere Gedanken oder lässt sich von mir eine Weile ablenken.«

»Das ist eine gute Idee. Dann sehe ich nach Souta.« Rigoras überlegte einen Moment und schwang sich schließlich auf die Beine. »Ist immerhin schon ein paar Tage her. Schlimmstenfalls schmeißt er mich raus.«

»Das wird er nicht«, entgegnete Lia und schenkte ihm ein wissendes Lächeln. »Gerade jetzt sind Freunde wichtiger denn je. Selbst, wenn die beiden es nicht zugeben. Irgendwie muss es schließlich weitergehen.«

• 2 •

Manche Erlebnisse sind so einschneidend, dass sie eine Person in tausende Fragmente zerschmettern: Selbst, wenn sie über lange Zeit hinweg wieder zueinanderfinden, kehren sie niemals an ihren ursprünglichen Ort zurück. Die Teile passen nicht mehr zueinander, es entstehen Lücken und Reibungspunkte; und manche dieser Splitter gehen auf ewig verloren: das Gefühl von Sicherheit, zum Beispiel.

Souta hatte verstanden, dass der Tod seines Bruders nichts war, über das er einfach hinwegkommen würde. Sein Verlust brannte ihm die Erinnerung daran noch tiefer ins Gedächtnis.

Klamm betrachtete Souta seine Handgelenke im schwachen Mondschein. Die Narben waren dünn, nicht mehr als helle Striemen, die sich über seine Unterarme zogen. Von außen betrachtet musste es wirken, als hätte er sich das Leben nehmen wollen. Diese Ironie. Er schnaubte bei dem Gedanken daran, wie viel Wahrheit darin verborgen lag.

Fünf verblasste Schnittwunden an jeder Seite. Fünf Mal hielten sie ihm sein klägliches Versagen vor Augen. Die Narben waren immer noch nicht verschwunden, gerade so, als wollten sie ihn verhöhnen. Jeden Tag erinnerten sie Souta daran, dass er seinen Bruder nicht hatte retten können. Vielleicht verheilten sie nicht, weil sein Körper die dafür nötige Energie nicht mehr aufbrachte. Wie mechanisch getrieben setzte er sich auf und nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche, ehe er sie wieder auf den Boden stellte. Der Mensch brauchte Wasser, um zu überleben; mehr jedoch nicht. Und immer, wenn das Dröhnen in seinem Kopf Souta aus seiner Trance riss, zwang er sich dazu, ein wenig Flüssigkeit zu sich zu nehmen.

Er wollte nicht reden, wollte nicht hören, dass er sich keine Vorwürfe zu machen brauchte. Kein Mitleid der Welt konnte seinen Schmerz auch nur im Geringsten lindern. Nichts änderte etwas an der Tatsache, dass er Ineas verloren hatte. Dass seine kleine Schwester vollkommen traumatisiert drei Zimmer weiter lag und vermutlich niemals über ihren Verlust hinwegkommen würde. Piara hatte ihren Teil beigetragen, Souta hingegen war an seinem kläglich gescheitert. Wie sollte er ihr unter die Augen treten?

Er ließ sich wieder in sein Kissen fallen und zog bibbernd die Decke über den Kopf. Ihm war kalt, ständig. Doch er wollte nichts essen oder an die frische Luft gehen. Solange er hier lag, vergraben in seinem Schmerz, konnte er zumindest atmen; etwas Weiteres, das der menschliche Körper unbedingt tun musste, um zu überleben. Ineas hatte nicht mehr leben wollen. Und um sicher zu gehen, hatte er Lycenar gebeten, seine Seele an Vahel zu binden. Seinen Peiniger. Nur, weil er nicht mehr bei ihnen sein wollte.

Souta wickelte die Decke fester um sich und vergrub sein Gesicht darin. Es waren spärliche Tränen, die sich in seinen Augenwinkeln sammelten, fast unsichtbar. Damals, als Piara noch klein gewesen war und seinen Kummer immer aufgesogen hatte wie ein Schwamm, hatte er sich geschworen, nie wieder zu weinen. So viele Jahre war es ihm gelungen, inzwischen betrachtete Souta dieses Vorhaben als hinfällig. Was kümmerte es ihn? Piara würde vielleicht nie mehr mit ihm reden und Lia wusste immer, wie er sich fühlte. Beklommen dachte er an seinen Sohn und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er wollte für Niam mehr sein, als dieses trostlose Häufchen Elend. Ein sanftes Lächeln huschte über Soutas Gesicht. Er verlor sich in Gedanken daran, wie sein Kleiner nun immer häufiger durchs Zimmer robbte; wie sehr er an Truffles hing und seiner Umgebung so neugierig gegenüberstand. Die Zeit mit Niam war die einzige, in der Souta nicht ständig an Ineas dachte. Doch selbst sein kleiner Junge konnte ihn nur vorübergehend ablenken, denn es gab eine bittere Erkenntnis, die die kurze Idylle stets trübte: Niam würde seinen Onkel niemals kennenlernen.

Die Verzweiflung ereilte Souta immer wieder. Sie zog ihn an sich und legte ihre schützenden Arme um ihn, während er an die Wand starrte und stundenlang in seinem Bett lag.

Abermals richtete er seine Aufmerksamkeit auf seine Hände. Dorthin kehrten Soutas Augen immer wieder, als erwartete er, irgendwann etwas anderes als Selbsthass bei ihrem Anblick zu empfinden.

Er hatte Piara doch beschützen wollen. Ihr versprochen, dass Ineas nichts geschehen würde, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt; und die Frage, wie schlimm es ihr nach allem erst gehen musste, drückte Souta abermals die Kehle zu.

Die Tür öffnete sich knarrend hinter ihm, doch es war ihm egal. Er drehte sich nicht um, sondern verharrte reglos unter seiner Decke. Hier war es warm, hier musste er sich nicht zusammenreißen. Ein Klirren, Porzellan auf Holz, Metall auf Porzellan. Der Duft warmer Brühe wehte ihm in die Nase, ließ seinen Magen beim Gedanken ans Essen schmerzhaft ziehen. Am Klang der Schritte erkannte Souta jedoch, dass es sich nicht um Lia handelte; die tiefe Stimme seines Besuchers bestätigte diese Vermutung.

»Na?«

Souta rührte sich nicht.

»Ich weiß genau, dass du nicht schläfst!« Rigoras ließ sich geräuschvoll in den breiten Stuhl neben dem Bett fallen. Ein langer Seufzer folgte einem Moment der Stille. »Lia dachte, dass wir uns mal wieder abwechseln sollten. Sie ist bei Piara, also kommst du in den Genuss meiner Gesellschaft.«

Obwohl Souta ihm den Rücken zugewandt hatte, spürte er Rigos breites Grinsen förmlich; auch, wenn es seit Ineas’ Tod erzwungener aussah als je zuvor. Sie alle rissen sich zusammen, um Piara und Souta über ihren Verlust hinwegzuhelfen. Vor drei Wochen waren sie nach Trissae zurückgekehrt. Seit drei Wochen wollte ihn seine Schwester schon nicht mehr sehen.

»Sie vermisst dich.«

Souta runzelte die Stirn. »Kannst du jetzt etwa Gedanken lesen?«

»Ich hatte nur Glück beim Raten. Vermutlich denkst du gerade an nicht viel anderes?«

Ein trockenes Schnauben, gefolgt von einem Flüstern: »Piara hasst mich. Und ich kann es ihr nicht verdenken.«

»Quatsch. So was darfst du gar nicht denken. Sie glaubt dasselbe von dir.« Eine kurze Pause entstand. »Sie kann dir gerade nicht unter die Augen treten, weil sie sich vor deiner Reaktion fürchtet.«

Innerlich nickte Souta, verstand Piaras Sorge; immerhin ging es ihm in Wahrheit genauso. Doch die Angst, auch noch seine Schwester zu verlieren, legte sich lähmend um ihn.

»Nachdem du im Moment nicht nach draußen gehst oder mit irgendjemandem sprichst, erzähl ich dir ein bisschen was von der Welt da draußen«, fuhr Rigoras fort und schien sich nicht an Soutas abweisender Haltung zu stören. »Hast du die Risse gesehen?«

Souta nickte kaum merklich. »Ja, sie werden größer.«

»Trissae ist nachts wie ausgestorben. Die Bevölkerung gerät immer mehr in Aufruhr, seit Gol auch hier in Mitaeria allmählich sichtbar wird. Es ist genauso, wie unsere Väter es vorhergesagt haben: Im Nachthimmel zeigt sich der Mond erst durch rot schimmernde Risse, bis die Kuppel gänzlich verschwindet. Spätestens dann könnte es passieren, dass eine Massenpanik ausbricht.«

Die Worte sickerten in Soutas Kopf, beschäftigten ihn für einen Moment und ließen ihn dann wieder in seine Starre fallen. »Und Fayon?«

»Aerin und Marcie halten noch die Stellung, ich hab ihnen nach unserer Rückkehr eine Nachricht zukommen lassen. Um ihnen zu sagen, dass ich noch einige Zeit hier in Trissae zu tun haben werde.«

Souta hielt inne. »Du warst noch kein einziges Mal in Myrefall?«

»Nein.« Rigoras seufzte. »Ich kann nicht einfach für ein paar Tage verschwinden und euch alleine lassen. Ich hätte keine ruhige Minute. Immerhin kann ich dir und Piara jeden Tag ein paar Worte mehr entlocken, also bleibe ich in der Gilde.«

»Es wäre völlig in Ordnung, wenn du …«

»Halt die Klappe und denk einmal nicht an andere, Souj!«

»Du wolltest die ganze Zeit, dass ich rede!«

Hinter sich vernahm Souta eine Mischung aus Schlürfen und lautem Kauen. Ungläubig drehte er sich um und sah, wie Rigoras sich über die mitgebrachte Portion Essen hermachte.

»Was? Wenn du’s nicht isst …«, er machte eine kurze Pause und grinste, »du weißt doch, dass ich Essen niemals verderben lasse.«

»Du isst wie ein Schwein«, sagte Souta und setzte sich in den Schneidersitz. »Dein Vater wäre entsetzt.«

»Tu ich alles nur, um deine Aufmerksamkeit zu kriegen.«

»Das Gespräch hier kostet mich mehr Kraft als Tess’ gestriger Versuch, mich hinaus in den Hof zu zerren, damit mir mal wieder die Sonne ins Gesicht scheint.«

»Mh«, murmelte Rigoras und schlürfte weiter. »Wo wir gerade von Tess reden, sie hat mir erzählt, dass man die Erschütterung, die das Einreißen der Kuppel auf Malluma verursacht hat, hier sehr wohl spüren konnte. Offiziell war von einem schwachen Erdbeben die Rede. Ich weiß nicht, ob die Menschen hier einen Zusammenhang sehen. Es hat etwa eine Woche gedauert, bis man Gols Licht am Nachthimmel erkennen konnte. Die Zeit, in der sie das für eine hübsche Laune der Natur hielten, ist mittlerweile vorbei. Die Einwohner fürchten, die Götter wären ihnen nicht mehr wohlgesonnen.«

»Oder glauben, die Ceri hätten etwas damit zu tun«, ergänzte Souta. Er war blass und ausgezehrt von all dem Kummer.

»Bingo«, antwortete Rigoras. »Ich kann wirklich nicht mehr einschätzen, was Gols Auftreten in Mitaeria auslöst. Mit welchen Lügen der Orden versuchen wird, die Bevölkerung abzuspeisen und ob es Auswirkungen auf die Umlaufbahn und unser tägliches Leben haben wird.«

Souta entgegnete nichts, ließ Rigos Worte einfach auf sich wirken und stellte ein Bein auf, um Arme und Kopf daraufzulegen. Die Ärmel seines grauen Pullovers hingen ihm über die Hände. Er spielte mit den Fingern daran herum, schien über irgendetwas nachzudenken.

»Isst Piara?«, fragte er schließlich und schenkte Rigoras einen befangenen Blick. »Und spricht sie mit dir?«

»Ein wenig«, entgegnete dieser. »Zu beidem.«

• 3 •

Seufzend wälzte Tesiph sich in ihrem Bett herum. Es war kurz nach vier Uhr morgens, eine kühle Brise wehte durch das gekippte Fenster herein. Bereits zum dritten Mal war sie in dieser Nacht wach geworden, ihre Nerven lagen blank. Obwohl sie den Streit wegen eines Auftrags nicht mitbekommen hatte, war ihr die angespannte Stimmung bereits bei ihrer Rückkehr aufgefallen. Und schließlich hatte Elar auch sofort erzählt, was vorgefallen war: Souta hatte Yuri und Marcie seine Kette hingeschmissen und verkündet, aus der Gilde auszutreten.

Souta. Tesiph drehte sich zur Wand und seufzte. Dieser kleine Hitzkopf, er hätte doch einfach warten können, bis sie zurück war. Rastlos starrte sie an die Decke und beobachtete, wie die Schatten auf den hellen Holzschindeln tanzten. Erst hatte sie überlegt, den dreien hinterherzufahren und Souta zur Vernunft zu bringen, doch wenn sie ehrlich war, verstand sie seine Wut auf Yuri. Tesiph stieß einen tiefen Seufzer aus. Yuri. Diese Prinzipienreiterin; sie wusste das selbst nur zu gut. Vermutlich am besten von allen, dachte sie still. Sie war ganz in ihre Gedanken vertieft, als sie plötzlich ein Poltern vernahm. Instinktiv rückte sie näher ans Fenster und sah hinunter. Von ihrem Zimmer aus, das im ersten Stock der Schmiede lag, konnte sie in den Innenhof der angrenzenden Gilde sehen. Ein Blick verriet ihr, dass in der Schenke sanftes Licht brannte. Das Geräusch musste von dort gekommen sein, ringsum lag die gesamte Stadt in Dunkelheit gehüllt.

Tesiph griff nach einem Haarband, um ihre wallende Mähne hochzubinden, schlüpfte in ihre Pantoffeln und zog ihre Jacke über den Schlafanzug. Auf Zehenspitzen stieg sie die Treppe hinab in die Schmiede, um ihre Geschwister nicht zu wecken. Der vertraute Geruch von kalter Asche lag in der Luft. Wieder hörte sie Gepolter von nebenan, als würden Möbelstücke verschoben werden. Die Geräusche kamen definitiv aus dem Hinterzimmer der Schenke. Es grenzte direkt an die Schmiede und verband die beiden hinteren Gebäudeteile miteinander. Der Schlüssel für die Tür war schnell gezückt und Tesiph schob sich vorsichtig hindurch. Sie schickte ein leises Stoßgebet an Corasil, dass Yuri nicht vollends den Verstand verloren hatte und mitten in der Nacht einen Großputz veranstaltete oder ein Einbrecher zugange war. Mit angehaltenem Atem griff sie nach dem Erstbesten, das ihr in die Hände fiel: Ein Besen stand in der Ecke der Kammer – zur Not konnte sie sich damit verteidigen.

Zögerlich schritt Tesiph durch den leerstehenden Raum. In hohen Regalen türmten sich Kisten und Dosen aller Art, es roch nach Gewürzen und altem Papier. Obwohl Tesiph geahnt hatte, was sie erwartete, schnappte sie nach Luft. Schranktüren standen offen, Schubladen waren herausgezogen. Mittendrin lag A’yuras Morgenmantel. Die Tür in die Schenke war lediglich angelehnt, durch den Spalt drang sanftes Licht.

»Yuri? Bist du hier?« Tesiph tastete sich durch das Chaos im Zimmer und stieß die Tür auf. Der Kamin erzählte den Rest der Geschichte: Er war voller Asche, daneben kniete Yuri vor dem flackernden Feuer, die Augen starr auf die zuckende Flamme gerichtet, die sich in ihren Brillengläsern spiegelte. Nur wenige Papierstücke hatten das Inferno überlebt. Mit stumpfem Blick verfolgte Tesiph das Spiel der Flammen, in denen das Papier sich krümmte, zusammenschrumpfte, sich drehte und schließlich zerfiel.

»Verflucht, Yuri, was tust du da?« Einige Fetzen flogen auf die Asche und ließen Anfänge von Sätzen, einzelne Wörter erkennen – genug, um zu identifizieren, was hier vor sich ging. »Bist du verrückt geworden?« Tesiph packte die Hand der alten Frau, die den letzten Rest des Gildenbuches jedoch in einem schnellen Ruck ins Feuer beförderte.

»Ich werde es dir erklären«, erklang ihre Stimme – zu Tess’ Entsetzen sprach Yuri völlig ungerührt. Das alles konnte nur ein schlechter Scherz sein. Oder ein Albtraum. »Setz dich zu mir und …«

Tesiph schluckte, in den Augen der Gildenmutter hatten sich Tränen gesammelt. »Warum hast du das getan? Du weißt doch, dass der Orden nach Hattous Verschwinden nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Ohne unsere Bücher, ohne jegliche Unterlagen sind wir aufgeschmissen!«

»Und trotzdem ist es alles, was ich jetzt noch tun kann.« Die alte Frau drehte sich zu Tesiph, die Arme auf den Knien ruhend. »Der Orden hat bereits angekündigt, in den frühen Morgenstunden mit der Vernehmung aller ranghöheren Mitglieder zu beginnen.«

Ein eisiger Schauer erfasste Tesiph. »Also auch mit mir? Was ist mit Souta, er ist fortgegangen, genau jetzt! Und ausgetreten, habt ihr gesagt. Er ist mit Rigo unterwegs, was ist, wenn …« Sie verstummte, als ihr etwas dämmerte.

»Hör zu, Kind. Rigoras war in Myrefall, das wird Marcie bezeugen. Doch Souta und auch du, ihr schwebt in Gefahr. Wenn es wahr ist, was du mir erzählt hast, dann weiß der Orden, dass zwei junge Menschen in Hattous Flucht involviert waren. Selbst wenn sie Souta nicht identifizieren konnten, wissen sie, wie er aussieht. Auch du wurdest gesehen, Tess, Askeria wird ihre nächste Anlaufstelle sein. Hattous Wurzeln als Wissenschaftlicher liegen hier, sie werden euch erkennen.«

»Und da verbrennst du alle Aufzeichnungen?«

»So ist es. Sie können mich festhalten, alle Anwesenden befragen, die sich offen als Mitglieder zu erkennen geben, doch damit enden ihre Befugnisse laut Gesetz.« Yuris blaue Augen blickten tief in die von Tess. »Wenn es keinerlei Aufzeichnungen zum aktuellen Stand der Mitglieder gibt, können sie euch Kindern nichts anhaben. Es gibt keine Unterlagen darüber, dass ihr je dieser Gilde angehört habt.«

Tesiph stieg dumpfe Hitze ins Gesicht. »Aber wenn ich es ihnen sage, mich als Mitglied zu erkennen gebe, ich ihnen meine Kette zeige …«

Yuri schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht tun. Und ich sage dir auch, warum.« Sie rückte näher, flüsterte: »Die Gilden-Gesetze. Erinnere dich nur an Paragraph 172b. Dann wirst du es verstehen.« Sanft umfasste sie Tesiphs Gesicht. Ihre Hände waren kalt, obwohl Yuri doch die ganze Zeit über vor dem Kamin gesessen hatte. »Ich habe dich immer geliebt, als wärst du meine Enkelin, kleine Tess.« Sie lächelte, was Tesiph auf seltsame Art verstörte. Doch sie wagte es nicht, sich zu rühren. »Du Wildfang. Ich habe dich jahrelang darauf vorbereitet, darum verzeih mir, bitte. Verzeih einer alten Frau wie mir ihren Starrsinn.«

Tesiph fühlte eine Berührung in ihrem Nacken, spürte dumpfen Druck. Und in ihrer wachsenden Bewusstlosigkeit sah sie nur noch Yuris Lippen, die Paragraph 172b betonten.

Tesiph konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass sie eingeschlafen war. Sie glaubte, nach dem Duschen auf ihr Zimmer gegangen zu sein, um zu lesen. Es war bereits hell, als sie wieder zu sich kam. Die Decke reichte ihr bis zum Kinn, Tesiph lag auf dem Rücken und erkannte die Holzmaserung ihrer Zimmerdecke. Sie schreckte hoch, sah sich panisch um, als die Erinnerung an ihr Gespräch mit Yuri zurückkehrte. Barfuß eilte sie die Treppe hinab, konnte nur mit Mühe verhindern, dass sie über die Schuhe ihrer Schwester stolperte, die diese achtlos auf einer Stufe hatte liegen lassen.

»Elar?«, rief sie und stürmte durch die Schmiede.

»Der ist nicht da«, antwortete Treven, der vor einem Amboss saß und seinen Hammer niederlegte. Beim Anblick seiner älteren Schwester runzelte er die Stirn. »Wir bekommen gleich Kundschaft und du hast noch immer deinen Schlaf-«

»Ist mir egal!«, donnerte Tesiph, das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Hast du Yuri gesehen? Wie spät ist es?«

»Lies doch selbst die Uhr!«, maulte Treven. »Es ist schon Mittag, und wenn du nicht so lange geschlafen hättest, wäre ich jetzt am Markt. Stattdessen ist Yuri hin, Elar hat sie mit dem Wagen gebracht. Keine Ahnung, wo er jetzt ist.«

Tesiph schnaubte und lief auf die Tür zu. Vielleicht war alles nur ein Traum gewesen. Dass Yuri sich am Markt aufhielt, war gut. Aber warum war sie plötzlich eingeschlafen? Während Tesiph barfuß und im Schlafanzug den kleinen Vorhof überquerte und auf die Straße trat, bemerkte sie ein unangenehmes Ziehen in ihrem Nacken. Sie ertastete eine Schwellung, als hätte ein Insekt sie gebissen. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Wutentbrannt stieß sie die Tür der Gilde auf und lief durch die Schenke, ignorierte die verwirrten Blicke und das leise Getuschel um sie herum, die ihr Aussehen auslöste. Yuri war weder in ihrem Zimmer, noch in der Küche oder im Hof, in der Schenke ebenso wenig.

»Wann ist Yuri weggegangen?«, rief sie allen Anwesenden entgegen und pustete sich ihre gelockerten Strähnen aus der Stirn. »Wo ist sie hin? Und kommt mir bloß nicht mit dem Markt!« Tesiph dämmerte, dass es eine Lüge war. Treven war mit seinen siebzehn Jahren vielleicht naiv genug, darauf reinzufallen, doch nicht sie.

Renvis, eines der ältesten Mitglieder nach den Gründern erhob sich und warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Schön, dass du dich auch mal sehen lässt. Ich dachte, du wärst krank.«

Tesiph lief auf Renvis zu. Tiefsitzende Wut blendete sie, lockerte ihre Muskeln und legte ihren Verstand lahm. Kara, die gerade über dem Herd stand und kochte, wollte ihr noch hinterher, doch die Schmiedin ignorierte ihre Rufe.

»Krank?«, brüllte sie und packte den einen Kopf größeren Magier am Kragen. »Seh ich für dich vielleicht krank aus? Was soll die ganze Scheiße? Yuri hat mich betäubt, sie hat mich gestern Nacht einfach betäubt!«

»Du bist doch irre!« Renvis befreite sich aus ihrem Griff und rückte seinen Mantel zurecht. Seine braunen Augen waren undurchdringlich, Tesiphs Angriff würdigte er keiner Erwähnung. »Wer könnte dich betäuben? Eine alte Frau wie Yuri obendrein.«

»Halt doch deine verfluchte Fresse!«

Ihr Gegenüber lachte höhnisch, warf sein dunkles Haar zurück. »Ich tu mir das nicht länger an. Keine Ahnung, was Yuri in dir sieht. Heute hat sich doch gezeigt, dass du uns alle im Stich lässt, wenn es ernst wird. Seit heute Mittag haben die meisten hier ihre Zimmer geräumt und das Weite gesucht. Die Wenigen, die noch mit Aufträgen betraut worden sind, kehren vielleicht gar nicht mehr zurück.«

In der Schenke war es leer geworden. Nur entfernt vernahm Tesiph noch das letzte Rücken von Stuhlbeinen und das Öffnen und Schließen der Türen ringsum. Einzelne Mitglieder liefen die Treppen hinauf, nur Kara war immer noch bei ihnen.

»Wie kannst du …«, Tesiph biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer vibrierte, »es wagen?« Und dann begann sie aus vollem Hals zu brüllen, als ihre Verzweiflung sie überkam. »Wenn ich dir nach den 20 Jahren, die du nun schon hier bist, wirklich noch beweisen muss, was mir dieser Ort bedeutet, Ren, dann schieb deinen magieversifften Arsch hier raus und geh mir aus der Sonne. Niemals würde ich diese Gilde im Stich lassen.«

Renvis’ Mundwinkel zuckten. »Nun, das hast du schon. Indem du den Einfall des Ordens hier verschlafen hast. Seelenruhig hast du da oben gepennt, Yuri hat uns glauben lassen, du seist krank. Kein Wunder, dass alle abgehauen sind. Wenn der Orden hier wüten und die Leiterin einfach festnehmen kann, habt ihr Dreck am Stecken.« Er griff sich an den Hals, zerrte die Kette mit dem Emblem Askerias herunter und reichte sie Tesiph, der das Blut in den Ohren rauschte. »Also mach, was du willst. Ich tue es den anderen gleich.«

Wenige Augenblicke später war auch er auf den Straßen Trissaes verschwunden. Mit bebenden Lippen wandte sie sich zu Kara um, die sichtbar Tränen hinunterschluckte. Sie schlang ihre breiten Arme um Tesiph, die sich wiederum im Raum umsah. Und erst da fiel ihr auf, dass auch hier in der Schenke ganz und gar nichts stimmte. Es standen mehrere Krüge herum, einige waren umgestoßen, doch beim Betreten der Gilde waren vielleicht fünf Leute hier gewesen. Der Holzboden war übersät mit dunklen Fußabdrücken und Staub, zahlreiche Möbelstücke waren verrückt. Und dann fiel Tesiphs Blick an jenen Ort, an dem das schwarze Brett hätte hängen sollen. Kara musste es bemerkt haben.

»Sie haben die Gilde aufgelöst. Der Orden. Askeria gibt es nicht mehr. Es ist, wie Renvis gesagt hat: Fast alle, die nicht zum festen Kern dieser Gilde gehörten, sind nach der Auflösung weggegangen. Die meisten Zimmer stehen leer, bald sind alle fort, mit denen wir uns zum Schutz umgeben haben.« Yuris Enkelin schniefte. »Aber ich glaube, dass Oma heute Abend wieder hier sein wird.« Sie nickte zuversichtlich, doch Tesiph wusste, dass es nichts als reines Wunschdenken war, das sich in die bittere Gewissheit wandelte, dass Yuri nicht wiederkommen würde.

• 4 •

Das neue Jahr war ereignislos an Piara vorbeigezogen. Es war der erste Erntemond gewesen, den sie und ihre Brüder nicht gemeinsam gefeiert hatten. Und auch ringsum schienen alle Gildenmitglieder sich ihrer Trauer anzugleichen. Selbst draußen, wo sie sich die feiernde Menge der Großstadt immer mit festlichen Straßenumzügen vorgestellt hatte, schien das Leben stillzustehen. Oder kam es ihr nur so vor, weil sie nichts als Leere in sich fühlte? Lia, Rigoras, Tesiph und selbst deren Geschwister Elar, Treven und Riona hatten seit jeher versucht, sie über ihren Verlust hinwegzutrösten. Sybella, Rigos kleine Nichte, und Niam leisteten ihr regelmäßig Gesellschaft und wenn Piara mit ihnen spielte, war sie zwar mit etwas anderem beschäftigt, doch vergessen tat sie nie. Sie schmeckte Blut, sobald ihr die Augen zufielen, vernahm den metallenen Geruch der Klinge, die sie ihrem Bruder zwischen die Rippen gerammt hatte.

Es würde alles besser machen, hatten sie ihr gesagt.

Es wäre ihre Aufgabe.

Sie würde damit alle retten.

Doch nun lag sie bereits seit schier endlosen Wochen hier, bewegte sich mechanisch zwischen ihrem Bett und dem Badezimmer hin und her und versuchte, zu funktionieren. Versuchte, zu vergessen, was in Malluma geschehen war. Was hatte geschehen müssen. Die meiste Zeit über flüchtete sie sich aus dieser grausamen Realität und schwelgte in Erinnerungen. Denn wenn sie sich diese ins Gedächtnis rief, war Piaras Welt ein Stück weit in Ordnung. Bis sie sich fragte, ob Ineas sie tatsächlich all die Jahre über dafür gehasst hatte, dass ihre bloße Existenz ihn und Souta entzweit hatte.

Doch es gab etwas, das immer wieder Piaras Aufmerksamkeit erregte. Zunächst begann es schleichend. Unruhig flatterten sie hinter den weißen Gardinen ihres Fensters vorbei: Schmetterlinge, so strahlend wie Kristall. Ab und zu, wenn sich einer von ihnen tatsächlich in Piaras Zimmer verirrte, sah sie den Tieren dabei zu, wie sie ihre Kreise zogen. Ihr Flügelschlag war sanft, soweit sie es aus der Distanz erkennen konnte. Als sie jedoch näher kamen, glaubte Piara, dass es sich viel eher um Kristalle handelte. Und immer, wenn sie ihre Finger nach den Wesen ausstreckte, um sie sanft zu berühren, brachen Erinnerungen über sie herein. Nichts weiter als lose Szenen, Wortfetzen und Bilder, die sich vor ihrem geistigen Auge auftaten. Doch inzwischen war sie davon überzeugt, dass mehr dahintersteckte. Spätestens seit diesem Morgen, als Rigoras ihr einen silbernen Umschlag überreichte.

»Hey, Sonnenschein«, begrüßte er sie und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie erwiderte seine Begrüßung nüchtern, indem sie ihren Kopf auf seine Schulter legte. Dabei musterte sie den Umschlag skeptisch, die Adresse war handgeschrieben und schimmerte, als ob die Tinte noch feucht wäre.

»Guten Morgen«, entgegnete Piara. »Was ist das?«

»Keine Ahnung, ich mach deine Briefe nicht auf.« Er lächelte. »Du bist heute schon viel gesprächiger. Ich hol uns Kaffee, was meinst du?«

Piara nickte, nur mit einem Ohr zuhörend und murmelte in sich hinein: »Weil … ich meine. Da ist kein Absender drauf«, begann sie, als ihr etwas dämmerte. Vielleicht war der Brief von Marleen. Ruckartig setzte Piara sich auf. Wenn sie hier einen Brief empfing, musste der Absender wissen, dass sie sich in Askeria befand. Die Hoffnung, dass ihre Freundin eine Aussprache in Erwägung zog, keimte in Piara auf. Sie sehnte sich nach Marleens Heiterkeit und riss den Umschlag hastig auf. Dabei zog sie eine quadratische Karte heraus, der Rand war in sattem Beige gehalten. Doch was sie las, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie wusste nur eines: Diese Nachricht stammte nicht von Marleen.

»Was zum?«

Ilyria im Viertel H. Das stand für jenen Bereich, der dem Handwerk gewidmet war, mitten im Herzen der Hauptstadt also. Und dennoch verriet die Hausnummer, dass sich das Gebäude am Rande des Viertels befinden musste. Abgeschieden vom Treiben der Stadt.

Ein zusammengerolltes Stück Papier, kaum länger als Piaras kleiner Finger, war unter dem leuchtend roten Wachstropfen angebracht. Sie nahm eine Nagelfeile aus der Schublade und befreite die Botschaft von dem getrockneten Siegel, um sie zu entfalten.

Sie las die Nachricht wieder und wieder, die Worte rauschten wie im Traum an ihr vorbei. Piara konnte es nicht glauben. Den letzten Absatz wiederholte sie, bis er wie ein Karussell in ihrem Kopf kreiste. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Doch es war keine Trauer, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnte, sondern maßlose Wut.

Ineas’ Handschrift. Ineas’ Worte.

»Was bedeutet dein Name?« Kindliches Lachen erklang in der Erinnerung, die plötzlich in Piara aufwallte.

»So hieß unser Großvater. Der Vater unserer Mutter. Ineas: Kind des Sommers, auf Vrieté. Dort stammt die ganze Familie unserer Mama her. Aus Vrin.« Ihr Bruder lachte und stupste ihr gegen die Nase. »Aber was mit Sommer gemeint ist, erklär ich dir ein andermal. Das ist kompliziert und war lange vor unserer Zeit.«

»Und was bedeutet Soutas Name?«

»So hieß unser anderer Großvater. Der Vater von Papa. Ich weiß nicht, ob er eine Bedeutung hat.«

»Und meiner? Was bedeutet mein Name?«

»Piara, dein Name bedeutet Freiheit.«

Niemand konnte davon wissen. Niemand, außer Ineas.

Hastig sprang Piara auf und wurde sofort von Schwindel gepackt. Sie hatte sich die letzten Wochen kaum bewegt, natürlich machte ihr Kreislauf schlapp, wenn sie es nicht ruhig anging. Doch das Hämmern in ihrer Brust holte sie zurück, ließ sie den Boden unter den Füßen spüren und langsam wieder Halt gewinnen. Auf ihrem Schreibtisch stand ein kleiner Kalender, doch wie lange hatte sie ihn schon nicht mehr umgeblättert? Es war nach dem Erntemond, also bereits im neuen Jahr. Wie zum Henker sollte sie herausfinden, welcher Tag heute war? Erschrocken fuhr Piara zusammen, als hinter ihr die Tür ins Schloss fiel. Rigoras trat ein, ein kleines Tablett mit Kaffee in der Hand. Sein Blick sprach Bände.

»Alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was stand denn in dem Brief, dass es dich nach Wochen plötzlich auf die Beine verschlägt?«, fragte er und setzte sich an den runden Tisch in der Mitte des Raumes.

Sie zögerte, aus Angst, dass Rigoras ihr den irrsinnigen Gedanken, dieser Einladung zu folgen, ausreden würde. Zumal ausdrücklich darauf stand, dass sie allein kommen sollte. Doch wenn es sich irgendjemand zur Aufgabe gemacht hatte, sie mit Botschaften ihres toten Bruders zu quälen, sollte sie besser nicht schweigen.

»Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst.«

Piara sah auf, spürte ein Brennen in ihrem Hals und unterdrückte den Drang, die frisch aufgerissenen Wunden wieder die Oberhand gewinnen zu lassen. Darum schüttelte sie behutsam den Kopf und setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Rigo. »Nein, ich will es dir erzählen. Aber vorher musst du mir sagen, welchen Tag wir heute haben.«

»Den Zwölften des ersten Monats«, antwortete er und schenkte den beiden eine Tasse Kaffee ein.

»Den Zwölften …«, murmelte Piara und riss die Augen auf. »Dann hattest du ja schon Geburtstag.« Sie suchte Rigos Blick, befürchtete Ablehnung darin zu sehen, doch nichts dergleichen war der Fall.

»Piara, das ist völlig egal.«

Beklommen schüttelte sie den Kopf. »Nein, ist es nicht.« Sie hasste es, bei jeder Kleinigkeit in Tränen auszubrechen. »Du kümmerst dich seit Wochen um mich, bringst mir zu essen, lenkst mich ab und hast mich nie gedrängt, wenn ich …« Schniefend griff sie nach ihrer Kaffeetasse. Das hier war nicht richtig, nein. Sie hatte sich so oft ausgemalt, dass sie ihm irgendwann für all das danken würde. Angemessen, aufrichtig. Und nun hatte sie sogar seinen Geburtstag vergessen. »Ich bekomme einfach nichts mehr auf die Reihe, Rigo. Gar nichts.«

Zur Antwort rückte er mit seinem Stuhl neben sie und griff nach ihren Händen. »Was kümmert mich mein Geburtstag? Mir war sowieso nicht nach Feiern zumute. Das holen wir einfach nach. Vielleicht zu deinem Geburtstag. Oder Soutas.« Er lächelte. »Wenn ihr euch bereit dazu fühlt.«

Erst vier Tage später, als sie sich für das ominöse Treffen zurechtmachte, hielt sie Rigoras den Brief vor die Nase. Inzwischen hatte Piara sich längst entschieden und zur Not allerhand Argumente parat. Sie vernahm die Skepsis in seiner Stimme, während sie sich das Haar vor dem Spiegel kämmte.

»Bitte sag mir, dass du dich nicht ernsthaft auf den Weg dorthin machst. Die Einladung schreit regelrecht nach einer Falle.«

»Ich muss«, entgegnete sie und wandte sich zu Rigoras, der auf ihrem Bett saß. »Niemand außer Ineas kann das geschrieben haben. Und wer auch immer mir diese Nachricht schickt, weiß wo ich bin und was mit ihm passiert ist.« Piara stand auf und schüttelte sich die Fransen aus der Stirn. Immer noch hatte sie leichte Schwierigkeiten mit ihrer Balance, seit ihre Hörner abgefallen waren. Ihr Leben lang hatte sie sich gewünscht, von diesem Mal befreit zu sein, doch nun erinnerte sie das Fehlen der furchigen Hörner daran, was sie getan hatte. Was sie hatte tun müssen.

Rigoras schien zu überlegen, was Piara aufatmen ließ. »Dann nimm mich zumindest mit nach Ilyria. Auf dem Ding steht zwar ohne Begleitung, aber ich bleibe einfach draußen. Oder in deiner Nähe, okay? Aber mir ist nicht wohl dabei, dass du ganz allein einer solchen Einladung folgst.«

Piara nickte. »Ich hatte gehofft, dass du das sagst«, gestand sie und schnürte ihre Stiefel. »Darum wollte ich es nicht vor dir geheim halten. Du verstehst, dass ich dem nachgehen muss, stimmt’s? Ich meine«, ein verlorengeglaubter Funke Hoffnung keimte in ihr auf, »vielleicht hat Lia recht und wir finden eben doch einen Hinweis auf den Verbleib von Ineas’ Seele.«

»Piara.«

Sie warf ihre Jacke über, strich sich das Haar zurück und zog den Kragen hoch. Der Ton in Rigoras’ Stimme ließ sie flehend zu ihm aufsehen: »Bitte. Gerade ist es das Einzige, das mich wieder atmen lässt.«

• 5 •

»Hey, ich weiß, dass ich spät bin.« Souta zog einen der Holzstühle heran, die in diesem Raum gelagert wurden. Eine dicke Staubschicht hatte sich darauf gebildet, die er achtlos mit dem Handrücken zu Boden beförderte und sich schließlich setzte.

Das hier war nicht seltsam, sagte er sich.

Das hier war nicht anders als damals.

»Ich will nichts darüber hören, dass ich mir mal die Haare schneiden sollte. Das mach ich morgen, klar?« Souta zog einen Mundwinkel hoch und blickte betreten auf seine Hände. »Ich bin schon froh, dass ich’s heut endlich geschafft hab, mich zu rasieren. Also.« Er seufzte, kam sich abermals bescheuert vor. Doch dann sprudelten die Worte einfach aus ihm heraus: »Ich saß heute seit Wochen mal wieder am Tisch und habe ordentlich gegessen. Sogar was Gesundes, ich hatte dabei ständig dein blödes Gerede im Ohr. Ich fühle mich ein wenig besser, darum wollte ich endlich mit dir sprechen. Sei nicht sauer, dass ich so lange gebraucht habe, aber es ist nicht leicht, weißt du. Zu verarbeiten, dass du nicht mehr hier sein willst und mir wieder einen Schritt voraus warst.«